Franz Kafka (1883 – 1924)

Deutsch-jüdischer Schriftsteller. Der Sohn eines deutsch-jüdischen Kaufmanns studierte Jura in Prag (Dr. jur.) und war seit 1918 als Versicherungsangestellter der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt beschäftigt. Das zwiespältige Verhältnis zu seinem Vater hat tiefe psychische Spuren in seinem Werk hinterlassen (»Brief an den Vater«, »Das Urteil«). Seit 1917 an Tuberkulose leidend, gab er 1922 den ihm verhassten Beruf auf und lebte vorübergehend in Berlin (mit Dora Diamant). — Die ersten Erzählungen (»Betrachtung« 1912, »Der Heizer« 1913) wurden mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet. Es folgten »Die Verwandlung« (1916), »Das Urteil« (1916), »In der Strafkolonie« (1919) und die Sammel-Bände »Ein Landarzt« (1919) und »Ein Hungerkünstler« (1924). Kafkas Hauptwerk »Der Prozeß« beschreibt die Geschichte des Bankbeamten Joseph >K<, der von einem imaginären Gericht angeklagt und zum Tod verurteilt wird, ohne dass er erfährt, welche Schuld ihm zur Last gelegt wird. »Das Schloß« stellt den Kampf von >K< um seine Anstellung als gräflicher Landvermesser dar, die eine unangreifbare Beamtenhierarchie verhindert. Für seine Helden gibt es dabei keinen Ausweg aus der existenziellen Verunsicherung und Angst, die durch Kafkas stilistische Gestaltungsweise dramatisch verstärkt wird. Tiefenscharfe Klarheit in einzelnen Aussagen bei wachsender Undurchschaubarkeit schaffen eine traumartige, psychologisch mehrdeutig interpretierbare Atmosphäre surrealer Unwirklichkeit. Die folgenden Passagen stammen aus dem Rest des literarischen Werkes: Parabeln, Skizzen, Aphorismen und den für das Verständnis Kafkas so wesentlichen Tagebüchern und Briefen, die von dem Freund und Nachlassverwalter Max Brod entgegen Kafkas Wunsch postum veröffentlicht wurden,

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis
Hölle
Der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradiese
Erbsünde
Prometheus
Welt (Gut und Böse)
Leiden
Glauben
Wahrheit
Freier Wille
Ewigkeit

Hölle
Verlassen sind wir doch wie verirrte Kinder im Walde. Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von den Deinen. Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüßtest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen vor einander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so hebend stehn wie vor dem Eingang zur Hölle.
Aus: Franz Kafka: Briefe 1902-1924, - Brief an Oskar Pollak vom 9. 11. 1903 (S.19)
Herausgegeben von Max Brod, Fischer Taschenbuchverlag

Der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradiese
Es gibt zwei menschliche Hauptsünden, aus welchen sich alle andern ableiten: Ungeduld und Lässigkeit. Wegen der Ungeduld sind sie aus dem Paradiese vertrieben worden, wegen der Lässigkeit kehren sie nicht zurück. Vielleicht aber gibt es nur eine Hauptsünde: die Ungeduld. Wegen der Ungeduld sind sie vertrieben worden, wegen der Ungeduld kehren sie nicht zurück. S.30

Es bedurfte der Vermittlung der Schlange: das Böse kann den Menschen verführen, aber nicht Mensch werden. S.34

Die Vertreibung aus dem Paradies ist in ihrem Hauptteil ewig: Es ist also zwar die Vertreibung aus dem Paradies endgültig, das Leben in der Welt unausweichlich, die Ewigkeit des Vorganges aber (oder zeitlich ausgedrückt: die ewige Wiederholung des Vorgangs) macht es trotzdem möglich, daß wir nicht nur dauernd im Paradiese bleiben könnten, sondern tatsächlich dort dauernd sind, gleichgültig ob wir es hier wissen oder nicht. S.35

Wir wurden geschaffen, um im Paradies zu leben, das Paradies war bestimmt, uns zu dienen. Unsere Bestimmung ist geändert worden; daß dies auch mit der Bestimmung des Paradieses geschehen wäre, wird nicht gesagt. S.37

Im Paradies, wie immer: Das, was die Sünde verursacht und das, was sie erkennt, ist eines. Das gute Gewissen ist das Böse, das so siegreich ist, daß es nicht einmal mehr jenen Sprung von links nach rechts für nötig hält. S.71

Wenn das, was im Paradies zerstört worden sein soll, zerstörbar war, dann war es nicht entscheidend; war es aber unzerstörbar, dann leben wir in einem falschen Glauben. S.72

Warum klagen wir wegen des Sündenfalles? Nicht seinetwegen sind wir aus dem Paradies vertrieben worden, sondern wegen des Baumes des Lebens, damit war nicht von ihm essen. S.73

Wir sind von Gott beiderseitig getrennt: Der Sündenfall trennt uns von ihm, der Baum des Lebens trennt ihn von uns. S.74

Wir sind nicht nur deshalb sündig, weil wir vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, sondern auch deshalb, weil wir vom Baum des Lebens noch nicht gegessen haben. Sündig ist der Stand, in dem wir uns befinden, unabhängig von Schuld. S.74

Baum des Lebens — Herr des Lebens. S.75

Wir wurden aus dem Paradies vertrieben, aber zerstört wurde es nicht. Die Vertreibung aus dem Paradies war in einem Sinne ein Glück, denn wären wir nicht vertrieben worden, hätte das Paradies zerstört werden müssen. S.75

Wir wurden geschaffen, um im Paradies zu leben, das Paradies war bestimmt, uns zu dienen. Unsere Bestimmung ist geändert worden; daß dies auch mir der Bestimmung des Paradieses geschehen wäre, wird nicht gesagt. S.75

Bis fast zum Ende des Berichtes vom Sündenfall bleibt es möglich, daß auch der Garten Eden mit den Menschen verflucht wird. — Nur die Menschen sind verflucht, der Garten Eden nicht. S.75

Gott sagte, daß Adam am Tage, da er vom Baume der Erkenntnis essen werde, sterben müsse. Nach Gott sollte die augenblickliche Folge des Essens vom Baume der Erkenntnis der Tod sein, nach der Schlange (wenigstens konnte man sie dahin verstehn) die göttliche Gleichwerdung. Beides war in ähnlicher Weise unrichtig. Die Menschen starben nicht, sondern wurden sterblich, sie wurden nicht Gott gleich, aber erhielten eine unentbehrliche Fähigkeit, es zu werden. Beides war auch in ähnlicher Weise richtig. Nicht der Mensch starb, aber der paradiesische Mensch, sie wurden nicht Gott, aber das göttliche Erkennen. S.75

Der trostlose Gesichtskreis des Bösen: schon im Erkennen des Guten und Bösen glaubt er die Gottgleichheit zu sehn. Die Verfluchung scheint an seinem Wesen nichts zu verschlimmern: mit dem Bauche wird er die Länge des Weges ausmessen. S.75

Seit dem Sündenfall sind wir in der Fähigkeit zur Erkenntnis des Guten und Bösen im Wesentlichen gleich; trotzdem suchen wir gerade hier unsere besonderen Vorzüge. Aber erst jenseits dieser Erkenntnis beginnen die wahren Verschiedenheiten. Der gegenteilige Schein wird durch folgendes hervorgerufen: Niemand kann sich mir der Erkenntnis allein begnügen, sondern muß sich bestreben, ihr gemäß zu handeln. Dazu aber ist ihm die Kraft nicht mitgegeben, er muß daher sich zerstören, selbst auf die Gefahr hin, sogar dadurch die notwendige Kraft nicht zu erhalten, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, als dieser letzte Versuch. (Das ist auch der Sinn der Todesdrohung beim Verbot des Essens vom Baume der Erkenntnis; vielleicht ist das auch der ursprüngliche Sinn des natürlichen Todes.) Vor diesem Versuch nun fürchtet er sich; lieber will er die Erkenntnis des Guten und Bösen rückgängig machen (die Bezeichnung >Sündenfall< geht auf diese Angst zurück); aber das Geschehene kann nicht rückgängig gemacht, sondern nur getrübt werden. Zu diesem Zweck entstehen die Motivationen. Die ganze Welt ist ihrer voll, ja die ganze sichtbare Welt ist vielleicht nichts anderes als eine Motivation des einen Augenblick lang ruhenwollenden Menschen. Ein Versuch, die Tatsache der Erkenntnis zu fälschen, die Erkenntnis erst zum Ziel zu machen. S.76

Für den Sündenfall gab es drei Strafmöglichkeiten: die mildeste war die tatsächliche, die Austreibung aus dem Paradies, die zweite: Zerstörung des Paradieses, die dritte — und diese wäre die schrecklichste Strafe gewesen—: Absperrung des ewigen Lebens und unveränderte Belassung alles andern. S.77
Aus: Franz Kafka: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß Herausgegeben von Max Brod, Fischer Taschenbuchverlag

Erbsünde
Die Erbsünde, das alte Unrecht, das der Mensch begangen hat, besteht in dem Vorwurf, den der Mensch macht und von dem er nicht abläßt, daß ihm ein Unrecht geschehen ist, daß an ihm die Erbsünde begangen wurde. S.219
Aus: Franz Kafka: Beschreibung eines Kampfes, Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlaß Herausgegeben von Max Brod, Fischer Taschenbuchverlag, Band 2066

Prometheus

Von Prometheus berichten vier Sagen: Nach der ersten wurde er, weil er die Götter an die Menschen verraten hatte, am Kaukasus festgeschmiedet, und die Götter schickten Adler, die von seiner immer wachsenden Leber fraßen.

Nach der zweiten drückte sich Prometheus im Schmerz vor den zuhackenden Schnäbeln immer tiefer in den Felsen, bis er mit ihm eins wurde.

Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein Verrat vergessen, die Götter vergaßen, die Adler, er selbst.

Nach der vierten wurde man des grundlos Gewordenen müde. Die Götter wurden müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloß sich müde.
Blieb das unerklärliche Felsgebirge. — Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden.
Aus: Franz Kafka: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß S.74
Herausgegeben von Max Brod, Fischer Taschenbuchverlag

Welt (Gut und Böse)
Im Kampf zwischen dir und der Welt sekundiere der Welt. S.34

Man darf niemanden betrügen, auch nicht die Welt um ihren Sieg. Es gibt nichts anderes als eine geistige Welt; was wir sinnliche Welt nennen, ist das Böse in der geistigen, und was wir böse nennen, ist nur eine Notwendigkeit eines Augenblicks unserer ewigen Entwicklung. S.34

Mit stärkstem Licht kann man die Welt auflösen. Vor schwachen Augen wird sie fest, vor noch schwächeren bekommt sie Fäuste, vor noch schwächeren wird sie schamhaft und zerschmettert den, der sie anzuschauen wagt. S.34

Alles ist Betrug: das Mindestmaß der Täuschungen suchen, in üblichen bleiben, das Höchstmaß suchen. Im ersten Fall betrügt man das Gute, indem man sich dessen Erwerbung zu leicht machen will, das Böse, indem man ihm allzu ungünstige Kampfbedingungen setzt. Im zweiten Fall betrügt man das Gute, indem man also nicht einmal im Irdischen nach ihm strebt. Im dritten Fall betrügt man das Gute, indem man sich möglichst weit von ihm entfernt, das Böse, indem man hofft, durch seine Höchststeigerung es machtlos zu machen. Vorzuziehen wäre also hiernach der zweite Fall, denn das Gute betrügt man immer, das Böse in diesem Fall, wenigstens dem Anschein nach, nicht. S.34

Es gibt Fragen, über die wir nicht hinweg kommen könnten, wenn wir nicht von Natur aus von ihnen befreit wären. S.34

Die Sprache kann für alles außerhalb der sinnlichen Welt nur andeutungsweise, aber niemals auch nur annähernd vergleichsweise gebraucht werden, da sie, entsprechend der sinnlichen Welt, nur vom Besitz und seinen Beziehungen handelt. S.34

Man lügt möglichst wenig, nur wenn man möglichst wenig lügt, nicht wenn man möglichst wenig Gelegenheit dazu hat. S.35

Wer der Welt entsagt, muß alle Menschen lieben, denn er entsagt auch ihrer Welt. Er beginnt daher, das wahre menschliche Wesen zu ahnen, das nicht anders als geliebt werden kann, vorausgesetzt, daß man ihm ebenbürtig ist. S.35

Wer innerhalb der Welt seinen Nächsten liebt, tut nicht mehr und nicht weniger Unrecht, als wer innerhalb der Welt sich selbst liebt. Es bliebe nur die Frage, ob das erstere möglich ist.
Die Tatsache, daß es nichts anderes gibt als eine geistige Welt, nimmt uns die Hoffnung und gibt uns die Gewißheit. S.35

Ist die Tatsache der Religionen ein Beweis für die Unmöglichkeit des Einzelnen, dauernd gut zu sein? Der Gründer reißt sich vom Guten los, verkörpert sich. Tut er es um der andern willen oder weil er glaubt, nur mit den andern bleiben zu können, was er war, weil er die >Welt< zerstören muß, um sie nicht lieben zu müssen? S.63

Das Böse ist eine Ausstrahlung des menschlichen Bewußtseins in bestimmten Übergangsstellungen. Nicht eigentlich die sinnliche Welt ist Schein, sondern ihr Böses, das allerdings für unsere Augen die sinnliche Welt bildet. S.75

Vor dem Betreten des Allerheiligsten musst du die Schuhe ausziehen, aber nicht nur die Schuhe, sondern alles, Reisekleid und Gepäck, und darunter die Nacktheit und alles, was unter der Nacktheit ist, und alles, was sich unter dieser verbirgt, und dann den Kern und den Kern des Kerns, dann das übrige und dann den Rest und dann noch den Schein des unvergänglichen Feuers. Erst das Feuer selbst wird vom Allerheiligsten aufgesogen und läßt sich von ihm aufsaugen, keines von beiden kann dem widerstehen.
Nicht Selbstabschüttelung, sondern Selbstaufzehrung. S.77

Zerstören dieser Welt wäre nur dann die Aufgabe, wenn sie erstens böse wäre, das heißt widersprechend unserem Sinn, und zweitens, wenn wir imstande wären, sie zu zerstören. Das erste erscheint uns so, des zweiten sind wir nicht fähig. Zerstören können wir diese Welt nicht, denn wir haben sie nicht als etwas Selbständiges aufgebaut, sondern haben uns in sie verirrt, noch mehr: diese Welt ist unsere Verirrung, als solche ist sie aber selbst ein Unzerstörbares, oder vielmehr etwas, das nur durch seine Zu—Ende—Führung, nicht durch Verzicht zerstört werden kann, wobei allerdings auch das Zuendeführen nur eine Folge von Zerstörungen sein kann, aber innerhalb dieser Welt. S.80

Es ist der alte Scherz: Wir halten die Welt und klagen, daß sie uns hält. S.84

Du leugnest in gewissem Sinn das Vorhandensein dieser Welt. Du erklärst das Dasein als ein Ausruhn, ein Ausruhn in der Bewegung. S.84

Das entscheidend Charakteristische dieser Welt ist ihre Vergänglichkeit. In diesem Sinn haben Jahrhunderte nichts vor dem augenblicklichen Augenblick voraus. Die Kontinuität der Vergänglichkeit kann also keinen Trost geben; daß neues Leben aus den Ruinen blüht, beweist weniger die Ausdauer des Lebens als des Todes. Will ich nun diese Welt bekämpfen, muß ich sie in ihrem entscheidend Charakteristischen bekämpfen, also in ihrer Vergänglichkeit. Kann ich das in diesem Leben, und zwar wirklich, nicht nur durch Hoffnung und Glauben? S.85

Du willst also die Welt bekämpfen, und zwar mit Waffen, die wirklicher sind als Hoffnung und Glaube. Solche Waffen gibt es wahrscheinlich, aber sie sind nur unter bestimmten Voraussetzungen erkennbar und brauchbar; ich will zuerst sehn, ob du diese Vorraussetzungen hast.
Sieh nach, aber wenn ich sie nicht habe, kann ich sie vielleicht erwerben.
Gewiß, aber dabei könnte ich dir nicht helfen.
Du kannst mir also nur helfen, wenn ich die Voraussetzungen schon erworben habe.
Ja, genauer gesagt kann ich dir überhaupt nicht helfen, denn wenn du die Voraussetzungen hättest, hättest du schon alles.
Wenn es so steht, warum wolltest du mich also erst prüfen?
Nicht um dir zu zeigen, was dir fehlt, sondern, daß dir etwas fehlt. Einen gewissen Nutzen hätte ich dir damit vielleicht bringen können, denn du weißt zwar, daß dir etwas fehlt, aber du glaubst es nicht.
Du bietest mir also auf meine ursprüngliche Frage nur den Beweis dafür an, daß ich die Frage stellen mußte.
Ich biete doch etwas mehr, etwas, was du entsprechend deinem Stande jetzt überhaupt nicht präzisieren kannst. Ich biete den Beweis dafür, daß du eigentlich die ursprüngliche Frage anders hättest stellen müssen.
Das bedeutet also: Du willst oder kannst mir nicht antworten.
»Dir nicht antworten« — so ist es.
Und diesen Glauben — den kannst du geben. S.85
Aus: Franz Kafka: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß
Herausgegeben von Max Brod, Fischer Taschenbuchverlag

Leiden
Das Leiden ist das positive Element dieser Welt, ja es ist die einzige Verbindung zwischen dieser Welt und dem Positiven.
Nur hier ist Leiden Leiden. Nicht so, als ob die, welche hier leiden, anderswo wegen dieses Leidens erhöht werden sollen, sondern so, daß das, was in dieser Welt leiden heißt, in einer andern Welt, unverändert und nur befreit von seinem Gegensatz, Seligkeit ist. S.80

Alle Leiden um uns müssen auch wir leiden. Christus hat für die Menschheit gelitten, aber die Menschheit muß für Christus leiden. Wir alle haben nicht einen Leib, aber ein Wachstum, und das führt uns durch alle Schmerzen, ob in dieser oder jener Form. So wie das Kind durch alle Lebensstadien bis zum Greis und zum Tod sich entwickelt (und jenes Stadium im Grunde dem früheren, im Verlangen oder in Furcht, unerreichbar scheint), ebenso entwickeln wir uns (nicht weniger tief mit der Menschheit verbunden als mit uns selbst) durch alle Leiden dieser Welt. Für Gerechtigkeit ist in diesem Zusammenhang kein Platz, aber auch nicht für Furcht vor den Leiden oder für die Auslegung des Leidens als eines Verdienstes. S.86

Du kannst dich zurückhalten von den Leiden der Welt, das ist dir freigestellt und entspricht deiner Natur, aber vielleicht ist gerade dieses Zurückhalten das einzige Leid, das du vermeiden könntest. S.87
Aus: Franz Kafka: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß
Herausgegeben von Max Brod, Fischer Taschenbuchverlag

Glauben
Der Mensch kann nicht leben ohne ein dauerndes Vertrauen zu etwas Unzerstörbarem in sich, wobei sowohl das Unzerstörbare als auch das Vertrauen ihm dauernd verborgen bleiben können. Eine der Ausdrucksmöglichkeiten dieses Verborgenbleibens ist der Glaube an einen persönlichen Gott. S.34

Jedem Menschen werden hier zwei Glaubensfragen gestellt, erstens nach der Glaubenswürdigkeit dieses Lebens, zweitens nach der Glaubenswürdigkeit seines Zieles. Beide Fragen werden von jedem durch die Tatsache seines Lebens so fest und unvermittelt mit »ja« beantwortet, daß es unsicher werden könnte, ob die Fragen richtig verstanden worden sind. Jedenfalls muß man sich nun zu diesem seinen eigenen Grund-Ja erst durcharbeiten, denn noch weit unter ihrer Oberfläche sind die Antworten im Ansturm der Fragen verworren und ausweichend. S.91

»Daß es uns an Glauben fehle, kann man nicht sagen. Allein die einfache Tatsache unseres Lebens ist in ihrem Glaubenswert gar nicht auszuschöpfen.«
Hier wäre ein Glaubenswert? Man kann doch nicht nicht-leben «
»Eben in diesem >kann doch nicht< steckt die wahnsinnige Kraft des Glaubens; in dieser Verneinung bekommt sie Gestalt.« S.91
Aus: Franz Kafka: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß
Herausgegeben von Max Brod, Fischer Taschenbuchverlag

Wahrheit
Unsere Kunst ist ein von der Wahrheit Geblendet-Sein: Das Licht auf dem zurückweichenden Fratzengesicht ist wahr, sonst nichts. S.35

Wahrheit ist unteilbar, kann sich also selbst nicht erkennen; wer sie erkennen will, muß Lüge sein. S.36

In einer Welt der Lüge wird die Lüge nicht einmal durch ihren Gegensatz aus der Welt geschafft, sondern nur durch eine Welt der Wahrheit. S.80

Es gibt für uns zweierlei Wahrheit, so wie sie dargestellt wird durch den Baum der Erkenntnis und den Baum des Lebens. Die Wahrheit des Tätigen und die Wahrheit des Ruhenden. In der ersten teilt sich das Gute vom Bösen, die zweite ist nichts anderes als das Gute selbst, sie weiß weder vom Guten noch vorn Bösen. Die erste Wahrheit ist uns wirklich gegeben, die zweite ahnungsweise. Das ist der traurige Anblick. Der fröhliche ist, daß die erste Wahrheit dem Augenblick, die zweite der Ewigkeit gehört, deshalb verlischt auch die erste Wahrheit im Licht der zweiten. S.80
Aus: Franz Kafka: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß
Herausgegeben von Max Brod, Fischer Taschenbuchverlag

Freier Wille
Der Geist wird erst frei, wenn er aufhört, Halt zu sein. S.36

Dein Wille ist frei, heißt: er war frei, als er die Wüste wollte, er ist frei, da er den Weg zu ihrer Durchquerung wählen kann, er ist frei, da er die Gangart wählen kann, er ist aber auch unfrei, da du durch die Wüste gehen mußt, unfrei, da jeder Weg labyrinthisch jedes Fußbreit Wüste berührt. S.87

Ein Mensch hat freien Willen, und zwar dreierlei: Erstens war er frei, als er dieses Leben wollte; jetzt kann er es allerdings nicht mehr rückgängig machen, denn er ist nicht mehr jener, der es damals wollte, es wäre denn insoweit, als er seinen damaligen Willen ausführt, indem er lebt.
Zweitens ist er frei, indem er die Gangart und den Weg dieses Lebens wählen kann.
Drittens ist er frei, indem er als derjenige, der einmal wieder sein wird, den Willen hat, sich unter jeder Bedingung durch das Leben gehen und auf diese Weise zu sich kommen zulassen, und zwar auf einem zwar wählbaren, aber jedenfalls derartig labyrinthischen Weg, daß er kein Fleckchen dieses Lebens unberührt läßt.
Das ist das Dreierlei des freien Willens, es ist aber auch, da es gleichzeitig ist, ein Einerlei und ist im Grunde so sehr Einerlei, daß es keinen Platz hat für einen Willen, weder für einen freien noch unfreien. S.87
Aus: Franz Kafka: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß
Herausgegeben von Max Brod, Fischer Taschenbuchverlag

Ewigkeit
Ich sollte Ewigkeit begrüßen und bin, wenn ich sie finde, traurig. Ich sollte durch Ewigkeit mich vollkommen fühlen und fühle mich hinabgedrückt?
Du sagst: ich sollte — fühlen; damit drückst du ein Gebot aus, das in dir ist?
So meine ich es.
Nun ist es aber nicht möglich, daß nur ein Gebot in dich gelegt ist, in der Weise, daß du dieses Gebot nur hörst und sonst nichts geschieht. Ist es ein fortwährendes oder nur ein zeitweiliges Gebot?
Das kann ich nicht entscheiden, doch glaube ich, daß es ein fortwährendes Gebot ist, ich aber nur zeitweilig es höre.
Woraus schließest du das?
Daraus, daß ich es gewissermaßen höre, auch wenn ich es nicht höre, in der Weise, daß es nicht selbst hörbar wird, aber die Gegenstimme dämpft oder allmählich verbittert, die Gegenstimme nämlich, welche mir die Ewigkeit verleidet.
Und hörst du ähnlich auch die Gegenstimme dann, wenn das Gebot zur Ewigkeit spricht?
Wohl auch,ja manchmal glaube ich, ich höre gar nichts anderes als die Gegenstimme, alles andere sei nur Traum und ich ließe den Traum in den Tag hineinreden.
Warum vergleichst du das innere Gebot mit einem Traum? Scheint es wie dieser sinnlos, ohne Zusammenhang, unvermeidlich, einmalig, grundlos beglückend oder ängstigend, nicht zur Gänze mitteilbar und zur Mitteilung drängend?
Alles das; — sinnlos, denn nur wenn ich ihr nicht folge, kann ich hier bestehen; ohne Zusammenhang, ich weiß nicht, wer es gebietet und worauf er abzielt; unvermeidlich, es trifft mich unvorbereitet und mit der gleichen Überraschung wie das Träumen den Schlafenden, der doch, da er sich schlafen legte, auf Träume gefaßt sein mußte. Es ist einmalig oder scheint wenigstens so, denn ich kann es nicht befolgen, es vermischt sich nicht mit dem Wirklichen und behält dadurch seine unberührte Einmaligkeit; es beglückt und ängstigt grundlos, allerdings viel seltener das erste als das zweite; es ist nicht mitteilbar, weil es nicht faßbar ist und es drängt zur Mitteilung aus demselben Grunde. S.81f.

Ewigkeit ist aber nicht das Stillstehn der Zeitlichkeit.
Was an der Vorstellung des Ewigen bedrückend ist: die uns unbegreifliche Rechtfertigung, welche die Zeit in der Ewigkeit erfahren muß und die daraus folgende Rechtfertigung unserer selbst, so , wie wir sind. S.83

Wieviel bedrückender als die unerbittlichste Überzeugung von unserem gegenwärtigen sündhaften Stand ist selbst die schwächte Überzeugung von der einstigen, ewigen Rechtfertigung unserer Zeitlichkeit. Nur die Kraft im Ertragen dieser zweiten Überzeugung, welche in ihrer Reinheit die erste voll umfaßt, ist das Maß des Glaubens.
Manche nehmen an, daß neben dem großen Urbetrug noch in jedem Fall eigens für sie ein kleiner besonderer Betrug veranstaltet wird, daß also, wenn ein Liebesspiel auf der Bühne aufgeführt wird, die Schauspielerin außer dem verlogenen Lächeln für ihren Geliebten auch noch ein besonders hinterhältiges Lächeln für den ganz bestimmten Zuschauer auf der letzten Galerie hat. Das heißt zu weit gehen. S.83
Aus: Franz Kafka: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß
Herausgegeben von Max Brod, Fischer Taschenbuchverlag