Wilhelm Kamlah (1905 – 1976)

Deutscher Philosoph, der Musikwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Theologie sowie Philosophie studiert hat und seit 1951 Professor in Hannover, seit 1954 in Erlangen; war. Kamlah war Schüler von Rudolf Bultmann und Martin Heidegger.

Verblendung inmitten der Welt des Wissens
Das menschliche Ringen um die Wahrheit ist ja nicht erst von heute und auch nicht erst drei Jahrhunderte alt, so daß wir unsere gegenwärtige paradoxe Situation nicht durchschauen können ohne einen Blick in die Geschichte. Wir finden dort mehrfach die Erfahrung eines Durchbruchs zur Wahrheit, die jedesmal mit der Überzeugung einhergeht, daß der Mensch nicht allein hier und da irrt, sondern daß er wesentlich dem Irren verfallen ist, so nämlich, daß er ohne die Teilhabe am jetzt sich ereignenden Durchbruch zum Licht die Wahrheit total verfehlt. Die Möglichkeit also, daß er wesentlich schon erleuchtet, wesentlich aufgeklärt sein könnte und dabei zugleich wesentlich verblendet, wird in diesen Durchbruchserfahrungen gerade nicht in Betracht gezogen. Vielmehr tritt dann immer eine reiche Bildersprache auf, die den eindeutigen Gegensatz von Unwahrheit und Wahrheit zeigt durch Ausdrücke wie Finsternis, Blindheit, Verstrickung und dergleichen auf der einen Seite und durch die Bilder des Lichts, der Sonne und so fort auf der Gegenseite. Zum Beispiel in Platos Höhlengleichnis sind die Menschen, wie sie gewöhnlich leben, Gefesselte in einer dunklen Höhle, von denen einzelne dann befreit und zum Licht der Sonne heraufgeführt werden. Oder im Lehrgedicht des Parmenides ist vom Tor zur Wahrheit die Rede, das durch die Sonnenjungfrauen aufgestoßen wird. Oder das Evangelium erzählt von der Nacht, in der den Hirten der Engel erschien, »und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie«.

So unverwechselbar verschieden diese Berichte vom Durchbruch zur Wahrheit sein mögen, gemeinsam ist ihnen doch dies: Es wird da immer ein entscheidender, einmaliger Akt genannt, der den Übergang aus der Dunkelheit der Irre ins Licht der Wahrheit bedeutet. Was da gewonnen wird, ist einmalig die eine, wesentliche Wahrheit, nicht aber eine vereinzelte wahre Einsicht unter anderen. Und was da überwunden wird, ist die wesentliche Illusion, nicht aber eine beliebige Täuschung unter möglichen anderen. Und an diesem wesentlichen Erleuchtungsakt gemessen, sind nun fernerhin die fatale Ungreifbarkeit und Unbestimmtheit der Illusionen des heutigen Menschen derart, daß er auch nicht sieht, oh er eine einmalige, wesentliche Befreiung von so entscheidender Bedeutsamkeit überhaupt noch erwarten darf. Sind die Illusionen, die ihn beirren, denn überhaupt wurzelhaft vereinigt in so etwas wie einer Grundillusion, der dann »die« Wahrheit als die einmalig gründende und befreiende gegenüberstünde? Oder gibt es für ihn nur noch vielerlei Illusionen, die allenfalls mehr oder weniger miteinander zusammenhängen, aber doch so, daß wir jetzt in die eine geraten und dann in irgendeine andere?

Parmenides und Plato glauben an die eine, wesentliche Wahrheit, die ereignishaft aufleuchtet und alle einzelnen Wahrheiten, die sich dann aussprechen lassen, wurzelhaft und ursprünglich in sich befaßt. Plato kennt zwar das wahrhaft Seiende als die Vielheit von »Ideen«, über denen jedoch einigend wie die Sonne die Idee des »Guten« steht. Wie aber verhält es sich mit der Unsumme vielfältiger Wahrheiten, die von der Wissenschaft seither angehäuft wurde und die wir nun in einer durchaus nicht einmaligen, sondern durch Jahre von Schule und Bildung anhaltenden Erleuchtung mehr oder weniger erlernen? Ist noch so etwas wie ein einigender Quellpunkt erkennbar, von dem her alle diese Wahrheiten einzelner Sätze mit so etwas wie der Grundwahrheit gespeist werden? Offenbar erwarten wir zumindest dies nicht mehr, daß wir die eine Wahrheit als Ganzheit aller jener Wahrheiten zu ergreifen hätten.

Wir bewundern noch universal Wissende wie Leibniz, aber wir suchen nicht mehr Universalität wissenschaftlichen Wissens als Totalität eines einmalig Ganzen. Denn wir halten wissenschaftliche Erkenntnisse für »interessant« und auch für praktisch notwendig, aber weder im ganzen noch im einzelnen in einem erheblichen Sinne für lebensnotwendig. Was »interessant« ist, kann auch uninteressant sein, und so mag sich der eine für Atomphysik, der andere für vergleichende Sprachwissenschaft interessieren. Es wäre dann zu fragen, ob vielleicht das Wesentliche von Wissenschaft in jeder besonderen wissenschaftlichen Forschung zu erfahren sei. Aber sehr viel skeptischer würden wir fragen, ob auch das Wesentliche einer Grundwahrheit an allen jenen Fundstätten verborgen liege, das uns entscheidend von so etwas wie der wesentlichen Illusion befreit. Wenn wir also nach alter Tradition noch immer zu sagen gewohnt sind, daß die Wissenschaft nach der Wahrheit frage, so denken wir dabei kaum noch an jene ursprüngliche und einigende Wahrheit, deren wesentliches Aufleuchten einst die Erfahrung griechischer Denker war. Zwar sind auch wir noch mittelbar auf die vielen Wahrheiten der vielen Wissenschaften angewiesen, weil wir auf das Funktionieren von Apparaten angewiesen sind, die auf Grund wissenschaftlicher Erkenntnis entwickelt wurden. Aber unmittelbar zum Lebenkönnen bedürfen wir der Wahrheit einzelner wissenschaftlicher Sätze, mögen sie noch so interessant sein, in keinem Falle. Platos Höhlengleichnis ist auf moderne Physik oder Philologie nicht mehr anwendbar.

Wir sehen aber noch etwas anderes an jenen einmaligen Durchbrüchen von Wahrheit, die als datierbare Ereignisse unserer Geschichte bekannt sind. Der eigentümlichen Weise, in der man die durchbrechende Wahrheit versteht, entspricht jeweils eine eigentümliche Angabe des verantwortlichen Trägers der Illusion.

Wo wie im Christentum der Durchbruch der Wahrheit die göttliche Offenbarung ist, da ist der Träger des Irrens die menschliche Sünde. Der gefallene Mensch in seinem widergöttlichen Hochmut ist der verblendete, in Finsternis verstrickte Mensch. Bei den Griechen hingegen, wo die Vernunft die Wahrheit vernimmt, sind es die Sinne, die man für Blindheit und Täuschung verantwortlich macht. In der neuzeitlichen Aufklärung wiederum ist gerade die überlieferte Religion, die einst die Wahrheit gebracht hatte, für die Torheiten und Unmenschlichkeiten des Aberglaubens verantwortlich. Seit aber die eine Wahrheit in eine Unsumme interessanter Wahrheiten zerfiel, ist auch der eine, entscheidend verantwortliche Illusionsträger nicht mehr zu finden.

Sinnestäuschungen sind heute nur noch ein Spezialkapitel der Psychologie oder der Sinnesphysiologie. Niemand wird mehr die paradoxe These des Parmenides wiederholen wollen, daß es gerade unsere Sinne seien, die uns blind und taub machen. Aber auch die Sünde hindert den Chemiker nicht, glänzende Entdeckungen zu vollbringen und insofern jedenfalls an Wahrheit teilzuhaben. Und durch Aufklärung sind wir zwar klüger als abergläubische Buschmänner und doch keineswegs vor wesentlichen Illusionen gesichert. Wir rechnen vielmehr mit der Möglichkeit, daß gerade die überlieferte Religion eine Wahrheit bergen könnte, die aller Aufgeklärtheit überlegen ist, indem wir zugleich Illusionen eben der Aufgeklärtheit kennengelernt haben, der Verkehrung sachlichen Wissens, die den Täuschungen des Primitiven zumindest gleichrangig sind. Seit dem Zeitalter der Aufklärung tritt daher immer wieder die These auf, die Vernunft selbst, die ratio, sei der verantwortliche Träger der wesentlichen Illusion, von der nur die Rückkehr in den Ursprung des Mythos befreien könne. Jedoch auch dieser Antirationalismus hat sich als ein unzulässiges Generalrezept erwiesen. Der sichere Griff nach dem allein verantwortlichen Träger jeglichen Irrens gelingt nicht mehr.

Dies also hat uns der Blick in die Geschichte gezeigt: Im Christentum wird der Mensch in einer Verblendung gesehen, die ihn durch und durch entstellt, die ihn als satanische Verblendung daran hindert, gut zu handeln und sein Heil zu gewinnen, woraufhin dann, wie übrigens ähnlich in der antiken Gnosis, der Erleuchtungsakt Reinigung und Erlösung zugleich bedeutet. Aber auch im Griechentum bedeutet der Durchbruch zum Wissen ursprünglich eine totale Umwendung und Befreiung des Menschen zum Licht. Erst im Verlauf der abendländischen Geschichte und auf eine in dieser Kürze nicht beschreibbare Weise zersplittert die eine Wahrheit der befreienden Vernunft in die vielen Wahrheiten einer methodischen Wissenschaft, die nun dazu verleitet, die Täuschung nur noch als Unkenntnis hinsichtlich partieller Sachverhalte zu verstehen. Da diese Wissenschaft aber von ihrem antiken Ursprung her und dazu durch ihre neuzeitlichen Erfolge beglaubigt den Anspruch aufrecht erhält, Träger der wesentlichen Wahrheit zu sein, wird jene paradoxe Situation möglich, daß wir inmitten eines nie gekannten Lichtes sachlichen Wissens zugleich alten Täuschungen des Menschseins preisgegeben sind, die wir in dieser wahrhaft blendenden Helligkeit nur schwer durchschauen.

Wir haben also Anlaß, nun weiter zu fragen, ob jene vergangene, der Antike weithin gemeinsame Auffassung der menschlichen Illusionen als einer heillosen, wesentlichen Verblendung das Wesen des Menschen und damit unserer selbst nicht vielleicht genauer angibt, als wir noch zu erkennen gewohnt sind. Achten wir noch einmal auf jene Ansätze zu eben dieser Auffassung, die wir in unserer zwielichtigen Gegenwart doch immer noch finden: Wir machen die Erfahrung, daß wir gute Stunden haben, in denen wir »klarer sehen«, gleichsam in einer reineren Atmosphäre Erkenntnisse haben, die uns dann freilich wieder entgleiten. Solche Erkenntnisse gehen einher mit einer Verwandlung unserer selbst, und desgleichen kennen wir Verfassungen unserer selbst, in denen wir wenigstens spüren, daß sie uns die Wahrheit verstellen.

Wir verstehen doch noch ganz gut, was die Philosophen der Antike meinten, wenn sie etwa von der Blindheit der Affekte sprachen, die der Klarheit der Vernunft entgegensteht. Wer zum Beispiel verärgert ist, der weiß irgendwie, zumindest hernach, daß er in seinen Vorwurf en gegen den anderen übertreibt, die wahren Sachverhalte entstellt, daß er, wie unsere Sprache so aufschlußreich sagt, den Dingen und den Menschen um ihn nicht »gerecht wird«. Oder der Verzweifelte siebt ein partielles Leiden als die totale Vereitelung seines Lebenkönnens und ist erbittert gegen denjenigen, der seinen notwendigen Untergang als einen solchen nicht anerkennt. Oder der Gekränkte sinnt auf eine mörderische Rache, die in keinerlei gerechtem Verhältnis zu seiner Kränkung steht, und sieht dabei wiederum die Dinge im »falschen Licht«.

Oder im Bereich des Geschlechtlichen bedeuten Verliebtheit, Eifersucht, Sehnsucht, Überdruß illusionäre Affekte mit der Folge fehlgeleiteten Handelns mannigfacher Art. An dem vieldiskutierten Kinsey-Report ist das Mißlichste doch wohl dies, daß wissenschaftliches Sachwissen in einem Raume Licht verbreiten soll, dessen verworrene Dunkelheit nun einmal nicht der bloßen Unkenntnis hinsichtlich partieller Sachverhalte zuzuschreiben ist, weil hier vielmehr Übermächte walten, die am ehesten verstehen lassen, warum die Alten die Verblendung zugleich als »Verstrickung« verstanden, als heillose Fesselung eines Wesens, das seiner selbst nicht mächtig ist. Nehmen wir als harmlosesten Fall die bekannte Täuschung des Verliebten. Was ihr zu folgen pflegt, ist die »Enttäuschung«, in der nun aber keineswegs die Täuschung behoben, sondern durch eine gegenläufige Täuschung abgelöst wird, durch die ungerechte Entstellung des anderen nun zum Schlimmen.

Gerade dort, wo Menschen einander am nächsten begegnen, sind sie am wenigsten fähig, einander so zu sehen, wie sie in Wahrheit sind. Da aber ein Mensch überhaupt kein beobachtbares Ding ist wie ein Baum oder ein lebloses Objekt, da er vielmehr sich anders gar nicht erschließt als in der Kommunikation mit anderen Menschen, entsteht so die Frage, ob es denn überhaupt jemandem möglich sei, irgendeinen anderen Menschen wahrhaft zu erkennen. Wir sagen zwar, jemand habe jetzt »sein wahres Gesicht gezeigt«. Aber gerade diese Rede pflegt eine Formel der Anklage zu sein, der Gerechtigkeit nicht zuzutrauen ist. Und auch die gereifte Liebe, die den anderen nun endlich wahrhaft zu kennen vermeint, wird erfahren müssen, daß dieser andere sich immer wieder neu offenbart, daß er niemals festzulegen ist auf seinen »eigentlichen Charakter«, daß gerade der nächste Mensch sich fort und fort ins Unerkennbare verbirgt.

Kröner, Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 243, Mensch und Menschlichkeit, Das Heidelberger Studio, eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks S. 55-61
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