Immanuel Kant (1724 – 1804)

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Inhaltsverzeichnis

Peronifizierte Idee des guten Prinzips
Gründung der Herrschaft des guten Prinzips auf Erden
Die christliche Religion als natürliche Religion

Personifizierte Idee des guten Prinzips

Das, was allein eine Welt zum Gegenstande des göttlichen Ratschlusses und zum Zwecke der Schöpfung machen kann, ist die Menschheit (das vernünftige Weltwesen überhaupt) in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit, wovon als oberster Bedingung die Glückseligkeit die unmittelbare Folge in dem Willen des höchsten Wesens ist. — Dieser allein Gott wohlgefällige Mensch ,,ist in ihm von Ewigkeit her“; die Idee desselben geht von seinem Wesen aus; er ist sofern kein erschaffenes Ding, sondern sein eingeborener Sohn; ,,das Wort (das Werde!), durch welches alle anderen Dinge sind, und ohne das nichts existiert, was gemacht ist;“ (denn um seinet-, d. i. des vernünftigen Wesens in der Welt willen, so wie es seiner moralischen Bestimmung nach gedacht werden kann, ist alles gemacht.) — ,,Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit.“ — ,,In ihm hat Gott die Welt geliebt“, und nur in ihm und durch Annehmung seiner Gesinnungen können wir hoffen, ,,Kinder Gottes zu werden“ u. s. w.

Zu diesem Ideal der moralischen Vollkommenheit, d. i. dem Urbilde der sittlichen Gesinnung in ihrer ganzen Lauterkeit uns zu erheben, ist nun allgemeine Menschenpflicht, wozu uns auch diese Idee selbst, welche von der Vernunft uns zur Nachstrebung vorgelegt wird, Kraft geben kann. Eben darum aber, weil wir von ihr nicht die Urheber sind, sondern sie in dem Menschen Platz genommen hat, ohne daß wir begreifen, wie die menschliche Natur für sie auch nur habe empfänglich sein können, kann man besser sagen: daß jenes Urbild vorn Himmel zu uns herabgekommen sei, daß es die Menschheit angenommen habe (denn es ist nicht ebensowohl möglich sich vorzustellen, wie der von Natur böse Mensch das Böse von selbst ablege und sich zum Ideal der Heiligkeit erhebe, als daß das letztere die Menschheit (die für sich nicht böse ist) annehme und sich zu ihr herablasse. Diese Vereinigung mit uns kann also als ein Stand der Erniedrigung des Sohnes Gottes angesehen werden, wenn wir uns jenen göttlich gesinnten Menschen als Urbild für uns so vorstellen, wie er, obzwar selbst heilig und als solcher zu keiner Erduldung von Leiden verhaftet, diese gleichwohl im größten Maße übernimmt, um das Weltbeste zu befördern; dagegen der Mensch, der nie von Schuld frei ist, wenn er auch dieselbe Gesinnung angenommen hat die Leiden, die ihn, auf welchem Wege es auch sei, treffen mögen, doch als von ihm verschuldet ansehen kann, mithin sich der Vereinigung seiner Gesinnung mit einer solchen Idee, obzwar sie ihm zum Urbilde dient, unwürdig halten muß.

Das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit (mithin einer moralischen Vollkommenheit, so wie sie an einem von Bedürfnissen und Neigungen abhängigen Weltwesen möglich ist) können wir uns nun nicht anders denken als unter der Idee eines Menschen, der nicht allein alle Menschenpflicht selbst auszuüben, zugleich auch durch Lehre und Beispiel das Gute in größtmöglichem Umfange um sich auszubreiten, sondern auch, obgleich durch die größten Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum schmählichsten Tode um des Weltbesten willen und selbst für seine Feinde zu übernehmen bereitwillig wäre. — Denn der Mensch kann sich keinen Begriff von dem Grade und der Stärke einer Kraft, dergleichen die einer moralischen Gesinnung ist, machen, als wenn er sie mit Hindernissen ringend und unter den größtmöglichen Anfechtungen dennoch überwindend sich vorstellt.

Im praktischen Glauben an diesen Sohn Gottes (sofern er vorgestellt wird, als habe er die menschliche Natur angenommen) kann nun der Mensch hoffen, Gott wohlgefällig (dadurch auch selig) zu werden; d. i. der, welcher sich einer solchen moralischen Gesinnung bewußt ist, daß er glauben und auf sich gegründetes Vertrauen setzen kann, er würde unter ähnlichen Versuchungen und Leiden (so wie sie zum Probierstein jener Idee gemacht werden) dem Urbilde der Menschheit unwandelbar anhängig und seinem Beispiele in treuer Nachfolge ähnlich bleiben, ein solcher Mensch und auch nur der allein ist befugt, sich für denjenigen zu halten, der ein des göttlichen Wohlgefallens nicht unwürdiger Gegenstand ist. S. 63-65 [...]

. . . Gründung der Herrschaft des guten Prinzips auf Erden
Der j ü d i s c h e Glaube ist seiner ursprünglichen Einrichtung nach ein Inbegriff bloß statutarischer Gesetze, auf welchem eine Staatsverfassung gegründet war; denn welche moralische Zusätze entweder damals schon oder auch in der Folge ihm a n g e h ä n g t worden sind, die sind schlechterdings nicht zum Judentum als einem solchen gehörig. Das letztere ist eigentlich gar keine Religion, sondern bloß Vereinigung einer Menge Menschen, die, da sie zu einem besonderen Stamm gehörten, sich zu einem gemeinen Wesen unter bloß politischen Gesetzen, mithin nicht zu einer Kirche formten: vielmehr s o l l t e es ein bloß weltlicher Staat sein, sodaß, wenn dieser etwa durch widrige Zufälle zerrissen worden, ihm noch immer der (wesentlich zu ihm gehörige) Glaube übrig bliebe) ihn (bei Ankunft des Messias) wohl einmal wiederherzustellen. Daß diese Staatsverfassung Theokratie zur Grundlage hat (sichtbarlich eine Aristokratie der Priester oder Anführer, die sich unmittelbar von Gott erteilter Instruktionen rühmten), mithin der Name von Gott, der doch hier bloß als weltlicher Regent, der über und an das Gewissen gar keinen Anspruch tut, verehrt wird, macht sie nicht zu einer Religionsverfassung. Der Beweis, daß sie das letztere nicht hat sein sollen, ist klar.

E r s t l i c h sind alle Gebote von der Art, daß auch eine politische Verfassung darauf halten und sie als Zwangsgesetze auferlegen kann, weil sie bloß äußere Handlungen betreffen, und obzwar die zehn Gebote, auch ohne daß sie öffentlich gegeben sein möchten, schon als ethische vor der Vernunft gelten, so sind sie in jener Gesetzgebung gar nicht mit der Forderung an die m o r a l i s c h e G e s i n n u n g in Befolgung derselben (worin nachher das Christentum das Hauptwerk setzte) gegeben, sondern schlechterdings nur auf die äußere Beobachtung gerichtet worden; welches auch daraus erhellt, daß:

z w e i t e n s alle Folgen aus der Erfüllung oder Übertretung dieser Gebote, alle Belohnung oder Bestrafung nur auf solche eingeschränkt werden, welche in dieser Welt jedermann zugeteilt werden können, und selbst diese auch nicht einmal nach ethischen Begriffen; indem beide auch die Nachkommenschaft, die an jenen Taten oder Untaten keinen praktischen Anteil genommen, treffen sollten, welches in einer politischen Verfassung allerdings wohl ein Klugheitsmittel sein kann, sich Folgsamkeit zu verschaffen, in einer ethischen aber aller Billigkeit zuwider sein würde. Da nun ohne Glauben an ein künftiges Leben gar keine Religion gedacht werden kann, so enthält das Judentum als ein solches, in seiner Reinigkeit genommen, gar keinen Religionsglauben. Dieses wird durch folgende Bemerkung noch mehr bestärkt. Es ist nämlich kaum zu zweifeln, daß die Juden ebensowohl wie andere, selbst die rohesten, Völker nicht auch einen Glauben an ein künftiges Leben, mithin ihren Himmel und ihre Hölle sollten gehabt haben; denn dieser Glaube dringt sich, kraft der allgemeinen moralischen Anlage in der menschlichen Natur, jedermann von selbst auf. Es ist also gewiß absichtlich geschehen, daß der Gesetzgeber dieses Volkes, ob er gleich als Gott selbst vorgestellt wird, doch nicht die mindeste Rücksicht auf das künftige Leben habe nehmen w o l le n, welches anzeigt, daß er nur ein politisches, nicht ein ethisches gemeines Wesen habe gründen wol len; in dem ersteren aber von Belohnungen und Strafen zu reden, die hier im Leben nicht sichtbar werden können, wäre unter jener Voraussetzung ein ganz inkonsequentes und unschickliches Verfahren gewesen. Ob nun gleich auch nicht zu zweifeln ist, daß die Juden sich nicht in der Folge, ein jeder für sich selbst, einen gewissen Religionsglauben werden gemacht haben, der den Artikeln ihres statutarischen beigemengt war, so hat jener doch nie ein zur Gesetzgebung des Judentums gehöriges Stück ausgemacht.

D r i t t e n s ist es soweit gefehlt, daß das Judentum eine zum Zustande der allgemeinen Kirche gehörige Epoche oder diese allgemeine Kirche wohl gar selbst zu seiner Zeit ausgemacht habe, daß es vielmehr das ganze menschliche Geschlecht von seiner Gemeinschaft ausschloß, als ein besonders vom Jehovah für sich auserwähltes Volk, welches alle anderen Völker anfeindete und dafür von jedem angefeindet wurde. Hierbei ist es auch nicht so hoch anzuschlagen, daß dieses Volk sich einen einigen, durch kein sichtbares Bild vorzustellenden Gott zum allgemeinen Weltherrscher setzte. Denn man findet bei den meisten anderen Völkern, daß ihre Glaubenslehre darauf gleichfalls hinausging und sich nur durch die V er e h ru n g gewisser jenem untergeordneten mächtigen Untergötter des Polytheismus verdächtig machte. Denn ein Gott, der bloß die Befolgung solcher Gebote will, dazu gar keine gebesserte moralische Gesinnung erfordert wird, ist doch eigentlich nicht dasjenige moralische Wesen, dessen Begriff wir zu einer Religion nötig haben. Diese würde noch eher bei einem Glauben an viele solche mächtige unsichtbare Wesen stattfinden, wenn ein Volk sich diese etwa so dächte, daß sie bei der Verschiedenheit ihrer Departements doch alle darin übereinkämen, daß sie ihres Wohlgefallens nur den würdigten, der mit ganzem Herzen der Tugend anhinge, als wenn der Glaube nur einem einzigen Wesen gewidmet ist, das aber aus einem mechanischen Kultus das Hauptwerk macht? S.139-141 [...]

Aus dem Judentum also — aber aus dem nicht mehr alt-väterlichen und unvermengten, bloß auf eigene politische Verfassung (die auch schon sehr zerrüttet war) gestellten, sondern aus dem schon durch allmählich darin öffentlich gewordene moralische Lehren mit einem Religionsglauben vermischten Judentum, in einem Zustande, wo diesem sonst unwissenden Volke schon viel fremde (griechische) Weisheit zugekommen war, welche vermutlich auch dazu beitrug, es durch Tugendbegriffe aufzuklären und bei der drückenden Last ihres Satzungsglaubens zu Revolutionen zuzubereiten, bei Gelegenheit der Verminderung der Macht der Priester, durch ihre Unterwerfung unter die Oberherrschaft eines Volkes, das allen fremden Volksglauben mit Gleichgültigkeit ansah, — aus einem solchen Judentum erhob sich nun plötzlich, obzwar nicht unvorbereitet, das Christentum. Der Lehrer des Evangeliums kündigte sich als einen vom Himmel gesandten, indem er zugleich als einer solchen Sendung würdig den Fronglauben (an gottesdienstliche Tage, Bekenntnisse und Gebräuche) für an sich nichtig, den moralischen dagegen, der allein die Menschen heiligt, ,,wie ihr Vater im Himmel heilig ist“, und durch den guten Lebenswandel seine Echtheit beweist, für den alleinseligmachenden erklärte, nachdem er aber durch Lehre und Leiden bis zum unverschuldeten und zugleich verdienstlichen Tode an seiner Person ein dem Urbilde der allein Gott wohlgefälligen Menschheit gemäßes Beispiel gegeben hatte, als zum Himmel, aus dem er gekommen war, wieder zurückkehrend, vorgestellt wird, indem er seinen letzten Willen (gleich als in einem Testamente) mündlich zurückließ und, was die Kraft der Erinnerung an sein Verdienst, Lehre und Beispiel betrifft, doch sagen konnte, ,,er (das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit) bleibe nichtsdestoweniger bei seinen Lehrjüngern bis an der Welt Ende.“ — Dieser Lehre, die, wenn es etwa um einen Geschichtsglauben wegen der Abkunft und des vielleicht überirdischen Ranges seiner Person zu tun wäre, wohl der Bestätigung durch Wunder bedurfte, die aber als bloß zum moralischen seelenbessernden Glauben gehörig aller solcher Beweistümer ihrer Wahrheit entbehren kann, werden in einem heiligen Buche noch Wunder und Geheimnisse beigesellt, deren Bekanntmachung selbst wiederum ein Wunder ist und einen Geschichtsglauben erfordert, der nicht anders als durch Gelehrsamkeit sowohl beurkundet als auch der Bedeutung und dem Sinne nach gesichert werden kann. S.142-144 [...]

Die christliche Religion als natürliche Religion

Wenn wir nun einen Lehrer annehmen, von dem eine Geschichte (oder wenigstens die allgemeine nicht gründlich zu bestreitende Meinung) sagt, daß er eine reine, aller Welt faßliche (natürliche) und eindringende Religion, deren Lehren als uns aufbehalten wir desfalls selbst prüfen können, zuerst öffentlich und sogar zum Trotz eines lästigen, zur moralischen Absicht nicht abzweckenden herrschenden Kirchenglaubens (dessen Frondienst zum Beispiel jedes anderen, in der Hauptsache bloß statutarischen Glaubens, dergleichen in der Welt zu derselben Zeit allgemein war, dienen kann) vorgetragen habe; wenn wir finden, daß er jene allgemeine Vernunftreligion zur obersten unnachläßlichen Bedingung eines jeden Religionsglaubens gemacht habe und nun gewisse Statuta hinzugefügt habe, welche Formen und Observanzen enthalten, die zu Mitteln dienen sollen, eine auf jene Prinzipien zu gründende Kirche zustande zu bringen: so kann man, unerachtet der Zufälligkeit und des Willkürlichen seiner hierauf abzweckenden Anordnungen, der letzteren doch den Namen der wahren allgemeinen Kirche, ihm selbst aber das Ansehen nicht streitig machen, die Menschen zur Vereinigung in dieselbe berufen zu haben, ohne den Glauben mit neuen belästigenden Anordnungen eben vermehren oder auch aus den von ihm zuerst getroffenen besondere heilige und für sich selbst als Religionsstücke verpflichtende Handlungen machen zu wollen.

Man kann nach dieser Beschreibung die Person nicht verfehlen, die zwar nicht als Stifter der von allen Satzungen reinen, in aller Menschen Herz geschriebenen Religion (denn die ist nicht von willkürlichem Ursprunge), aber doch der ersten wahren Kirche verehrt werden kann. — Zur Beglaubigung dieser seiner Würde als göttlicher Sendung wollen wir einige seiner Lehren als zweifelsfreie Urkunden einer Religion überhaupt anführen; es mag mit der Geschichte stehen, wie es wolle (denn in der Idee selbst liegt schon der hinreichende Grund zur Annahme), und die freilich keine anderen als reine Vernunftlehren werden sein können; denn diese sind es allein, die sich selbst beweisen, und auf denen also die Beglaubigung der anderen vorzüglich beruhen muß.

Zuerst will er,

daß nicht die Beobachtung äußerer bürgerlicher oder statutarischer Kirchenpflichten, sondern nur die reine moralische Herzensgesinnung den Menschen Gott wohlgefällig machen könne (Matth. V, 20—48);

daß Sünde in Gedanken vor Gott der Tat gleich geachtet werde (V. 28),

und überhaupt Heiligkeit das Ziel sei, wohin er streben soll (V. 48);

daß z.B. im Herzen hassen soviel sei als töten (V.22);

daß ein dem Nächsten zugefügtes Unrecht nur durch Genugtuung an ihm selbst, nicht durch gottesdienstliche Handlungen könne vergütet werden (V.24),

und im Punkte der Wahrhaftigkeit das bürgerliche Erpressungsmittel*, der Eid, der Achtung für die Wahrheit selbst Abbruch tue (V.34-37); -
*Es ist nicht wohl einzusehen, warum dieses klare Verbot wider das auf bloßen Aberglauben, nicht auf Gewissenhaftigkeit gegründete Zwangsmittel zum Bekenntnisse vor einem bürgerlichen Gerichtshofe von Religionslehrern für so unbedeutend gehalten wird. Denn daß es Aberglauben sei, auf dessen Wirkung man hier am meisten rechnet, ist daran zu erkennen, daß von einem Menschen, dem man nicht zutraut, er werde in einer feierlichen Aussage, auf deren Wahrheit die Entscheidung des Rechts der Menschen (des Heiligsten), was in der Welt ist, beruht, die Wahrheit sagen, doch geglaubt wird, er werde durch eine Formel dazu bewogen werden, die über jene Aussage nichts weiter enthält, als daß er die göttlichen Strafen (denen er ohnedem wegen einer solchen Lüge nicht entgehen kann) über sich aufruft, gleich als ob es auf ihn ankomme, vor diesem höchsten Gericht Rechenschaft zu geben oder nicht. — In der angeführten Schriftstelle wird diese Art der Beteuerung als eine ungereimte Vermessenheit vorgestellt, Dinge gleichsam durch Zauberworte wirklich zu machen, die doch nicht in unserer Gewalt sind.— Aber man sieht wohl, daß der weise Lehrer, der da sagt: daß, was über das Ja, Ja! Nein, Nein! als Beteuerung der Wahrheit geht, vom Übel sei, die böse Folge vor Augen gehabt habe, welche die Eide nach sich ziehen: daß nämlich die ihnen beigelegte größere Wichtigkeit die gemeine Lüge beinahe erlaubt macht.

dass der natürliche, aber böse Hang des menschlichen Herzens ganz umgekehrt werden solle; das süße Gefühl der Rache in Duldsamkeit (V.39, 40) und der Haß der Feinde in Wohltätigkeit (V. 44) übergehen müsse.

So sagt er, sei er gemeint, dem jüdischen Gesetze völlig Genüge zu tun (V. 17), wobei aber sichtbarlich nicht Schriftgelehrsamkeit, sondern reine Vernunftreligion die Auslegerin desselben sein muß; denn nach dem Buchstaben genommen, erlaubte es gerade das Gegenteil von diesem allem. —

Er läßt überdem doch auch unter den Benennungen der engen Pforte und des schmalen Weges die Mißdeutung des Gesetzes nicht unbemerkt, welche sich die Menschen erlauben, um ihre wahre moralische Pflicht vorbeizugehen und sich dafür durch Erfüllung der Kirchenpflicht schadlos zu halten (VII, 13).*
*Die enge Pforte und der schmale Weg, der zum Leben führt, ist der des guten Lebenswandels, die weite Pforte und der breite Weg, den viele wandeln, ist die Kirche. Nicht als ob es an ihr und ihren Satzun¬gen liege, daß Menschen verloren werden, sondern daß das Gehen in dieselbe und Bekenntnis ihrer Statute oder Celebrierung ihrer Gebrauche für die Art genommen wird, durch die Gott eigentlich gedient sein will.

Von diesen reinen Gesinnungen fordert er gleichwohl, dass sie sich gegen Taten beweisen sollen (V.16), und spricht dagegen denen ihre hinterlistige Hoffnung ab, die den Mangel derselben durch Anrufung und Hochpreisung des höchsten Gesetzgebers in der Person seines Gesandten zu ersetzen und sich Gunst zu erschmeicheln meinen (V. 21). Von diesen Werken will er, daß sie um des Beispiels willen zur Nachfolge auch öffentlich geschehen sollen (V, 16) und zwar in fröhlicher Gemütsstimmung, nicht als knechtisch abgedrungene Handlungen (VI, 16), und daß so, von einem kleinen Anfange der Mitteilung und Ausbreitung solcher Gesinnungen, als einem Samenkorne in gutem Acker oder einem Ferment des Guten, sich die Religion durch innere Kraft allmählich zu einem Reiche Gottes vermehren würde (XIII, 31, 32, 33). — Endlich faßt er alle Pflichten

1) in einer allgemeinen Regel zusammen (welche sowohl das innere als das äußere moralische Verhältnis der Menschen in sich begreift), nämlich: tue deine Pflicht aus keiner anderen Triebfeder als der unmittelbaren Wertschätzung derselben, d. i. liebe Gott (den Gesetzgeber aller Pflichten) über alles,

2) einer besonderen Regel, nämlich die das äußere Verhältnis zu anderen Menschen als allgemeine Pflicht betrifft: liebe einen jeden als dich selbst, d. i. befördere ihr Wohl aus unmittelbarem, nicht von eigennützigen Triebfedern abgeleitetem Wohlwollen; welche Gebote nicht bloß Tugendgesetze, sondern Vorschriften der Heiligkeit sind, der wir nachstreben sollen, in Ansehung deren aber die bloße Nachstrebung Tugend heißt. — Denen also, die dieses moralische Gute mit der Hand im Schoße als eine himmlische Gabe von oben herab ganz passiv zu erwarten meinen, spricht er alle Hoffnung dazu ab. Wer die natürliche Anlage zum Guten, die in der menschlichen Natur (als ein ihm anvertrautes Pfund) liegt, unbenutzt läßt, im faulen Vertrauen, ein höherer moralischer Einfluß werde wohl die ihm mangelnde sittliche Beschaffenheit und Vollkommenheit sonst ergänzen, dem droht er an, dass selbst das Gute, was er aus natürlicher Anlage möchte getan haben, um dieser Verabsäumung willen ihm nicht zu statten kommen solle (XXV, 29).

Was nun die dem Menschen sehr natürliche Erwartung eines dem sittlichen Verhalten des Menschen angemessenen Loses in Ansehung der Glückseligkeit betrifft, vornehmlich bei so manchen Aufopferungen der letzteren, die des ersteren wegen haben übernommen werden müssen, so verheißt er (V, 11. 12) dafür Belohnung einer künftigen Welt; aber nach Verschiedenheit der Gesinnungen bei diesem Verhalten, denen, die ihre Pflicht um der Belohnung (oder auch Lossprechung von einer verschuldeten Strafe) willen taten, auf andere Art als den besseren Menschen, die sie bloß um ihrer selbst willen ausübten. Der, welchen der Eigennutz, der Gott dieser Welt, beherrscht, wird, wenn er, ohne sich von ihm loszusagen, ihn nur durch Vernunft verfeinert und über die enge Grenze des Gegenwärtigen ausdehnt, als ein solcher (Luc. XVI, 3—9) vorgestellt, der jenen seinen Herrn durch sich selbst betrügt und ihm Aufopferungen zum Behuf der Pflicht abgewinnt. Denn, wenn er es in Gedanken faßt, daß er doch einmal, vielleicht bald, die Welt werde verlassen müssen, dass er von dem, was er hier besaß, in die andere nichts mitnehmen könne, so entschließt er sich wohl , das, was er oder sein Herr, der Eigennutz, hier an dürftigem Menschen gesetzmäßig zu fordern hatte, von seiner Rechnung abzuschreiben und sich gleichsam dafür Anweisungen, zahlbar in einer anderen Welt, anzuschaffen; wodurch er zwar mehr klüglich als sittlich, was die Triebfeder solcher wohltätigen Handlungen betrifft, aber doch dem sittlichen Gesetze, wenigstens dem Buchstaben nach, gemäß verfährt, und hoffen darf, daß auch dieses ihm in der Zukunft nicht unvergolten bleiben dürfe. Wenn man hiermit vergleicht, was, von der Wohltätigkeit an Dürftigen aus bloßen Bewegungsgründen der Pflicht (Matth. XXV, 35—40) gesagt wird, da der Weltrichter diejenigen, welche den Notleidenden Hilfe leisteten, ohne sich auch nur in Gedanken kommen zu lassen, daß so etwas noch einer Belohnung wert sei und sie etwa dadurch gleichsam den Himmel zur Belohnung verbänden, gerade eben darum, weil sie es ohne Rücksicht auf Belohnung taten, für die eigentlichen Auserwählten zu seinem Reich erklärt: so sieht man wohl, daß der Lehrer des Evangeliums, wenn er von der Belohnung in der künftigen Welt spricht, sie dadurch nicht zur Triebfeder der Handlungen, sondern nur (als seelenerhebende Vorstellung der Vollendung der göttlichen Güte und Weisheit in Führung des menschlichen Geschlechts) zum Objekt der reinsten Verehrung und des größten moralischen Wohlgefallens für eine die Bestimmung des Menschen im ganzen beurteilende Vernunft habe machen wollen.

Hier ist nun eine vollständige Religion, die allen Menschen durch ihre eigene Vernunft faßlich und überzeugend vorgelegt werden kann, die über das an einem Beispiele, dessen Möglichkeit und sogar Notwendigkeit, für uns Urbild der Nachfolge zu sein (soviel Menschen dessen fähig sind), anschaulich gemacht worden, ohne daß weder die Wahrheit jener Lehren noch das Ansehen und die Würde des Lehrers irgend einer anderen Beglaubigung (dazu Gelehrsamkeit oder Wunder, die nicht jedermanns Sache sind, erfordert würde) bedürfte. Wenn darin Berufungen auf die ältere (Mosaische) Gesetzgebung und Vorbildung, als ob sie ihm zur Bestätigung dienen sollten, vorkommen, so sind diese nicht für die Wahrheit der gedachten Lehren selbst, sondern nur zur Introduktion unter Leuten, die gänzlich und blind am Alten hingen, gegeben worden, welches unter Menschen, deren Köpfe mit statutarischen Glaubenssätzen angefüllt, für die Vernunftreligion beinahe unempfänglich geworden, allezeit viel schwerer sein muß, als wenn sie an die Vernunft unbelehrter, aber auch unverdorbener Menschen hätte gebracht werden sollen. Um deswillen darf es auch niemand befremden, wenn er einen den damaligen Vorurteilen sich bequemenden Vortrag für die jetzige Zeit rätselhaft und einer sorgfältigen Auslegung bedürftig findet: ob er zwar allerwärts eine Religionslehre durchscheinen läßt und zugleich öfters darauf ausdrücklich hinweist, die jedem Menschen verständlich und ohne allen Aufwand von Gelehrsamkeit überzeugend sein muß.S.176-181
Aus: Immanuel Kant: Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft (S.63-65, 142-144, 176-181)
Meiner Philosophische Bibliothek Band 45