Johann Baptist Kerning, Pseudonym für Johann Baptist Krebs (1774 - 1851)

  Deutscher Freimaurer und esoterischer Schriftsteller, der das Wesen der Freimaurerei auf mystischem Wege zu ergründen suchte. Finaler Zweck der Freimaurerei ist nach ihm die »Erkenntnis und Wiederbelebung einer prophetischen Kraft im Menschen«. Kerning war Gründer und langjähriger Meister vom Stuhl der Stuttgarter Freimaurer-Loge »Wilhelm zur aufgehenden Sonne«. Er schuf einen Sabbithengrad, dessen Lehre auf Gedanken des Aristoteles zurückging, wobei er einzelne Begriffe von Sätzen und Wörter in Töne umsetzte. Kerning ist auch der eigentliche Urheber der so genannten »Ich-Bin-Lehre«.

Siehe auch Wikipedia
 

Inhaltsverzeichnis
Das Wesen der Freimaurerei und der Eintritt in die Loge (Briefe über die königliche Kunst)
Die Wiedergeburt, das innere wahrhaftige Leben oder wie wird der Mensch selig?

Das Wesen der Freimaurerei und der Eintritt in die Loge
Erster Brief.
Einleitung.
Viel geliebter Bruder!
Ich habe Dir bei meiner letzten Anwesenheit in Frankfurt versprochen, das Wesen der Freimaurerei, wie ich es durch anhaltendes Forschen im Geiste erkannt, für Dich zu bearbeiten, die unabänderliche, in den Symbolen enthaltene Tendenz zu Papier zu bringen und in Deinem Logenarchiv niederzulegen.

Die Arbeit, die ich unternahm, ist schwer und ohne Hilfe des göttlichen Wortes so unmöglich auszuführen, als es unmöglich ist, mit leiblichem Auge in die Ewigkeit zu schauen. Doch das Wort ist die Kraft, die vor Anbeginn war, alles gesehen und beherrscht hat und auch in der Gegenwart noch nicht verstummt ist; auf dieses bauend, beginne ich die Arbeit.

Die Freimaurerei ist eine Anstalt, die durch Symbole lehrt. Diese sind das Unabänderliche, Unabweichliche derselben. Ja sie ist, da sie die Grundkräfte des Schöpfers und der Schöpfung in ihren Symbolen aufstellt, die Lehre, alle Symbole, seien sie in ihr enthalten oder nicht, begreifen zu lernen. Ohne diese Lehre ist keiner imstande, den Geist der Symbolik irgend einer Religion oder Mythologie zu verstehen. Darum ist die Freimaurerei wesentlich notwendig für alle, die sich einer höheren Erkenntnis hinzugeben beabsichtigen, die über den gewöhnlichen Bauernstand sich erheben und in gesellschaftlichen Kreisen ein Wort mitzusprechen berechtigt und sogar verpflichtet sind.

Dem Landmann entgeht, wenn er auch in dieser Erkenntnis zurückbleibt, darum nichts, weil ein positiver lebendiger Glaube ebenso sicher führt, als die Erkenntnis selbst. Freilich aber müssen dann diejenigen, die Zeit und Fähigkeiten besitzen, zur Erkenntnis zu dringen, ihre Schuldigkeit tun, und mit Tat und Wort einen solchen Glauben lebendig zu erhalten suchen.

Da kein Zweifel ist, daß wir unter die letzteren gehören, so wollen wir das Unsrige tun, damit unsere Schuld abgetragen wird und wir in der Stunde der Entscheidung Rechenschaft geben können. Von dieser Ansicht ausgegangen, war es deine Pflicht, mich zur beginnenden Arbeit aufzufordern, so wie es meine Pflicht ist, deiner Aufforderung zu genügen. Die Bruderliebe, die dabei ins Spiel kommt, wird mir die Arbeit erleichtern, und die Aussicht auf einen freundlichen Blick und Händedruck ist mir schon im Voraus Lohn dafür.

Zweiter Brief.
Eintritt in die Loge.
Wir wollen, da das Material so viel ist, ohne ferneren Umschweif zur Sache schreiten und uns in die Hallen oder doch wenigstens in das Logengebäude begeben, um da zu sehen, was mit uns vorgenommen wird.

Da außer dem Ritual keine einzige untrügliche Andeutung vorhanden ist, so wollen wir dasselbe ins Auge fassen und aus ihm die gehofften Resultate ziehen. Der Akt der Aufnahme ist diejenige Arbeit, wo uns das Ritual stets vollständig vorgeführt und dadurch Gelegenheit gegeben wird, es in allen Beziehungen untersuchen zu können.

Der erste Akt des Rituals ist das Einführen des Suchenden durch den Paten in die Vorbereitungskammer, wo, nachdem Jener mündlich oder schriftlich das Versprechen gegeben, über Alles, was ihm begegnet, die Aufnahme mag vor sich gehen oder nicht, das tiefste Stillschweigen zu beobachten, zur Aufnahme geschritten wird. Jetzt wird ihm gleichsam als Grundpfeiler die Lehre geboten: in sich selbst einzugehen, sich selbst kennen zu lernen. Durch diese Mahnung wird er von der Außenwelt abgezogen und auf sich selbst gewiesen.

Endlich wird er in die schwarze Kammer geführt. Hier sieht er gewöhnlich, je nachdem die Einrichtung derselben, Bilder des Todes, mit einem Worte die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens. Er fühlt sich, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben, geschieden von der Schöpfung, gleichsam im Chaos, im Uterus der Natur, um sich zum eigentlichen Dasein, zum Eintritt in den Tempel des Lichts vorzubereiten. Wenn Pate, Präparateur und Redner ihre Schuldigkeit tun, so muß der Suchende in eine Stimmung versetzt werden, wo er, von der Außenwelt abgezogen, nichts mehr denkt und fühlt, als sich selbst, und daher ganz geeignet ist, mit verbundenen Augen in die Loge geführt zu werden. Hier steht er nun, unter lauter Sehenden, ein Blinder und harrt gedankenlos der Dinge, die da kommen werden.

Jetzt beginnen die Reisen. Moralische Sprüche und herrliche Humanitätslehren empfängt er nach unsern verbesserten Ritualen auf diesen; allein der wesentliche Sinn derselben, so wie er in der schwarzen Kammer die Erde besiegt, nun auch Luft, Feuer und Wasser besiegen zu lernen, ist leider so sehr außer Acht gelassen, daß man kaum noch Spuren davon sieht und sie als ein leeres, den Nimbus steigerndes Zeremoniell betrachtet. Hier fängt das Ritual an, wesentlich zu werden, und man hätte diese Natursymbole um keinen Preis schwächen und verwischen sollen. In die Materie hat sich der Geist begeben, ihn aus dieser herauszuziehen und zu einem freien Ich zu bilden, ist die Aufgabe der menschlichen Natur, und wie kann der Mensch diese lösen, wenn ihm das Material nicht vor die Sinne geführt wird.

Endlich kommt die Verpflichtung und die Erteilung des Lichts. In den Eidesformeln der 3 Grade ist eigentlich der Gang der naturgemäßen Lehre des Ordens vollständig angedeutet. Das Licht aber, das man dem neuen Bruder gibt, ist der Zenith alles dessen, was man erteilen kann. Man nimmt ihm die Binde von den Augen. Mit der Binde sind wir beim hellsten Licht in der Finsternis, wie aber die Binde abgenommen ist, so sehen wir. Gebt dem neuen Bruder das Licht, will nichts anderes heißen, als ihn von der Binde, die ihn vom Lichte trennt, zu befreien. Es ist hier aber nicht das sinnliche, sondern das innere Auge gemeint, welches mit unzähligen Binden von Vorurteilen, Aberglauben, rationalistischen Ideen und Leidenschaften umhüllt ist, welches jetzt wieder in den Zustand des Sehens versetzt werden soll.

Jetzt hat der junge Maurer das Licht, d. h. die Binde ist ihm vom Auge genommen, er sieht. Nun erst ist er fähig, die Lehre, sich als Freimaurer ausweisen zu lernen, zu empfangen. Er tritt vor den Altar und der Meister erteilt ihm die Instruktion, die wofern sie nicht von Maurern verstümmelt worden wäre, alles enthält, was die Geschichte uns Großes, Erhabenes und Göttliches aufbewahren konnte. Dieser Instruktion, sich als Freimaurer ausweisen zu lernen, will ich einen eigenen Brief widmen, damit ich dich ganz in das Meer des Geistes hinein werfen und dir den Beweis liefern kann, daß du trotz deiner liebenswürdigen Bescheidenheit so gut schwimmen kannst, als irgend Einer der Geschichte.

Dritter Brief.
Der Unterricht, sich als Freimaurer ausweisen zu können.
Wenn man Etwas treibt, so muß man es können. Wollte einer den Pinsel gebrauchen, ohne malen zu können, so wäre er ein Schmierer. Wollte einer durch schöne mathematische Instrumente uns weiß machen, er sei ein Mathematiker, so wäre er ein Lügner. Wollte uns einer durch auswendig gelerntes Vormachen von Zeichen, Griff und Wort beweisen wollen, er sei ein Freimaurer, so wäre er kein Haar besser, als die Obigen.

Du siehst, die Sache beginnt ernsthaft zu werden. Sie ist auch ernsthaft, insofern sie alles enthält, was dem Menschen zu wissen nützlich und nötig ist und diejenige Freiheit geben kann, wo er keine Bibliotheken, keine Schule und keine Lehre mehr braucht und alle Erkenntnis aus sich selbst zu schöpfen vermag.

Wir haben schon einmal in dem Gärtchen vor dem hübschen Bad in Krontal den Gelehrten und den Sich-selbst-Kennenden einander gegenübergestellt und gefunden, daß der objektiv Gelehrte sich von dem subjektiv Wissenden zurechtweisen lassen mußte. Also aufgepaßt! Der Meister spricht in seinem Amt, in seiner Würde, und da müssen alle, und wenn auch hochwürdigste Großmeister und sogar souveräne Ritter und Prinzen als Zuhörer da wären, aufmerksam sein, ihm Glauben schenken und in sich selbst im nackten Menschenkleide die Wahrheit suchen. —

Mehrere Symbole hat die Neuerungssucht mit der Erklärung ausgelassen, sie seien ganz unbedeutend und man habe an dem noch Vorhandenen genug, sich einander zu erkennen zu geben. Hier muß ich die unumstößliche Bemerkung einfließen lassen und diktatorisch aussprechen: »Kein Symbol, womit die Freimaurerei sich auszuweisen hat, ist zufällig oder willkürlich aufgestellt, alle haben wesentlichen Inhalt, sind selbst, was sie sind«, daher sollten die Fragen:

Was bedeutet oder was heißt dies Symbol? — abgeschafft werden und dafür nur die Frage festgesetzt werden:

»Was ist dies Symbol?«


Du, als Stockgelehrter, wirst mir vielleicht zuerst widersprechen und sagen: »kein Symbol ist die Sache selbst, sondern bedeutet die Sache«. Wenn ich dich aber frage, was bedeutet das I auf der Lehrlingssäule, so kannst du doch vernünftiger Weise nichts anderes sagen, als: es bedeutet nichts, sondern ist ein I.

Wenn ich dich ferner frage: Was bedeutet oder was heißt die Lehrlingssäule, so kannst du mir keine vernünftige Antwort geben; frage ich aber: wie heißt oder was ist die Lehrlingssäule? so wird keiner um die Antwort verlegen sein und gleich sagen: Es ist die Säule I.

Auf solche Weise lassen sich beinahe alle Symbole, welche die Instruktion, sich als Freimaurer ausweisen zu lernen, in sich schließt, behandeln. Bei den übrigen magst du dir die Fragen selbst geben und selbst beantworten.

Die Symbole der benannten Instruktion sind doppelter Natur; entweder sind drei Symbole in einem begriffen und machen ein vollständiges System aus, oder ein einzelnes Symbol bezeichnet die Sache, die man vor die Sinne zu führen beabsichtigt.

Es gibt 12 Gattungen von Symbolen, wodurch der Lehrling sich als Freimaurer bilden und ausweisen kann, von denen aber das erste schon seit langer Zeit übergangen und dem zufälligen Beschauen des neuen Bruders überlassen wird. Der Grund mag sein, weil man den Bekennern derselben früher nirgends, jetzt aber in einigen Logen den Zutritt gestattet.

Die 12 Symbole sind folgende:

1. Säulen und Altar.
2. Die 3 großen Lichter: Zirkel, Winkelmaß und Bibel.
3. Die 3 kleinen Lichter: Sonne, Mond und Meister vom Stuhl.
4. Zeichen, Griff und Wort.
5. Besondere Art zu klopfen.
6. Not- und Hilfs-Zeichen.
7. Die Arbeit des Lehrlings am rauhen Stein.
8. Der Lehrling arbeitet an der nordwestlichen Seite des Tempels.
9. In der Säule I sind die Arbeitswerkzeuge und der Lohn aufbewahrt.
10. Der Lehrling ist 3 Jahre alt.
11. Der Tempel des Lehrlings hat 3 Stufen.
12. Der Tempel der Freimaurerei ruht auf den 3 Pfeilern: Schönheit, Weisheit und Stärke.

Die Symbole, die vollständige Systeme in sich schließen, sind:

1. Säulen und Altar.
2. Die 3 großen Lichter.
3. Die 3 kleinen Lichter.
4. Zeichen, Griff und Wort.
5. Die Säulen mit den Instrumenten und dem Lohn.
6. Die Pfeiler: Schönheit, Weisheit und Stärke.

1.
Säulen und Altar sind noachidischen, nach unserer Denkweise jüdischen Ursprungs; denn wir finden sie nach Josephus vor der Sündflut von Noa errichtet, um den nachfolgenden Geschlechtern die Lehre des Namens Gottes zu hinterlassen. Moses nahm sie in seine Stiftshütte und später Salomo in seinen Tempel auf.

2.
Die 3 großen Lichter sind christlicher Natur; denn Christus spricht in der Offenbarung Johannis: »Ich bin das A und das O«; da nach historischen Angaben in allen geistigen Institutionen das Winkelmaß das A und der Zirkelkreis das O, wie sie die Natur schreibt, behandelt wurden, so macht sich Christus selbst zum Zollstab, womit er die Fronten und Durchmesser aller Formen mißt. I.A.O. wurde in allen Mysterien und religiösen Korporationen als die Wurzel des Namens Gottes behandelt und darum durfte diese Wurzel in unserem Bunde nicht fehlen.

3.
Die 3 kleinen Lichter beziehen sich auf die Lehre des Mithras, der in Licht und Widerschein auf die Tätigkeit der ganzen Schöpfung erkannte. Sein Tempel umfaßt zwar nur das Planetensystem, ist aber dessen ungeachtet noch groß genug, die Herzen der Mitglieder, die dieser Lehre anhängen, zu erweitern und für alle Eindrücke Gottes und des Geistes fähig zu machen. Nach Mithras ist das Innere von der sichtbaren Sonne die Wohnung des Geistes Gottes, der sich auf die Planeten ergießt und gemildert wieder an sich zieht. Wenn wir nun alles, was auf den Planeten sich befindet, von der geringsten Pflanze bis zum gotterleuchteten Menschen ins Auge fassen, wenn wir bedenken, daß der Duft, die Farbe und Formen der Pflanzen, daß die Gestalt, Gefühle und Instinkte der Tiere, und daß endlich die Gedanken, der freie Wille und die angeborene Gesetzlichkeit Sittlichkeit und Moralität des Menschen zu diesem Zurückstrahlen gehören, so mögen wir uns einigermaßen einen schwachen Begriff von der Mithraschen Sonne und ihrem Lichte machen.

Der Meister vom Stuhl, der zu diesen 3 Lichtern gehört, ist aber nicht diejenige Persönlichkeit, die gerade auf dem Meisterstuhl sitzt, sondern es ist die ganze Menschheit in ihrer zum Denken und Wollen geschickten, aufgerichteten und mit wunderbaren Sprachwerkzeugen ausgerüsteten Gestalt, die zwischen den Planeten und der Sonne herrschend steht und sich mit dem Planetarischen wie mit Gott verbindet. Diese Lichter werden zwar bei unsern Arbeiten wenig beachtet, aber dennoch sind wir unsern Vätern zu hohem Danke verpflichtet, daß sie solche in unserem Tempel aufgestellt und uns ein Zeugnis unserer Vorurteilslosigkeit gegeben haben.

Dadurch, daß unsere Phantasie nach dieser Lehre nicht nötig hat, die ganze unermeßliche Schöpfung zu umkreisen, welchem Fluge kein Sterblicher gewachsen ist, sehen wir uns der Gottheit nähergebracht und sind eher imstande, sie in unser Gemüt aufzunehmen und die Gefühle des Denkens, der Verehrung und Liebe wieder zum Ursprung zurückzusenden. Inder vorchristlichen Zeit schien dieser Planetentempel manchen Institutionen zu klein gewesen zu sein und sie machten daher die 12 Himmelsgestirne zu ihrem Tempel; aber ich fordere jeden auf, zu versuchen, sich diesen Riesentempel vorzustellen, und er wird gleich empfinden, daß er einer solchen Idee nicht gewachsen ist, sondern statt sich zu befestigen, in Atome auflöst. Dem Stifter der christlichen Religion war der Mithrastempel noch zu groß, und darum weist er seine Anhänger an ihr eigenes Herz, in welchem Himmelreich, Gott und Ewigkeit zu finden sind.

4.
Zeichen, Griff und Wort. Was sind diese dem Freimaurer? Hier erlahmt die Feder, sie will nicht schreiben, was dem Menschen so nahe liegt.

Zeichen, Griff und Wort sind die technischen Mittel, den Geist je nach Maßgabe des Fleißes und der Unbefangenheit zu wecken und zur höchsten Erkenntnis und Wirksamkeit zu bringen. Technische Mittel zur Erkenntnis des Geistes! ruft hier die Menge. Wunderbar ist es, aber doch wahr. Unverdient besitzt der Mensch diese Mittel, aber er besitzt sie doch. Unwürdig ist er solcher Mittel, weil er sie nicht benützt. Diese Mittel sind das Kapital, das wir von Gott empfangen, um Zinse dafür zu erwerben.

Zeichen, Griff und Wort sind die unfehlbaren Potenzen, die an keine Zeit, keine Sprache, kein Klima, kein Buch und an keine Gelehrsamkeit gebunden sind.

Zeichen, Griff und Wort,
ach, ihr verkannten Mittel, die den Menschen allein erheben und eine Einheit unter allen Völkern und Zungen herstellen könnten, wo der Ungelehrte neben dem Gelehrten und der schlichte Landmann neben dem Bischof und Prälaten in die Kirche gehen dürfte.

Zeichen, Griff und Wort!
Die Menschen haben nicht nur den Glauben an Euch, sondern auch den Mut und die Geduld verloren, durch Euch Proben zu machen. Sind die Menschen denn Eurer so gänzlich unwürdig geworden, daß ihr Ihnen auch die Kraft entzieht, Euch zu gebrauchen?

Haben die Menschen denn allen Sinn für Religion verloren, daß sie den Stifter ihrer Religion, den sie dem Munde nach mit vollen Backen loben, auch nicht in dem geringsten seiner Worte nachzuahmen streben? Nicht durch Sentimentalität und Almosenspenden, sondern durch andere Geisteswerke hat sich Christi Sendung beurkundet. Und womit hat er diese Werke vollbracht? Antwort: Durch Handausrecken, durch Handauflegen und durch‘s Wort. War Christus etwa ein Blinder, ein Schwächling oder ein Heuchler? Müssen wir, wenn wir zu tun uns bestreben, was er getan, uns dessen schämen? Der Mensch soll den Mut haben, entweder alles zu leugnen und sich der Würde der Menschheit zu entschlagen, oder aber, wo man ihm wie hier die Mittel reicht, die Probe machen; dann ist er doch kalt oder warm; in dem Halbglauben aber und in dem Indifferentismus, in welche die Menschen versunken sind, da sind sie lau und müssen notwendig ausgespukt werden.

Zeichen, Griff und Wort. Sehen, Fühlen und Hören. — Sobald diese drei Lebenskräfte in einem Urteil übereinstimmen, dann ist das Urteil bündig und wahr. Schon in der äußern Tätigkeit finden wir dieses bestätigt. Das Auge weiß zuverlässig, daß es etwas sieht und Gegenstände wahrnimmt, aber es kann nur der Form und Farbe nach, nicht aber dem Inhalt, dem Wesen nach urteilen. Man kann zum Beispiel dem Eisen die Farbe vom Holz oder dem Holz die Farbe vom Kupfer geben, und das Auge urteilt nach der Farbe. Hier muß das Ohr und zugleich die Berührung entscheiden. Wir klopfen auf das als Holz gemalte Eisen und urteilen nach dem Klange ganz sicher. Die Berührung, wenn sie mit Fleiß und Vorsicht geschieht, bedarf zu einem Urteil oft nicht einmal der Beihilfe von Aug und Ohr, sie fühlt aus eigener Kraft, was der berührte Gegenstand ist. Sobald sich aber Aug, Ohr und Gefühl zu einem Urteil vereinigen, dann ist das Urteil vollkommen wahr. So in geistigen Dingen:

Wir können Geschriebenes und Gedrucktes lesen, können auch aus Mienen und Gebärden die Seelenstimmung eines andern wahrnehmen. Wir sind befähigt, die Worte eines andern zu hören, deren Zusammenhang zu prüfen und ein Urteil zu fällen. Sowie aber das Gesehene und Gehörte auch in das Gemüt übergeht und gefühlt wird, dann ist der Zweck erreicht und das Empfangene wird zur Lebens- und zur Erkenntnisnahrung. So auch in Beziehung auf Gott: Wir sehen die Wunder seiner Schöpfung, hören seine Allmacht in Donner und Sturm, und sobald diese erhabenen Erscheinungen in uns zum Gefühl der Bewunde­rung geworden sind, dann wird der Geist Gottes in uns lebendig. Noch mehr: Wir sehen Gottes Wort, wir hören es; sobald wir es aber auch zu fühlen und durch das Gefühl zu verstehen im Stande sind, dann ist die Vereinigung mit Gott und dem Menschen hergestellt, und Gott ist im Menschen, sowie der Mensch in Gott.

Zeichen, Griff und Wort. — Sehen, Fühlen und Hören. — Das Zeichen bezieht sich auf das Auge. Allein das Auge des Menschen sieht mit Verstand und Überlegung. indem es sogleich Form, Farbe und Menge unterscheidet. So erkennt das Gefühl, ob der Gegenstand, der uns berührt, hart oder weich, stumpf oder spitzig ist. Das Ohr hört nicht chaotisch Schall, Ton und Worte, sondern sagt vom Schall: das ist nur Schall, vom Ton unterscheidet es Höhe und Tiefe, Anmut und Reinheit und auch Dicke und Dünne. Es vernimmt die Elemente des Worts, der Sprache, in welchen es mit der größten Klarheit 9 Vokale und 16 Konsonanten unterscheidet, endlich aber vernimmt es, wenn Vokale und Konsonanten sich zu Worten verbinden, die Absicht des Sprechers und sammelt daraus Stoff zum Denken.

Da Zeichen, Griff und Wort sich aber ohne Beihilfe äußerer Gegenstände an uns selbst ausüben lassen, so trägt der Mensch eine eigene Welt in sich, in welcher er immer neue Erfahrungen und Erkenntnisse zu sammeln fähig ist. Der Freimaurer bildet mit der Hand ein Winkelmaß als Zeichen. Er legt dieses Zeichen an den Hals, an die Kehle, gleichsam an die Wurzel der Sprachorgane, buchstabiert alsdann das Lehrlingswort so lange, bis die Kehle geistig erweckt ist, und macht sich dadurch geschickt, frei und geistig nach innen und außen zu sprechen. Die folgenden Grade geben ihm in dieser Beziehung noch andere Mit­tel, und wofern er auch hier seine Schuldigkeit tut, so wird seine ganze Natur geistig erweckt, der erschlagene Meister ins Leben gerufen, der Geist des Religionsstifters offenbart sich durch das innere Wort der Weisheit und macht uns zu wiedergeborenen Menschen, zu Weisen, und wofern man nicht nachläßt zu arbeiten, zu Propheten, die im Geist und in der Wahrheit mit Gott und Men­schen zu sprechen geschickt sind.

Zeichen, Griff und Wort! Wer hat sie statutenmäßig aufgestellt?

Christus hat sich ihrer bedient, das lehrt uns seine Geschichte. Bei den Bramanen und Ägyptern findet man deutliche Andeutungen. Mit ziemlicher Gewißheit ist jedoch anzunehmen, daß Zoroaster sie zuerst systematisch behandelt und geübt habe. Der Stab Moses war nichts anderes als ein solches Zeichen; das Wort des Geistes aber war ihm so bekannt, daß er sich vermittelst desselben jeden Augenblick mit Gott in Zwiesprache setzen und seine Befehle empfangen konnte.

Auch die früheren Kirchenväter bedienten sich des Kreuzes als eines solchen Zeichens und wirkten damit größtenteils mehr als mit Predigten und Lehren. Bald nach diesen ging der Zweig dieser Tätigkeit gänzlich verloren, so daß wir in unsern Tagen es für Auswüchse des finstersten Fanatismus erklären, oder aber als Observanzzeichen betrachten, um unsern Gehorsam, unsere Unterwürfigkeit und Demut zu bezeugen. Zu den Zeiten Christi war die Welt dem Tode verfallen, durch die Lehre der Wiedergeburt im Geiste hat er uns, wenn wir sie verstehen und benützen, vom Tode und von der Sünde erlöst.

Hier wirst du zwar sagen: Wenn dem so ist, so können wir die Freimaurerei entbehren. Wofern die Evangelien vollständig wären, möchte sie allerdings überflüssig sein. Da aber die Lehre des Verkündigers, Johannis des Täufers, der dem Herrn, dem Meister in uns, den Weg bereiten soll, nicht in den Evangelien enthalten ist, so bleibt die Freimaurerei der Menschheit so notwendig, als dem Geometer die Anwendung von Zollstab, Winkelmaß und Zirkel. Die Freimaurerei enthält das Urgesetz des Lebens.

Zeichen, Griff und Wort
sind die Mittel, solches wieder zu erkennen und durch Ausübung derselben die Unsterblichkeit zu erringen. Wer anders lehrt, ist ein falscher Prophet, ein falscher Christus, ein Scheinweiser, der die Menschen durch den Nimbus eines äußern gelehrten und rationellen Schimmers zum Untergang führt.

Ich könnte und möchte hierüber noch vieles schreiben, allein ich fürchte dich zu ermüden, oder gar ungehalten zu machen. Allein das muß ich noch beifügen, daß dieser Weg allein solche Unfehlbarkeit auf sich hat, daß er, wenn man ihn unbefangen und mit Beharrlichkeit wandelt, notwendig zum Ziele führen muß.

5.
Vor uns steht die Lehrlingssäule. In ihr sind die Arbeitswerkzeuge und auch zugleich der Lohn enthalten, den wir nach fleißiger und täglicher Arbeit zu empfangen haben. Was ist das? Liegt wohl ein positiver Sinn in diesem Symbol? Man hat es in den meisten verbesserten Ritualien weggelassen, weil man es für zweck- und bedeutungslos gehalten und nicht mehr eingesehen hat, daß ein ganzes System in ihm enthalten ist. Du wirst sagen: Hier schwärmt mein Bruder ein wenig, denn welche Instrumente und welcher Lohn können darin aufbewahrt sein?

Das will ich dir sagen: Auf der Säule steht ein I. Was ist das I? höre ich dich weiter fragen. Ein nur ein bißchen aufgeweckter Schulknabe würde sagen: Das I ist ein Vokal. Wenn man nun weiter fragte: Was wohl in der Säule sein werde, so würde er einigermaßen in Verlegenheit kommen; ein Physiolog aber würde sagen: Gleiches findet sich stets zum Gleichen. Hinter dem I müssen daher die andern Vokale sein. So ist es auch. Außen steht das I als spitzigster Vokal und öffnet den Eingang in das Innere.

Welches ist aber der Lohn? wirst du jetzt fragen. Ich antworte:

Der Lohn ist das Wort, das aus der Zusammensetzung der Buchstaben entsteht.
Aber wirst du weiter erwidern: Mit Vokalen kann man noch keine Worte bilden und noch nicht sprechen. Diese Bemerkung ist nicht ganz ohne Grund. Aber wenn man bedenkt, daß wir neun Vokale sprechen können, die in ihrer Versetzung über viermalhunderttausend Abänderungen erleiden, so ließe sich doch wahrlich eine ziemlich reiche Sprache daraus bilden. Zudem müssen wir auch bedenken, daß wir noch an der Lehrlingssäule stehen, wo es sich nicht sowohl um Begriffe, als um den deutlichen Gebrauch der Elemente handelt.

Ich meine, hierüber genug gesagt zu haben, und füge nur noch bei, daß man die Zeit der Aufstellung nicht weiß. Ich bin geneigt, es dem König Salomo zuzuschreiben, doch habe ich keine Belege dafür.

6.
Die 3 Pfeiler des Freimaurertempels: Schönheit, Weisheit und Stärke sind die eigentlichen Symbole für gelehrte Freimaurer. Allein sie sind in unsern Hallen so wenig erkannt, als in der profanen Welt, ungeachtet man beinahe in allen feierlichen Versammlungen fleißig ausgearbeitete Zeichnungen darüber hört. Der Irrtum, der immer zu neuen Irrtümern führt, besteht darin, daß man die Weisheit als die oberste Eigenschaft Gottes bezeichnet. Diese Behauptung ist um kein Haar besser, als wenn der Rationalist sagt: Gott ist die reinste Vernunft. Weisheit und Vernunft sind Lichter, die man besitzen kann, aber unbedingt einen Besitzer voraussetzen.

Gott ist vollkommene Kraft und da eine positive Kraft nicht müßig sein kann, so wirkt sie ununterbrochen fort, und da die Kraft Gottes vollkommen ist, so tragen alle ihre Werke die Vollkommenheit in sich. Diese Kraft beschaut dann ihre Werke und sagt sich: Ei, wie weise! Die Weisheit sieht die Harmonie in der unendlichen Mannigfaltigkeit und sagt: Ei, wie schön! Die Urkraft Gottes, die Stärke, stieg durch Weisheit und Schönheit zum Menschen herunter; der Mensch aber kann durch Schönheit und Weisheit sich zur Stärke, zur Urkraft, zu Gott erheben. So ist‘s mein Bruder, und keiner, wenn er auch die Schriften aller Zeiten und Nationen gelesen hätte, kann einen andern vernünftigen Stufengang angeben. —

Freilich ist es schwer, in diesem System zu einer eigenen, innern, positiven Erkenntnis zu gelangen, wenn man sich nicht durch Zeichen, Griff und Wort und durch den Gebrauch der Instrumente und des Lohns, die in der Säule enthalten sind, vorbereitet hat. Also Hand ans Werk, mein teurer Freund und Bruder, damit wir, wie diesseits, auch einst jenseits Schmollis trinken und uns nicht nur lieben, sondern uns der Liebe auch freuen können.
S.3ff.
Aus J. B. Kerning, Briefe über die königliche Kunst, herausgeggeben von Gottfried Buchner, Renatus Verlag Lorch/Württemberg 1912