Friedrich
Kirchner (1848 – 1900) - Seite 1
Deutscher Philosoph und Gymnasialprofessor
in Berlin,
der u. a. wesentlich von Leibniz und Frohschammer
beeinflusst ist. Kirchner vertritt einen »empirisch-rationalen«
Ideal-Realismus,
nach dem die materielle Welt die Erscheinungsweise
einer geistigen Transzendenz
ist. Gott ist für
ihn allerhöchste geistige Aktivität, die zugleich ewig, allgegenwärtig,
allmächtig und identisch mit der »absoluten
Vernunft« ist. Er hat seine philosophischen Ansichten in verschiedenen
Werken zum Ausdruck gebracht. U. a. hat er auch ein »Wörterbuch
der philosophischen Grundbegriffe« verfasst, aus dem wir wesentliche
Begriffe in Ergänzung
und Erweiterung zu Rudolf Eisler zitieren.
Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon
Inhaltsverzeichnis
Gut
und Böse Das Sittlich-Gute (§14) Das Sittengesetz (§ 15) Das Böse (§ 16) |
Auswahl aus dem »Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe« |
Gut und Böse
Das Sittlich-Gute
(§14)
Schon Kant (W. W. VIII, 179)
hat betont, die deutsche Sprache sei reicher als die lateinische, indem
sie wenigstens für malum drei verschiedene
Ausdrücke habe, nämlich übel, schlecht
und böse, denen drei verschiedene Bedeutungen
des Wortes »gut«
entsprechen. Ja, wir unterscheiden sogar einen vierfachen
Sinn des Guten.
Gut im allgemeinen heißt alles, dem wir einen
Wert beilegen. Dies aber tun wir bei demjenigen, das uns Lust
bereitet, entweder in der Erinnerung oder im Moment oder in
der Hoffnung; entweder indem es uns positiv Lust verschafft oder Unlust aufhebt,
resp. Aufzuheben verspricht. Wiederum beruht die Tatsache, dass uns die Dinge
Lust oder Unlust bereiten, auf der durch sie veranlassten Erhöhung
oder Einschränkung unserer Tätigkeit. Denn
Tätigkeit ist, das Grundwesen aller
Dinge (§5). Alles Tun aber ist Lebensbewegung
nach einem Ziele hin (§9).
Dies besteht, solange es nicht erreicht ist, in einer
Vorstellung. Also ist alles, was der Vorstellung eines Zweckes
entspricht, gut. Und das Wohlgefallen, das wir an einem Dinge haben, weil wir
ihm Wert beilegen, ist ein intellektuelles.
Fassen wir nun die verschiedenen Bedeutungen des Guten ins Auge, so nennen wir
einen Geschmack, ein Gefühl
und dergl. gut, wenn sie angenehm
sind für unsere Sinne. Das
Angenehme bereitet uns sinnliche Lust,
und zwar unmittelbar, ohne
intellektuelles Werturteil; sie ist ferner ganz subjektiv,
denn über Geschmack lässt sich nicht streiten; endlich
unterliegt sie keiner Zurechnung,
denn niemand kann etwas dafür, ob ihm dieses oder jenes schmeckt.
Verwandt mit dem Angenehmen ist das Schöne.
Dieses Bild z. B. nenne ich gut, weil es mir gefällt; freilich bin ich
mir bewusst, dass auch das ästhetische Geschmacksurteil
zum Teil subjektiv ist
(de gustibus non est disputandum!)
doch steht es höher als das sinnliche. Denn wenn auch das Schöne
den Sinnen Lust bereitet, so sind es doch erstens die höchsten Sinne
(Ohr und Auge), und zweitens beruht diese Sinnenlust auf seelischen und
geistigen Prozessen. Die schöne Form muss einer
Idee entsprechen und diese sachgemäß wiedergeben.
Unser Wohlgefallen am Schönen ist also zwar auch unmittelbar, aber doch
kontrollierbar. Ferner ist es nicht, wie die Sinnenlust, interessiert, sondern
ganz interesselos. Ferner ist es intuitiv und kontemplativ. Das Schöne
gefällt um seiner selbst willen, es ist Selbstzweck.
Ganz anders das Nützliche.
In diesem Sinne nennen wir jedes Ding gut, das als
Mittel
für irgend einen Zweck
brauchbar erscheint. Auch dieses Werturteil ist ganz subjektiv.
Denn das Lexikon z. B., welches der Schüler gut nennt, findet der Student
ganz abscheulich. Sodann hat alles Nützlich-Gute einen
relativen Wert. Gerade für diesen Zweck ist es
gut, für jenen nicht; das medizinische Mittel, welches mir und jetzt hilft,
schadet einem andern oder selbst mir zu anderer Zeit. Ferner unterliegt das
Nützliche zunächst keiner Verantwortlichkeit. Ein gutes Gift, ein
guter Dolch, eine gute Pistole sind diejenigen, welche schnell und sicher töten.
Ob freilich das Töten selbst gut oder schlecht ist, kommt hier zunächst
nicht in Betracht.
So sehen wir uns denn auf die Annahme einer vierten
Bedeutung des Guten geführt, und das ist das Sittliche. Jenes Obst
schmeckt mir gut – aber ich darf es nicht essen; jene Statue ist schön
– aber unzüchtig; jener Schuss war sicher – aber er hat einen
Menschen gemordet. Jedesmal sehen wir, gibt es noch einen Gesichtspunkt, von
dem aus das Angenehme, Schöne und Nützliche betrachtet werden muss;
dieser Gesichtspunkt ist der ethische.
Das Sittlich-Gute
erweckt unser intellektuelles
Wohlgefallen, weil es einer Norm entspricht. Aber wir legen
ihm einen absoluten Wert bei,
weil es an sich wertvoll ist, d. h. geschehen oder bestehen muss. Wir sind also
dabei selbst interessiert, direkt
oder indirekt, wir haben nicht nur ein kontemplatives Wohlgefallen daran, wie
am Schönen. Und zwar ist das Interesse nicht bloß subjektiv, wie
beim Angenehmen, Schönen und Nützlichen, sondern wir verlangen, dass
sich jeder dafür interessiere, und verachten den gegen ethische Fragen
Gleichgültigen. Das ethische Interesse ist also ein notwendiges.
Ferner ist der Wert des Sittlichen wie der Wert des Schönen bleibend,
während der des Angenehmen und Nützlichen früher oder später
erlischt. Das Sittliche imponiert, das
Angenehme vergnügt, das Schöne gefällt, das Nützliche erfreut.
Dem Sittlich-Guten zollen wir daher Achtung
und Ehrfurcht, selbst wenn wir dadurch physische oder ästhetische
Unlust und praktischen Nachteil haben. Für seine Überzeugung gekreuzigt
zu werden ist weder angenehm noch ästhetisch, noch praktisch vorteilhaft,
und doch ethisch gut.
Mit dem Schönen gemeinsam hat das Gute die rationale
Grundlage und den Charakter a priori. Schön
und gut sind die Dinge, welche einer vernünftigen Idee entsprechen, nur
dass beim Schönen mehr Gewicht auf die Form, beim Guten auf den Inhalt
gelegt wird. Das Angenehme und Nützliche hat an sich keinen Wert, sondern
wird nur momentan zur Befriedigung irgend eines Triebes geschätzt. Das
Schöne und Gute aber ist an sich wertvoll und teilt dem, der das eine oder
andere hervorbringt, Wert mit.
Dem Angenehmen und Schönen gegenüber verhalten wir uns fast passiv;
das Nützliche und Gute dagegen fordert unsere Selbsttätigkeit
heraus. Unseren Willen beschäftigt
das Sittliche, aber nicht mit Naturnotwendigkeit, sondern mit Freiheit. Denn
freilich sind alle Dinge gut, sofern sie zweckmäßig organisiert sind,
auch der Mensch. Aber weil er ein vernünftiges, freies Wesen ist, soll
er den Zweck seines Daseins begreifen und durch freies Tun vollbringen. Bei
den unvernünftigen Wesen
wird der ihnen zu Grunde liegende Zweck ohne ihr Bewusstsein und ihre Selbsttätigkeit
realisiert; ihnen wohnt das Gute als ihr notwendiges Lebensgesetz inne. Der
Mensch dagegen kann seine Lebensaufgabe auch verkennen und versäumen. Ihm
tritt sie daher als eine Lebensnorm gegenüber,
die er nicht äußerlich und knechtisch aus Furcht oder Lohnsucht,
sondern aus Einsicht in ihre Wahrheit, aus Begeisterung und aus innerer Triebkraft
des Willens befolgen soll. Die Freiheit
ist also das Korrelat des Sittlichen (§10).
Fragen wir aber weiter nach dieser Lebensnorm,
welcher unser Wille mit Freiheit entsprechen soll, so ergibt
sich die Antwort aus dem bisher Entwickelten leicht. Gut, sahen wir oben (S.108),
ist alles, was seiner Idee entspricht.
Sittlich gut, was ihr mit Bewusstsein
und Freiheit entspricht. Des Menschen
Idee ist sein objektiver Lebenszweck, d. h. die ihm durch den Organismus menschlicher
Gemeinschaft auferlegte Notwendigkeit.
Das Sittlich-Gute ist also die Einheit von Gesetzmäßigkeit
und Freiheit. Nichtsittlich dagegen ist alles
gegen unsere Überzeugung Erzwungene, noch nicht sittlich alles aus Naturnotwendigkeit
Geschehende. Auch das ist noch nicht gut, was ohne Zwang aus individueller Neigung
hervorgeht, wenn es ohne Ahnung einer sittlichen Idee geschieht. Gut kann nur
sein, was vernünftig, d.
h. mit Bewusstsein, mit guter Absicht
und mit freiem Willen getan
wird. Also müssen Zweck, Motiv, Wille und Ausführung sittlich sein.
Bevor wir die Konsequenzen dieser Definition ziehen, wird es förderlich
sein, andere Begriffsbestimmungen des Guten zu betrachten.
Aristoteles
lehrt (Eth. Nik. I, 1) gut sei, wonach jedes Wesen
strebe, d. h. die Eudämonie oder Glückseligkeit als
ein dem Menschen als solchem eigentümliches Werk. Sie beruht auf der vernünftigen
oder tugendgemäßen Tätigkeit, zu welcher als Vollendung die
Lust hinzukommt. Die sittliche Tugend ist eine durch Anlage durch Handeln gewonnene
Fertigkeit, sich vernunftgemäß zu verhalten. Die Bildung zur Tugend
beruht auf Anlage, Gewöhnung und Einsicht in die Freiheit
(Eth. Nikom. I, 6. 11.X, 7). –
Ähnlich definiert Herbart das Gute als einen
Gegenstand, welcher begehrt werde (W. W. VIII, 5, 179);
das Vorstellungsvermögen wisse nichts von einem Gute. Aber wir haben in
§ 8 gezeigt, dass der Wille stets mit einer Vorstellung verbunden ist.
Auch wird etwas nicht darum begehrt, weil es gut ist, sondern weil es als gut
vorgestellt wird. Endlich müssten die Güter, sobald
wir sie errungen haben, aufhören, Güter zu sein. –
Spinoza behauptet, kein Ding heiße an sich
gut und schlecht, sondern nur mit Rücksicht auf ein anderes, dem es nütze
oder schade. Gut sei daher dasjenige, von dem wir wissen, dass es uns nützlich
sei; sofern eine Sache mit unserer Natur übereinstimme, sei sie notwendig
gut (Ethic. IV, def. 1. prop. 30). Das höchste
Gut und die höchste Tugend des Geistes ist die Erkenntnis Gottes (d.
h. der Naturnotwendigkeit). Aber abgesehen davon, dass hier nur die objektive
Seite des Begriffes »gut« betrachtet
wird, so betont Spinoza auch einseitig die Erkenntnis
und gibt nicht an, was denn das für uns Förderliche sei. –
Wieder nur das Angenehme und Nützliche trifft Schopenhauer,
wenn er sagt, gut sei ein relativer Begriff und bezeichne die Angemessenheit
eines Objekts zu irgend einer bestimmten Bestrebung des Willens. Daher sei dem
einen dasselbe Ding gut, dem andern schlecht (»Welt
als Wille als Vorstellung« I, 425f. ). Es ist wahr, bei kaum zwei
Völkern wird dasselbe für sittlich gut gehalten. Aber unsere bisherige
Betrachtung hat uns doch schon einige feste Punkte ergeben, an die sich später
noch andere reihen werden.
Da entschieden alle Menschen danach streben, glücklich
zu sein, ist die Bestimmung des Guten als Glückseligkeit
sehr alt, mag man darunter die sinnliche oder geistige, die gegenwärtige
oder künftige, die irdische oder himmlische verstehen.
Aristipp bestimmt sie als positiven Genuss, Epikur
als Schmerzlosigkeit, Ferguson als Selbsterhaltung.
L. Feuerbach meint, gut sei die Bejahung des Glückseligkeitstriebes;
Moleschott, was auf einer gegebenen Stufe der Entwickelung den Bedürfnissen
der Menschheit, den Forderungen der Gattung entspreche;
Büchner, was der Gesamtheit der Mitmenschen nützlich sei (Feuerbach,
»Gott, Freiheit und Unsterblichkeit S.68. Moleschott,
»Kreislauf des Lebens« S.327. Büchner,
»Stellung des Menschen in der Natur«S.329.)
Und gewiss, Ziel unseres sittlichen Strebens kann nur sein, was uns die höchste
Lust bereitet, von unserer Begeisterung und intensivstem Interesse getragen
wird; so dass wir in gewissem Sinne Fechner beipflichten,
wenn er sagt (»Über das höchste Gut«
1846), das Lustprinzip sei das einzig klare und das größte
Glück auch das höchste Gut des Menschen. Aber doch wird durch alle
jene Antworten das Problem nicht gelöst. Denn das ist ja eben die Frage,
worin die wahre Glückseligkeit oder Lust bestehe. Ebenso
ungenügend sind die anderen eudämonistischen Formeln,
z. B. die verschiedenen Grundsätze des Wohlwollens. So bezeichnet
Shaftesbury als das Sittliche das Wohlwollen, sofern aus ihm eine eigentümliche
Lust hervorgeht; Hutcheson betont das rationale
uneigennützige Wohlwollen, die Lust am Wohlwollen anderer; Pufendorf
das gemeinnützige Handeln; Schopenhauer das
Mitleid.
Gegenüber diesem Eudämonismus, dessen relative Berechtigung
wir später übrigens erkennen werden, behauptet
Kant, dass im Himmel und auf Erden schlechterdings nichts im sittlichen
Sinne gut genannt werden kann, als ein guter Wille. Er sei
dasjenige, wodurch das Dasein des Menschen allein einen absoluten Wert gewinne;
er sei gut durch sich selbst, nicht durch das, was er bewirke. Schlechthin gut
könne nur die Handlungsart, die Maxime des Willens, und mithin die handelnde
Person, nicht die Sache genannt werden. Das moralisch Gute müsse daher
nicht nur dem Gesetze gemäß sein, sondern auch um seinetwillen geschehen.
Das Prinzip des schlechterdings guten Willens müsse ein kategorischer
Imperativ sein; er dürfe bloß die Form des Wollens überhaupt
enthalten, und zwar als Autonomie. Der Begriff des Guten und Bösen setze
ein Gesetz der Freiheit voraus, das die Vernunft sich selbst
gebe. An diesen Sätzen Kants ist fast alles
richtig. Nur ist die Hervorhebung des Willens einseitig und der kategorische
Imperativ ohne materialen Inhalt. –
Ähnlich definiert auch v. Oettingen
(»Sozialethik« . 109) das Sittliche als das an sich Gute
in der Form des Willens.
F. Paulsen, der in seinem »System
der Ethik« (I, 196) einen »teleologischen
Energismus« vertritt, nennt das Verhalten sittlich gut
(S.222), welches objektiv im Sinne der Wohlfahrt
oder der vollkommenen Lebensgestaltung des Handelnden und seiner Umgebung zu
wirken die Tendenz hat und zugleich subjektiv mit dem Bewusstsein der Pflichtmäßigkeit
begleitet ist. Fehlen entweder beide Merkmale oder auch nur eines, so ist es
sittlich verwerflich, fehlt es an der objektiven Richtigkeit,
so wird es schlecht genannt; geschieht es dazu mit dem Bewusstsein
der Pflichtwidrigkeit, so wird es böse genannt, im besonderen
dann, wenn es sich als Angriff auf das Wohl anderer darstellt.
Noch näher kommen der Wahrheit die sich Leibniz
anschließenden Definitionen, welche das Gute mit dem Vollkommenen identifizieren.
Leibniz sagt, der allgemeine praktische Instinkt ist das Verlangen nach
Lust, welche in einer merklichen Förderung besteht. Vernünftige Wesen
streben nach dauernder Lust, d. h. nach Glückseligkeit. Da nun die Mittel,
welche dazu führen, Vollkommenheiten sind, so besteht die Lust in der Empfindung
einer Vollkommenheit und die Glückseligkeit in der Empfindung einer dauernden
Vollkommenheit. Nun aber hält diese mit der Deutlichkeit unseres Vorstellens
gleichen Schritt, folglich müssen wir unsere Glückseligkeit in der
Aufklärung unseres Verstandes und im vernunftgemäßen Handeln
suchen. Tugend und Geistesbildung sind also die einzigen Mittel zur Erreichung
dauernder Befriedigung (»Von der Glückseligkeit«
W. W. S. 671). Hier müssen wir nur gegen die einseitige Hervorhebung
der Intelligenz auftreten, welche Leibniz eigentümlich
ist.
Ähnlich, wie er, ersetzt sein Schüler Wolf
die Glückseligkeit durch Vollkommenheit oder durch Angemessenheit mit der
Natur; Frauenstädt sagt, gut sei, was dem
wahren Wesen und dem immanten Zwecke jedes Dinges entspricht; Trendelenburg
definiert es als die Erfüllung seiner Idee durch den Menschen, das Gute
im Sinne des Vollkommenen umfasse das Gute der Gesinnung, das Wahre des Begriffs
und das Schöne der Darstellung (»Naturrecht«
S.50). –
Freilich bedarf es dann noch einer genaueren Durchführung dieser allgemeinen
Sätze, wie sie z. B. H. Ulrici gibt, wenn
er das Gute so definiert (»Gott und die Natur«
S. 567): Das Gute als Idee sei nur das Ideal des Wollens und Handelns,
der Begriff des schlechthin vollkommenen Tuns, als der absoluten Übereinstimmung
des Handelnden nicht nur mit seinem eigenen Wesen und dessen Bestimmung, sondern
auch mit der Wesenheit seiner Gattung, der Natur der Dinge des Weltganzen und
in letzter Instanz mit dem Willen Gottes.
Dies führt uns auf die bei den Theologen übliche Definition, das Gute
sei der geoffenbarte Gotteswille. So sagt z. B. A.
Wuttke (»Christliche Sittenlehre« I,
S.302): »Wahrhaft gut ist, was einer vernünftigen,
also göttlichen Idee entspricht, sie vollkommen in Wirklichkeit ausdrückt.
Bei dem bloßen Naturwesen ist das Gutsein der sich selbst notwendig vollbringende
Zweck Gottes in dem Geschöpf; bei dem vernünftigen Geschöpf ist
es der durch dasselbe frei sich vollbringende Zweck Gottes
an das Geschöpf. Dieser göttliche Wille ist da nicht
bloß Zweck für Gott, sondern auch bewusster Zweck für
das Geschöpf«. –
Nun haben wir freilich selbst schon öfter den innigen Zusammenhang von
Religion und Moral sowie die Notwendigkeit der Gottesidee für die Ethik
betont; aber der tautologische Satz: »Das Gute ist
Gott« führt uns zunächst nicht weiter. Denn erst müsste
doch Gottes Wesen festgestellt werden. Ferner weiß niemand authentisch,
was sein Wille ist, selbst wenn wir glauben, dass er sich in der Bibel wie in
den Urkunden anderer Religionen geoffenbart hat.
Zum Schluss sei noch kurz der verbreitete Irrtum abgewiesen, dass der
Geist oder die Vernunft das Gute sei im Gegensatz zum Leibe und zur
Natur. Dieser Dualismus, welchem das ganze Altertum mehr oder
weniger huldigte, der dann von Gnostikern und Manichäern, von vielen Scholastikern
und in neuester Zeit von Rationalisten und Pantheisten vertreten wurde, enthält
wenigstens soviel Wahrheit, dass das Gute nicht realisiert werden kann ohne
eine gewisse Herrschaft des Geistes über das Fleisch. Aber im Geiste sitzt
das Böse eben so wie das Gute; auch das Unsittliche ist ein
»Handeln der Vernunft auf die Natur« oder eine »Einigung
beider im Dienste einer Idee« (Schleiermacher).
So sagt Hegel (Werke XIV, 417.
XV, 101), das Fleisch, das Natürliche, sei das, was nicht sein solle.
Die Natur sei böse von Hause aus. Aber das Denken macht, dass etwas gut
oder böse sei, die Triebe sind an sich weder sittlich noch unsittlich.
Sittlichkeit werden wir also demjenigen
beilegen, dessen Gesinnung und Handlungsweise gut ist, d. h. der bewusst und
frei die göttliche Weltordnung an seinem Teile aufrecht erhält. Diese
seine selbstgewollte Harmonie mit dem Organismus des Ganzen negiert weder
(pantheistisch) die Berechtigung der Individuen
noch die Notwendigkeit, dass sie
sich dem Ganzen unterordnen. So
ist das Sittliche zugleich das Vernünftige,
weil das in der Logik der Tatsachen Begründete; es ist auch das Schöne,
weil das Harmonische. Es bewegt sich zwar zunächst auf dem Gebiete des
Wollens, aber da dieses ein vernünftiges
und zugleich eine Liebe zu dem als richtig Erkannten ist, so umfasst die Sittlichkeit
des Menschen ganzes Fühlen, Erkennen und Wollen. Kann doch niemand sittlich
handeln, ohne das Gute zunächst zu erkennen;
sein Gefühl der
Lust oder Unlust
treibt ihn dann zum Wollen
und Handeln. Erkennen und Fühlen
sind allerdings zunächst unfrei; je freier sich aber der Mensch dabei verhält,
desto sittlicher werden auch sie.
Das Erkennen ist sittlich, wenn
wir uns als ein Glied am Organismus der Welt, unser Einzeldasein nur auf Grund
des allgemeinen Seins erfassen.
Das Fühlen ist sittlich,
wenn es nur an dem an sich Guten Wohlgefallen hat, sich dafür begeistert
und liebend erwärmt. –
Sittlich soll ferner nicht nur eine Handlung oder mehrere sein, sondern das
ganze Leben; wie es in unserem
physischen Dasein keinen Moment der Unterbrechung des Stillstandes gibt, sondern
ein stetes Auf- und Abfluten, so ist auch im sittlichen Prozess kein Augenblick
indifferent, sondern jeder ist entweder gut oder böse.
Selbst unsere Träume sind
nicht sittlich gleichgültig; sie folgen wie unsere
Meinungen, zum großen Teil unseren ethischen Zuständen.
Sittliche Stumpfheit ist auch schon Unrecht. »Die
Sittlichkeit ist die Gesundheit des vernünftigen Geistes, jede Hemmung
also Krankheit« (Wuttke).
Endlich kann kein individuelles Leben existieren ohne Zusammenhang mit dem allgemeinen.
Das sittliche Dasein ist daher auch kein bloß individuelles,
sondern es bezieht stets zugleich auf die Gemeinschaft der Menschen.
Ihr gegenüber fühlt und erkennt sich der Einzelne als abhängig,
zur wechselseitigen Hilfsleistung verpflichtet.
»Dem Vollkommenen gegenüber«, sagt
Goethe, »gibt es keine
Freiheit, als in der Liebe.«
In der Liebe allein verwandelt sich die starre Gesetzesnotwendigkeit in freudige
Freiheit.
Die Liebe zur Wahrheit treibt den Menschen zum Forschen; die Liebe zur Schönheit
gebiert die Kunst, die Liebe zum
Guten macht ihn sittlich. Die Liebe allein vollzieht mit Wunderkraft die
Einigung der schärfsten Gegensätze.
Aber sie muss qualitativ näher bestimmt werden. Denn Liebe kann in gewissem
Sinne als das Motiv alles, auch des bösen Handelns
angesehen werden. Auch das Böse,
sagt Dante, ist eine Ausgeburt der Liebe, aber der
falschen, leidenschaftlichen zum Eigenwilligen, Weltlichen, Gottwidrigen. Alle
sozialen Instinkte (selbst der Egoismus) bewirken
Liebe, der wir aber noch nicht das Prädikat des Sittlichen beilegen werden
. Dies verdient sie erst dann, wenn der Einzelne sich selbst verleugnet, ohne
sich zu verlieren, sich selbst setzt, ohne die Gemeinschaft aufzuheben.
»In der Liebe«, sagt v.
Oettingen, »begegnen
sich als ihrem Brennpunkte Leidenswilligkeit und Tatkraft, Sanftmut und Festigkeit,
Duldsamkeit und Entschiedenheit, Mitleid und Freude, Wahrheit und Milde, Autorität
und Pietät, Gottesfurcht und Selbständigkeit, Demut und Mut, Glaube
und Hoffnung.«
(1. Kor. 13.)
Die Liebe verbindet auch die drei üblichen Formalbegriffe
der Ethik: Sie ist das höchste Gut,
sofern sie Gottes Reich auf Erden begründet; sie schwebt
dem Einzelnen als Pflicht vor
und treibt, in den Willen aufgenommen, diesen als
beseelende Tugend.
Übrigens enthält der Begriff der Liebe, die wir später bei Betrachtung
des Moralprinzipes sehen werden, eminent praktische Konsequenzen. Denn da wir
schon angedeutet haben, dass die sittliche Liebe weder die eigene noch die fremde
Individualität verachtet, so verstehen wir nicht darunter das bloß
formale Verhalten
zu anderen, das sich etwa die Zwecke anderer zu seinen eigenen macht
oder, wie es Hegel ausdrückt, sein Sein in
einem andern hat. Diese Liebe, welche auch aus eigener Leere entspringen kann,
möchten wir nach Comte
lieber »Altruismus«
nennen (vivre pour autrui); sie zeigt sich oft
gegenüber imponierenden Persönlichkeiten, z. B. Napoleon
I., und auch die passive Hingabe des Weibes ist so beschaffen. Eine andere
Form des »Altruismus« ist auch noch
die aus Tätigkeitsdrang und Überschuss an Kräften entspringende
Hingebung, welche auch selten nach dem Wert der geliebten Person und der sittlichen
Bedeutung des eigenen Tuns fragt. Die sittliche Liebe dagegen verfährt
nicht blind, mechanisch und bewusstlos, sondern auf Grund der Wertschätzung
sowohl der eigenen und fremden Persönlichkeit, als auch besonders der Menschheit
im ganzen. Die Erhaltung und Förderung der Menschheit
ist also das letzte Ziel der sittlichen Liebe.
H. Ulrici hat
mit Recht (in »Gott und der Mensch« I, 117ff.)
hervorgehoben, dass die Idee des Sittlich-Guten die der Wahrheit zur
Voraussetzung hat. Denn der Begriff der Wahrheit könne überhaupt nur
von einem ethischen Wesen gefasst werden; ferner setze er uns
ein Ziel, welchem das ethische Gefühl des Sollens
und der von ihm ausgehende Wissenstrieb antworte und welches
nur durch ethisches Wollen und Tun (durch
freie, uninteressierte Hingabe an die Erforschung der Wahrheit) erreicht
werden könne. Er sei eine ethische Idee, weil ein Vollkommenheitsbegriff,
der die höchste Vollkommenheit des Denkvermögens
bezeichne und die Vollkommenheit des Seins zu seiner Voraussetzung
habe. Er verpflichtet uns, nach wahrer Erkenntnis und damit
nach jener Vollkommenheit des Vorstellens, Anschauens und Denkens zu streben,
welche die Vorbedingung für die Erreichung des Zieles ist. – So richtig
der Zusammenhang zwischen dem Wahren und Guten hervorgehoben ist, so möchten
, so möchten wir doch die Wahrheit nicht mit Ulrici
als eine besondere ethische Kategorie aufstellen, sondern
sagen, das Forschen entspringt aus dem Wissenstrieb, als einer Seite unseres
Tätigkeitsdranges, und wird sittlich oder unsittlich, je nach der Gesinnung,
dem Motiv und Ziel des Forschenden (vergl. S.115).
S.107-117
Das
Sittengesetz (§ 15.)
Sittlich gut, haben wir gesehen, ist die Gesinnung, welche mit Bewusstsein und
Freiheit der absoluten Lebensnorm gehorcht. Welches
aber, fragen wir nun, ist jene Norm? Worauf
gründet sie ihre Autorität? Woher stammt sie?
Wenn vom Sittengesetz die Rede
ist, so müssen wir uns vor allem klar machen, dass es von den Naturgesetzen
wesentlich verschieden ist. Die Naturgesetze sind nur Formeln für
die Gleichmäßigkeit des Geschehens. Sie schreiben niemanden etwas
vor, der sie befolgen könnte oder auch nicht, sondern die sich mit Notwendigkeit
vollziehenden Vorgänge der Natur haben wir Menschen nur anthropomorphisch
»Gesetze«
genannt. Ihre Überschreitung
ist ganz undenkbar, denn die Dinge geschehen so wie sie geschehen nicht etwa,
weil ein Naturgesetz es ihnen vorschreibt oder sie dazu zwingt, sondern weil
das Wechselwirken der Naturkräfte gerade so und nicht anders an diesem
Punkte stattfindet. Verwandt mit dieser immanenten Objektivität der Naturkräfte
ist die begriffliche Notwendigkeit der Logik
und Mathematik. Auch sie gelten,
weil sie wesentliche Lebensäußerungen und Selbstbetätigungen
des Geistes; weil sie nicht bloß Denkgesetze, sondern Seinsgesetze sind.
–
Anders dagegen verhält es sich mit dem Sittengesetz.
Ihm kommt weder Allgemeinheit noch
Notwendigkeit zu. Denn sowohl
die ethischen Grundsätze der Individuen, Zeiten und Völker sind verschieden
als auch durch keine Autorität in Übereinstimmung zu bringen. Ferner
schließen die Sittengesetze kein Müssen ein,
sondern nur ein Sollen. Denn wenn
wir auch § 8 gewisse Naturgesetze des Willens
auffanden, so handelt es sich hier nicht darum auffanden, so
handelt es sich hier nicht darum; jene waren ja psychologische Gesetze, diese
sind ethische, d. h. sie können befolgt oder übertreten werden, wenn
anders die menschliche Freiheit
(§ 10) bestehen soll. Bei solchen Gesetzen fragt es sich offenbar:
Wer hat sie gegeben? Welcher Gesetzgeber verleiht ihnen normative Autorität?
Die theologischen Ethiker (Harleß,
Schmid, Wuttke, v. Oettingen u. a.) antworten einfach: Das
Sittengesetz ist Gottes Wille, den er uns in der Bibel deutlich offenbart hat.
Schon § 13 haben wir die Undurchführbarkeit
dieser Ableitung angedeutet. Zwar soll Moses die von
Gott selbst geschriebenen Gesetzestafeln erhalten haben – die er freilich
im Zorn zerschmetterte und durch andere von seiner Hand ersetzte –, aber
diese Sage ist ebenso zu beurteilen wie die Ableitung aller anderen Gesetze
von den Göttern. Und auch Christus
hat einige religiös-sittliche Lehren hinterlassen, deren Form aber nicht
festzustellen ist und die doch auch nur dann unfehlbar wären, wenn Christus
Gott wäre. Aber wenn auch dies von vielen Theologen behauptet wird, so
sehen auch sie sich zur Kritik genötigt, da sie am geoffenbarten Gesetz
Moralisches, Politisches und Zeremonielles unterscheiden müssen. Nun sind
wir zwar davon überzeugt, dass sich Gott den Menschen offenbare, doch geschieht
dies weder durch unmittelbare,
noch durch wörtliche Inspiration,
sondern nur vermittelst der Natur und Geschichte, und zwar stets entsprechend
dem Bildungsstande und Fassungsvermögen des Menschen. Vollkommene und irrtumslose
Gottesoffenbarungen gibt es daher überhaupt nicht.
Was speziell das Sittengesetz
betrifft, so haben wir schon § 11 seine Entstehung
Menschengeschlecht geschildert. Diese ist zugleich die Geschichte seiner Offenbarung.
Auf Grund seiner mit selbstischen und sozialen Trieben ausgestatteten Natur
hat der Mensch von Geschlecht zu Geschlecht immer mehr Sätze aufgestellt,
welche Werturteile über Personen und Sachen enthalten; durch Erfahrung
und Reflexion
fand er, dass das Leben, das Eigentum, die Ehe u. a. gegen Eingriff geschützt,
dass Wahrheit, Ehrlichkeit und Treue im Verkehr geübt werden, dass jedem
das Seine gegeben und das Wohl des Ganzen dem des Einzelnen vorangestellt werden
müsste u. s. w. Besonders intelligente und ernste Männer – Philosophen,
Prediger, Lehrer und Dichter – haben dann in Wort und Schrift solche Grundsätze
weiter ausgebildet und so eine
Art von Moralkodex aufgestellt,
den man ohne Zweifel offenbart nennen
darf, d. h. wenn man eine richtige Vorstellung von Gott damit verbindet.
Diese Sittengesetzgebung, welche also von der Menschheit resp, den Einzelnen
geübt wird, kann man auch Autonomie
nennen. Doch muss man dabei die Übertreibungen Kants
und Fichtes vermeiden. Während dieser
dem Sittengesetz Absolutheit beilegt,
schreibt ihm jener Apriorität zu.
So erklärt Kant (W.
W. IV, 345. VIII, 6. 31. 71 u. ä.), das moralische sei uns a priori
gegeben, der kategorische Imperativ sei ein synthetischer Satz a priori und
die Zukunft entwerfe ohne jede Empirie die Idee sittlicher Vollkommenheit, das
Moralgesetz sei ein Faktum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewusst
seien.
J. G. Fichte dagegen sagt (W.
W. IV, 56), dass ich solle und was ich solle, sei das Erste, Unmittelbarste;
es bedürfe keiner weiteren Erklärung, Rechtfertigung und Autorisation,
denn es sei für sich bekannt und wahr. Alles, was sich auf Moralität
beziehe, habe gar keine Prämissen, sei schlechthin übernatürlich
und liege außerhalb der Naturerscheinungen. –
Schon § 12 haben wir die angeborenen
Ideen zurückgewiesen. Hier sei noch hervorgehoben, dass
wir die Sittengesetze gerade aus der Erfahrung
schöpfen, dass ihnen keine Allgemeinheit
und Notwendigkeit beiwohnt, sie uns keineswegs
angeboren sind. Im Gegenteil wird der Einzelne in eine Gesellschaft
mit festen Sitten und Ordnungen hineingeboren; Eltern und Lehrer, Staat und
Kirche treten ihm als heilige Autoritäten gegenüber, so dass er weder
Zeit noch Kraft noch Mut findet, nach der Berechtigung der zahlreichen Anforderungen,
welche Sitte und Moral an ihn stellen, zu fragen.
Schopenhauer sagt einmal treffend, dass Wahrheiten, die man sich nicht
erinnert gelernt zu haben, für angeboren gehalten werden. Aber Kant
geht noch weiter; er behauptet nicht nur die Apriorität der bloßen
Idee eines Sittengebotes, sondern sogar die des Sittengebotes selbst und zwar
des Kantinischen kategorischen Imperativs. Doch hat er den Nachweis dafür
unterlassen, der ihm übrigens auch nicht gelingen konnte, da, wie wir andernorts
gezeigt haben (»Hauptpunkte der Metaphysik«
§ 5), die Begriffe »synthetisch«
und »apriorisch« unhaltbar sind.
Der Wahrheitsgehalt der Ansicht
von Kant, Fichte und zum Teil
Ulrici (s. o. S.117) ist einfach dieser:
Jedes Kind, das innerhalb einer gesitteten Gesellschaft geboren wird, bringt
ebenso gewisse ethische Anlagen
und Instinkte mit zur Welt, wie
es mit körperlichen und geistigen Anlagen geboren wird. Diese müssen
in ihm aber durch Erziehung zum
Bewusstsein und zur Fertigkeit erhoben werden; sie würden verkümmern,
wenn das Kind ohne Zucht aufwüchse wie Kasp. Hauser oder der Prinz in Calderons Drama »Das Leben ist ein Traum«. Die Autorität,
welche dem Sittengesetz beiwohnt, entspringt also lediglich aus den Mächten,
welche es hüten (Familie, Schule,
Staat und Kirche), aus den sozialen Instinkten
(der organisch gewordenen Gattungsintelligenz),
welche der Mensch hat, wie jedes Tier, wobei W. Wundts
feine Unterscheidung (Ethik S.92) zu berücksichtigen:
»Der Instinkt ist mechanisch gewordene, die Sitte
generell gewordene Gewohnheit des Handeln«. Dazu kommt noch ein
allgemeines Gefühl des Sollens,
dessen Ableitung wir jetzt versuchen wollen.
Es ist eine Tatsache, dass jedes Kind, sobald in ihm das Bewusstsein aufdämmert,
ein Gefühl des Sollens hat.
So stark in ihm der Eigenwille sein mag, es gehorcht, wenn man ihm bestimmt
und energisch befiehlt; es folgt,
weil es soll. Was aber bedeutet das Sollen?
Es ist das Verpflichtetsein zu
einem Tun und Lassen ohne positiven Zwang;
wobei also der, welcher soll, dem Gebot auch nicht
nachkommen kann, dann aber gewisse unangenehme Folgen
(Schmerz, Beschämung, u. dergl.) zu erwarten
hat.
Auch diesen Begriff haben manche Philosophen, besonders die beiden
Fichte, versucht, durch hypostasierende Formeln mit dem Nimbus übernatürlicher
Transzendenz zu umgeben. Uns scheint die Sache vielmehr so zu liegen: Aus Furcht
vor der stärkeren Autorität, welche dem Kind mit Drohungen oder Strafen
entgegentritt, gehorcht dieses zuerst, ohne die Berechtigung der zahllosen Forderungen
zu prüfen. Diesen fehlt es nicht an Nachdruck,
weil mit jedem Befehl Strafe oder Lohn in Aussicht gestellt werden kann und
daher das Kind aus eigenem Interesse gehorcht.
Je älter der Mensch wird, desto mehr verlieren die erziehenden Autoritäten
an Einfluss. Der Erwachsene braucht nicht mehr aus Furcht vor Eltern und Lehrern
das Gute zu tun. Er fühlt sich fortan zum Guten verpflichtet teils aus
Gewohnheit, teils aus Einsicht
in die objektive Notwendigkeit des Guten. Das Gesetz, das er nun in seinen Willen
aufgenommen hat, verliert den drohenden Charakter; es ist kein
fremder Wille mehr, sondern sein eigner. Denn er hat erkannt,
dass das, was die Gesellschaft von ihm verlangt, im Grunde sein eignes Wohl
ist. In diesem Grunde kann man das Sollen mit Kant
Autonomie oder mit J.
H. Fichte den Grundwillen des Menschen nennen. Denn der Grundtrieb des
Menschen, sahen wir oben (S.40), ist auf die Selbsterhaltung,
d. h. auf möglichst reiche Selbstbetätigung
gerichtet, welche sich in dem Gefühl der Lust,
d. h. gesteigerter Tätigkeit bezeugt.
Um also diesem Grundtriebe zu genügen, sieht sich der Mensch wohl oder
übel (nolens volens) genötigt, den vorhandenen
Autoritäten zu gehorchen. Er wird daher oft auf eine momentane kurze Lust
verzichten, um eine längere künftige zu erlangen; er wird einen physischen
Genuss gern hingeben, wenn er dafür geistige Genüsse erlangen kann;
das Lobe der Autoritäten wird ihm bald mehr gelten als Bequemlichkeit,
Ehre mehr als Reichtum, Wissen mehr als Macht u. s. w. So entsteht allmählich
zwischen den verschiedenen Lustgefühlen und ihren Ursachen ein
Konkurs oder Konflikt,
und für jeden bildet sich, je nach seinem Temperament, seiner Erziehung
und seiner ganzen Natur eine Stufenfolge des
Angenehmen und eine Abwägung dessen,
wozu er sich zu entschließen habe. Je nach dem physiologisch-psychologischen
Hauptsysteme sind dann auch die Ideale der
Einzelnen verschieden. »Ist das vegetative
System besonders regsam, so entsteht die Richtung des Denkens und Tuns
auf materielles wohl im weitern Sinne. Ist das Muskelsystem
besonders regsam, so entsteht die Richtung auf praktische Betätigung als
solche (militärische, technische, industrielle).
Ist das Nervensystem besonders regsam, so werden Wissenschaft,
Kunst, überhaupt geistiges Leben, oft in religiöser Form, als das
Höchste gesucht. Mit diesen Hauptsystemen kombiniert sich dann das sexuelle
Leben«. (Vgl. Baumann, »Handbuch der
Moral« § 17. 34.)
Dieser zunächst rein verständige Kalkül
entspringt nun aber unmittelbar aus unserem Selbsterhaltungstriebe, den
man mit Leibniz, Wolf, J. H. Fichte und Ulrici
auch »Trieb nach Vollkommenheit«
nennen kann. Und da diese verständige Berechnung offenbar
auch von den Sittenlehrern und Gesetzgebern angestellt werden musste, so ergab
sich allmählich auf naturgemäße Weise als
Sittengesetz die
Summe von Vorschriften, deren Befolgung für die menschliche Gesellschaft
am förderlichsten erschien.
Da diese Lebensweisheit sich nur langsam, aber an Hand wirklicher Kompromisse
zwischen den verschiedensten Interessen herausgestaltete, so hat sie schließlich
in der Tat das für die Menschheit Zweckmäßigste,
wahrhaft Nützliche, d. h. Naturgemäße
herausgefunden. Durch lange und bittere Erfahrung gewitzigt, also keineswegs
a priori, fordert nun die Vernunft (d. h. die Vernünftigen!),
dass das Vernünftige geschehe.
Bei dieser natürlichen Ableitung
brauchen wir daher nicht J. H. Fichtes und H.
Ulricis transzendentale Begründung. So sagt Fichte
(»System der Ethik« II, 1, S.6): »Die ethischen oder
praktischen Ideen drücken das ewige Wesen des Menschen in seinem Willen
aus. Der Beweis dafür sei zugleich die Nachweisung ihrer Immanenz, ihres
apriorischen und überempirischen Charakters im menschlichen Geiste«.
Der ethischen Ideen gebe es drei; objektiv: Sittlichkeit und Vollkommenheit
des Willens, subjektiv: Glückseligkeit, das sittliche Gut. –
Ulrici sagt etwas nüchterner
(»Naturrecht« S.101-149), da das Ethische seinem Begriffe
nach das Seinsollende sei, so könne ihm nur ein Gefühl des
Sollens entsprechen, das nicht in verschiedenen Menschen ein
verschiedenes sein könne. Als Gefühl müsse dasselbe,
wie jedes Gefühl, auf einer Affektion der Seele beruhen;
die Affektion setze aber etwas voraus, das affiziere; und zwar
könne das Gefühl, als ein ursprüngliches allgemeines, zum Wesen
des Menschen gehörendes, nicht auf einer zufälligen, der Seele
von außen kommenden Affektion beruhen, sondern nur auf einer
Affizierung derselben durch ein ihrer eignen Elemente, und
zwar müsse das Affizierende, da dieses ein Gefühl des Sollens hervorrufen
solle, selbst ein Seinsollen der Seele sein oder involvieren.
Es sei das bestimmte Ziel, das allen Menschen, ihrem Werden
und Wachsen gleichmäßig gesetzt sei. Diese Bestimmtheit rufe, indem
sie die Seele affiziere, das Gefühl des Sollens hervor. Doch würde
es auf den Willen nur wenig Einfluss gewinnen, wenn es sich nicht mit dem Trieb
nach Vollkommenheit einigte. Aber erst die Unterscheidung und Vergleichung der
Objekte nach den ethischen Kategorien des Wahren, Guten und Schönen gewähre
und die nötige Norm. – Wie künstlich und haltlos diese Theorie
ist, ergibt sich aus dem bisher von uns Vorgetragenen.
Nun aber drängt sich das Bedenken auf:
Wenn also die Sittengesetzgebung dem Menschen weder direkt offenbart noch a
priori eingeboren, sondern die allmählich errungene Selbsterkenntnis der
Vernunft ist – worauf beruht dann ihre verpflichtende Autorität,
ihre Gesetzeskraft? Wenn die ethischen Gebote schließlich nur das eine,
objektive Wesen des Menschen ausdrücken, wenn also das
Ethische im Grunde genommen nur das Vernünftige,
d.h. Zweckmäßige, wahrhaft Nützliche und wahrhaft
Angenehme, das Schöne ist – wodurch können wir den Bösewicht
zur Anerkennung des Sittengesetzes zwingen? Ist nicht diese Selbstgesetzgebung
(Autonomie im Sinne von S.122) eine
große Selbsttäuschung?
Ist dann noch das Sittliche das absolute Gute, das um seiner selbst willen und
von jedem erstrebt werden muss? – Allerdings!
Eine festere Begründung der Ethik als auf die Natur
des Menschen gibt es überhaupt nicht: Diese Basis ist nicht
nur die einzig vernünftige,
sondern auch die unantastbarste.
Vernünftig insofern, als sie dem wirklichen Sachverhalt entspricht. Denn
wenn, wie oben gezeigt, das Gute das dem wahren Wesen einer Sache Gemäße
ist, so gebührt dem Gesetze absolute Anerkennung, welches dieses wahre
Wesen zur Geltung bringen will. Worin dieses aber bestehe, haben wir §
14 angedeutet, wo wir das Sittliche als das für die ganze Menschheit
Förderliche definierten (S.117).
In dieser Formel sind, wie später bei der Besprechung des Moralprinzips
nachgewiesen wird, alle einzelnen Pflichten enthalten. Insofern gebührt
unserm Sittengesetz auch Allgemeinheit
und Notwendigkeit.
Wohl gibt es viele, welche weder dies noch irgend ein anderes Gesetz anerkennen;
welche weder das Gute noch das Wohl der Mitmenschen suchen. Aber ihnen gegenüber
weiß sich dann unser Sittengesetz auch kräftig zu behaupten.
Eben weil es so natürlich entstanden und aus dem mühsamen Ringen der
Vernunft hervorgegangen ist, werden alle Vernünftigen fest
zusammenstehen im Bunde gegen die Bösen. Weil das Sittliche
zugleich das Nützliche ist, wird der Unsittliche zu seinem Schrecken sich
selbst am meisten schädigen;
alle Pfeile, die er als Verbrechen gegen die sittliche Weltordnung entsendet,
springen als Übel auf ihn selbst zurück. Die Selbstsucht und Lieblosigkeit
schlägt in Selbstvernichtung
um, der Rücksichtslose wird bald selbst nicht mehr berücksichtigt,
der die Freiheit missbraucht
als »Deckel der Bosheit«, wird seiner Freiheit bald physisch
oder geistig beraubt. – Aber nicht jeder ist ein Verbrecher oder selbst
in Gefahr, einer zu werden; und die Sittlichkeit besteht keineswegs in kalter
Gesetzlichkeit. Für diejenigen, welche über den Pragmatismus
von Lohn und Strafe erhaben sind, wird unser Sittengesetz zur absoluten Lebensnorm
aus philosophischen
und religiösen Motiven. Vernünftig zu handeln
ist der höchste Ruhm, weil der eigentümliche Vorzug des Menschen.
Vernünftig handelt aber nur wer sittlich handelt, folglich –.
Aber nach unserer Darlegung in § 5 und 6 gehen
wir noch weiter, indem wir F. v. Baader beipflichten,
welcher sagt:
»Wer in der Natur die Natur und nicht
den Geist, wer im Geist nur diesen und nicht Gott,
oder wer den Geist außer und ohne die Natur, Gott ohne und außer
dem Geiste sucht, der wird weder Natur, noch Geist, noch Gott finden, wohl aber
sie alle drei verlieren«.
Die Vernunft, welche alle Einzeldinge
durchwaltet, ist Gott. Er verhält
sich zur Welt wie zum Leibe die Seele. Beide sind verschieden und doch eins.
Wer also sittlich handelt, wirkt im Dienste Gottes.
Denn Er offenbart sich in unserer Vernunft und in ihrer Sittengesetzgebung.
Wohl ist dies nur ein Glaube,
aber ein Glaube, der auf den Tatsachen täglicher Erfahrung ruht. Ohne diesen
Glauben verliert unser Leben jeden Halt; wir müssen glauben an unsere Bestimmung
(das »göttliche Ebenbild«), an
die Möglichkeit und Verpflichtung, sie zu erreichen; glauben an eine göttliche
Weltordnung, welche dem Guten zum Siege verhilft; glauben an uns selbst und
an die Mitmenschen, trotz der Schwächen und Fehler, die wir alle haben.
»Studiere nur und raste nie, du kommst nicht weiter
mit deinen Schlüssen; das ist das Ende der Philosophie: Zu wissen, dass
wir glauben müssen«. (Geibel)
Dieser Glaube an das Gute ist freilich kein leeres Spiel der Phantasie,
kein angelerntes und anerzogenes starres Dogma, nein, er ist Lebenserfahrung
und die reife Frucht eindringender Erkenntnis. Daher verleiht er uns auch Begeisterung
zum Kampf gegen das Schlechte, Idealismus
in einer pessimistisch-materiellen Zeit, Kraft
zum Handeln und Dulden. Schon durch das gewöhnliche Leben
glaubt sich jeder hindurch: Er glaubt der Natur, dass sie ihn
nicht betrüge; seinen Sinnen, dass sie ihn nicht täuschen; dem Gesicht,
dass es den Charakter des Fremden andeuten werde; jeder glaubt der Rede des
andern, seinen Eltern und Lehrern und den Büchern. Wieviel mehr auf ethischem
Gebiete, wo die Wirklichkeit notwendig hinter dem Ideal
zurückbleiben muss. Da genügt weder bloßes Hoffen
noch Wünschen, weder
Ahnen noch Behaupten:
man muss die herrliche Zukunft ergreifen
in der stillen, aber felsenfesten Zuversicht auf
das Unsichtbare. Denn das Sichtbare ruht auf dem
Unsichtbaren, das Vergängliche
auf dem Bleibenden, das
Einzelne auf dem Ganzen,
das Ganze auf der Idee!
S.117-126
Das Böse
(§ 16)
Gegenüber dem Ideal, welches wir in § 14 und
15 zeichneten, ist es nun eine traurige, aber unleugbare
Tatsache, dass das Sittlich-Gute keineswegs
von allen Menschen erstrebt und selbst von denen, die
es eifrig erstrebten, nie ganz erreicht
wird. So herrlich auch die Ethik den wahren Naturzustand ausmalt, so mangelhaft
ist der wirkliche Zustand
des Menschen in der Natur. Wohin wir blicken, überall sehen wir
Lug und Trug, Hass und Neid, Grausamkeit und Lieblosigkeit,
Völlerei und Ausschweifung u. s. w., so dass wir dem Bibelwort zustimmen
müssen: »Sie sind allzumal Sünder und
mangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen, da ist keiner, der Gutes
tue, auch nicht einer«(Ps.
14, 1. Röm. 3, 19).
Hierbei sind von vornherein zwei viel verbreitete
Irrtümer abzuweisen:
Der Optimismus oder
Pelagianismus und der Pessimismus
oder Dualismus .
Die optimistische Weltanschauung
leugnet die Realität des Bösen
überhaupt. Es soll nur eine Schwäche des Menschen sein, wie
Pelagius, der Gegner Augustins
(gest. 430), und wie das Jahrhundert der Aufklärung
meinte. Dass bei Spinoza im Grunde
vom Sittlich-Bösen gar nicht die Rede sein kann, haben wir schon §
14 gesehen; ebenso wenig ist dies bei Hegel
der Fall. Denn, abgesehen von seiner schwankenden Ausdrucksweise, sagt er, der
Mensch sei zugleich sowohl an sich oder von Natur, als durch seine Reflektion
in sich böse. Dieses Böse sei, was notwendig nicht sein solle. Der
Mensch sei gut nur auf innerliche Weise, aber nicht der Wirklichkeit nach. Diese
Natürlichkeit des Willens, die Selbstsucht, sei böse, wodurch die
andere Seite nicht aufgehoben werde, dass er gut sei
(Werke VIII, 179. XII, 258).
Auch in unsere Zeit ist eine weit verbreitete Meinung, dass wir im Grunde gar
nicht so schlecht sind, dass nur die Moralprediger auf Kanzel und Lehrstuhl
den Menschen so schwarz malen, weil es ihr Beruf so mit sich bringt. Gewiss,
viele Menschen führen ein äußerlich
ehrbares Leben. Sie morden, rauben und betrügen nicht, sie sind
fleißig und mäßig, sie erfüllen alle ihre Bürger-
und Berufspflichten mit peinlicher Gewissenhaftigkeit. Und doch – werden
wir ihnen mehr als Legalität beilegen
dürfen? Nein! Denn die Motive,
aus welchen heraus sie ihre Pflichten erfüllen, sind entweder
unmoralisch oder noch nicht moralisch: Es sind meist
Ehrgeiz, Habsucht, Selbstliebe, Furcht vor Strafe u. a. In diesem Sinne
nannte Augustinus (de
civit. dei 19, 25) die Tugenden der Heiden, weil sie voll Aufgeblasenheit
und Hochmut seien, »glänzende Laster«.
Nun, die der Christen sind meist dasselbe. Schon höher steht zwar diejenige
Lebensführung, welche aus Liebe
zu Personen oder Gemeinschaften gesetzmäßig ist, z. B. aus
Liebe zu Eltern und Lehrern, Geschwistern, Kindern und Freunden, oder aus Liebe
zum Vaterlande, zur Wissenschaft, Kunst u. dgl. m. Aber es ist immer noch
keine lautere Sittlichkeit. Erst wenn wir das Gute tun
um seiner selbst willen, ohne
Rücksicht auf eigenen Nutzen, eigene Ehre, eigene Ehre, eigene Bequemlichkeit,
ja selbst mit der Verletzung derselben, einzig im Dienste Gottes, dann handeln
wir löblich. Aber wie selten
geschieht das! Und selbst wenn es geschieht, wie unbeständig
sind wir im Guten! Dazu kommt, dass wir meistens nicht einmal das Rechte klar
erkennen. Aus Irrtum begehren
wir Unsinniges oder Unsittliches, wählen schlechte Mittel zu guten Zwecken
oder wenden gute Mittel zu schlechten Zwecken an. Oft verblendet uns das Gemüt,
so dass wir zu schnell oder an falschem Orte handeln u. s. w. Dazu kommt das
große Heer unsittlicher Gedanken,
welche nicht zur Tat werden, teils weil uns der Mut, teils weil uns die Gelegenheit
dazu fehlt.
»Oft ist die Heiligkeit, womit sich kleine Seelen
blähen, bloß Mangel an Gelegenheit, die Fehler anderer zu begehen«
(Pfeffel).
Endlich verblendet uns der Mangel an Selbsterkenntnis,
der wieder aus Trägheit oder Furcht oder aus unbewusster Heuchelei entspringt.
Andere tadeln wir laut oder insgeheim, dem Satze, dass alle Menschen ihre Fehler
haben, stimmen wir bereitwillig zu – nur uns nehmen wir dabei aus. Aber
gerade je mehr wir uns prüfen, desto schlimmer erscheint uns das eigene
Herz, desto härter beurteilen wir uns selber.
»Eine gebesserte, gereinigte Seele«, sagt Jean
Paul, »wird von der kleinsten moralischen Giftart,
wie gewisse Edelsteine von jener anderen Art trübe, und jetzt, nach der
Besserung, merkt sie erst, wie viel Unreinigkeiten sich noch in allen Winkeln
aufhalten«.
So ist die Tugend ebenso der Weg zur Selbsterkenntnis, wie umgekehrt. Denn bei
dem Versuche, jene zu üben, merkt man, wie weit man in dieser noch zurück
ist. Daher ist Misstrauen in sich selbst der
erste Schritt zu beiden. Je weiter man nun darin kommt, desto mehr Fehler wird
man an sich entdecken, desto verzagter wird man werden. Denn das Gute, das man
will, tut man nicht, sondern das Böse, das man nicht will.
Da kann es denn leicht geschehen, dass man aus einem Extrem ins andere fällt
und nun aus einem leichtsinnigen Optimisten
zum verzweifelten Pessimisten
wird. Mit den Manichäern und Schopenhauer
möchte man dann das Böse für die natürliche Notwendigkeit
des menschlichen Geschlechts halten. Weil viele Laster an der
Sinnlichkeit ihren Ausgangs- und Stützpunkt haben, erscheint
diese als das eigentlich Böse. Daher die Mahnung, das Fleisch durch Askese
abzutöten, welche sich bei Indern, Parsen, Manichäern
und modernen Pessimisten findet. Oder, da
der Leib die »Objektität« des Willens
sein soll, die Forderung, den Willen zum Leben zu verneinen und ins Nichts
zuückzukehren. Aber die Sünde ist weder die
Substanz noch die Naturnotwendigkeit
des Menschen. Dies beweist unser Gewissen,
welches, ob es auch schlummert oder unterdrückt ist, immer wieder laut
gegen unseren unvollkommenen Zustand protestiert. So gesetzmäßig
daher auch das Schlechthandeln im ganzen sich vollzieht, wie
die Statistik zeigt, so gesetzwidrig bleibt
es im einzelnen. Kein Mensch will betrogen sein, jeder liebt die Wahrheit um
ihrer selbst willen; der Trieb nach Vervollkommnung wohnt
auch dem Schlechtesten inne. Ja dadurch, dass das Laster die Maske
der Tugend wählt, erkennt es ihren Wert an; und kein Verbrecher
findet es ungerecht, dass er bestraft wird. Straft er sich doch
selbst genug, selbst wenn die irdische Gerechtigkeit ihn nicht erreicht. Denn
so anmutig ihn die Untat ihn anlächelte, ehe er sie beging, so furchtbar
blickt sie ihn nach ihrer Vollendung an.
»Ein anderes Antlitz, eh’ sie gescheh’n,
ein anderes zeigt die vollbrachte Tat!« (Schiller).
Dann erwacht die schlafende Furie, die Reue, und jagt ihn ohne Ermatten, bis
er verzweifelt oder seine Tat sühnt oder sich durch neue Schandtaten betäubt.
–
Aber die Sünde ist auch
nicht bloß Sinnlichkeit, wie selbst
Schleiermacher behauptet. Denn freilich arten die Triebe nach Nahrung, Besitz,
Geschlechtsgenuss leicht in Laster aus, aber sie selbst sind doch darum nicht
schlecht Und gerade die schlimmsten Fehler wurzeln nicht in der Sinnlichkeit,
sondern in der Selbstsucht, z. B. Zorn, Rache, Neid, Hochmut
u. a.
Fragen wir also, was denn das Böse sei, so
ergibt sich nach dem Bisherigen die Antwort: E s ist die
verkehrte Willensrichtung des Menschen, welcher aus Selbstsucht
das Seine sucht auf Kosten der anderen. Wohl ist die Selbstliebe
berechtigt, sie ist ja das Zentrum unserer Individualität, aber indem sie
die Schranken durchbricht, welche ihr die Gemeinschaft der Menschen zieht, verliert
sie ihr wahres Lebenszentrum, nämlich die Gottesliebe, und verletzt alle
Rücksichten auf andere, ja sie erhebt sich kühn zum Kampf gegen alle.
Die sinnlichen Triebe arten aus
in Völlerei und Wollust; die Güter der Welt, welche wir für sittliche
Zwecke begehren sollen, reißen wir zucht- und maßlos an uns, voller
Hab-, Ehr- und Herrschsucht. Alle Perspektiven verschieben sich: in krankhaftem
Egoismus macht sich der Einzelne zum
Zentrum des Ganzen, ja zum Ganzen
selbst, im Größenwahn unbefriedigter Selbstliebe
möchte er die ganze Welt an sich reißen und
vernichtet dabei doch nur sich selbst. Der Gute liebt die Menschen
und Gott, der Böse nur sich selber; jener sucht das Wohl des Ganzen, dieser
sein eigenes; jener kreuzigt sein Fleisch, samt den Lüsten und Begierden,
dieser sucht sein Leben zu erhalten, verliert es aber.
Alle Sünde wurzelt also im Geiste, aber wegen des innigen Zusammenhanges
von Leib und Seele (§ 7) erscheint sie als
Fleischeslust, Augenlust und Hoffart. Das wahrhaft
natürliche Verhältnis, dass der Geist herrsche über unsere Triebe,
ist in die Knechtschaft desselben unter die Leidenschaften verkehrt. Wohl fühlen
wir Scham darüber, klagen uns an, dass es so ist, aber der
edle Sklav in uns vermag nur durch langen, unablässigen
Kampf jene diamantnen Fesseln zu sprengen. Oder, was leider noch häufiger
eintritt, das Schuldgefühl führt den Menschen zum Unglauben
an Gott, ja zur Gottesleugnung;
um sein nagendes Gewissen zu beruhigen, wirft er sich dem praktischen und theoretischen
Atheismus in die Arme; oder er huldigt krassem Materialismus
oder finsterem Aberglauben.
Da er sich aus Furcht und Scham nicht bessert, verschließt er sich allmählich
immer mehr das Verständnis
für moralische und religiöse Dinge und zertritt absichtlich in seinem
Herzen die zarten Keime der Liebe zu Gott.
Und doch ist sein Herz unruhig und findet nicht Frieden, auch »die Kinder
der Welt« erkennen, dass alles eitel ist, und seufzen mit
Goethe: »Ach, ich bin des Treibens müde,
was soll all der Schmerz, die Lust! Süßer Friede – komm, ach
komm in meine Brust!«
Wie oben (S.116) das Gute, lässt sich nämlich
auch das Böse unter dem dreifachen
formalen Gesichtspunkt des Gutes, der Pflicht und der Tugend betrachten.
Denn das Böse erscheint in seiner die pflichtmäßigen Gemeinschaftsbande
zersetzenden Macht als Pflichtvergessenheit,
in seinem Charakter der Persönlichkeit schwächenden Einfluss als Untugend,
in seinen schrecklichen Folgen
als das höchste Übel.
Nachdem die Selbstsucht den Menschen einmal seiner idealen Aufgabe entfremdet
hat, drückt sie allem seinem Tun, seinem Sein und haben den Charakter des
Todes auf. Er verkrüppelt
geistig und sittlich, ja auch leiblich; denn die Sünde, wenn sie vollendet
ist, gebieret sie den Tod
(Jak. 1, 15).
Der Missbrauch der Sinnlichkeit
rächt sich bald durch Ekel, Krankheit und Schmerz; die
übertriebene Selbstsucht des Einzelnen, seine Rücksichtslosigkeit,
Ungerechtigkeit und Gewalttat ruft dieselbe Reaktion bei den anderen Menschen
hervor. Unlauterkeit, Betrug, Hass und Zwietracht vergiften alle Verhältnisse.
Als pathologische Konsequenz tritt nun sein förmliches »Gesetz
der Sünde« auf, nämlich das Elend
der Gesellschaft in notwendiger Proportionalität zu ihrer
Schuld. Mit furchtbarer Strafgerechtigkeit erhebt sich die göttliche Weltordnung
gegen ihre Verächter. Denn Gott ist der lebendige Hüter der Moral
– kein »Strohpotze« (Luther)
oder »verschämter Scheingott«
(Heine) – als
Nemesis waltet er über den Bösen, wie als Vater über den Guten.
Mit Recht nennt Schiller die Schuld
als das größte Übel, denn sie schließt alles ein,
was uns das Leben so schwer macht.
So groß auf der einen Seite die Fortschritte
der Menschheit in Wissenschaft, Kunst und Industrie sein mögen,
so hat damit die Sittlichkeit keineswegs Schritt gehalten. Und wenn auch die
Kultur noch eine Zeitlang bestehen kann, während Moral und Religion mit
Füßen getreten werden, über kurz oder lang fällt sie doch
der Verwesung anheim, weil die Säulen der Gesellschaft untergraben sind.
Denn »die Sünde ist der Leute Verderben«,
wie das Schicksal der alten Kulturvölker beweist. So wenig wir daher jene
Geistesarbeit der Menschen mit dem Pessimismus verachten wollen, - denn sie
hat ja die Völker zeitweise vor völliger Versumpfung bewahrt -, so
energisch müssen wir darauf hinweisen, dass Wissenschaft, Kunst und Industrie
weder einzeln noch vereinigt das wichtigste Bedürfnis des Menschen, nämlich
nach Friede und Erlösung vom Bösen, zu befriedigen vermögen.
Religion, Rechtspflege und Ethik müssen erst die
wahre Humanität pflanzen. Aber während uns die Religion
die Wiederherstellung unserer Gemeinschaft mit Gott verheißt
durch Sühnung der Sünde; während das
Recht die objektive Ordnung gegen die Sünde aufrecht erhalten
zu erhalten sucht, fordert die Ethik die
subjektive Erneuerung unserer Gesinnung, um durch Beseitigung der falschen Willensrichtung
zugleich die unendliche Jammerlast der Menschheit zu heben.
Bevor wir die wichtige Frage nach
dem Ursprunge des Bösen beantworten, seien, seien noch
andere Ansichten über das Wesen desselben
angeführt. Bei Homer ist das Wesen der Sünde
einerseits Betörung, anderseits Selbstsucht (Nägelsbach,
»Homer. Theol.« VI). Bei Plato
findet sich die merkwürdige Stelle (»Legg.«
V, 731): »In Wahrheit beruht bei jedem die
Ursache aller Sünden in der zu heftigen Selbstliebe«; sonst
freilich betrachtet er das Böse als Unwissenheit oder als Krankheit oder
als Maßlosigkeit. Wenn auch in der Bibel der Ausdruck
»Selbstsucht« nicht vorkommt, so wird
doch als Ziel der Erlösung hingestellt, dass der Mensch aufhöre ,
sich selbst zu lieben und das Seine zu suchen (Röm.
14, 7. 8. Gal. 2, 20. Lucä. 14, 26 u. ä.). Demgemäß
bezeichnen Augustin in De
civ. Die 14, 28 und Thomas
von Aquino (Summa II,
1, 77) den amor sui als Quell der Sünde. Besonders vertreten die
Mystiker Hugo und Richard v. St.
Victor, Tauler und die
Teutsche Theologey diese Ansicht. Die Reformatoren Luther
und Calvin betonen, ihrer Zeitrichtung gemäß,
den Unglauben. Auch dass das Böse eine verkehrte Willensrichtung
sei, nämlich die Abwendung unserer Liebe vom Schöpfer zum Geschöpf,
wird von Augustinus,
manchen Scholastikern und auch von Leibniz
(»Theodicee« I, 33) behauptet.
Damit hängt nun die Frage nach dem Ursprung des Bösen
zusammen. Eine verbreitete Ansicht betrachtet es als eine metaphysische
Unvollkommenheit. Dem Geschöpfe, sagt Leibniz,
(»Theodicee« I, § 20. 31) kann
absolute Vollkommenheit nicht zukommen, sonst wäre es Gott. Daher ist es
dem Irrtum, dem Schmerz und der Sünde unterworfen. Weil der Mensch oft
durch dunkle und verworrene Vorstellungen geleitet wird, so zieht er das Kreatürliche
dem Göttlichen vor, und darin eben besteht das Böse. Dies ist also
nichts Reelles, sondern bloße Beraubung. Man sollte also,
meint er mit Augustinus und Thomas
Aquinas, nicht nach der causa efficiens des
Bösen fragen, sondern nach der causa deficiens
und nicht Gott als Urheber anklagen, von dem wohl die Kraft herrührt, aber
nicht die Schwäche. Die ideale Ursache des Bösen
freilich ist Gott, resp. sein Verstand, welcher unter den möglichen Welten
gerade die vorhandene, d. h. mit Unvollkommenheiten behaftete, als die bestmögliche
erkannte. – Hiermit wäre freilich Gott gegen den Vorwurf, das sittliche
und physische Übel,
verursacht zu haben, keineswegs gerechtfertigt. Denn warum
hat er dem Menschen nicht die Kraft mitgeteilt, die Sünde zu vermeiden?
Und wenn er so unvollkommene Wesen nicht nur als möglich
erkennt, sondern wirklich hervorbringt, so ist er doch
die Ursache ihrer Unmoralität. Ferner hebt jene Theorie, welche das Böse
zu einem metaphysischen Übel macht und es dadurch verewigt, sein Wesen
als Schuld des Menschen auf, während doch unser Gewissen
uns dafür verantwortlich macht.
Aber während Leibniz allen Ernstes die Welt
für minder vollkommen erklärt, wenn ihr die Sünde fehlte
(»Theod.« I, § 10), so hofft er doch deren Aufhebung
durch allmählige Annäherung an die Vollkommenheit, indem er den Menschen
als die »Asymptote der Gottheit« bezeichnet.
Demgemäß nennt er als eigentliche Ursache des Bösen den
freien Willen des Menschen der Kreaturen (»Theod.«
II, 3 120, III 274), welcher weder dem Zwange, noch der Notwendigkeit
unterworfen sei. Denn sein vorhergehender primitiver Wille gehe einfach auf
das Gute, sein nachfolgender Wille dagegen, welcher sich nach seinem Verstande
richte, lasse das Böse zu à titre du sine
quanon ou de nécessité hypothétique (II,
§ 119). –
An anderem Orte haben wir die Haltlosigkeit dieser ganzen Theorie nachgewiesen.
Das Böse ist keine Schwäche, Privation oder Unvollkommenheit, sondern,
wie jeder aus eigener Erfahrung weiß, eine Macht, eine
positive Energie. Es entwickelt sich im einzelnen wie in größeren
Kreisen, es stählt oft den Willen, versetzt alle Kräfte des Menschen
in Aktion und konzentriert sie oft zu dämonischer Fruchtbarkeit. Daher
bedauern wir nicht nur die Bösen als schwache Kranke, sondern wir schaudern
vor ihrer bewussten Bosheit und tückischen Ruchlosigkeit zurück.
Verwandt mit dieser Ansicht ist die heutige ziemlich geläufige, dass das
Böse immer am Guten sei, d. h. nie objektiv und substantiell
existieren könne, sondern sich immer missbrauchend an ein (metaphysisch)
Gutes anschließen müsse. So sagt Augustinus
(de civ. dei 11, 9), das Böse habe kein eigenes Wesen, sondern der
Verlust oder die Abwesenheit des Guten haben den Namen des Bösen erhalten.
Aber diese, auch von Dionysius Aeropagita
(De div. nomin. 4), verschiedenen Kirchenvätern
und manchen Hegelianern, z. B.
Göschel, vertretene Meinung vermischt das Sittlich-Gute mit dem
Metaphysisch-Guten (d. h. Realen). Ebenso identifiziert
Spinoza Macht (potentia)
und Tugend (virtus) und hebt, indem er die Ohnmacht
in der Grenze unserer Realität durch anderes sieht, das Böse auf,
zumal es nur auf dem Vorurteil des imaginierenden Denkens beruhen soll (»Eth.«
IV, 20. 29. 30). Ähnlich sagt auch C. F. Baur
(Tüb. Zschr.1834), weil in jeder Sünde immer nur das für
das eigentliche Böse in ihr zu halten sei, was an ihr als Negation erscheine,
sei das Böse auch das Endliche; denn dies selbst sei die Negation des Unendlichen
und alle endliche Erscheinungen nichts als ein relatives Nichts. – Natürlich
hebt diese Identifizierung vom Endlichen mit dem Bösen letzteres im Grunde
auf.
In anderm Sinne freilich schließt
ja jede Sünde, wie wir öfters betonten, eine Privation
in sich; aber nicht die einfache Verneinung, welche allerdings dem Endlichen
anhaftet, sondern Störung und Verkehrung. Aber auch so ist die schwere
Frage, woher das Böse stamme, nicht beantwortet; denn
wie soll aus Verneinungen, die im Begriff des Menschen als Geschöpfes liegen
(Leibniz), eine Verneinung folgen, die diesem Begriff widerstreitet?
Eine andere, schon oben (S.130) berührte Ableitung
ist die aus der Sinnlichkeit. Darunter ist natürlich nicht
mit H. Ritter (Ȇber
das Böse« S. 5) das Veränderliche unseres Daseins, unser
zeitliches Ich zu verstehen, sondern diejenige Seite unseres Wesens, in welcher
unsere Bestimmbarkeit durch äußere Eindrücke
beruht. Selbstverständlich meint diese Ansicht nicht, dass der sinnliche
Trieb an sich das Böse sei – sonst verschwände
es ja wieder durch zu weite Fassung des Begriffs – sondern nur insofern
die Sinnlichkeit mit dem Geiste zusammen ist, resp. ihm widerstrebt.
Aber abgesehen davon, dass doch der Sinnlichkeit kein Handeln zugeschrieben
werden kann (S.47) und die meisten Sünden
unsinnlicher Natur sind (S.130): so ist doch jene
Herrschaft der Sinnlichkeit über den Geist nur denkbar infolge einer positiven
Selbstverkehrung des Willens oder einer natürlichen Schwäche
des Geistes.
Mit dieser Theorie übereinzustimmen scheint auch
Kant, wenn er das Böse in eine verkehrte Maxime setzt, das Gesetz
der praktischen Vernunft den Sinnentrieben unterzuordnen, in
die Befriedigung der sinnlichen Neigungen, und wenn er die
Freiheit als das Vermögen definiert, sich unabhängig von, ja im Widerspruch
mit allen sinnlichen Triebfedern rein aus Achtung vorm Sittengesetz
zum Handeln zu bestimmen. Da das Böse nun weder in der Freiheit, noch in
dem intelligiblen Charakter überhaupt liegen kann, so scheint nichts übrig
zu bleiben als die Sinnlichkeit. –
Im Gegensatz dazu verwirft
er in der »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen
Vernunft« ausdrücklich jene Ansicht, teils weil die sinnlichen
Neigungen keine gerade Beziehung auf das Böse haben, teils weil dadurch
die Zurechnung aufgehoben werde. Vielmehr sei das radikal Böse,
d. h. der Hang dazu, aus einem intelligiblen Freiheitsakt abzuleiten (Bd.
IX, 223, X, 22ff.). Denn wenn der Mensch jetzt schlecht ist, so muss,
da nach Kant das Phänmeno nur das Noumenon
spiegelt, dieses selbst schon schlecht gewesen sein; und da der Mensch, was
er soll, auch können muss, so kann das Böse nur im Nichtwollen
liegen. Diese Ansicht vereinigt sich mit der obigen dahin, dass das Objekt,
welches der Mensch in der Sünde sucht, zwar ein sinnliches ist,
ihre Quelle aber der intelligiblen Welt angehört. Wie
haltlos freilich Kants Unterscheidung
von Dingen an sich und Phänomenon sei, habe ich in meinen »Hauptpunkten
der Metaphysik« § 5 nachgewiesen.
Auch Schleiermacher
leitet das Böse aus der Sinnlichkeit ab (»Syst.
d. Sittenlehre« § 91. 109. »Abhandlungen« 1825. S. 27).
Während er es einmal definiert als das ursprüngliche Nichtbewusstsein
der Natur oder als ein Tun der Natur, dem ein Leiden der Vernunft entspreche,
bezeichnet er es in der »Glaubenslehre« (I,
§ 66) als eine durch die Selbständigkeit der sinnlichen Funktionen
verursachte Hemmung des Geistes. Seine Meinung wird dadurch jedoch verdunkelt,
dass er teils den Begriff des Geistes nicht definiert, teils
die Sinnlichkeit doppelt deutet, bald als Gesamtheit der Funktionen,
die sich auf das Verhältnis des Menschen zur Welt beziehen, bald als die
Funktionen des niedern, animalischen Lebens. Ferner wird der Ursprung jener
Hemmung des Geistes in der schnelleren und vielseitigeren Entwicklung der Sinnlichkeit
gefunden, während der Geist stoßweise und isoliert fortschreite (§
68, 1). Und doch soll der Geist das Gottesbewusstsein
und schlechthin einfach, zeitlos und sich selbst stets gleich sein. Immerhin
beruht die Sünde auch hier auf einer von Gott geordneten Schwäche
des Geistes. Dies gibt auch Schleiermacher zu;
die Sünde müsse sein, damit sich die entwickelnde Herrschaft des Gottesbewusstseins
als Erlösung erfahren werde. Diese Ohnmacht werde uns
dadurch zur Sünde, dass es den sinnlichen Trieb, den es
noch nicht zu unterwerfen vermag, doch verneint als Bewusstsein
des göttlichen Willens (d. h. als das Gewissen).
Gott sei also Urheber der Sünde, insofern er Urheber
der Erlösung, die Sünde aber die Bedingung der Erlösung
sei. Doch fällt natürlich dadurch die ganze Betrachtung auseinander:
Einerseits wird alles aus der absoluten Ursächlichkeit Gottes abgeleitet
und damit die Sünde objektiv ausgeschlossen; andererseits
sollen wir subjektiv uns dessen, was für Gott ein Negatives
ist, als eines positiven Gegensatzes gegen ihn bewusst werden. Hierdurch wird
doch ebenso wenig Gottes Liebe und Wahrhaftigkeit verletzt, wie die Erfahrung
des Menschen ignoriert, was freilich aus Schleiermachers
Determinismus notwendig folgt.
Diese Notwendigkeit des
Bösen hält der moderne Materialismus aufrecht, wenn er es als eine
unausweichliche Konsequenz der Individualität ansieht.
Diese sei ja doch die Basis aller Existenzen; nur durch Selbstbehauptung, durch
Zentripetalkraft können sich die Einzelnen – Planeten, Pflanzen,
Tiere, Menschen – erhalten. Der daraus entspringende
»Kampf ums Dasein« sei ebenso notwendig als förderlich.
Wie die Kunst, so bestehe auch nur das Leben durch Gegensätze.
Damit des Menschen Tätigkeit nicht erschlaffe, gab ihm Gott den
Gesellen zu, der reizt und wirkt und muss als Teufel schaffen
(Goethe). Überall also in der Natur sind Bejahung und Verneinung,
Liebe und Hass, Aktion und Reaktion, Allgemeinheit und Egoität die Pole
frischen Lebens. –
Diese dualistische Ansicht ist uralt. Zoroaster
soll schon gelehrt haben: Das Gute und das Schlechte seien aus der Mischung
von Licht und Finsternis entstanden, wie die Welt überhaupt.
Der arabische Mystiker Dschelajleddin singt:
»Tritt im Kampf Gott mit dem eignen Wesen auf,
glaub’ aus solchem Kampf blüht dann ein Eden auf«.
Ähnliche Ansichten finden sich bei Plotin (Enn.
8, 7), dem Stoiker Chrysipp (Gell.
VI, 1) und den Gnostikern. Ja, auch Lactanz
(Div. institt. 2, 8. 9) sich die Gegensätze
von Himmel und Erde, Licht und Finsternis, Logos und Teufel im Menschen konzentrieren.
Scotus Erigena meint (De
divis. Nat. 5, 35), das Böse erscheine bei Betrachtung des Einzelnen
als widrig, dagegen als gut und notwendig, wenn man das Ganze überschaue.
Auch Augustin in seinen frühen Schriften,
Thomas Aquinas (I, 48, 2),
Leibniz und Schleiermacher
huldigen dieser Ansicht. Besonders ausgeführt haben sie auch Jak.
Böhme, Schelling und
Hegel, natürlich stets nach ihrem System modifiziert. Auf Hegel
kommen wir sogleich noch spezieller zurück, Schelling
aber lehrt (»Werke« Abt. I, Bd. 6 544.
7, 400. 8, 75), gut und böse seien dasselbe, nur von verschiedenen
Seiten angesehen; das Böse an sich, d. h. in der Wurzel seiner
Identität betrachtet, sei das Gute, dieses dagegen in seiner Entzweiung
betrachtet, das Böse. Das Nichtgute sei doch ein mögliches Gutes.
Wer keinen Stoff und keine Kräfte zum Bösen habe, sei auch zum Guten
untüchtig. Das Böse sei nur böse, insofern es den Potenzzustand
überschreite, als Basis aber gut. Bosheit sei nur etwas relativ Böses,
wie die Kraft und Wildheit der Tiere; der Unrechthandelnde nur ein Unglücklicher,
sein Handeln habe geringere Realität als das des Rechthandelnden, und das
sei seine Strafe! –
Es ist wahr, die Spannung der Gegensätze bedingt das Leben.
Aber man darf darum doch nicht mit dieser Theorie das Gute für das starre
Sein halten, das erst der (bösen) Energie
bedürfte. Jede Individualität ist ja, trotz der notwendig anhaftenden
Einseitigkeit, ein Mikrokosmos (S.39).
Und gerade die vorhandene Polarität weist sie darauf hin,
sich mit anderen in Liebe zur Harmonie zu verbinden. Das eben
ist die sittliche Aufgabe, dass sowohl der Einzelne in sich als auch mit anderen
eine Einheit werde. Ferner folgt aus der Analogie, in welche
man gut und böse mit Licht und Finsternis setzen kann, nicht ihre
Identität. Wenn daher das ethisch Gute nur durch freie Entwickelung,
d. h. durch viele Stufen zu erreichen ist, so schließen
sich diese doch auch nicht aus. Und die Liebe zu Gott umfasst auch die zu den
Menschen, die zum Vaterlande, auch die zu Geschwistern u. s. w. Aber gut und
böse sind gar nicht Gegensätze im logischen Sinne,
denn nur diese fordern einander, sondern das Böse ist die reale Aufhebung
und Zerstörung des Guten. Und wenn auch Charaktere, die sich bekehrt
haben, häufig das Gute nun um so energischer lieben, so gibt es doch ein
stilles, aber inniges Liebesfeuer, welches sich nicht erst von den Schlacken
des Bösen zu reinigen braucht. Endlich ist ja doch die Sünde, wie
wir S. 132ff. zeigten, nicht bloß Vereinzeltes,
sondern eine Kollektivmacht, welche ganze Geschlechter, Nationen,
ja die ganze Menschheit durchsetzt hat. Wird aber gesagt, der Schatten,
welchen das Sündenelend der Massen wirft, diene dem Lichte Einzelner als
Folie, so wird damit die Persönlichkeit unerlaubterweise zum Mittel
herabgesetzt.
Hegels Gedanken über Wesen und Ursprung des Bösen sind, wie
so häufig, ganz unzusammenhängend und einander widersprechend. In
der »Phänomenologie«
(W. W. II, 361 ff.) sagt er, das Schlechte sei nur das passive geistige
Wesen, oder das Allgemeine, sofern es sich preisgebe an das vergängliche
Selbst. Die Natur in ihrer Entgegensetzung gegen die geistige Einheit sei das
Böse. Doch seien Gutes und Böses ebenso dasselbe, wie schlechthin
verschieden . Die »Logik«
(W. W. VI, 58f.) betont, der Unterschied zwischen ihnen werde nicht zum
Schein. Das Böse sei die Entzweiung. Doch sei es nichts Positives, sondern
nur der absolute Schein der Negativität in sich. Der Mensch, indem er sich
selbst Zwecke seines Handelns setze, dieselben auf die höchste Spitze treibe
und nur sich wisse und wolle in seiner Besonderheit mit Ausschluss des Allgemeinen,
sei böse und dieses Böse sei seine Subjektivität. In der
»Philosophie des Rechts« (Bd. VIII, 152f.)
wieder lehrt Hegel, das Gute sei ohne den subjektiven
Willen nur eine Abstraktion ohne Realität. Böse sei die Willkür,
die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzip zu machen. Sowohl
die Natürlichkeit des Willens, seine Besonderheit, als auch die Reflektion
seien böse. So natürlich notwendig das Böse also sei, so solle
es doch aufgehoben werden, denn es sei nichtig. Das Subjekt als solches habe
schlechthin die Schuld seines Bösen. Nur der Mensch, insofern er auch böse
sein könne, sei gut. Insofern der Mensch das Natürliche wolle, sei
dies nicht mehr das bloß Natürliche, sondern das Negative gegen das
Gute, als den Begriff des Willens. Wenn der Mensch das Böse ergreife, sei
es seine Schuld, denn es sei sein eigenes freies Tun. Die
»Philosophie der Religion« (Bd. XI,, 222f. XII,
257f.) bezeichnet als das Böse das Fürsichsein des Selbstbewusstseins,
den endlichen Geist; dies trete erst beim Unterschied Gottes von der Welt, besonders
vom Menschen, ein, und letzterer sei böse, wenn er auf jenem Unterschied
beharre und sich als Endliches behaupte. Die Erkenntnis sei die Quelle alles
Bösen; denn diese sei die Entzweiung und Vereinzelung. Aber das moralisch
Gute könne auch im Kampfe mit dem Bösen sein, das daher auch fortdauern
müsse. In der »Geschichte der Philosophie«
wird sowohl die Natürlichkeit als das Denken böse genannt und wiederum
das Denken als seine Heilung bezeichnet (XIV, 417),
während die »philosophische Propädeutik«
das Böse ein an und für sich Nichtiges nennt (XVIII,
197). – Aus dieser dialektischen Taschenspielerei mit geschmeidigen
Amphibolien [Zweideutigkeiten, Mehrdeutigkeiten] geht jedoch so viel hervor,
dass Hegel das Böse in die Willkür
setzt, die Natürlichkeit doppelt fasst, als Sinnlichkeit und Naturnotwendigkeit,
und die Notwendigkeit wieder in dreifachem Sinne. Denn die physische Notwendigkeit
hat gar kein Verhältnis zum Bösen, die ethische schließt es
aus und die metaphysische fordert es, aber nur als Verwirklichung des Guten.
Wie aber können sich diese zwei letzten widersprechen? Und ist es nicht
gegen die Erfahrung, dass sich der Geist aus der Natur entwickele? Wo bleibt
ferner bei dieser Theorie die Schuld? Und ist wirklich die Bejahung nur Negation
der Negation? Und lässt sich das Böse so aufheben durch das Denken,
wie Hegel meint? Dass das Böse nicht durch das Denken, sondern den Willen
entstehe, dass das Gute seiner nicht bedürfe, haben wir schon oben gezeigt.
Aber freilich wird doch Gott selbst in den endlosen dialektischen Prozess verwickelt
und schließlich alle Wirklichkeit in logischen Formalismus verwandelt.
F. Paulsen gründet
(»Syst. d. Ethik« I, 292-310) darauf die Theodizee, dass
er alle Übel, die physischen wie physiologischen, als zwecknotwendig dartut
für die Übung unserer Kräfte und Tugenden. Für ein Schlaraffenland,
für ein reines Glück, für fehllose Vollkommenheit seien wir Menschen
nicht organisiert. Ohne das Böse gebe es keine Tugend, kein moralisches
Heldentum, kein geschichtliches Leben; der sog. vollkommene Staat hebe sich
auf.
Höchst eigentümlich ist Fr. Nietzsches Ableitung
der moralischen Grundbegriffe. In seiner »Genealogie
der Moral« (4. Aufl. Leipzig 1895) behauptet er, durch den Sklavenaufstand
des Judenvolkes gegen Rom, durch die Erhebung des »Ressentiments«
gegen die Vornehmen sei die Herrenmoral listig und tückisch gestürzt
worden. »Das Raubtier, die prachtvolle, nach Beute
und Sieg lüsterne, schweifende blonde Bestie« nannte »gut«
den Streit, die Gewalt, die Grausamkeit, »schlecht«
das Niedrige, Schwache, Demütige; die Sklavenmoral der Juden, besonders
Jesu, hat die Sache auf den Kopf gestellt, jetzt gilt Demut, Gehorsam, Nachsicht,
Milde als gut. Aber ganz mit Unrecht! »Wie ein letzter
Fingerzeig erschien Napoleon, jener einzelnste
und spätgeborene Mensch, den es jemals gab (!), und in ihm das Problem
des vornehmen Ideals an sich – man überlege wohl, was es für
ein Problem ist: Napoleon, diese Synthesis von
Unmensch und Übermensch.«
-
Nach unserer Ansicht ist die Voraussetzung des
Bösen die Freiheit. Darauf
weist uns das moralische Gefühl, welches uns selbst
dafür verantwortlich macht. Aber wo ist dieser freie Entscheidungsakt zu
suchen? Die Idee eines präexistenten
Sündenfalls haben wir schon S. 68 abgefertigt.
Den Anlass zu dieser Theorie gab wohl die biblische
Erzählung 1. Mose 3. Die an
sich guten Menschen, heißt es, welche in paradiesischer
Unschuld lebten, seien durch die Schlange verführt worden, von dem verbotenen
Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen. Die Schlange erweckt
zuerst Zweifel an Gottes Willen,
verheißt ihnen dann Gottgleichheit,
und nachdem die Sinnlichkeit des Weibes erregt war, nahm es und aß und
gab auch dem Manne, und er aß. Die erste Sünde des Menschen bestand
also im Ungehorsam, welcher aus
Zweifel, Sinnenlust und Hoffnung auf Gottgleichheit (Überhebung)
entsprang. Aber sogleich ergriff ihn Scham und Furcht. Gottes Fluch, durch die
versuchte Lüge und gegenseitige Anschuldigung nicht abgewendet, verhängt
über den Mann Arbeit und Tod, über das Weib Knechtschaft und Geburtsschmerzen,
über die Schlange Erdefressen und Auf-dem-Bauchekriechen. Die Feindschaft
zwischen den Nachkommen des Weibes und der Schlange soll erst ein Schlangentöter
aufheben, indem er der Schlange den Kopf zertritt, und dabei verwundet werden
wird. Zum Schluss werden Adam und Eva aus dem Paradiese getrieben. –
Die Tendenz dieser Mythe ist, den Ursprung des Bösen zu erklären.
Wie die meisten alten Völker, nimmt die Bibel ein goldenes Zeitalter vollkommner
Unschuld und Seligkeit an, das die Menschen erst durch Sünde verloren hätten.
Denn der naive Mensch kann nicht glauben, dass es immer so schlimm in der Welt
gewesen sei wie heute, daher ihm die Vergangenheit stets in rosigem Licht strahlt.
Die Art, wie Adam und Eva
fallen, ist ganz analog dem Sündenfall geschildert, den jeder von
uns als Kind zu erleben hat. Doch erheben sich hier folgende Bedenken. Heutzutage
fallen die Kinder in die erste Tatsünde,
weil ihnen schon von den Eltern die schlechten Neigungen – als Erbsünde
angeboren sind. Wie aber konnte Adam fallen,
wenn er, wie die Bibel sagt, gut war,
d. h. Gott über alles liebte? Durch Verführung, wird geantwortet.
Wohl, aber ein wirklich guter Mensch hätte die Verführung besiegen
müssen. Doch nach der Bibel war ja das böse schon vorhanden, in der
Schlange. Aber da erhebt sich dieselbe Frage: Wie konnte diese fallen? War sie
aber von Anfang böse, so haben wir den parsisch-
manichäischen Dualismus. Wir aber gesagt, der Teufel
(seine Existenz angenommen) sei aus
Neid, Hochmut u. dergl. gefallen, so ist offenbar ein Neidischer, Hochmütiger
und dergl. schon böse; also wird auch dadurch nichts erklärt. Sagt
man aber, er fiel kraft seiner Freiheit,
so wird damit nur die Form der Handlung, nicht aber ihre Ursache angegeben,
u. s. w.
Nach allem Bisherigen können wir unsere Ansicht folgendermaßen präzisieren:
1. Das Wesen
des Bösen beruht
in der Selbstsucht,
d. h. in einer positiven Verkehrtheit des Willens.
2. Infolgedessen werden die Triebe
zu Leidenschaften,
die Sinnlichkeit zur bösen Lust,
die sittliche
Erkenntnis
verdunkelt.
3. Daher ist das Böse das höchste Übel
nicht nur für das Einzelne, sondern für die ganze Menschheit.
4. Diese Solidarität des Erbübels zeigt sich auch
als Erbsünde, d. h. als eine allen Kindern angeborene
Neigung zum Bösen.
5. Urstand, Paradies und Sündenfall sind zwar Mythe, sie
wiederholen sich aber im Leben jeden Kindes.
6. Die Frage, ob der Mensch von Natur gut oder böse gewesen und
woher die Sünde gekommen sei, ist gar nicht aufzuwerfen. Denn beim Menschen,
als einem mit Freiheit
und Selbstbewusstsein
zur Sittlichkeit
veranlagtem Wesen, muss die angeborene (noch
nicht gesittigte) Natur
im Widerspruch
mit seiner Bestimmung
stehen. Beim Tiere tut sie es ja auch, aber weil es eben nicht sittlich werden
kann, wundern wir uns nicht darüber. Bei dem Menschen dagegen, der vollkommener
werden kann durch eigene Kraft, nennen wir mit Recht den angeborenen
Naturzustand schlecht;
und denjenigen Menschen, der sich nicht darüber erhebt, böse.
Denn sobald dieser zum Selbstbewusstsein erwacht, erkennt er durch Erziehung
und Unterricht seine Bestimmung; zugleich aber auch, wie weit er noch von diesem
Ziele entfernt ist. Kummer, Selbstanklagen, Furcht und ähnliche Stimmungen
erschüttern ihn.
7. Da er nun bald
erfährt, dass er eine zwar von Natur schlechte, aber zum Guten
bestimmte und auch dafür mit Erkenntnis, Willenskraft
und Freiheit (S.74) ausgerüstete
Persönlichkeit ist, so schreibt er sich fortan jedes Zurückbleiben
hinter dem sittlichen Ideal als Schuld zu. Und ob er sich auch mit der angeborenen
Schwäche, der ererbten bösen Lust, dem furchtbaren Einfluss schlechter
Beispiele u. s. w. entschuldige, sein Gewissen,
die Stimme Gottes
in ihm, bleibt dabei: »Du sollst
und du kannst das Gute tun!«S.107-142
Aus: Ethik, Katechismus der Sittenlehre von Friedrich Kirchner, Verlagsbuchhandlung
von J. J. Weber, Leipzig 1898
Auswahl
aus dem »Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe«
Grundlage: Philosophische
Bibliothek Band 67, Fünfte Auflage, Neubearbeitung von Dr. Carl Michaelis,
Leipzig. Verlag der Dürr’schen Buchhandlung. 1907
Bei der Übertragung ist die neue Rechtschreibung berücksichtigt worden.
???Aufbau- und Testphase!!!
Link
zur Gesamtausgabe
Inhaltsverzeichnis
X |
Y |
Aberglaube (auch Afterglaube, Missglaube, lat. superstitio, gr. deisidaimonia ) S.2 f.
heißt allgemein jeder falsche Glaube . Er entsteht, indem niedere religiöse Vorstellungen zur Zeit des religiösen Fortschritts festgehalten werden. Im engeren Sinne ist der Aberglaube eine den Gesetzen der Erfahrung und des Denkens zuwiderlaufende Ansicht von dem ursächlichen Zusammenhange der sinnlichen Welt mit der nichtsinnlichen. Es ist z. B. abergläubisch, einen Krieg aus dem Erscheinen eines Kometen, oder den Tod eines Menschen aus dem Zusammensein von dreizehn Personen an einer Tafel abzuleiten. Der Aberglaube beruht hauptsächlich auf dem Fortleben der Vorstellungen der Naturreligionen und des Volksglaubens, die teils der Unwissenheit, teils dem ungeschulten Schlussvermögen, teils der Phantasie entsprungen sind. Er ist theoretisch , wenn er unsere Weltanschauung bestimmt, praktisch , wenn er unsere Handlungsweise regelt (Magie). Manche abergläubische Ansicht ist ziemlich harmlos, manche gefährlich, manche führt sogar zum Fanatismus. Die verschiedenen Formen des Aberglaubens sind belehrend für die Erkenntnis der menschlichen Natur und der menschlichen Kulturgeschichte, daher auch oft für den Dichter anregend und stoffgerecht, wie Goethe wohl wusste. Der aus dem Altertum und Mittelalter ererbte Aberglaube ist durch die Tätigkeit der Reformation und der Aufklärung wesentlich beschränkt, aber keineswegs völlig beseitigt, dagegen im volkstümlichen Lied neu belebt und psychologisch vertieft worden. Der Aberglaube der Gegenwart gipfelt im Spiritismus .
Vgl. Wuttke , der deutsche Volksaberglaube, 1869.
Pfleiderer , Theorie des Aberglaubens, 1872.
Lippert , Christentum, Volksglaube und Volksbrauch, Berlin 1882.
C. Meyer , der Aberglaube des Mittelalters, Basel 1884.
Strümpell , der Aberglaube, 1890.
abgeleitet
S. 4
heißen Begriffe
oder Sätze oder Erkenntnisse,
wenn sie aus andern gefolgert sind oder gefolgert werden können. So scheidet
z. B. Kant
in unserer Erkenntnis
die reinen Stammbegriffe des Verstandes,
wie Substanz,
Ursache, Gemeinschaft,
die er Kategorien
nennt, von den aus diesen abgeleiteten
reinen Begriffen, die er Prädikabilien
nennt; zu den letzteren gehören z. B. die Begriffe der
Kraft,
der Handlung, des
Leidens,
des Entstehens
und Vergehens, der Veränderung,
der Gegenwart,
des Widerstandes etc.
abhängig
S. 4f.
heißt ein Gegenstand oder eine Person, deren Existenz
oder Beschaffenheit durch einen anderen Gegenstand oder eine andere Person mitbestimmt
ist. Es gibt z. B. eine logische,
mathematische, physische, moralische, religiöse Abhängigkeit.
In der Logik
ist jeder Schlusssatz von den Prämissen
nach Quantität
und Qualität
abhängig. Der besondere Ausdruck der
logischen Abhängigkeit ist
das hypothetische Urteil.
Die mathematische
Abhängigkeit findet ihren Ausdruck im Begriff
der durch eine oder mehrere Variabeln bestimmten Funktion, z. B. y =
f (u, v).
Physisch sind alle Dinge, ja auch alle Personen von anderen abhängig, da
alle unter dem Gesetz des Zusammenhanges von Ursache und Wirkung stehen.
Die moralische
Abhängigkeit (Dependenz) ist
soviel als Verbindlichkeit, d. h. Verpflichtung, etwas zu tun.
Schleiermacher (1768-1834)
nannte die Religion
das Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit
von Gott.
Abráxas
S. 5
nannte der Gnostiker Basilides
(2. Jahrhundert n. Chr.) die
unter dem obersten Gott stehenden Weltgeister, die, gleich den Tagen des Jahres,
365 an Zahl sein sollten.
absolut
(lat. absolutus von absolvere),
S. 6f. Siehe auch
bei Eisler
eigentl. losgelöst, bezeichnet die Loslösung von den verschiedensten Beziehungen, so dass sich die Bedeutung des Wortes sehr
mannigfaltig gestaltet hat. Die gebräuchlichsten Verwendungen des Wortes
sind:
1.
losgelöst von jeder Verbindung;
der Gegensatz ist relativ
(in Verbindung gesetzt); so redet man
von absoluten und relativen Zahlen; jene, z. B. 5 oder a sind Zahlen außerhalb jeder Rechnungsoperationen,
diese, z. B. +5 oder -a sind
ihrer Entstehung nach Glieder einer Additions- oder Subtraktionsaufgabe, Addenden
oder Subtrahenden;
2.
losgelöst von jeder Bedingung;
der Gegensatz ist hypothetisch
(bedingt), z. B. absolutes Gut, absolute Notwendigkeit, absolute Wahrheit;
3. losgelöst von jeder Abhängigkeit
und Einschränkung; der Gegensatz ist beschränkt, abhängig,
konstitutionell determiniert; so spricht man von einer absoluten Freiheit,
einer absoluten Herrschaft (Absolutismus) im Gegensatz
zu der Willensunfreiheit (dem determinierten Willen),
zu konstitutioneller Herrschaft;
4. losgelöst
von jeder Empfindung; der Gegensatz
ist empirisch, so heißt der von dem Mathematiker vorausgesetzte reine
unbewegliche Raum der absolute Raum im Gegensatz zu dem bewegten, mit Materie
erfüllten Wahrnehmungsraume; ähnlich ist der Begriff der absoluten
Zeit;
5. losgelöst von jeder
Raum- oder Zeitbeziehung; der Gegensatz ist in räumlicher
oder in zeitlicher Beziehung zu einem anderen;
so bezeichnet philosophisch absolut das, was in
sich ist und nicht in einem und mit anderen ist;
6. losgelöst von jeder
subjektiven Beimischung, in sich geschlossen, an sich; das absolute
Ding, das Ding an sich bildet den Gegensatz zu dem auf das Subjekt, auf
das menschliche Bewusstsein bezogenen Ding, der
Erscheinung;
7. losgelöst von allen
Schranken der Zeit, des Raumes und des Irdischen überhaupt.
In dieser Bedeutung versteht man unter dem Absoluten das
Ewige, das Unendliche, den letzten Grund aller Erscheinungen, die Einheit von
Natur und Geist, den Weltgrund, Gott.
Das Absolute bildet den Gegensatz
zum Endlichen, Vergänglichen, Irdischen, Geschaffenen. Der Begriff des Absoluten begegnet uns schon in
der Philosophie der Neuplatoniker und der Scholastiker; aber Nicolaus Cusanus (1401-1464)
verwendet zuerst den Ausdruck »absolutum« dafür, und erst durch die Philosophie Fichtes und Schellings erlangte er allgemeine Geltung.
Für Fichte (1761-1814)
ist das Absolute
das Ich, für
Schelling (1775-1854) die Einheit von Idealem
und Realem.
Vgl. Metaphysik.
abstrahieren
(lat. abstrahere),
abziehen, absehen, S. 8
heißt der Denkprozess,
durch den wir die Anschauungen von Einzeldingen unter bestimmten Gesichtpunkten
durch Vergleichung untereinander vom Individuellen
und Zufälligen befreien und die ihnen gemeinsamen
wesentlichen Merkmale zu allgemeinen Begriffen zusammenfassen. So verfährt
z.B. jedes Gebiet der Mathematik
und der Naturwissenschaft, um zu seinen Begriffen zu gelangen.
abstrakt
(lat. abgezogen) S.
8f.
heißt ein Begriff, welcher durch Abstrahieren
gebildet ist, also von dem Individuellen und Zufälligen des Einzelobjekts
befreit ist und nur die mehreren konkreten Dingen oder Vorstellungen
gemeinsamen, wesentlichen Merkmale
enthält.
So ergibt die Vergleichung von Bäumen, Sträuchern,
Blumen, Moosen usw. den abstrakten Begriff einer Pflanze,
während wir durch Betrachtung des einzelnen Baumes nach allen seinen Merkmalen
den konkreten Begriff
einer Pflanze finden. Die Vergleichung verschiedener
ausdauernder Holzgewächse mit Stamm und Krone und die Zusammenfassung der
ihnen gemeinsamen Merkmale ergibt den
abstrakten Begriff Baum.
Auf dieselbe Weise bilden wir Abstrakta auf dem
Gebiete jeder Wissenschaft, z. B. Staat, Kirche, Tugend,
Menschenliebe u. s. f. Mit Ausnahme der Eigennamen bezeichnen alle Worte der
Sprache abstrakte Begriffe, können aber von
dem Sprechenden im okkasionellen Gebrauch überall konkret gebraucht werden.
Weil ein abstrakter Begriff
nicht bloß von einem Gegenstand gilt, sondern als
Merkmal in verschiedenen Dingen vorkommt, nennt man ihn auch einen allgemeineren
oder höheren; vgl. die Stufenreihe der Begriffe:
Sokrates, Athener, Grieche, Mensch. Verliert man bei der Bildung abstrakter
Begriffe den konkreten Ausgangspunkt und die leitenden Gesichtspunkte
aus dem Auge, so wird der Begriff leer. Daher kann durch das beziehungslose
Abstrahieren kein rechtes Wissen erlangt werden.
Der erste Philosoph, der die Kunst des Abstrahierens
praktisch übte und zwar auf ethischem, nicht auf mathematischem oder naturwissenschaftlichem
Gebiete, war Sokrates (469-399).
Aristoteles (384-322)
stellte die Abstraktion
(aphairesis) der
Determination (prosthesis) entgegen (Met.
XII, 2p. 1077b, 9f.), verstand aber unter dem Abstrakten
die von der Materie
losgelöste Form, z. B. die mathematische Größe.
Die spätere Logik
bildete namentlich in der Neuzeit das Verfahren des Abstrahierens
methodisch aus. Vgl. Überweg, Logik §
51. –
Im Sprachgebrauche der Grammatik versteht man unter einem
Abstraktum in Anlehnung an Aristoteles
etwas, das nur selbständig gedacht wird, während zur Bezeichnung für
einen Gegenstand, der von Natur selbständig ist, Konkretum genommen wird.
Vgl. Überweg, Logik § 47. Eucken,
Geistige Strömungen. Leipzig 1904, S. 52.
Abstraktion
S. 9
ist die Ausschließung des Individuellen und das
Beibehalten des Wesentlichen und des Allgemeinen bei der Bildung eines Begriffes.
Man unterscheidet quantitative und
qualitative Abstraktion.
Die quantitative Abstraktion bezieht sich auf die
Form des Gegenstands, d. h. auf die Verbindung seiner Teile zu einem Ganzen;
durch sie entstehen alle Raum- und alle Zeitbegriffe.
Die qualitative Abstraktion dagegen führt
zur Bildung geeigneter Gattungsbegriffe.
absurd
(lat. absurdus) S.
9f.
heißt missklingend,
ungereimt, widersinnig;
ad absurdum führen
heißt jemandem durch einen Beweisgang
einen versteckten logischen
Widerspruch
aufdecken, jemanden widerlegen.
Ein solcher Beweisgang, der vom Gegenteil des Wahren ausgeht, heißt seit
Alexander Aphrodisiensis um
200 v. Chr. hê eis to adynaton agousa
apodeixis (deductio ad absurdum).
-
Absurde Zahlen heißen bei Michael
Stifel (1486-1567) die negativen Zahlen.
Vergleiche Paradoxie,
Apagoge.
Achamoth
(hebr.) S. 12
Siehe auch bei Eisler
heißt bei dem Gnostiker
Valentinus (c. 150 n. Chr.)
die durch die Begierde
zerrüttete Weisheit, welche ein Äon
ist und sich aus sinnlicher Liebe, aus dem Pleroma,
dem gestalteten Chaos,
abirrend, in den göttlichen Abgrund stürzt und dadurch Mutter des Demiurgen (Weltbildners) wird. Vgl. K. Haase, Kirchengeschichte §
78.
Achill,
griech. Achilleús
S. 12
heißt ein Trugschluss des Eleaten Zenon
(geb. zw. 490 und 485 v. Chr.), durch den er beweisen wollte, dass alle Bewegung
nur Schein sei. Die Schildkröte, das langsamste der Tiere, meinte er, könne
nie von Achill, dem schnellsten Menschen, eingeholt
werden, wenn sie auch nur den geringsten Vorsprung hätte; denn der Abstand zwischen ihnen lasse sich bis ins Unendliche zerlegen, und Achill müsse immer erst dahin kommen, wo die Schildkröte eben gewesen
sei. Aber wird einmal Bewegung von verschiedener Geschwindigkeit gedacht, so
ist damit schon eingestanden, dass dieselben Räume in verschiedener Zeit
durchlaufen werden. Auch überschreitet die Summe einer konvergierenden
geometrischen Reihe, wie sie durch die Bewegungen der Schildkröte dargestellt
wird, nie einen bestimmten endlichen Wert.
Adam
Kadmon (hebr.) S.
13
heißt bei den Kabbalisten der Urmensch, der himmlische
Adam, das Vorbild der Menschheit und der irdischen Welt, der eingeborene
Sohn Gottes und der Inbegriff der Ideen, nach gnostischer Lehre ist es der fast
göttliche Äon, nach welchem Adam
erst geschaffen wurde.
Siehe Kabbâla.
Adept
(franz. adepte = lat. adeptus
= wer etwas erlangt hat) S. 13
heißt ursprünglich ein
Eingeweihter, welcher den Stein
der Weisen, das höchste
geheimnisvolle Ziel der Alchimie, gefunden hat.
Paracelsus (1493-1541)
und andere Schwärmer nannten sich so.
Im Allgemeinen heißt jetzt so jeder, der in eine Wissenschaft
oder Kunst eingedrungen
ist.
Affekt
(lat. affectus
= Gemütszustand, gr. pathos) S.
23ff.
heißt eine vorübergehende, zusammenhängende, stärkere Gemütsbewegung,
welche durch äußere Ursachen oder psychische Vorgänge veranlasst
wird und unseren geistigen und leiblichen Zustand stark beeinflusst.
Der Affekt hat eine bestimmte Entwicklung, in welcher Anfangsgefühl, Vorstellungsverlauf
und Endgefühl unterschieden werden können. Bewusstseinsstärke,
Willen, Blutumlauf, Atmung, Absonderung der Drüsen, Muskeltätigkeit
und Gliederbewegungen werden durch den Affekt entweder gefördert oder gehemmt.
Im Affekt gerät der Mensch, wie man sagt, »außer
sich«. Die Wucht, mit der die Affekte auftreten, und die
Art, wie sie verlaufen, richtet sich einerseits nach der Konstitution und dem
Temperament, nach der Erziehung und dem Bildungsstandpunkt des Menschen, andrerseits
nach dem äußeren Anlass.
Kant (1724-1804) definiert
den Affekt als das Gefühl einer Lust oder Unlust im gegenwärtigen
Zustande, welche im Subjekt die Überlegung (die Vernunftvorstellung, ob
man sich ihm überlassen oder weigern solle) nicht aufkommen lässt,
(Anthrop. § 70) oder als Überraschung
durch Empfindung, wodurch die Fassung des Gemüts
(animus sui compos) aufgehoben wird. (Anthrop.
§ 71).
Man kann die Affekte mit ihm einteilen in sthenische (wackere), welche unser
Lebensgefühl fördern, und asthenische (schmelzende), die es hemmen
(Anthrop. § 73), oder mit Nahlowsky
in aktive und passive oder mit Drobisch in Affekte
der Überfüllung und Entleerung.
Zu jenen gehören z. B. Zorn, Freude, Begeisterung; zu diesen Scham, Furcht,
Verzweiflung. Jene sind dem Rausch, diese der Ohnmacht vergleichbar.
Möglich ist auch eine Einteilung der Affekte in allgemeine und besondere.
Jene bestehen in einem gesteigerten Gefühl der Lust und Unlust, ohne dass
sie eine besondere Eigenart zeigen. Diese dagegen sind
1) Affekte der Erwartung: so Ungeduld, Hoffnung, Verzweiflung, Furcht, Schreck,
Überraschung. Sie gründen sich
2) auf ästhetisches Wohlgefallen resp. Missfallen: so Bewunderung, Schwärmerei,
Entzücken und ihr Gegenteil. Sie sind
3) intellektuelle Affekte: so Verlegenheit, Verblüffung, Staunen, Begeisterung.
Es gibt
4) moralisch-religiöse Affekte: so Entrüstung, Rührung, Scham,
Reue, Verzückung.
5) Aus dem Selbstgefühl entspringen: Mut, Übermut, Zorn, Kleinmut,
Niedergeschlagenheit,
6) aus der Antipathie: Neid, Schadenfreude, Groll und Ingrimm.
Wundt (geb. 1832) definiert
den Affekt als eine zeitliche Folge von Gefühlen, die sich zu einem zusammenhängenden
Verlaufe verbindet und sich gegenüber den vorausgegangenen und nachfolgenden
Vorgängen als ein eigenartiges Ganzes absondert, das im allgemeinen zugleich
intensivere Wirkungen auf das Subjekt ausübt, als ein einzelnes Gefühl;
er scheidet die Affekte nach der Qualität in Affekte der Lust und Unlust,
nach der Intensität in schwache und starke, nach der Verlaufsform in plötzliche,
allmählich ansteigende und intermittierende.
(Wundt, Grundriß d. Psychologie 1905, § 13.)
Die Befreiung von Affekten kann einerseits dadurch geschehen, dass man die Anlässe
dazu wirklich oder in der Vorstellung des Menschen beseitigt, oder anderseits
dadurch, dass der Mensch sich selbst zwingt und überwindet. Ist z. B. jemand
in Zorn, so pflegt der Affekt sich zu lösen, wenn man ihm den Gegenstand,
der ihn dazu reizt, aus den Augen oder aus dem Sinn schafft und indem man ihn
mit anderen Vorstellungen lebhaft beschäftigt. Die Befreiung von den Affekten
durch Selbstüberwindung ist die ethische Grundforderung Spinozas.
Die Bestimmung des Begriffs der Affekte hat vielfach geschwankt. Bald sind die
Affekte enger nur als Gemütsbewegungen gefasst worden, bald sind sie weiter
auch als Willensvorgänge gedacht, bald sind sie als vorübergehende
Zustände, bald auch als dauernde Zustände definiert und dann mit den
Leidenschaften
vermischt worden. Vielfach greift die Erörterung über die Affekte
in die Ethik ein.
Die Kyrenaiker (im 4. Jhrh.
v. Chr.) unterschieden zwei Affekte
(pathê), nämlich ponos
und hêdonê, Unlust und Lust,
und sahen in jener eine reißende, in dieser eine sanfte Bewegung
(Kyrênaikoi - dyo pathê hyphistanto, ponon kai hêdonên;
tên men leian kinêsin, tên hêdonên; ton de ponon
tracheian kinêsin Diog. Laert II, 8 § 86.)
Die Lust ist nach
Aristippos' (um 435-355)
Lehre das Ziel des Lebens.
Aristoteles (384-322)
definiert die Affekte als
seelische Vorgänge, die mit Lust oder Unlust verbunden
sind (legô de pathê - hois hepetai hêdonê
ê lypê. Eth. Nicom. II 4 p. 1105b 21-23).
Er zählt folgende Affekte auf: epithymia
(Begierde), orgê
(Zorn),
phobos (Furcht),
thrasos (Mut),
phthonos (Neid),
chara (Freude),
philia (Freundschaft),
misos (Hass),
pothos (Sehnsucht),
zêlos (Eifer),
eleos
(Mitleid). Er ist sich aber auch bewusst, dass diese Seelenvorgänge
mit körperlichen verbunden sind (eoike de kai
ta tês psychês pathê panta einai meta sômatos) und
führt als Beispiele solcher seelisch-körperlichen Vorgänge thymos
(Erregung), praotês (Sanftmut), phobos (Furcht), eleos (Mitleid), thrasos
(Mut), to philein (Liebe), to misein (Hass) an (De
anim. Ip. 403 a 16-18).
Die Stoiker sahen von Zenon
(350-258) ab in den Affekten vernunftlose und naturwidrige
Gemütsbewegungen oder das Maß überschreitende Triebe.
('Esti de auto to pathos, kata Zênôna,
hê alogos kai para physin psychês kinêsis ê hormê
pleonazousa Diog. Laert. VII, 63 § 110).
Sie entspringen aus Fehlern des Urteils, aus falschen Meinungen über gegenwärtige
oder zukünftige Güter und Übel. Aus der falschen Meinung über
gegenwärtige Güter entspringt die Lust (hêdonê), über
zukünftige die Begierde (epithymia); aus der falschen Meinung über
gegenwärtige Übel entspringt die Bekümmernis
(lypê),über zukünftige
die Furcht (phobos) tou
pathous - prôta - einai - tessara, epithymian, phobon, lypên, hêdonên.
epithymian men oun kai phobon proêgeisthai, tên men pros to phainomenon
agathon, tên de pros to phainomenon kakon. epigignesthai de toutois hêdonên
kai lypên, hêdonên men hotan tynchanômen hôn epithymoumen
ê ekphygômen, ha ephoboumetha, lypên de hotan apotynchanômen
hôn epithymoumen ê peripesômen, hois ephoboumetha.
(Stobaios Eclog. II, 166-168). Die Tugend wird
nur erlangt durch Überwindung der Affekte.
Von den neueren Philosophen versteht Descartes
(1596-1650) unter den Affekten
(passiones)
Vorstellungen
oder Empfindungen oder Erregtheiten der Seele, die man nur auf sie selbst bezieht
und die durch gewisse Bewegungen der Lebensgeister bewirkt, unterhalten und
verstärkt werden (Pass. anim. I, 27).
Er unterscheidet sechs Grundaffekte:
Bewunderung, Liebe, Hass, Verlangen, Freude, Traurigkeit.
–
Spinoza (1632-1677) nimmt als Grundaffekte
nur die drei: Verlangen, Freude, Traurigkeit
an und gründet auf die Lehre von den Affekten seine
Ethik. Er versteht unter den Affekten Zustände des Körpers, durch
welche die Fähigkeit desselben zu handeln vermehrt oder vermindert, gefördert
oder eingeschränkt wird, und zugleich die Ideen dieser Zustände (corporis
affectiones quibus ipsius corporis agendi potentia augetur vel minuitur, iuvatur
vel coërcetur, et simul harum affectionum ideas Eth.
III, 3). Der den Affekten unterworfene Mensch ist unfrei.
Der über die Affekte siegende Mensch ist frei. Diese Befreiung erfolgt
durch die wahre Erkenntnis der Affekte, die in die intellektuelle Gottesliebe
ausmündet (Eth. III - V).
Kants und Wundts Einteilung
der Affekte ist bereits berührt.
Vgl. Lotze, Medizinische Psychologie, S. 441f., Waitz,
Psychologie § 44, Feuchtersleben, Diätetik der Seele VI - VIII, Wundt,
Grundz. d. phys. Psych. II, 404 ff. Bain, the emotions and the will 1859, Ribot,
psychologie des sentiments 1896. Essai sur les passions Paris 1907.
Ähnlichkeit
S. 14f.
heißt im Allgemeinen die Übereinstimmung
der Dinge in mehreren, Gleichheit
die in allen Merkmalen. –
In der Geometrie bezeichnet
Ähnlichkeit die Übereinstimmung in der Gestalt,
Gleichheit die Übereinstimmung in
der Größe, Kongruenz die vollkommene Übereinstimmung.
Das moderne mathematische Zeichen
(~) für
ähnlich hat Leibniz (1646-1716)
aus einem liegenden s (=
similis) gebildet. Vgl. Leibniz, Characteristica
geometricaed. Gerhardt, 3. Folge, Bd. V, S. 153: Similitudinem ita notabimus
~. –
Die Beziehung des Ähnlichen
spielt im Geistesleben des Menschen eine wichtige Rolle. Es ist z. B. Sache
des Witzes und Scharfsinns, Ähnlichkeiten zwischen den verschiedensten
Dingen instinktiv herauszufinden. Auf leicht fassbaren
Ähnlichkeiten beruht auch der bildliche Ausdruck des Dichters. Vergleicht
man scharf denkend die Dinge, um aus ihrer Ähnlichkeit
etwas zu folgern, so zieht man einen analogischen Schluss (s.
Analogie). Mit solchen Schlüssen arbeitet besonders die Induktion innerhalb der Naturwissenschaft. –
Die Tatsache, dass ähnliche Vorstellungen einander hervorrufen, erklärt uns einen Teil des Seelenlebens
und begründet das Hauptgesetz der Ideenassoziation. –
Dass Ähnliches nur durch Ähnliches erkannt
werde, ward von Pythagoras, Empedokles und Demokritos behauptet. –
Platon (427-347) und andere
forderten als höchstes Moralprinzip die Ähnlichkeit mit Gott.
Akt
(lat. actus) S.
12
heißt Handlung, Tätigkeit,
z. B. Willensakt.
Aktion
(lat. actio) S.
12
heißt die Tätigkeit
im Gegensatz zum Leiden (Passion),
oder die Wirkung im Gegensatz zur Reaktion (Gegenwirkung).
Aktivität
(franz. activité) S.
12f.
heißt die Fähigkeit zu wirken oder das tätige
Verhalten, wogegen Passivität die Unfähigkeit zu wirken oder das untätige
Verhalten, die bloße Aufnahmefähigkeit bedeutet. Vollkommene Aktivität
ist den Dingen ebenso wenig eigen als vollständige Passivität, da
alle Dinge in Wechselwirkung stehen und Aktion und Reaktion sich entspricht.
Die Ansicht des Aristoteles
(384-322 v. Chr.) und der Scholastiker war aber, dass Gott pures actus,
reine Tätigkeit, sei.
Aktualität
(lat.) S. 13
heißt die Wirklichkeit, insofern nur das wirklich
existiert, was sich betätigt; Gegensatz dazu ist die Potentialität,
d. h. die Möglichkeit.
Auch versteht man unter Aktualität die augenblickliche
Bedeutsamkeit.
Unter Aktualitätslehre versteht
man diejenige philosophische Lehre, die das Wirkliche nicht im Substantiellen,
sondern nur im Tätigsein, im Wirken sucht. Der Hauptanhänger dieser
Weltanschauung, die schon von Herakleitos 500
v. Chr. vertreten worden ist, ist gegenwärtig auf psychologischem
Gebiete Wundt (geb. 1832).
Akzidenz
(lat. accidens) S. 10f.
heißt das nicht Wesentliche
(das nicht Essentielle), das Wechselnde, das Zufällige.
–
Man versteht unter Akzidenzen
1. die Eigenschaften im Gegensatz zur Substanz
(so Aristoteles, Kant, Fichte u. a.);
Aristoteles (Analyt.
post. I 21p. 83 a, 24 ff.) unterscheidet von der Kategorie der Substanz alle übrigen Kategorien und fasst sie unter dem Namen ta
symbebêkota (Accidentia) zusammen.
Kants erste Analogie der Erfahrung besagt demgemäß: »Bei allen Veränderungen in der Welt bleibt
die Substanz,
und nur die Akzidenzen wechseln«
(Kr. d. r. Vernunft, S. 184).
2. die nicht wesentlichen, nicht notwendigen Eigenschaften
einer Substanz im Gegensatz zu den wesentlichen (essentiellen), einer Substanz dauernd anhaftenden Merkmalen (so auch bei Aristoteles, Herbart u.
a.). Aristot. Met. 4. 30 p. 1025 a 14 Symbebêkos
legetai, ho hyparchei men tini kai alêthes eipein ou mentoi out' ex anankês
out' epi to poly, Akzidenz heißt,
was einem Gegenstande zukommt und was man von ihm aussagen kann, aber was ihm nicht notwendig und nicht meistenteils zukommt.
Akosmismus
(aus dem Gr. gebildet), S.
30
Weltlosigkeit, Leugnung der Welt, kann man sowohl den
Pantheismus
nennen, wenn er das All ganz in Gott aufgehen lässt (Eleaten,
Spinoza), während er im umgekehrten Falle zum
Atheismus wird, als auch den absoluten Idealismus,
der die Realität der Außenwelt
leugnet (Fichte), als auch endlich den Spiritualismus,
der alles körperliche als Produkt des Geistes ansieht (Berkeley).
Alexandriner
S. 30
oder jüdisch-griechische Philosophen
heißen diejenigen Philosophen, welche in Alexandria
vom zweiten Jahrh. v. Chr. ab jüdische
Theologie und griechische Philosophie miteinander verknüpften.
Zu ihnen gehören Aristobulos um 160
v. Chr., Philon Judaeus um
20 v. Chr. bis 45 n. Chr.
Man wirft ihnen Synkretismus vor.
Algorithmus
(arab. = Rechenbuch) S.31
ist zunächst der Personenname des Arabers
Muhammed Ibn Musa Alchwarizoni, dessen Rechenbuch (Anf.
des IX. Jahrh.) im Westen durch Übersetzungen verbreitet wurde.
Er nahm in den lateinischen Übersetzungen des Buches die Form Algorithmi
an. Später verstand man unter Algorithmus
ein Rechenbuch oder die Rechenkunst. –
Das Rechenbuch des Alchwarizoni vermittelte dem
Abendland die Kenntnis der Null und des indisch-arabischen Rechnens. Es bildete
sich daher im 12ten Jahrh. eine
Schule der Algorithmiker, die den Sieg über die von Papst
Gerbert (Sylvester II., 940-1003)
herstammende Schule der Abakisten (von
abacus = Rechenbrett) davontrug. –
Unter logischem Algorithmus versteht
man jetzt die in der Gegenwart eifrig betriebenen Versuche, die logischen Operationen
durch ein besonderes Zeichensystem und Rechnungsverfahren zu ersetzen. Vertreter
dieser Bestrebungen sind in Deutschland vor allem Schroeder,
in England Mc-Coll, in Amerika Peirce,
in Italien Peano u. a. Vgl.
Reinaud, Mémoire géographique etc.sur l'Inde. Paris 1849. Tropfke,
Gesch. d. Elementarmathematik. Leipzig 1902/3. Teil I S. 13 u. 14.
All
oder Universum
(lat.)
ist der Inbegriff aller
Dinge.
Im Griechischen heißt All:
pan (pan), daher nennen wir die Auffassung,
welche das All-Eine (hen
kai pan) als Gott setzt, Pantheismus.
Aristoteles Metaph. IV,
26 1024 a 1-3 nennt All (pan)
ein Quantum mit einem Anfang, einer Mitte
und einem Ende, bei dem die Stellung der Teile keinen Unterschied ausmacht,
dagegen ganz (holon) ein solches Quantum,
bei dem die Stellung der Teile einen Unterschied ausmacht (tou
posou echontos archên kai meson eschaton, hosôn men mê poiei
hê thesis diaphoran, pan legetai, hosôn de poiei, holon).
Siehe auch bei Eisler
Allegorie
(gr. allêgoria Andersreden,
bildliche Redeweise) S.
32
ist im engeren Sinne die sprachliche Darstellung eines
Gegenstandes oder Vorgangs durch einen sinnfälligen
anderen, im weiteren Sinne überhaupt ein Bild,
welches sich selber zeigt, aber auch zugleich ein anderes Sinnfälliges
oder Gedankenhaftes darstellt.
Die nicht nachahmenden Künste, Musik und Architektur, sind keiner
Allegorie fähig, wohl aber die nachahmenden,
die Bildhauerkunst, die Malerei und vor allem die Poesie. Der poetische allegorische
Ausdruck heißt auch bildliche Redeweise, Metapher.
Die Poesie verwendet zu ihrem Ausdruck vergleichende anthropomorphe und personifizierende
Allegorien;
die vergleichende Allegorie vertauscht
ähnliche Gegenstände derselben Art,
die anthropomorphe verkörpert Geistiges,
die personifizierende stellt Körperliches persönlich dar.
Allegorische Dichtungsarten sind
die Fabel und die Parabel.
allegorische
Auslegung S.
32
ist die Methode,
die Bibel so auszulegen, dass den der religiösen Auffassung einer späteren
Zeit, als die Entstehungszeit der biblischen Schrift ist, widersprechenden Stellen
ein anderer Sinn untergelegt wird; dabei wird aber natürlich die grammatisch-historische
Methode verletzt. Aus übertriebener Ehrfurcht vor dem Buchstaben und dem
historisch Gegebenen und aus Willkür entspringend, verfällt die allegorische
Auslegung in Willkür und Gewaltsamkeit.
Alleinheit
Siehe
bei Eisler
Alleinheitslehre
S. 32
Siehe Pantheismus,
Monismus.
Allgegenwart
(omnipraesentia) S. 32
Siehe auch bei Eisler
und den Bonus-Themen
bezeichnet in der christlichen Dogmatik
diejenige göttliche Eigenschaft,
dass Gott
an jedem Orte zugleich ist. Sie wird zu den operativen oder transeunten [über
etwas hinaus, in einen anderen Bereich übergehenden]
Eigenschaften Gottes gerechnet, die das Bestehen der Welt voraussetzen, und
wird bald zu der Allmacht, bald
zu der Allwissenheit
in Beziehung gesetzt.
Nach Schleiermacher ist Gott durch seine
Allgegenwart
die alles Räumliche und den Raum
selbst bedingende Ursächlichkeit. Vergleiche
Allmacht.
allgemein
(universal oder generell) S. 32f.
heißt dasjenige, welches einer Gesamtheit von Gegenständen
in gleicher Weise zukommt; das Allgemeine ist
also je nach dem Umfang
der Gesamtheit das der Art oder das der Gattung Angehörige. Sein Gegensatz
ist das Besondere und in letzter Linie das Einzelne.
Der Allgemeinbegriff (Klassenbegriff)
fasst die Merkmale
zusammen, welche einer Gesamtheit von Gegenständen zukommen, z. B. Fisch.
Sein Gegensatz ist der Sonderbegriff der Einzelbegriff,
der die Merkmale des Individuums
enthält, z. B. der Brocken, der Kohinor, Sokrates.
Die Allgemeinheit bildet eine
Stufenfolge der Begriffe, in der immer der eine Begriff allgemeiner ist als
der andere. Weil dem weniger allgemeinen Begriff gewisse Merkmale eigentümlich
sind, die der mehr allgemeine Begriff nicht enthält, kann man weder vom
Einzelnen noch vom Besonderen aufs Allgemeine schließen, sondern nur umgekehrt.
Was von Sokrates gilt, gilt keineswegs von jedem Athener. Aber was von allen
Athenern gilt, gilt auch von Sokrates.
Platon (427-347) und
Aristoteles (384-322)
schrieben dem Allgemeinen einen höheren Wert zu als dem Besonderen
und Einzelnen; aber Platon lieh dem Allgemeinen
gesonderte Existenz, Aristoteles suchte das Allgemeine
im Einzelnen.
Allgenugsamkeit
(Aseïtät)
S. 33
bezeichnet in der christlichen Dogmatik
Gottes völlige Unabhängigkeit
von der Welt; Gott ist nur von sich
(a se) abhängig.
Allheit
(Totalität)
S. 33 Siehe
auch bei Eisler
heißt eine Vielheit
von Gegenständen, sofern sie als Einheit
gedacht wird und neben ihr gleichartige Gegenstände nicht vorhanden
sind, z. B. Volk, Menschheit, Welt.
Kant (1724-1804) erklärt:
Allheit ist
»nichts anderes als die Vielheit als Einheit betrachtet«
(Kr. d. r. V.,
II. Aufl., S. 111).
Diese Erklärung bedarf des obigen einschränkenden Zusatzes.
Allmacht
(omnipotentia)
S.
33 Siehe
auch bei Eisler
und den Bonus-Themen
bedeutet in der christlichen Dogmatik
das unbeschränkte Können Gottes.
Nach Schleiermacher (1768-1834)
fasst die Allmacht Gottes sich
in den Sätzen zusammen:
1. Alles was ist und geschieht, kommt von Gott;
2. Alles was in Gott ist, wird verwirklicht.
Gott ist also nach Umfang
und Intensität absolute
allwirksame Ursächlichkeit.
Allsinn
S.33f.
nannte die Identitätsphilosophie
Schellings (1775-1854)
die Einheit von
innerem und äußerem Sinne; der Allsinn sollte,
über die Formen der Zeit und des Raumes hinausgerückt,
eine unmittelbare
Erkenntnis des allgemeinen Lebens der Dinge gewähren. Er sollte zwar
eines besonderen Organs entbehren, aber doch als Komplement der Vernunft,
Verstand und
Anschauung
in sich vereinigen, weswegen er auch »anschauender
Verstand« genannt wurde.
G. M. Klein, Anschauungs-
und Denklehre. Bamberg 1824. § 77.
Schon bei Kant kommt die Idee eines
intuitiven
Verstandes
vor, aber nur im Gegensatz zum menschlichen und nur problematisch gedacht.
Allweisheit
S. 34 Siehe
auch bei Eisler
heißt in der christlichen
Dogmatik die vollkommene Verbindung
des Wissens und
Wollens in Gott.
Schleiermacher (1768-1834)
bestimmt sie als Vollkommenheit
der Liebe.
Allwissenheit
(lat.
omniscientia) S.
34 Siehe auch bei
Eisler
und den Bonus-Themen
ist in der christlichen
Dogmatik eine Eigenschaft
Gottes, die Schleiermacher
(1768-1834) als die schlechthinige Geistigkeit
der Allmacht
bestimmt.
Altruismus
(nlt. v. alter =
der andere, vivre pour autrui)
S. 34f. Siehe
auch bei Eisler
nennt A. Comte (1798-1857)
die aus der
Liebe zum Nächsten hervorgehende Denk- und Handlungsweise.
Der Altruismus ist der Gegensatz
zum Egoismus.
Comte sieht in ihm die Moral
der Zukunft, die als einziges sittliches Motiv des Handelns
das Wohl des anderen anerkennen wird.
Seit 1889 besteht in Nantes
eine Altruisten-Gesellschaft.
Auch H. Spencer (1820-1904)
vertritt diesen Standpunkt, den übrigens schon die englischen Moralisten des 18. Jahrhunderts eingenommen haben. Ein anderer
Name für dieselbe Richtung ist Tuismus.
Vergleiche Pluralismus.
Amnesie
(aus dem Gr. geb.)
S. 35
heißt die Nichterinnerung,
Gedächtnisschwäche, während
Amnestie (gr.
amnêstia) das absichtliche Vergessen
oder Verzeihen, die Straferlassung, ist.
Analogie
(gr. analogia)
S. 36 Siehe
auch bei Eisler
heißt Ähnlichkeit, Übereinstimmung in
den Verhältnissen. Der Gegensatz ist Anomalie
d. i. Regellosigkeit. Im Altertum ward, seitdem die grammatische Wissenschaft
entstanden war, heftig darüber gestritten, ob Analogie
in den Sprachbildungen zu finden sei, oder ob dieselben nur Unregelmäßigkeiten
zeigen.
Für die Analogie trat namentlich Aristarch
von Samothrake (um 170 v. Chr.), für
die Anomalie die ganze Schar der
Stoiker und vor allem Krates von Mallos
(2. Jahrh. v. Chr.) ein.
Analogieschluss
(lat. ratiocinatio per analogiam
oder argumentatio analogica) S. 36f.
Siehe auch bei
Eisler
heißt ein Schluss,
der aus der Ähnlichkeit zweier Dinge in dieser
und jener Hinsicht auf ihre Ähnlichkeit überhaupt schließt;
man schließt dabei: Dinge, die in mehreren Stücken übereinstimmen
(analog sind), werden auch in den anderen und so auch in allen übereinstimmen
(analog sein).
So schloss Kepler (1571-1630)
aus der elliptischen Bahn des Mars, daß alle ihm ähnlichen Planeten
ebensolche haben.
Die Form des
analogischen Schlusses ist:
A ist = a, b, c... n
B ist = A in a und b
---------------------------
B ist = A auch in c, d ... n.
Es leuchtet ein, dass die Analogieschlüsse
ziemlich unsicher sind, besonders wenn die analogen Merkmale unwesentlich sind.
Vgl. Induktion.
Analogien
der Erfahrung S. 87
heißen bei Kant (1724 bis
1804) die Grundsätze des Verstandes, welche
aussprechen, wie aus Wahrnehmungen Einheit der Erfahrung entspringt.
Der allgemeine Grundsatz derselben ist: Alle Erscheinungen
stehen ihrem Dasein nach a
priori unter Regeln der Bestimmung ihres Verhältnisses untereinander
in einer Zeit. Da Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein die drei Modi der Zeit
sind, so zerlegt sich der allgemeine Satz in folgende drei:
1. Alle Erscheinungen enthalten
das Beharrliche (Substanz)
als den Gegenstand selbst und das Wandelbare als dessen bloße Bestimmung,
d. i. eine Art, wie der Gegenstand existiert;
2. Alles was geschieht (anhebt
zu sein), setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt;
3. Alle Substanzen, sofern sie zugleich sind, stehen in durchgängiger Gemeinschaft
(d. i. Wechselwirkung untereinander). –
Mit diesen Analogien glaubte
Kant den Humeschen Zweifel (vgl.
Kausalität) überwunden zu haben. Er hat aber kaum mehr nachgewiesen,
als dass diese Sätze ideale Forderungen der wissenschaftlichen Forschung
sind (Vgl. E. Laas, Kants Analog, d. Erf. Berlin 1876).
Analogismus
(gr. analogiomos) S.
87
heißt Schluss,
Beweis aus Analogie.
Analyse
(gr. analysis),
eig. Auflösung, S. 37ff.
heißt im Gegensatz zur
Synthese die Zerlegung eines Begriffes in seine Merkmale, eines Ganzen in
seine Teile. Demgemäß heißt, eine Definition
eine analytische Erklärung. –
Ein analytisches Urteil
ist ein solches, in dem das Prädikat
aus dem Begriffe des Subjekts
unmittelbar hervorgeht, z. B. ein gleichseitiges Dreieck hat drei gleiche Seiten.
Synthetische Urteile dagegen vermitteln
die Verknüpfung von Subjekt und Prädikat erst durch ein anderes Urteil,
z. B. ein gleichseitiges Dreieck hat drei gleiche Winkel.
Diesen Unterschied hat zuerst der Megariker Stilpon
(380-300 v. Chr.), dann David
Hume (1711-1776) berührt, endlich besonders
Kant (1724-1804) hervorgehoben, der die analytischen
Urteile auf den Satz der Identität zurückführte, für die
synthetischen aber das Prinzip in der Möglichkeit der Erfahrung fand. Vgl.
z. B. Prolegomona z. e. jeden künftigen Metaphysik. Riga 1783.
S.24 ff. »Allein
Urteile mögen nun einen Ursprung haben, welchen sie wollen, - so gibt es
doch einen Unterschied derselben, dem Inhalte nach, vermöge dessen sie
entweder bloß erläuternd sind und zum Inhalte der Erkenntnis nichts
hinzutun, oder erweiternd und die gegebene Erkenntnis vergrößern;
die ersten werden analytische, die zweiten synthetische Urteile genannt werden
können.« »Analytische Urteile sagen im Prädikate nichts,
als das, was im Begriffe des Subjekts schon wirklich, obgleich nicht so klar
und mit gleichem Bewusstsein gedacht war«, z. B. alle Körper
sind ausgedehnt, »Dagegen enthält der Satz:
einige Körper sind schwer, etwas im Prädikate was in dem allgemeinen
Begriffe vom Körper nicht wirklich gedacht wird, er vergrößert
also meine Erkenntnis.« -
Aber der Unterschied der analytischen und synthetischen Urteile ist nur logisch
und erkenntnistheoretisch ein feststehender, psychologisch dagegen ein schwankender;
denn was für uns heute ein synthetisches Urteil ist, ist morgen ein analytisches,
und was für den Laien ein synthetisches, ist für den Kenner einer
Sache ein analytisches Urteil. –
Die analytische Methode geht vom
Besonderen zum Allgemeinen, von dem Bedingten zu den Prinzipien, von denen das
Gegebene abhängt (regressus a principiatis ad
principia), während die synthetische vom Allgemeinen und von
den Prinzipien ausgeht. Jene heißt auch die regressive, heuristische,
diese die progressive, didaktische. Den Regress vom Bedingten zur Bedingung
nennt Kant qualitative Analysis, quantitative den
Regress vom Ganzen auf die Teile.
Vgl. Methode.
Analytik
(von gr. analytikos) S.
38f.
heißt bei Aristoteles
(384 bis 322) der elementare Teil der Logik, der
sich mit den Formen des erkennenden Denkens, mit Begriffen, Urteilen und Schlüssen
beschäftigt. Er handelt vom reinen Denken, in dem die Gedanken nur aufeinander,
nicht wie in der Metaphysik auf Außendinge bezogen werden. –
Kant (1724-1804) nennt
transzendentale Analytik die Zergliederung unserer gesamten Erkenntnisse
zu dem Zwecke, die Elemente der reinen Verstandeserkenntnis aufzusuchen.
(Kr. d. r. V. S. 64-292.). Er scheidet sie in die Analytik
der Begriffe, welche die Begriffe
a priori aufsucht und ihre Möglichkeit erforscht (siehe Kategorien)
und in die Analytik der Grundsätze,
welche ein Kanon für die Urteilskraft sein soll, jene Verstandesbegriffe
auf
Erscheinungen anzuwenden.
Anamnese
(gr. anamnêsis) S.39
heißt Wiedererinnerung.
Die Anamnese spielt in der Erkenntnislehre
Platons (427-347) eine
besondere Rolle. Die
Erkenntnis der Wahrheit
erfolgt nach seiner Auffassung
durch Wiedererinnerung an ein früheres Leben.
Die Seele erinnert sich
beim Denken an
das, was sie in einem früheren Dasein
gewusst hat.
Vergleiche angeboren.
angeboren
(lat. innatus) S.
39f.
heißt im Gegensatze
zu erworben, angelernt, alles, was der Mensch
von Geburt an besitzt. Dies sind zunächst gewisse Triebe
und Fähigkeiten. Die Philosophie
hat aber auch vielfach bestimmte Ideen
und Grundsätze für angeboren angesehen.
Vertreter der Lehre von den angeborenen Ideen
sind z. B. Platon, Descartes,
Malebranche, Spinoza.
Bekämpft hat die Lehre von den angeborenen Ideen, die man Nativismus
nennt, vor allem Locke im I.
Buche seines Essay concerning Human Understanding (1689).
Modifiziert erscheint die Lehre von den angeborenen
Ideen schon bei Aristoteles
(384-322), der die allgemeinen Grundsätze
und Begriffe nur dem Keime nach als in der Vernunft vorhanden annimmt, und bei
Leibniz (1646-1716),
der aus fertigen angeborenen Ideen vielmehr Anlagen die »virtuellement«
gegeben sind, macht.
Bei Kant (1724-1804) erscheint
die Lehre von den angeborenen Ideen umgewandelt
in die Lehre vom a priori.
A priori heißt dasjenige, was aus reiner Vernunft
und nicht aus der Erfahrung
stammt, keineswegs aber dasjenige, was zeitlich vor der
Erfahrung vorhanden ist. Ein Nativist
ist also Kant, wie die Engländer vielfach
fälschlich annehmen, nicht gewesen. –
Angeborene Vorstellungen, Ideen, Grundsätze
existieren in Wahrheit nicht; der
ganze Vorrat unseres Bewusstseinsinhaltes entsteht in der Erfahrung: aber die
Anlagen zu der Bewusstseinstätigkeit sind aus der Tätigkeit der vorausgegangenen
Generationen entstanden und gehen durch Vererbung auf uns über. –
Angeborene Rechte sind solche,
die der Mensch mit seiner Geburt erhalten hat; dies sind teils natürliche
(die sog. Menschenrechte), dass er z. B. lebe, frei sei usw., teils konventionelle,
d. h. durch Übereinkunft ihm gegebene, z. B. dass das Kind seinen Vater
beerbe u. dgl.
Anschauung (Intuition)
oder Wahrnehmung S.
43f.
bedeutet die unmittelbare Bewusstseinserfassung
eines Gegebenen zunächst durch den Gesichtssinn, dann, allgemeiner,
überhaupt durch die Sinne.
Zum Zustandekommen einer Anschauung
oder Wahrnehmung
gehört
1. dass ein wirkliches Objekt
vorhanden ist,
2. dass dieses einen Reiz auf unsere Sinnesorgane ausübt,
3. dass aus diesem Reiz eine Empfindung
erwächst,
4. dass die Empfindung in bestimmter
Form (Raum
und Zeit) zum Bewusstsein
kommt.
Die Anschauung ist stets etwas Einzelnes, während Vorstellungen
und Begriffe,
aus der Erneuerung und Verbindung früherer Anschauungen hervorgegangen,
stets ein Allgemeines sind. Hierdurch bestimmt sich der Wert der Anschauung
für die Erkenntnis.
Anschauungen liefern uns den stofflichen Inhalt unseres Wissens, geordnet in
den Formen des Raumes und der Zeit; aber zum Glied unserer Erkenntnis werden
sie erst, indem aus ihnen allgemeine Vorstellungen und begriffliche Formen entwickelt
werden.
Das Wissen selbst
besteht nicht aus Anschauungen oder Wahrnehmungen, sondern aus dem daraus gewonnenen
Allgemeinen.
Kant hat dies Verhältnis durch die zwei Sätze:
»Gedanken
ohne Inhalt
sind leer« und »Anschauungen ohne
Begriffe sind
blind« ausgedrückt (Kr. d. r. V.
S. 51).
Die äußere Anschauung umfasst
die objektiven Dinge (im Raume und in der Zeit),
die innere die subjektiven Vorgänge
(in der Zeit);
jene fällt unter das Gesetz der Gleichzeitigkeit, diese unter das der Aufeinanderfolge.
Kant (1724-1804) unterscheidet außerdem
die Anschauung a
priori und a posteriori
oder die reine und die empirische.
Jene bezieht sich auf die reinen Raum- und Zeitformen, wie sie uns in den mathematischen
Größen
vorliegen, diese auf die in Raum und Zeit wahrnehmbaren, durch Empfindung
gegebenen Erfahrungsgegenstände.
(Vgl. Raum und Zeit.)
Die spekulativen Philosophen Fichte, Schelling
und Hegel reden noch von einer intellektuellen
Anschauung.
Fichte (1762-1814) versteht
darunter das unmittelbare produktive Bewusstsein
des handelnden Ichs,
Schelling (1775-1854)
den unbedingten Erkenntnisakt,
in welchem Subjektives
und Objektives
zusammenfällt, das Wissen
vom Absoluten,
Hegel (1770-1831) das
durch notwendige Gedankenbewegung erreichbare logische
Wissen.
Schelling streift damit jenes unmittelbare
Anschauen Gottes,
von welchem die Mystiker
reden.
Neuere Denker, wie Herbart (1776-1841),
Beneke (1798-1854),
H. Lotze (1817 bis 1881)
u. a. erkennen nur die empirische
Anschauung als Grundlage und Ausgangspunkt aller
Philosophie an. –
Künstlerische Anschauung ist die Betrachtung eines Gegenstandes
nach ästhetischen
Gesetzen. Vergleiche
Wahrnehmung.
an
sich S. 45 Siehe
auch bei Eisler
bildet den Gegensatz zu dem, was ein Ding mit Rücksicht auf ein anderes
ist.
»Ding an
sich« nennt daher Kant (1724-1804),
indem er das andere als das menschliche Bewusstsein nimmt, einen von den menschlichen
Erkenntnisformen unabhängigen Gegenstand, während er die Dinge, insofern
sie durch die menschliche Erkenntnis in Raum und Zeit erfasst werden, Erscheinungen
nennt.
Nach Kant erkennen wir die
Dinge nicht, wie sie an
sich sind, sondern nur, wie sie uns erscheinen.
Antagonismus
(gr. von antagônizomai =
wetteifern) S. 45
heißt der Widerstreit der Kräfte in der körperlichen wie der
geistigen Welt; kein Ding verhält sich nur leidend, sondern jedes Ding
reagiert stets (lex antagonismi) auf Einwirkungen.
Auf dem Antagonismus der Kräfte
beruht alles Leben in unserem Leibe und Geiste, in Staat, Kirche und Wissenschaft.
Ausgesprochen ist diese Überzeugung zuerst von Herakleitos
(um 500 v. Chr.), nach dem der Streit der Vater
und Herr aller Dinge ist (Plutarch. de Isid. 48
Hêrakleitos – polemon onomazei patera
kai basilea kai kyrion pantôn.).
Anthropologie
(aus dem Gr. von anthrôpologos
= von dem Menschen redend), S.46ff.
die Lehre vom Menschen, bestimmt
das Wesen des Menschen
nach Leib und Seele
und verfolgt seine Entstehung, Entwicklung und Verbreitung über die Erde.
Sie zerfällt je nach ihrem besonderen Gegenstande in die
1. somatische
Anthropologie (Anatomie und
Physiologie), welche den Leib und seine
Funktionen,
2. biologische,
welche die Lebensvorgänge,
3. psychische,
welche die Seele des Menschen, und
4. sozialpolitische,
welche das Verhältnis des Menschen zur Natur
und zur Gesellschaft behandelt.
Die erste und zweite Wissenschaft
ist eine naturwissenschaftliche Disziplin,
die dritte eine
philosophische, die vierte eine sprachwissenschaftliche und
historisch-archäologische.
Die Anthropologie
beruht also auf Naturwissenschaft, Philosophie, Sprachwissenschaft,
Geschichte und Archäologie und ist für diese Wissenschaften,
sowie für die Jurisprudenz und Theologie eine Mitarbeiterin.
Der Schöpfer der Anthropologie
als Wissenschaft war Aristoteles (384-322);
aus der alexandrinischen
Schule beschäftigten sich Herophilos (um
280 v. Chr.) und Erasistratos (um
dieselbe Zeit) mit ihr.
Das Mittelalter kannte die anthropologische Forschung
nicht; erst Arnoldus v. Villanova (1235-1312),
der die erste öffentliche Sektion zweier weiblicher Leichen in Bologna
vornahm, begann wieder das Studium der Anthropologie.
Die Naturphilosophen der Reformationszeit wie Paracelsus
(1493-1541) und van Helmont (1577-1644)
waren meist Theosophen
und hatten nur geringes anthropologisches Interesse;
doch wies um dieselbe Zeit Bacon v. Verulam (1561-1626)
auf die Erfahrung
als das beste Hilfsmittel der Forschung hin.
Dieses Prinzip
wandte dann J. Locke (1632-1704)
und seine Schule einseitig an, so dass der
Empirismus bald in Sensualismus
und Materialismus
ausartete.
Ihm traten die Idealisten Cartesius
(1596-1650), Spinoza (1632-1677),
Leibniz (1646-1716)
und Wolf (1679-1754)
gegenüber. Alle diese Philosophen förderten aber die psychische
Anthropologie.
Durch Harvey (1578-1658),
welcher den Blutumlauf (1619) entdeckte, wurde
die neuere physiologische Richtung begründet, der auch A.
v. Haller (1708-1777) angehörte, während
der Vitalismus,
d. h. die Annahme einer besonderen Lebenskraft, in Frankreich besonders Anklang
fand. Berühmte exakte Forscher auf dem Gebiete der Anthropologie waren
dann in Deutschland seit der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts Peter Camper, Sömmering, Blumenbach,
Burdach, Joh. Müller und Virchow.
Die erste systematische Einteilung
des Menschengeschlechts in (3) Rassen machte Cuvier
(† 1832), während Ch. Bell
(† 1842) die moderne Nervenphysiologie
begründete.
Kants »Anthropologie
in pragmatischer Hinsicht 1798« gab manche Anregung.
An Schellings Auffassung, dass der Mensch ein
Glied am Organismus Gottes sei, knüpfte der Mesmerismus an, der erst schwand,
als die neueren Psychologen: Herbart, Beneke,
Lotze, Waitz, Brentano,
Fechner, Wundt u. a. die
Psychologie naturwissenschaftlich und vergleichend bearbeiteten.
Die vergleichende Methode der »Völkerpsychologie«,
wie Lazarus und Steinthal
sie nannten, ward dann auf Religion,
Sittlichkeit
und Sprache übertragen,
und die von Quételet begründete Statistik
leistete vielfach willkommene Hilfe; eine ganz neue Betrachtung endlich hat
Darwins Theorie
auch der Anthropologie gebracht.
Aus der reichen Literatur heben wir hervor:
Kant, Anthropologie in pragmatischer
Hinsicht 1798;
Burdach, Anthropologie für das gebildete Publikum 1846;
H. Lotze, Medizinische Psychologie 1852;
A. Quételet, Physique sociale, dtsch. von Ricke 1838;
F. G. Klemm, Allgemeine Kulturwissenschaft 1854;
Th. Waitz, Anthropologie der Naturvölker 1859-1873;
Huxley, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in d. Natur (aus d. Engl.
1863);
Lyell, Das Alter des Menschengeschlechts (aus d. Engl.);
Bastian, Der Mensch in der Geschichte 1860;
Ch. Darwin, Die Abstammung des Menschen 1871;
Joh.Ranke, Der Mensch, Leipzig 1886/87.
Anthropomorphismus
(aus dem Gr. von anthrôpomorphos
= von menschlicher Gestalt) S.
48
ist die Erfassung des Göttlichen in
Menschengestalt. So falsch
diese Vorstellung
ist - schon Xenophanes der Eleat
(6 Jahrh. v. Chr.) bekämpfte den Anthropomorphismus
-, so nahe liegt sie für uns. Und zwar legt der Mensch
entweder Gott seinen
Leib bei, sei es,
dass er diesen vervielfältigt und steigert (Inder), oder sei es, dass er
ihn idealisiert (Hellenen) oder er denkt ihn nur
als menschlichen Geist
mit allen seinen Äußerungen: Wille,
Verstand, Liebe,
Zorn, Reue
(Volksglaube).
Anthropopathismus
(Gr. von anthrôpopatheia
= Zustand menschlichen Empfindens) S.
48
heißt die Auffassung
des Göttlichen, welche der Gottheit
menschliche Affekte wie Zorn,
Hass, Neid,
Reue, Eifersucht
zuschreibt.
Anthropotheismus
(aus dem Griech. von anthrôpos u. theos)
S. 48
heißt Menschenvergötterung;
so kann Hegels System
genannt werden, insofern darin die logischen Kategorien
des Menschen als Stufen der Weltentwicklung, ja der Selbstentfaltung
Gottes gelten.
Anthropotheologie
(aus dem Griech. geb.) S.
48
heißt die Erkenntnis
Gottes aus dem geistig
- sittlichen Wesen
des Menschen.
anthropozentrisch
(vom gr. anthrôpos = Mensch
und kentron = Mittelpunkt) S.
45f.
nennt man diejenige Weltauffassung, welche den Menschen
als das Zentrum der ganzen Welt
ansieht, wie es die meisten Religionen,
z. B. das Christentum, aber auch manche philosophische
Systeme tun, z. B. im Altertum die
Lehre des Sokrates, in der Neuzeit die Wolfische
Philosophie.
Auch in Kants (1724-1804)
Erkenntnistheorie liegt eine neue eigentümliche anthropozentrische
Wendung, indem sie lehrt, dass die menschliche
Vernunft der Natur
(sofern sie die Welt
der Erscheinungen
ist) die Formen
und Grundgesetze
vorschreibe.
Spinozas (1632-1677)
Lehre von Gott-Natur ist dagegen theozentrisch,
und die gegenwärtige Naturwissenschaft führt ebenfalls seit Kopernikus,
Kepler, Newton von
der anthropozentrischen Weltbetrachtung ab.
Am stärksten vertrat dagegen von den Neueren in seiner Philosophie den
anthropozentrischen Standpunkt Wilhelm von Humboldt
(1767-1835), dem sich die ganze Wissenschaft zu
einer philosophisch-empirischen Menschenkenntnis
zusammenfasste.
Antilogismus
(aus dem Gr. von antilogos =
widersprechend) S.
49
heißt allgemein jeder Widersinn
oder, wo das Wort die besondere Bezeichnung für ein philosophisches
System ist, die Feindschaft gegen die Vernunft.
Antimoralismus
(aus dem Lat.),
S. 49
Gegensatz
zur Moral,
heißt entweder ein System,
welches die Moral in seinen Folgerungen zerstört,
oder die praktische
Unsittlichkeit. So ist z. B. der Fatalismus,
Materialismus und F.
Nietzsches Herrenmoral
ein systematischer Antimoralismus,
der Epikureismus
dagegen oft ein praktischer Antimoralismus.
(Vgl. F. Nietzsche, »Jenseits
von Gut und Böse« 1886. Epikureismus.)
Antinomie
(antinomia), S.
49f. Siehe auch
bei Eisler
eigentlich Widerstreit zweier Gesetze,
heißt nach Kant derjenige
Widerstreit der reinen Vernunft,
in den sich diese bei ihrem Bestreben, sich die unbedingte Einheit
der objektiven
Bedingungen
in der Erscheinung
zu verschaffen, d. h. bei den kosmologischen Grundfragen, verwickelt.
Hierbei entsteht eine natürliche Antithetik,
sobald die Vernunft nach dem Grundsatze:
»Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen,
mithin das schlechthin Unbedingte gegeben, wodurch
jenes allein möglich
war«, absolute
Totalität fordert
und dadurch die Kategorien
zur Idee erweitert.
Diese Antithetik
stellt Kant in vier Sätzepaaren
auf, deren ersten (a) er immer Thesis,
deren zweiten (b) er Antithesis
nennt:
1.
a) Die
Welt hat einen
Anfang in der Zeit
und ist dem Raume
nach auch in Grenzen
eingeschlossen;
b) Die Welt hat keinen
Anfang und keine Grenzen
im Raume, sondern ist sowohl in Ansehung der
Zeit als des Raumes unendlich.
2.
a) Eine jede zusammengesetzte
Substanz in der
Welt besteht aus einfachen
Teilen, und es existiert
überall nichts als das Einfache,
oder das, was aus diesem zusammengesetzt ist;
b) Kein zusammengesetztes
Ding in der Welt
besteht aus einfachen Teilen, und es existiert
überall nichts Einfaches
in derselben.
3.
a) Die Kausalität
nach Gesetzen der
Natur ist nicht
die einzige, aus welcher die Erscheinungen
der Welt insgesamt abgeleitet
werden können. Es ist noch eine Kausalität
durch Freiheit zur Erklärung
derselben anzunehmen notwendig;
b) Es ist keine Freiheit,
sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach
Gesetzen der Natur.
4.
a) Zu der Welt gehört etwas,
das, entweder als ihr Teil oder ihre Ursache,
ein schlechthin notwendiges Wesen
ist;
b) Es existiert überall kein
schlechthin notwendiges Wesen, weder in
der Welt, noch außer
der Welt, als ihre Ursache.
(Kr. d. r. V. Transscendentale Dialektik, II. Buch, Zweites Hauptstück
S. 405-571).
Thesis und Antithesis
lassen sich gleichmäßig indirekt durch Widerlegung
des Gegensatzes
beweisen, und die Vernunft scheint hier in einer
verzweifelten Lage zu sein. Kant findet in seinem
kritischen
Idealismus durch die Unterscheidung von
Erscheinungen und Dingen
an sich die Lösung.
Die beiden ersten Sätzepaare (die mathematischen
Antinomien) sind sowohl in Thesis wie in Antithesis
falsch,
da beide von der falschen Voraussetzung ausgehen, dass das Weltganze gegeben
sei, während es uns nur aufgegeben, eine Idee
ist.
Die beiden letzten Sätzepaare (die dynamischen Antinomien)
sind sowohl in Thesis als in Antithesis
zulässig, wenn die Thesis
auf Dinge
an sich, die Antithesis
auf Erscheinungen
angewandt wird.
Durch die Rettung der Thesis gewinnt Kant
den Boden für seine praktische
Philosophie, in der er sich auf einen idealistischen Standpunkt stellt. –
Neuerdings hat geistreich die verschiedenen Ansichten über das Wesen
der Materie
Julius Schultz zu Antinomien zusammengestellt
(Jul. Schultz, Die Bilder von der Materie, Göttingen
1905.)
Antithetik
(gr.) S.
51
ist nach Kant (1724-1804)
der Widerstreit zweier dem Scheine nach dogmatischen
Erkenntnisse, ohne dass man der einen Recht geben mag, z. B. zwischen
den beiden Sätzen: »Es ist ein
Gott«. - »Es ist kein Gott«.
–
Transzendentale Antithetik nennt Kant
die Untersuchung über die Antinomien der reinen
Vernunft. (Siehe
unter Antinomie.)
Antizipation
(lat. anticipatio)
S. 48f.
heißt Vorwegnahme.
Zuerst findet sich dieser Begriff bei Epikuros (341-270),
welcher unter »Prolepsis« (=
anticipatio) eine von einer Sache durch wiederholte Wahrnehmung,
Erinnerung und Vergleichung gebildete Allgemeinvorstellung verstand.
Bei den Stoikern hieß »Prolepsis«
der unmittelbar aus der Wahrnehmung gebildete Begriff.
Cicero (de nat. deor. I, 16,
43) übersetzt den Begriff des Epikur
»Prolepsis« durch
anticipatio (id est anteceptam
animo rei quandam informationem, sine qua nec intellegi quidquam, nec quaeri,
nec disputari potest).
Kant (1724 bis 1804) versteht
unter Antizipationen der Wahrnehmung das,
was sich an jeder Empfindung als
solcher a priori erkennen
lässt. Der Grundsatz,
welcher alles das ausspricht, was sich an jeder Empfindung antizipieren lässt,
heißt bei Kant Kr.
d. r. V. S. 166 so: »In allen Erscheinungen
hat die Empfindung
und das Reale,
welches ihr an dem Gegenstande entspricht (realitas
phaenomenon), eine intensive Größe,
d. h. einen Grad«.
Äon
(gr. aiôn) S.
15f. Siehe auch bei
Eisler
heißt Ewigkeit,
beständige Dauer.
Bei dem Gnostiker Valentinus
(150 n. Chr.) werden aus den
Äonen ewige Geister und
göttliche Wesenheiten, Mittelwesen
zwischen dem göttlichen Urgrunde
und dem Menschen.
Apagoge
(gr. apagôgê, lat.
deductio) S. 52f.
heißt nach Aristoteles
(Analyt. prior. II, 25, p. 69 a 20) ein Schluss
folgender Art: Wenn ein erster Begriff
ein Merkmal eines
zweiten Begriffs ist und es zwar nicht feststeht,
dass der zweite Begriff ein Merkmal des dritten
ist, aber dies doch gleich wahrscheinlich
oder noch mehr wahrscheinlich ist, als der zu folgernde Schlusssatz (nämlich
dass der erste ein Merkmal des dritten
sei), so heißt das Schlussverfahren
Apagoge, z. B. :
Es sei 1=lehrbar, 2=Wissen,
3=Gerechtigkeit. Dann steht fest:
1. das
Wissen ist lehrbar, es steht aber nicht fest,
2. dass die Gerechtigkeit ein Wissen ist. Doch ist dies ebenso
wahrscheinlich, oder wahrscheinlicher, als dass die Gerechtigkeit lehrbar ist.
Wir schließen also,
3. dass die Gerechtigkeit lehrbar
sei, durch den nicht sicher feststehenden zweiten Satz
hindurch.
Apagoge ist also ein
Schluss aus sicherem Obersatz und einem Untersatz,
der zwar nicht gewiss ist, aber
mindestens ebenso gewiss oder gewisser ist
als die Folgerung. Die Apagoge
hat natürlich nichts völlig Überzeugendes an sich, sondern
gehört zu den rhetorischen Schlüssen; ohne
strenger Beweis zu sein, erweckt sie doch
Glauben. –
Apagogischer Beweis (demonstratio
apagogica, apagôgê eis adynaton, deductio ad absurdum) heißt
indirekter Beweis, also
ein Schlussverfahren, in welchem man die Wahrheit
einer Behauptung aus der Falschheit ihres Gegenteils beweist. Der bloße
apagogische Beweis ist aber nur ein
Beweis von beschränktem Werte, ganz abgesehen von den Sophistereien,
die dabei oft unterlaufen. Er führt zwar zur Gewissheit,
aber nicht zur Einsicht in
die Gründe.
Apeiron
(gr. apeiron =
das Unermessliche), S. 53
das Unendliche, Unbegrenzte, nannte
Anaximandros aus Milet (geb.
611 v. Chr.) den Grundstoff,
aus dem alles andere entstanden sei. Er dachte
sich diesen quantitativ
unendlich und
der Qualität
nach wahrscheinlich nicht als Mischung verschiedener
Stoffe, sondern als eigenschaftslosen Stoff, aus
dem die jetzige Welt durch Ausscheiden der Gegensätze entstanden ist.
apodiktisch
(v. gr. apodeiknymi
= beweisen) S.
54
heißt ein Urteil,
mit dem sich das Bewusstsein
seiner Unumstößlichkeit verbindet.
Kant (1724-1804) teilt
die Urteile der Modalität
nach in problematische (S
kann P
sein), assertorische (S
ist P) und apodiktische
(S muss P
sein) ein.
Das apodiktische Urteil drückt
eine logische Notwendigkeit
aus (Kr. d. r. V. S. 70-76).
So nennt Kant den Satz, dass der Raum
drei Dimensionen
habe, apodiktisch,
weil er eine Vernunftnotwendigkeitund nicht empirisch erschlossen sei, - was
freilich unrichtig ist, da die geometrischen Sätze nicht
apodiktisch sind, sondern zuletzt der Empirie
entspringen.
Der Ausdruck »apodiktischer Beweis«
ist übrigens ein Pleonasmus; denn Beweis
heißt apódeixis. Apodiktik
(z. B. v. Bouterwek) könnte die Erkenntnistheorie
heißen, insofern sie darauf ausgeht, ein sicheres Wissen zu begründen.
a
posteriori, a priori (lat.)
S. 54f.
heißt eigtl. von dem späteren
und von dem früheren. Die beiden
Begriffe spielen in der Frage, ob unser
Wissen die Erfahrung
oder das Denken zur Quelle hat,
also in dem Streite des Empirismus
und Rationalismus
eine wichtige Rolle.
Schon Aristoteles (384-322)
unterschied das von Natur
Spätere und Frühere; jenes liefert
die Erkenntnis
aus den Wirkungen, dieses diejenige aus den Ursachen.
Die Scholastiker
verstehen daher ebenfalls mit Aristoteles unter
a posteriori die
Erkenntnis aus den Wirkungen, unter a
priori die aus den Ursachen.
Im 18. Jahrh. versteht man vor
Kant unter a priori die
angeborene rein begriffliche, unter a posteriori
die aus der Erfahrung geschöpfte, im Leben erworbene
Erkenntnis, (so Leibniz, Hume).
Kant (1724-1804) vertiefte
den Begriff, er bezeichnete die empirische
Erkenntnis, die ihre Quelle in der Erfahrung
hat, und nicht allgemein notwendig ist, als a posteriori;
a priori aber nannte er die davon unabhängige
reine Vernunfterkenntnis, welcher Allgemeinheit und Notwendigkeit zukommen.
Er versuchte nachzuweisen, dass nicht nur die gesamte Form
unserer Erkenntnis, sondern auch das formale Sittengesetz,
nach dem sich unsere Handlungen richten, und das formale
Geschmacksprinzip a priori seien,
während der Inhalt unseres Wissens, Handelns und
Empfindens a posteriori
sei. Bei Kant hat also das a
priori und a posteriori nichts mehr mit
einem zeitlichen Vorausgehen und zeitlichen Folgen, nichts mit dem Gegensatz
des Angeborenen und Erworbenen zu tun. Kant verwirft
vielmehr den Nativismus,
die Behauptung, dass es angeborene Begriffe gebe;
er vertritt die Idee, dass sich die Begriffe
a priori bei Gelegenheit der Erfahrung entwickeln.
Alle unsere Erkenntnis
fängt nach ihm mit der
Erfahrung an.
(Vgl. angeboren.)
Ähnlich sagt J. G. Fichte (1762-1814),
das, was lediglich durch das Wissen und nicht außer
ihm durch das Ding gesetzt
werde, heiße a priori. Vgl.
Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipzig 1904. S. 84 ff.
Apperzeption
(nlat. u. franz. von ad und perceptio =
das Innewerden) S. 55ff.
heißt im Allgemeinen das aktive
Denken im
Gegensatz zu der passiven Perzeption,
die spontane und bewusste Denktätigkeit im
Gegensatz zu der rezeptiven sinnlichen Wahrnehmung.
Im speziellen hat der Begriff der Apperzeption vielfach geschwankt.
Leibniz (1646-1716) verstand unter Apperzeption die Aufnahme einer Vorstellung in das Selbstbewusstsein, das über einen
Zustand der Seele nachdenkende Bewusstsein.
Kant (1724-1804) fasst die Apperzeption schlechthin als das Bewusstsein und
schied die reine transzendentale oder ursprüngliche Apperzeption, das Selbstbewusstsein,
das: »Ich denke«, das alle Vorstellungen des einzelnen begleitet
und in allem Wechsel des Bewusstseins ein und dasselbe ist, von der empirischen
Apperzeption, dem Bewusstsein des Menschen von seinem jedesmaligen Zustande. (Kr. d. r. V., II. Aufl., S. 132, § 16.)
Herbart (1776-1841) fasste die Apperzeption als die Aneignung und Verarbeitung
neu aufzunehmender Vorstellungen durch ältere verbundene und ausgeglichene
Vorstellungsmassen.
Steinthal (1823-1899) und Lazarus (1824-1903) bildeten den Herbartschen Begriff
weiter aus. Steinthal z. B. unterschied die identifizierende, subsumierende,
harmonisierende und disharmonisierende Apperzeption.
Wundt (1832 - 1920) versteht unter Apperzeption den Einzelvorgang, durch den ein
psychischer Inhalt zu klarer Auffassung kommt, die Erfassung einer Vorstellung durch die Aufmerksamkeit. Er unterscheidet, bei Vergleichung des Bewusstseinsaktes
mit einem inneren Sehen, Blickfeld und Blickpunkt des Bewusstseins. Die Apperzeption ist nach diesem Bilde der Eintritt einer Vorstellung in den Blickpunkt des Bewusstseins (Wundt, Grundz. d. phys. Psych. II, S. 235).
Am verbreitesten dürfte gegenwärtig noch immer der Begriff der Apperzeption sein, wie ihn Herbart, Steinthal und Lazarus bestimmt haben.
(Vgl. Otto Staude, Phil. Stud. I, S. 149 ff.)
apperzipieren heißt mit Bewusstsein erfassen oder neue Vorstellungen mit
Hilfe älterer aufnehmen.
Archetyp
(gr. archetypos) S.
57
heißt Urbild, Muster, Original, Ideal; archetypisch
heißt urbildlich, eigenartig.
Aristotelismus
S. 59ff.
Unter Aristotelismus versteht man
1. die Philosophie des Aristoteles (384-322). Sie ist neben Platons (427-347)
System das erste und einzige große Lehrgebäude der griechischen Philosophie
und umfasst die Logik, die Metaphysik, die Naturphilosophie und Psychologie,
die Ethik und Politik und die Ästhetik.
Die Logik, die in einer Reihe von Schriften des Aristoteles
behandelt wird, welche man unter dem Namen Organon zusammenfasst (katêgoriai,
peri hermêneias, analytika protera, analytika hystera, topika, peri sophistikôn
elenchôn), behandelt die Lehre von den Kategorien, den durch
die Existenzformen bedingten Grundbegriffen des Denkens (Substanz, Quantität,
Qualität, Relation, Ort, Zeit, Lage, Haben, Tun und Leiden,
ousia oder ti esti, poson, poion, pros
ti, pou, pote, keisthai, echeien, poiein und paschein),
die Lehre von den Urteilen und die Lehre von den Schlüssen. Die Aristotelische
Logik ist die Grundlage der Logik bis nahezu zur Gegenwart geblieben. –
Die Metaphysik des Aristoteles, die er selber erste
Philosophie (prôtê philosophia) nennt,
setzt sich mit Platon über das Verhältnis
des Allgemeinen zum Einzelnen, der Idee zum Individuum auseinander.
Nach Platon kommt der Idee höhere Existenz zu als dem Individuum, und das
Allgemeine existiert als das wahrhaft Wirkliche, gesondert vom Einzelnen.
Nach Aristoteles verdient das Allgemeine wohl einen höheren Wert als das
Einzelne, hat aber keine gesonderte Existenz, existiert also nicht neben dem
Vielen, sondern in dem Vielen.
Die Metaphysik der Aristoten bestimmt sodann die Prinzipien des Seins. Die Grundformen
des Daseins sind: Form oder Wesen (morphê, eidos,
hê kata ton logon onsia, to ti ên einai), Stoff (hylê,
to hypokeimenon), Ursache (hothen hê
archê tês kinêseôs) und Zweck (to
on heneka) (vgl. Met. I, 3, 983 a 26 ff.);
reduziert werden aber diese vier metaphysischen Prinzipien auf zwei:
Form und Stoff.
Der Stoff ist nicht, wie Platon annahm, ein Nichtseiendes, sondern die Möglichkeit
oder Anlage (dynamis), die Form ist die Vollendung der Anlage (entelecheia).
Die Form fällt wenigstens bei organischen Wesen mit Zweck und bewegender
Ursache zusammen.
Die Bewegung ist der Übergang vom Möglichen zum Wirklichen. Das Bewegende
und selbst Unbewegte ist die stofflose ewige Form, Gott, der göttliche
Verstand (nous). –
Die Naturphilosophie des Aristoteles handelt von der stofflichen in Bewegung
oder Veränderung begriffenen Welt. Die Bewegung oder Veränderung besteht
im Entstehen und Vergehen, in Zunahme und Abnahme, in qualitativer Wandlung
und in der Ortsveränderung.
Die Welt ist von endlicher Ausdehnung, aber ihrer Existenz nach ewig. Sie besteht
aus dem Fixsternhimmel, der unmittelbar von der Gottheit bewegt wird, den Planetenhimmeln
und der Erde, die im Mittelpunkt der Welt unbewegt ruht. Stofflich besteht die
Welt aus dem Äther, dem Feuer, der Luft, dem Wasser und der Erde.
Die Naturwesen bilden eine nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit gegliederte
Stufenreihe von den Pflanzen zu den Tieren und zum Menschen. –
In der Psychologie bestimmt Aristoteles die Seele als die erste Entelechie des
physischen Leibes, welcher Leben der Anlage nach besitzt, womit er sie als Vollendung
oder Erfüllung im Gegensatz zur Anlage, aber auch als nicht immer tätig,
wie der göttliche Verstand es ist, sondern als nur immer im Körper
vorhanden bezeichnen will. Die Seele ist die Form, die Bewegungsursache und
der Zweck des Leibes.
Bei der Pflanze ist die Seele nur das Ernährungsvermögen (to threptikon),
beim Tiere besitzt sie außerdem das Wahrnehmungsvermögen, das Begehrungsvermögen
und das Bewegungsvermögen (to aisthêtikon,
to orektikon, to kinêtikon kata topon).
Die menschliche Seele besitzt dazu den Verstand (nous) und bildet einen Mikrokosmos
(eine Welt im kleinen). Der Verstand ist göttlichen Ursprungs und unsterblich.
–
In der Ethik bezeichnet Aristoteles die Glückseligkeit (eudaimonia) als
das Ziel des menschlichen Strebens. Sie wird erreicht durch die vernünftige
und tugendhafte Tätigkeit der Seele. Die Tugend ist die aus natürlicher
Anlage durch Handeln herausgebildete Fertigkeit, das Vernünftige zu wollen.
Die Tugenden sind entweder ethische oder dianoëtische.
Die ethischen Tugenden wie Tapferkeit, Mäßigkeit, Freigebigkeit,
Hochherzigkeit, Milde, Wahrheit, Gewandtheit im geselligen Verkehr, Freundlichkeit
und Gerechtigkeit bestehen in der Besiegung der Begierden durch die Vernunft
und sind stets ein Mittleres zwischen zwei Extremen.
Die dianoëtischen Tugenden wie Vernunft, Wissenschaft, Kunst und praktische
Einsicht sind die Ausbildungen der intellektuellen Anlagen des Menschen. –
In der Politik bestimmt Aristoteles die Aufgabe
des Staates. Der Mensch ist von Natur ein politisches Wesen (politikon
zôon). Der Staat ist entstanden um des Lebens willen, hat
aber seinen Zweck in dem sittlichen Leben, und seine Hauptpflicht ist die Bildung
der Tugend und der Bürger. –
In der Ästhetik steht Aristoteles auf formalistischem
Standpunkt (vgl. Ästhetik). Das Schöne liegt in der Form. Die Kunst,
welche Nachahmung ist, dient nach ihm der Unterhaltung, der zeitweiligen Befreiung
von Affekten und der sittlichen Bildung. (Vgl. Ueberweg,
Grundriß d. Gesch. d. Phil. I, §§ 45-50, Zeller, Gesch. d. griech.
Philos. Bd. III.)
Die Philosophie des Aristoteles ist demnach charakterisiert
als logisch-begriffliche Verarbeitung des gesamten Wissensmaterials und Aufsuchung
der obersten Prinzipien des Wissens. Ihr ganzes Streben ging darauf hin, die
Sokratisch-Platonische Begriffsphilosophie zu einer die Erscheinungen, die Welt
in ihrer ewigen Ordnung erklärenden spekulativen Theorie umzubilden. Sie
hat hierdurch, wie durch die Unterordnung der praktischen Vernunft unter die
theoretische und durch ihren dianoëtischen Tugendbegriff einen intellektualistischen
Charakter angenommen. Dazu zeichnet sie sich aus durch ihre Universalität
und durch die Fülle des empirischen Materials, die sie beherrscht und ordnet.
In der Metaphysik ist Aristoteles realistischer
und nüchterner als Platon, der die Ideen hypostasiert und die Ideenlehre
poetisch ausschmückt, aber durch die Wertstellung, die dem Allgemeinen
und den Ideen auch bei Aristoteles zuteil wird, und durch seinen Gottesbegriff,
der auf Anaxagoras zurückgeht, rückt sein System doch mehr in die
Systeme des Idealismus als die des Realismus ein, und durch die Anordnung der
Welt nach dem Zweck-System wird sein System teleologischer Idealismus.
In der Ethik ist
Aristoteles Eudämonist, in der Ästhetik Formalist.
Auf allen Gebieten der Philosophie hat er anregende Untersuchungen geführt,
und für lange Zeiten ist er Ausgangspunkt der Philosophie geblieben. Aber
die empirischen Fundamente seiner Philosophie sind unzureichend gewesen, und
zur völligen Klärung der obersten Prinzipien hat es seine Philosophie
nicht gebracht. Der Aristotelismus, als Philosophie des Aristoteles und als
dominierende Weltphilosophie, ist erst durch den Kantianismus (s. d.) völlig
überwunden worden.
Aristotelismus heißt
2. die Philosophie der Schüler des Aristoteles, d. h. die peripatetische
Philosophie (s. Peripatetiker), die wesentlich an den Lehren des Meisters festhält.
3. die arabische Philosophie seit dem 8. Jahrh. n. Chr., deren Hauptvertreter
Avicenna (980 bis 1037) und Averröes (1126-1198) waren (vgl. Averroismus).
Der arabischen Philosophie schloss sich die jüdische Philosophie des Mittelalters,
vertreten durch Gabirol (geb. um 1020, † 1069 od. 70) und Maimonides (1135-1204),
an.
4. die christlich-scholastische Philosophie seit dem 12. Jahrh., die an die
arabischen Bearbeitungen des Aristoteles anknüpft. Den Aristotelismus verband
am innigsten mit der Kirchenlehre Thomas von Aquino (1225 bis 1274), dessen
System das maßgebende für die katholische Kirche ward.
(Vgl. Katholizismus
und Philosophie und Neuthomismus.)
5. diejenige Strömung der Renaissancephilosophie, die die reine Lehre des
Aristoteles im 15. und 16. Jahrhundert zurückzugewinnen
versuchten. Sie spalteten sich in Alexandristen,
zu denen vor allen Petrus Pomponatius (1462-1530)
und Averroisten, zu denen Achillinus
(1463-1518) und Niphus (1473-1546)
gehörten.
Aristoteliker in dieser Form war auch Melanchthon.
6. die Philosophie Adolf Trendelenburgs (1802-1872),
der aber selbständig eine konstruktive, durch den Zweck geleitete Bewegung
in das System des Aristoteles einfügte.
assertorisch
( lat. assertorius = das Urteil betreffend)
heißt ein Urteil
seiner Modalität
nach, welches ohne jeden Zusatz etwas als wahr oder wirklich behauptet oder
leugnet, während das problematische
Urteil etwas als möglich, das apodiktische
Urteil etwas als notwendig hinstellt.
Das bejahende assertorische Urteil
hat die Form:
A ist B,
das problematische:
A kann B sein,
das apodiktische:
A muss
B sein.
Ein Beispiel für das assertorische
Urteil ist: Ellipsen sind Kegelschnitte.
Kant definiert: Assertorische Urteile
sind solche, da das Bejahen und Verneinen als wirklich
betrachtet wird (Kr. d. v. V. S. 74).
Assoziation
(aus dem Lat. von associare = beigesellen)
S. 65ff.
heißt eigentl. Vergesellschaftung, gesellige
Verbindung. –
Ideenassoziation heißt diejenige natürliche
Verbindung unserer Vorstellungen, welche ohne unseren
Willen entsteht und die Wirkung hat, dass die Vorstellungen einander
unwillkürlich hervorrufen.
Schon Platon (427-347)
und Aristoteles (384-322)
kennen sie, aber erst die neuere Psychologie hat sie gründlicher untersucht.
Am Allgemeinsten aufgefasst, ist die Ideen-Assoziation
im Wesen nicht unterschieden
von dem, was man Phantasie
nennt, sofern darunter das nicht durch Wille
und Vernunft
gelenkte Spiel unserer Vorstellungen
gemeint ist. Das Phantasieren des Kindes, des Dichters und Musikers, der Witz
und das Wortspiel des geistreichen Menschen, die Bilder und Gleichnisse des
Redners, das Gedächtnis
und die Erfindungskraft
des Gelehrten - alles hängt von der Ideenassoziation
ab.
Trotz ihrer scheinbaren Regellosigkeit lassen sich für die in dieser Weise
bestimmte Assoziation Gesetze aufstellen, nämlich
1. das Gesetz
der Zeitfolge und Gleichzeitigkeit (lex
successionis et simultaneitatis): Vorstellungen, welche wir hintereinander
oder zugleich empfangen, assoziieren sich und rufen einander hervor: So erinnern
Orte an Ereignisse, welche dort vorgefallen sind, und gleichzeitige Ereignisse
aneinander; wenn jemand zwei Personen zugleich kennen gelernt hat, fällt
ihm, sobald er die eine sieht, die andere ein;
2. das Gesetz
der Ähnlichkeit und des Kontrastes
(lex similitudinis et oppositionis): Einander ähnliche Vorstellungen
von Personen, Sachen, Gegenden, Ereignissen rufen sich gegenseitig hervor; aber
auch Gegensätze, z. B. die Vorstellung von Himmel und Hölle, Engeln
und Teufeln, Tugenden und Lastern u. dgl. tun dasselbe; hierzu kommen auch noch
die Korrelata, wie Ursache
und Wirkung, Zweck und Mittel,
Ganzes und Teile, Subjekt und Objekt u. s. f.
Eine fruchtbare Ideenassoziation ist die Voraussetzung alles künstlerischen
und wissenschaftlichen Schaffens. –
Strenger philosophisch gefasst hat den Assoziationsbegriff
die empiristische Philosophie des
18. Jahrhunderts und ihre Nachfolger.
Für sie ist nach dem Vorgange von Hartley
(1704 bis 1757) und David
Hume (1711-1776) Assoziation
die Verbindung der Vorstellungen, die sich bei
passivem Bewusstseinsstande bildet, und ihre Reproduktion.
(Vgl. Hume, Inquiry concerning Human Understanding,
Section III und Assoziationspsychologic.)
Der so gefasste Assoziationsbegriff war
aber insofern nicht haltbar, als die von dem Empirismus
bei der Assoziation als Einheiten zugrunde gelegten
Vorstellungen keine Einheiten sind, sondern selbst aus Verbindungen hervorgehen,
und auch insofern, als eine Reproduktion im strengen Sinne, eine unveränderte
Wiederhervorbringung früherer Vorstellungen nicht stattfindet. Auch berücksichtigt
der empiristische Assoziationsbegriff nicht die
Verbindung der Vorstellungen mit Gefühlen und Bestrebungen. –
Neuere, wie Wundt (geb. 1832),
haben deswegen den Assoziationsbegriff einer Berichtigung
unterzogen, indem sie darunter die passive Verbindung der Elemente unseres Bewusstseinsinhaltes
verstehen. Wundt scheidet sie in Verschmelzungen,
Assimilationen, Komplikationen und sukzessive Assoziationen. Die Verschmelzungen
sind die festen Assoziationen psychischer Elemente,
durch die alle in unserm Bewusstsein
vorhandenen psychischen Gebilde erst entstehen. Durch die Assimilationen bilden
sich Veränderungen
gegebener psychischer Gebilde unter Einfluss der Elemente anderer Gebilde.
Durch die Komplikationen verbinden sich ungleichartige psychische Gebilde, und
durch die sukzessiven Assoziationen entstehen im Anschluss an die simultanen
Verschmelzungen Assimilationen und Komplikationen Verbindungen zeitlich aufeinander
folgender psychischer Gebilde. (Vgl. Wundt, Grundriß
der Psychologie, Leipzig 1905, § 16, S. 271-307.)
Ästhetik
(gr.
von aisthêtos = sinnlich wahrnehmbar, gebildet)
S. 21ff.
heißt zunächst die Lehre von der Sinneserkenntnis.
In dieser ursprünglichen Bedeutung braucht Kant (1724-1804) das Wort in
seiner Kritik der reinen Vernunft (1781), die aus der Aufgabe erwachsen war,
die Grenzen der Sinnlichkeit und des Verstandes zu bestimmen. Der erste Teil
der Elementarlehre in diesem Werke ist die transzendentale Ästhetik. Sie
bestimmt die Sinneserkenntnis als das Vermögen der Anschauungen, als Rezeptivität,
und weist als reine, allgemeine und notwendige, nicht aus der Erfahrung stammende
Form der sinnlichen Erkenntnis Raum und Zeit nach. –
Gewöhnlich und in zweiter Linie versteht man aber unter Ästhetik die
Wissenschaft von den Gefühlen, welche durch das Schöne und das ihm
Verwandte oder Entgegengesetzte hervorgerufen werden, und den Urteilen, die
sich auf diese Gefühle gründen.
Zur Wissenschaft erhoben und so benannt ward diese Disziplin erst durch den
Wolfianer A. G. Baumgarten (1714-62) [»Aesthetica« (1750-58)]; vor
ihm wurde nur beiläufig von den ästhetischen Begriffen gehandelt.
So definiert z. B. Platon, (427-347), dem von den Neueren Shaftesbury (1671-1713)
gefolgt ist, das Schöne (im Phaidros) als das Nachbild der Ideen, in deren
Reich die Idee des Guten die herrschende ist, während er (im Philebos)
die Freude am Schönen diejenige Lust nennt, welche durch Wahrnehmung eines
Verhältnismäßigen und Ebenmäßigen erzeugt wird. Aber
Platon sondert das Schöne nirgends scharf vom Guten. Die Schönheit
dient bei ihm nur ethisch-politischen Zwecken, und gegen die Kunst verhält
er sich ablehnend.
Aristoteles (384-322) gibt in seiner »Rhetorik und Poetik« eine
Reihe empirischer Regeln über das Schöne. Er geht von einzelnen Beispielen
des Schönen aus, prüft das allen Gemeinsame und findet es in der Ordnung,
im richtigen Verhältnis der Teile, in der Begrenztheit und angemessenen
Größe, in dem Zusammenhang und der Vollständigkeit, mithin in
der Einheit im Mannigfaltigen, also in der Form der Dinge. Das Wesen der Kunst
setzt er in die Nachahmung (mimêsis). Aber er leitet das Wesen der Kunst
noch nicht aus der menschlichen Natur ab.
Dies hat erst Baumgarten (1714-1762) getan, indem er, von den Grundlehren der
Philosophie Leibniz' und Wolfs und von französischen Anregungen (Dubos)
ausgehend, die Ästhetik als Paralleldisziplin neben die Logik stellte.
Wie diese das höhere Erkenntnisvermögen, das Begriffsvermögen,
solle jene das niedere Erkenntnisvermögen, die sog. Sinnenerkenntnis (Aesthetica
est scientia cognitionis sensitivae) behandeln.
Demgemäß lehrten die Ästhetiker der Wolfschen Schule (Eschenburg,
Eberhard, Sulzer, Mendelssohn), dass die ästhetische Erkenntnis nur eine
Vorstufe der intellektuellen sei. Zur Geschmackslehre und Lehre vom Schönen
ward aber für Baumgarten und seine Nachfolger die Ästhetik durch den
optimistischen Gedanken der Leibnizschen Philosophie: In der Welt liegt der
höchste Grad der Vollkommenheit, den der Schöpfer in sie hineinlegen
konnte; erkennen wir diese Vollkommenheit begrifflich, so heißt sie Wahrheit,
erkennen wir sie durch die Sinne, so heißt sie Schönheit; Schönheit
ist also der Gegenstand der sinnlichen Erkenntnis.
Die Lehre von der sinnlichen Erkenntnis wird daher nach der Annahme des Wolfianers
durch die Beschaffenheit des Weltalls von selbst zur Schönheitslehre. Die
Erklärung der Schönheit als sinnlich erkannter Vollkommenheit macht
aber Baumgarten wie Aristoteles zum Formalisten; denn Vollkommenheit ist ihm
die Übereinstimmung der einzelnen Teile eines Gegenstandes zum Ganzen.
Von Aristoteles entlehnt er auch das Prinzip der Nachahmung in der Kunst, aus
dem er das Verbot des Heterokosmischen für den Künstler ableitet.
Baumgartens Formalismus ist die Ästhetik des Rationalismus. –
Um dieselbe Zeit griffen die Engländer in die Untersuchung über das
Schöne ein und begründeten, indem sie den Blick auf die subjektiven
Bedingungen der Schönheit richteten, die sensualistische Ästhetik.
Hutcheson (1694-1747) schied niedere und höhere Sinne von einander und
leitete die Empfindung des Schönen nur aus den letzteren, Gehör und
Gesicht, ab.
Home (1696-1782) führte diese Untersuchungen fort und wies nach, dass die
ästhetischen Empfindungen frei von der Beimischung des Verlangens seien.
Burke (1730-97) untersuchte die Ideen vom Schönen und Erhabenen und führte
jene auf den Geselligkeitstrieb, diese auf den Selbsterhaltungstrieb zurück.
Die Untersuchungen der englischen Ästhetiker wurden in Deutschland beachtet
und wirkten auf Lessing, Herder und besonders auf Kant in den Jahren 1760-1770
ein.
Kant (1724-1804), in seiner
»Kritik der Urteilskraft« (1790),
findet das Schöne, das er scharf von dem Guten und Angenehmen trennt und
das er auf die Verbindung der Urteilskraft mit dem Gefühlsvermögen
gründet, in der Zweckmäßigkeit der Form, welche ein allgemeines
und notwendiges, uninteressiertes Wohlgefallen in uns errege. Den Grund, warum
gewisse Dinge oder Verhältnisse dies tun, sieht er darin, dass bei der
Vergleichung der Anschauung mit dem Verstande sich eine Lust an der Harmonie
zwischen beiden herausstelle. Kants Standpunkt in der Ästhetik ist die
Verbindung des (ethischen) Idealismus mit dem Rationalismus. Das Prinzip des
Geschmacksurteils stammt aus reiner Vernunft (Rationalismus); aber nicht die
Welt an sich ist schön, sondern der Mensch trägt den aus seiner Urteilskraft
und seinem Lustgefühl entstandenen Begriff der Schönheit in die Welt
hinein (Idealismus). Kant ergänzt jedoch seinen rationalistischen und idealistischen
Grundgedanken, der der Schönheit zwar alle Bestimmtheit des Begriffs, nicht
aber alle Bedeutung raubt, durch die Idee, dass die schönen und erhabenen
Dinge wie Symbole des Sittlich-Guten wirken.
Schiller (1759-1805)
hatte 1789 in dem Gedichte »Die
Künstler«, dessen Idee die Verhüllung der Wahrheit und Sittlichkeit
in die Schönheit ist, sich der deutschen Ästhetik vor Kant
angeschlossen. Später betonte er im Anschluss an
Kant mehr die Form, »das Gefäß
des Inhaltes«; das Gleichgewicht der sinnlichen und vernünftigen
Tätigkeit hielt er für die Normalstimmung des Künstlers und die
Geburtsstätte des Schönen. Dieser Standpunkt erschien ihm freilich
als ein Ideal. Schönheit ist ihm die Freiheit in der Erscheinung, die Natur
in der Kunstmäßigkeit, die Versöhnung zwischen Verstand und
Sinnlichkeit. Vor allem nimmt Schiller aber die Idee Kants
auf, dass das Schöne als Symbol des Sittlich-Guten
wirke. Die Anmut tritt z. B. da in die Erscheinung, wo der Mensch die Vernunftpflichten
und Naturtriebe zur Einheit und Harmonie und diese Harmonie zum Ausdruck gebracht
hat. –
Schelling (1775-1854)
hingegen behauptete, indem er die Ästhetik der Philosophie des Absoluten
schuf, da Natur und Geist, Ideales und Reales gleich seien, das Schöne
sei dasjenige, dessen sinnliche Existenz durchweg dem Idealen entspreche, also
die Einheit des Realen und Idealen. (Vgl.
Schelling: Über das Verhältnis der bildenden Künste zur
Natur. 1807.)
Diesen Standpunkt führt geistvoll Solger in
seinem »Erwin, vier Gespräche über das
Schöne und die Kunst« 1815 durch.
Hegel 1770-1831 (»Ästhetik«,
herausgeg. von Hotho, 1835)
schuf eine rein (logisch-) idealistische Ästhetik, indem er das Schöne
als die Idee in der Form begrenzter Erscheinung, als das sinnliche Scheinen
der Idee bestimmte. Seine erste Existenz findet es in der Natur und, wie Vischer
(»Ästhetik« 1846-1857) hinzufügt, in der Geschichte. Dort
existiert es aber nur unbewusst, daher mangelhaft, bewusst erst im sinnlichen
Geiste, in der Phantasie. Sobald die Phantasie sich verwirklicht, entsteht die
Kunst. Das Kunstwerk existiert, losgelöst von seinem Urheber, unbefangen
und absichtslos, wie ein Werk der Natur; doch ebenso sehr entstammt es dem Geiste;
denn es ist eine Verkörperung der Idee. Die einzelnen Künste erscheinen
so als die stufenmäßige Herausarbeitung des Geistes aus der Materialität.
Sie treten nacheinander als die symbolischen, klassischen und romantischen Künste
auf. Die bildenden Künste sind stumm, massenhaft, noch durchweg material;
die Musik bewegt sich in der idealgesetzten Materialität des Tones, die
Poesie auf fast rein geistigem Gebiete; sie ist der Übergang des Geistes
zum reinen Denken. Die Sprache, deren sie sich bedient, ist kein sinnlicher
Stoff, sondern nur das Vehikel des Geistes.
Die Ästhetik umfasst also das ganze Reich des Schönen, die Kunst ist
nur eine Provinz davon.
Herbart (1776 bis 1841),
dessen Philosophie im Grunde auf der Wolfs beruht, erneuerte den Formalismus
der rationalistischen Ästhetik und dehnte Schillers
Satz: »Die Vertilgung des Stoffes durch die
Form ist das wahre Kunstgeheimnis des Meisters« auf die ganze praktische
Philosophie aus und bezeichnete demnach die Ethik als Teil der allgemeinen Ästhetik,
der Wissenschaft vom Gefallenden und Missfallenden überhaupt.
(Vgl. Herbart, Allg. prakt. Philos. 1805.
Lehrb. z. Einl. in d. Philos. 4. Aufl. 1837; und Rob.
Zimmermann, Allg. Ästhetik als Formwissenschaft 1865.)
Die Ästhetik handelt demnach bei ihm von den Formen, durch welche ein beliebiger
Vorstellungsinhalt, sei er nun Abbildung der Wirklichkeit oder bloß Erfindung,
Anspruch auf Gefallen oder Missfallen erlangt. Beim Schönen handelt es
sich also um ein Bild, und die Ästhetik darf weder mit der Kunstgeschichte
noch mit der Metaphysik verwechselt werden.
Der Grund für das ästhetische Gefallen liegt nicht in den unverbundenen
Teilen (der Materie) einer Vorstellung, sondern nur in deren Verbindung zu einem
Ganzen (ihrer Form).
Diese gefallen entweder wegen ihrer Stärke (Quantität), oder wegen
ihres Inhalts (Qualität), d. h. es gefällt das Große und das
Harmonische. Die Zusammenfassung beider in ein der Form des Charakteristischen
entsprechendes Nachbild, eines die Formen der Vollkommenheit (Größe,
Fülle, Ordnung), des Einklangs, der Korrektheit und des abschließenden
Ausgleichs an sich tragenden Vorbildes erzeugt das Schöne. Die Durchführung
jeder einzelnen Elementarform innerhalb eines Gesamtbildes führt zu den
abgeleiteten Formen des ästhetischen Reinheits-, Freiheits-, Wahrheits-
und Vollkommenheitssystems.
Eigene Wege in der Ästhetik gehen Jean Paul
(»Vorschule der Ästhetik« 1804),
A. Schopenhauer (»Die Welt als Wille und Vorstellung«, 3. Buch,
3. Aufl. 1859), J. H. v. Kirchmann (»Ästh. auf realist. Grundlage«
1868) und E. v. Hartmann (»Philosophie des Schönen« 1888).
Der Ästhetik hat, wie ihre Geschichte zeigt, bisher die richtige Methode
gefehlt. Sie ist zu sehr den Bahnen der Metaphysik gefolgt. Die richtige Methode
der Ästhetik kann nur die empiristische sein. Von der Beobachtung des Naturschönen
und der auf die Kunstgeschichte gegründeten Kritik hat alle ästhetische
Forschung auszugehn. Denn jedes Naturprodukt trägt seine eigene Schönheit
in sich, und jedes Kunstwerk ist national, historisch und individuell bestimmt.
Daneben freilich hat die Ästhetik das Wesen der Natur und des Menschen
nach ihrer Allgemeinheit und Gesetzmäßigkeit zu untersuchen. An die
biologischen und psychologischen Voraussetzungen haben sich Untersuchungen über
das Wesen des künstlerischen Schaffens zu schließen, um endlich die
Künste im Einzelnen betrachten zu können.
Die Ästhetik muss also nicht von der Metaphysik, sondern von der Erfahrung
ausgehen; nicht der Begriff des Schönen, sondern das Wesen der einzelnen
Schönheit ist ihre Basis.
Ein absolutes Schöne gibt es höchstens als Ideal; in der Wirklichkeit
existiert stets nur das Schöne eines bestimmten Gegenstandes.
Die Gliederung der Ästhetik erfolgt, indem mit den Untersuchungen über
die subjektiven und objektiven Bedingungen der Gefühle des Schönen
und der ihm verwandten Gefühle begonnen, dann das Schöne der Natur
und zuletzt das ganze Gebiet der Künste durchmessen wird.
Vgl. C. Köstlin,
Ästhetik 1863-1869, C. Lemcke, Populäre Ästhetik, 4. Aufl. 1873,
und R. Prölss, Katechismus der Ästhetik 1878. J. Cohn, psychologische
oder kritische Begründung der Ästhetik. Arch. f. system. Philos. 1904.
H. Cohen, Kants Begründung der Ästhetik 1889.
ästhetisch
S. 21
heißt im weiteren Sinne jeder Begriff, der in den Kreis der Ästhetik
fällt, also auch außer dem Begriff des Schönen der Begriff des
Anmutigen, des Reizenden, des Hübschen, des Niedlichen, des Komischen,
des Hässlichen, des Furchtbaren, des Tragischen, des Erhabenen usw.; im
engeren Sinne dagegen ist ästhetisch nur der Begriff des Schönen,
Geschmackvollen.
Kant (1724-1804) nennt in der Kritik der reinen Vernunft eine Vorstellung ästhetisch,
wenn ihr die Form der Sinnlichkeit anhängt und diese daher auf das Objekt,
d. h. als Phänomen (s. d.), übertragen wird; in der Kritik der Urteilskraft
heißt ihm dagegen dasjenige ästhetisch, dessen Bestimmungsgrund nicht
anders als subjektiv sein kann.
Astralleib
S. 68f.
ist nach Paracelsus (1493-1541)
ein unsichtbarer und ungreifbarer Leib, der als
tätige Kraft und Lebensgeist im irdischen Leibe waltet.
Der moderne Okkultismus,
d. h. das Studium der geheimnisvollen Vorgänge des Seelenlebens (Hypnose,
Somnambulismus etc.), die durch die uns bekannten Naturkräfte nicht
genügend erklärt werden, hält an der Annahme
der Existenz eines Astralleibes oder Metaorganismus im einzelnen Individuum
fest.
Äternität
(lat. aeternitas) S.
21
heißt Ewigkeit.
Atheismus
(franz. athéisme v.
gr. atheos = gottlos) S.
70f. Siehe auch
bei Eisler
Gottlosigkeit, bezeichnete bei
den Alten die Verachtung der vom Staat anerkannten Götter, so dass Anaxagoras,
Sokrates, Aristoteles
u. a., ja später auch die Christen des
Atheismus beschuldigt wurden.
Allgemeiner versteht man unter Atheismus die Leugnung
des Daseins Gottes, und es gibt einen theoretischen und praktischen
Atheismus. Jener leugnet Gottes Dasein aus Prinzip, dieser aus Gleichgültigkeit.
Die Wissenschaft
hat es nur mit jenem zu tun, der die einseitige Anerkennung der greif- und sichtbaren
Realität
ist.
Der Atheismus erwächst in
der neueren Philosophie
aus dem Pantheismus,
wenn er Gott ganz im All aufgehen
lässt (Ed. v. Hartmann),
aus dem Sensualismus
(Hume, Condillac, Bonnet),
der als einzige Erkenntnisquelle die Sinnestätigkeit
ansieht und in jedem psychischen Vorgang nichts als eine umgebildete
Sinnesempfindung sucht,
aus dem Skeptizismus
(Hume), der jeden Glauben
negiert,
aus dem Positivismus
(Comte), der alles metaphysische
Wissen ablehnt,
aus dem Naturalismus,
der nur bei den Zeugnissen der Sinne und der äußeren
Erfahrung stehen bleibt und außer der Kausalität
und Natur nichts
anerkennt,
aus dem Materialismus
(Mechanismus
und Dynamismus),
der dem Körper die Existenz zuspricht und dem Allgemeinen, der Idee, dem
Geiste die Existenz abspricht (Franz. Philos. des 18.
Jahrh.), und
aus der materialistischen Ethik
(Hedonismus,
Eudämonismus,
Utilitarismus),
die das Streben der Menschheit nur durch ihre natürlichen Bedürfnisse,
Triebe und Anlagen bestimmt sein lässt.
Aber alle diese methodischen, erkenntnistheoretischen, metaphysischen und ethischen
Richtungen der neueren Philosophie erfassen die Welt und das Dasein nur unvollständig.
Die Welt der Sinneserfahrung ist nicht mehr als die halbe wirkliche Welt, und
die eigenen Methoden und Schlussfolgerungen der Erfahrungswissenschaften drängen
über das Sinnenbild der Natur hinaus. Die materielle Welt, für sich
genommen, ist nichts anderes als die beharrliche Möglichkeit der menschlichen
Empfindung, und die Zergliederung der Außenwelt führt überall
zu unlösbaren Schwierigkeiten, die uns die Grenzen äußerer Erfahrung
zum Bewusstsein bringen. Das Weltbild ist, solange wir bei den bloßen
Naturobjekten und Naturvorgängen stehen bleiben, stets lückenhaft
und unbefriedigend und fordert zu Ergänzung aus anderer Quelle heraus,
ohne die unser metaphysischer Trieb nicht zur Ruhe kommt.
Es gilt hier das Wort Bacons: Leves
gustus in philosophia movere fortasse ad atheismum, sed pleniores haustus ad
religionem reducere, das Reinhold Hoppe (Die
Elementarfragen der Philosophie S. 83) so wendet: »Die
Gottesleugnung beruht auf der Verschweigung von Tatsachen. Die Erfahrung der
Existenz Gottes wächst mit jeder neuen Erkenntnis«. -
Von den neueren Systemen sind entschieden atheistisch das Schopenhauers,
E. v. Hartmanns und Fr.
Nietzsches. Hier ist der treibende Gedanke der Pessimismus
gewesen, der der Welt die Vollkommenheit abspricht und ihren Untergang fordert.
Sie beruhen auf falschen Ansprüchen des Individuums und auf falscher Bilanz
der Freuden und Leiden des Daseins, und auch ihnen gegenüber gilt der Satz:
Der Gottesbegriff ist der Schlussstein der ganzen Philosophie,
und Atheismus ist nur ein Resultat kurzsichtiger Einseitigkeit.
Mit dem Atheismus hängen zusammen die Versuche,
einen religiösen Kultus »ohne
Gott« herzustellen, wie sie die Epikureer,
Holbach, die französ.
Revolution (Être Supreme),
David Strauß, Auguste
Comte u. a. gemacht haben. Vgl.
Hume, Dial. concern. Natural Religion. 1779. Schleiermacher, Reden üb.
d. Relig. 1799. Ulrici, Gott u. d. Natur. 1875. F. A. Lange, Gesch. d. Materialismus
4. Aufl. 1881. A. J. Balfour, Die Grundlagen des Glaubens, deutsche Übersetzung
von R. König. 1896. Reinhold Hoppe, Die Elementarfragen d. Philosophie.
1897.
Äther
(gr.),
S. 21f. Siehe
auch bei Eisler
bei Hesiodos der Sohn des Erebos
(Dunkel) und der Nyx (Nacht),
heißt zunächst bei den Griechen ein mythisches Wesen, eins der Grundwesen,
aus denen die Welt
entstanden sein soll; die orphischen Hymnen feiern ihn als Weltseele.
Später erscheint er in der Philosophie bei den Hylozoisten
als das Wärmeprinzip neben den vier Elementen, Wasser, Feuer, Luft und
Erde, und noch später, namentlich auch bei Aristoteles
(384-322), als die
höchste fünfte Substanz (daher: Quintessenz!),
der alles Sein und
Denken entstammt.
–
Die moderne Physik
nimmt an, dass ein überaus feiner und elastischer
Stoff durch den Weltraum und in den Zwischenräumen der kleinsten
Teile des Körpers verbreitet sei, aus dessen Schwingungen sie die Erscheinungen
des Lichts, der Elektrizität und dergl. erklärt.
Daher sind manche neuere Philosophen, z. B. Philipp
Spiller auf die Idee gekommen, den Äther
wieder als Gott zu
setzen. –
Naturwissenschaftlich wird der Äther noch
sehr verschieden gedeutet, und wir sind in der Hauptsache noch in Unkenntnis
über seine Beschaffenheit.
Nach Fresnel (1788-1804)
ist der Äther ein sehr
elastisches Mittel von unkonstanter Dichtigkeit, während andere
ihm konstante Dicke und veränderliche Elastizität
beilegen.
Nach Lord Kelvin (geb. 1824)
ist er ein festes
elastisches Mittel, dessen Starrheit 1/10000000
des Stahls und dessen Dichte 1 hoch -17 des
Wassers beträgt.
Stockes (geb. 1819) gibt
ihm die Konsistenz einer dünnen Gallerte, da
er sich den Lichtschwingungen gegenüber als fester Körper verhält,
bei dem allein transversale Schwingungen vorkommen. Im Allgemeinen versteht
man also heute unter Äther
nichts als ein Ding,
das Wärme, Elektrizität und Licht verbindet, ohne
zu wissen, welcher Art diese Verbindung ist. Vgl.
Spiller, Gott im Lichte derNaturwissenschaften, Leipzig 1883.
Ätherleib
S. 22 Siehe auch
bei Eisler
nennt J. H. Fichte (1796-1879)
mit anderen Spiritualisten den von der Seele unmittelbar gewirkten Leib;
er versteht darunter nicht den äußerlichen,
sichtbaren, tierischen, sondern einen inneren,
unsichtbaren Geistleib. (Vgl. Fichtes
»Anthropologie« S. 273 f.) Danach besteht also der
Mensch aus Geist, Ätherleib und Außenleib.
Ähnlich lehrte schon der Neuplatoniker
Porphyrios (233-304).
Atom
(gr. hê
atomos = der unteilbare Stoffteil)
S. 71ff.
das Unteilbare, heißt ursprünglich
der kleinste Teil
der Materie,
welcher als das eigentlich Reale der Welt angesehen wurde.
Leukippos und Demokritos
(im 5. Jahrh. v. Chr.), die Begründer der
atomistischen Lehre, definierten
die Atome als kleinste, starre, unteilbare und undurchdringliche
Körperchen (corpuscula), welche,
ungeworden und unzerstörbar, sich in unendlicher Anzahl im leeren Raume
befinden und sich nicht qualitativ, sondern nur quantitativ durch Gestalt, Lage
und Anordnung voneinander unterscheiden. Zwischen den Atomen ist der leere Raum.
Dieser ist die Voraussetzung für die Mehrheit der Atome und für ihre
Bewegung, folglich für alle Veränderung.
Den Atomen wohnt eine Bewegung seit Ewigkeit inne,
die gleichmäßig schnell von oben nach unten geht. Die gewöhnlichen
Dinge sind nur Anhäufungen von Atomen.
Epikuros (341-270) hingegen,
der die Lehre Demokrits erneuerte, wollte ihnen
eine kleine Abweichung von der senkrechten Bewegung beilegen, um so die Verschiedenheit
der Dinge und die Willensfreiheit zu erklären. Auch die Seele besteht bei
ihm aus materiellen Teilchen, wenn auch aus sehr feinen, glatten, runden und
daher beweglichen. Unsere Wahrnehmungen beruhen auf unendlich feinen stofflichen
Abbildern der Dinge, die sich von ihnen ablösen und
durch die Sinne in die Seele eindringen.
Die Lehre Epikurs hat von den Römern nachdrücklich
T. Lucretius Carus (98-55)
in seinem Gedichte, De rerum natura, vertreten.
–
Diese physische Atomistik ward
in der Neuzeit von Gassendi
(1592-1655), Hobbes
(1588 bis 1679), Diderot (1713-1784),
Holbach (1723-1789)
und jüngst von Vogt, Büchner
und Moleschott verteidigt. –
Die moderne Physik und Chemie bedient sich ganz allgemein des Hilfsbegriffs
der Atome. Da aber die Teilung eines Körpers in kleinere Teile geometrisch
ins Unendliche fortgesetzt werden kann, können die Atome nicht als wirkliche
Grundbestandteile der realen Welt angesehen werden, sondern nur als Hilfsbegriffe
der Forschung, als Denkmittel.
Daher haben auch andere Philosophen die Atome verworfen und statt ihrer entweder
geistige Einheiten oder kleinste
Substanzteilchen oder Kraftzentren
angenommen. So Giordano Bruno (1548
bis 1600), Leibniz (1646-1716),
Herbart (1776-1841)
und Lotze (1817-1881).
–
Nach neuerer naturwissenschaftlicher Anschauung sind die Atome Ansammlungen
zahlreicher positiv und negativ geladener Teilchen, die Korpuskeln oder Monaden
genannt werden, von der Größe 0,2 mm [1 mm
d. h. Millimikron = 1/1000000 Millimeter]. Vielleicht besteht (nach
Thomson) die Verschiedenheit der Atome nur in der verschiedenen
Anzahl der Korpuskeln, wodurch sich das verschiedene Gewicht der Atome
erklären würde. Zusammengehalten werden die Atome kraft der elektrischen
Attraktion der Korpuskeln.
Letztere befinden sich in Wirbelbewegung, wodurch die zentrifugale
Kraft entsteht, welche das Zusammenstoßen dieser elektrischen
Monaden verhindert.
Wahrscheinlich besteht die Elektrizität nur in der Wirbelbewegung
der Korpuskeln. Vgl. Fechner, die physikal.
und philos. Atomenlehre. 2. Aufl. Leipzig 1864.
Vergleiche Dynamismus,
Monadologie
Attribut
(lat. von attribuo
= beilegen) S.
73f.
heißt eigentlich das Beigelegte, dann das Merkmal,
die Eigenschaft, das Kennzeichen eines Dinges.
Descartes (1596-1650)
versteht unter Attributen die
wesentlichen nicht wechselnden Merkmale der Substanz.
Bei Spinoza (1632-1677)
hat das Attribut den besonderen Sinn, dass darunter
die denknotwendigen Prädikate
der Substanz verstanden sind, welche der Verstand an der Substanz als
deren Wesen ausmachend erfasst. Die Substanz hat unendlich viele Attribute,
aber unser Verstand kann nur zwei davon fassen, nämlich Denken
und Ausdehnung;
denn alles, was er begreift, ist entweder etwas Denkendes
oder Ausgedehntes. Vergleiche
Modus.
Diese Begriffsbestimmung Spinozas ist unklar und nicht widerspruchsfrei. Sie
lässt zweifelhaft, ob die Attribute der Substanz nur vom Verstande der
Substanz beigelegt werden und nur im Betrachter existierende Erkenntnisformen
sind, oder ob sie als reale Eigenschaften der Substanz betrachtet werden müssen,
aus denen diese besteht.
Die letztere von K. Fischer vertretene Ansicht
kommt der Auffassung Spinozas jedenfalls näher
als die erstere, welche Erdmann verteidigt hat.
–
In den bildenden Künsten sind Attribute dem Hauptgegenstande der Darstellung
beigegebene Zeichen bestimmter Eigenschaften oder Zustände, also Symbole,
wie etwa der Blitz des Zeus, die Schlüssel des Petrus, das Schwert des
Paulus.
Auffassung
S. 74
heißt die Aneignung einer Vorstellung oder eines Gedankens durch das individuelle
Bewusstsein; Auffassungsvermögen heißt
die Anlage dazu.
Zur Auffassung, welche noch keine Beurteilung der Sache einschließt, gehört
nicht bloß die Rezeptivität (Empfänglichkeit), sondern auch
die Reproduktion und geistige Durcharbeitung. Von der Auffassung der Dinge,
die etwas Individuelles an sich hat, hängt unser Urteil und auch unsere
Handlungsweise ab.
Aufklärung
S.74
ist das Streben des 18. Jahrhunderts,
Klarheit des Urteils durch vorurteilfreies Denken
zu verbreiten. Dies geschah durch philosophische Betrachtung, populäre,
d. h. leichtverständliche Darstellung der Wissenschaft
und durch Bekämpfung der Vorurteile
und des Aberglaubens.
Nachdem schon Bacon (1561-1626),
Spinoza (1632-1677)
und Locke (1632-1704)
diese Geistesrichtung im 17. Jahrhundert vorbereitet
hatten, wetteiferten im 18. Jahrhundert deutsche,
englische und französische Denker, die Philosophie
des gesunden Menschenverstandes zu verbreiten. Zu ihnen gehören
die »Freethinkers« in
England, die
Enzyklopädisten in Frankreich und die Rationalisten
in Deutschland, denen Männer wie Friedrich
der Große, Lessing, Mendelssohn,
Nicolai beizugesellen sind.
Da aber einzelne Denker, wie z. B. Bahrdt, Nicolai,
Lamettrie und Holbach,
ins Extrem gingen, alles Religiöse als Pfaffentrug, alles Übersinnliche
als Aberglaube bekämpften, so kam die Aufklärung
bei den Jüngeren im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts
in Misskredit, und Hamann, Herder,
Goethe, auch Kant und die
Romantiker traten gegen den Rationalismus
auf. Namentlich haben die älteren Romantiker
der Richtung der Aufklärung ein Ende bereitet.
Vgl. Kant: Was ist Aufklärung? Lecky, Gesch.
d. Aufklärung in Europa; a. d. Engl. Leipzig 1873.
Aufmerksamkeit
S. 74f.
ist die mehr oder weniger absichtliche und anhaltende
Hinlenkung des Bewusstseins
auf eine zu erwartende Vorstellung,
Vorstellungsmasse oder Sinnesempfindung, durch welche diese leicht, klar und
deutlich aufgefasst wird. Voraussetzung für sie ist das Interesse,
welches uns entweder unwillkürlich anzieht oder unseren Willen
zu energischer Betätigung anspornt.
Die beim Zustandekommen der Aufmerksamkeit zusammenwirkenden
Vorgänge sind folgende: Eine äußere oder innere Reizung erzeugt
eine Empfindung,
Anschauung, Vorstellung, Erinnerung oder ein Phantasiebild. Dieses übt
einen verstärkenden Einfluss sowohl auf die Empfindungstätigkeit als
auch auf die Bewegungsmuskeln, in denen Spannungen hervortreten, aus. Die so
erhöhte Bewusstseinsstärke ermöglicht
die leichtere, schnellere, klarere und bestimmtere Erfassung neuer Reizungen
und ihre bessere Verarbeitung. Man kann hierbei von einem sukzessiven Einrücken
der Vorstellung in das Blickfeld und in den Blickpunkt des Bewusstseins reden.
In der Aufmerksamkeit verbindet sich also wie in
jedem Akt der Apperzeption
immer Bewusstseins- und Willenstätigkeit. Je nachdem die hierbei erzeugte
innere Willenstätigkeit geringer oder größer ist, kann man von
unwillkürlicher und willkürlicher oder besser von passiver und aktiver
Aufmerksamkeit reden.
(Siehe Wundt, Grundz. d. phys. Psych. II, S. 253 ff.
Grundriß der Psych. § 15.)
Anhaltende Aufmerksamkeit ermüdet bald den
Geist, einseitige schädigt ihn. –
Die Aufmerksamkeit auf sich selber ist Selbstbeobachtung;
Aufmerksamkeit im sittlichen Sinne heißt
Rücksichtnahme auf andere.
Vgl. Jean Paul, Levana § 133. Th. Ribot, Psychologie
de l'attention. 1889.
Aufopferung
S. 75
ist die Verzichtleistung auf unseren eigenen Vorteil; sie ist die
höchste Leistung der Liebe und bildet das Gegenteil zu der Handlungsweise der uns angeborenen
Selbstsucht.
Je selbstloser die Aufopferung geschieht, desto
wertvoller ist sie. Bisweilen steigert sie sich zur Aufopferung
des Lebens (Alkestis, Decius Mus, Winkelried und
die Märtyrer).
Vgl. Altruismus.
Ausdehnung
S. 76f.
ist die allen Körpern zukommende mathematische Eigenschaft, einen gewissen
Raum einzunehmen.
In der Ausdehnung, nicht in der Raumerfüllung, sah Cartesius (1596-1650) das Wesen der einen Substanz, der Materie, während er das Wesen der zweiten
Substanz, des Geistes, in das Denken setzte.
Auch Spinoza (1632-1677) bezeichnete als Wesen der Materie die Ausdehnung, setzte
aber Ausdehnung und Denken zu Attributen einer einzigen Substanz herab.
Leibniz (1646-1716) setzte das Wesen der Substanz in die vorstellende Kraft
und sah in der Ausdehnung nur eine verworrene menschliche Vorstellung des Wirklichen.
Nach Kant (1724-1804) ist die Ausdehnung Anschauung a priori und besitzt transzendentale
Idealität, aber empirische Realität. -
Die neuere Physik versteht im Gegensatz zur Mathematik unter Ausdehnung die
Raumerfüllung, die entweder mechanisch oder dynamisch gedacht werden kann. –
Ausdehnbarkeit bedeutet die Fähigkeit der Körper, ohne Änderung
ihrer Masse einen größeren Raum einzunehmen.
Siehe auch bei Eisler
Außenwelt
S. 78f.
heißt die Gesamtheit aller Dinge unserer sinnlichen
Wahrnehmung, die sich uns in Raum und Zeit darstellen und die zu unserem Innern
einen Gegensatz bilden. Auf der Unterscheidung der Innenwelt von der Außenwelt beruht das Selbstbewusstsein und die Idee der Persönlichkeit. Der naive
Realismus schreibt der Außenwelt die Existenz im vollen Umfange zu. Anders
die Philosophie.
Schon die Eleaten (c. 550-400) leugneten die Existenz der Vielheit, der Bewegung,
des Werdens und der Veränderung.
Die Atomisten Leukippos und Demokritos (im 5. Jahrh. v. Chr.) bestritten die
Existenz des Qualitativen in der Außenwelt.
Platon (427 bis 347) sah in der Materie ein Nichtreales.
Locke (1632-1704) schied die sekundären Eigenschaften (Licht, Farbe, Ton
usw.) von den primären (Größe, Gestalt, Zahl, Lage, Bewegung,
Ruhe) und erkannte nur die letzteren als wirkliche Eigenschaften der äußeren
Dinge an.
Berkeley (1685-1753) bekämpfte die Lehre von einer an sich existierenden
Körperwelt und setzte das Sein derselben als gleichbedeutend mit dem Vorgestelltwerden
(esse = percipi).
Für Leibniz (1646 bis 1676) sind die wahrhaft existierenden Wesen die Monaden,
punktuelle Seelenwesen mit der Kraft der Vorstellung. Die Außenwelt und
alles Körperliche besteht aus Monaden und wird nur in verworrener Vorstellung
als räumlich gefasst.
Nach Kant (1724-1804) ist die Außenwelt nicht
Ding an sich,
sondern Erscheinung.
Es kommt ihr Realität,
aber nur empirische
Realität zu. Das Ansich der Dinge ist nur
ein unbestimmbares X.
g
Nach Fichte (1762-1814) ist die Außenwelt, das Nicht-Ich,
nur eine Setzung des Ichs,
das Material unseres Pflichtbegriffes.
Nach Hegel (1770-1831) ist die Welt die
sich logisch entwickelnde Vernunft.
Der Natur kommt
nur die Stellung zu, dass sie die absolute Vernunft in ihrer Selbstentäußerung,
die Idee in der Form des Anderssein ist. So hat also die Philosophie besonders
in ihren idealistischen Systemen die naive Vorstellung von der Außenwelt vielfach beschränkt und umgestaltet. –
Aber auch die moderne Physik,
die im wesentlichen die Idee der Atomisten aufgenommen hat, führt alles Qualitative in der Außenwelt auf Quantitatives zurück und steht etwa auf dem Standpunkt, den Locke
philosophisch fixiert hat. Die Existenz einer objektiven Welt wird aber,
ohne dass dadurch ihr Wesen bekannt wird, bewiesen durch das Unfreiwillige und
Ungewollte unserer Sinneswahrnehmungen.
Äußeres
und Inneres S. 22f.
sind Korrelate, d. h. Verhältnisbestimmungen,
die sich aufeinander beziehen.
Das Äußere für
uns ist zunächst unser Leib,
dann alles, was wir mit den Sinnen wahrnehmen können, die Außenwelt.
Das Innere dagegen ist das unmittelbar im Bewusstsein Erlebte
Axiom
(gr. axiôma), S.
82
eigentlich Forderung, Grundsatz, heißt im
weiteren Sinne ein unmittelbar einleuchtender Satz,
der eines Beweises weder bedürftig noch fähig ist, der aber als Grundlage des Beweises für
andere Sätze dient.
So bestimmt den Begriff des Axioms Aristoteles
(384-320) Analyt. post.
I, 2 p 72a14 ff. : amesou d' archês syllogistikês
- legô, hên mêesti deixai' - hên d' anankê echein
ton hotioun mathêsomenon, axiôma.
Solche Axiome oder Prinzipien sind die Basis jeder Wissenschaft. Logische Axiome z. B. sind der Satz
der Identität, des Widerspruchs, und des
ausgeschlossenen Dritten; sie sind für jeden
Menschen, der überhaupt zu denken vermag, unbedingt gültig. –
Im engeren Sinne sind dagegen die Axiome im Gegensatz
zu Prinzipien Sätze, die auf unmittelbarer
Anschauung beruhen, während Prinzipien Denknotwendigkeit
in sich einschließen. Die Mathematik und Physik beruhen auf solchen Axiomen.
Nach Kant, der, wie es besser ist, den Begriff
in dieser Beschränkung nimmt, sind die Axiome
synthetische Sätze a
priori von unmittelbarer, d. h. anschaulicher Gewissheit.
Sie fassen sich in dem Satze zusammen: »Alle
Erscheinungen sind ihrer Anschauung nach extensive Größen«;
auf sie gründen sich die Sätze der Geometrie (Kr.
d. r. V. S. 162 f.).
Bedingung
(conditio)
S.84f.
heißt dasjenige, wovon ein anderes
(das Bedingte) abhängig
ist. Die Abhängigkeit kann entweder innerhalb des Gedachten oder innerhalb
des Wirklichen bestehen. In ersterem Falle redet man von einer logischen, in
letzterem von einer realen Bedingung. Für beide Fälle gilt das Gesetz: Ist die Bedingung gesetzt, so ist auch das Bedingte gesetzt, und ist die Bedingung
aufgehoben, so fällt auch das Bedingte fort. (Posita conditione ponitur
conditionatum, et sublata conditione tollitur conditionatum.) Aus dem Begriff
der Bedingung erwachsen die hypothetischen Urteile und Schlüsse. Die logische
Bedingung heißt der Grund (ratio), das Bedingte die Folge (consequens);
die reale Bedingung heißt Ursache (causa), das Bedingte heißt Wirkung (effectus).
Eine logische Bedingung ist eine solche, vermöge welcher ein Gedanke wahr
oder unwahr ist; eine reale Bedingung dagegen ist die notwendige Voraussetzung
(conditio sine qua non), dass ein anderes ist. Da alles nur insofern bedingend ist, als es etwas bedingt, und ein Bedingtes nur da vorhanden ist, wo ein Bedingendes da ist, so sind Bedingtes (conditionatum) und Bedingung (conditio) Wechselbegriffe (correlata), d. h. der eine Begriff fordert den andern. Aber es lässt sich
der Satz, dass mit Aufhebung der Bedingung auch das Bedingte aufgehoben werde,
nur in dem Falle umkehren, wenn ein Ding oder Gedanke nicht mehrfach, sondern
nur durch eins bedingt ist, nicht, wenn ein Bedingtes von mehreren Bedingungen abhängt. Wo mehrere Bedingungen da sind, kann man Haupt- und Nebenbedingungen,
sowie positive und negative unterscheiden.
Vgl. Grund, Folge, Ursache, Kausalität.
Begierde
(cupido)
S. 87f.
ist im Unterschied von
dem bezüglich des erstrebten Objekts
unbewussten Triebe
das bewusste Streben
nach Erreichung eines als angenehm vorgestellten Objektes. Niemand
begehrt etwas, wovon er keine Vorstellung
hat. (Ignoti nulla cupido.)
Die Begierden, die aktive Willenszustände
sind, zerfallen in sinnliche (materielle)
und geistige (intellektuelle),
die letzteren wieder in unmittelbare und mittelbare. Das Gegenteil der Begierde
heißt Abscheu oder Widerstreben. Jede Begierde hat Inhalt, Stärke
und Rhythmus. Ihr Inhalt ist die Vorstellung des Begehrten, die Lust,
welche man durch Gewinnung des Objekts
zu erlangen wähnt. Ihre Stärke hängt von dem Triebe, aus dem
sie hervorwächst, der Wertschätzung des Begehrten und den Hindernissen,
welche man zu überwinden hat, ab. Ihr Rhythmus ist das Steigen
und Sinken der Begierde, indem sie teilweise durch Befriedigung
gestillt, teilweise von neuem aufgestachelt wird. Inhalt, Stärke und rhythmische
Bewegung der Begierden sind bei den verschiedenen Personen sehr verschieden
und ändern sich auch mit dem Alter, der Lebensweise, dem Gedankenkreise
jeder einzelnen Person.
Der Zusammenhang von leiblichen und seelischen Vorgängen tritt bei der
Begierde deutlich hervor; denn sie nimmt, wie jeder an sich beobachten kann,
bald im Geiste, bald in der Sinnlichkeit ihren Ursprung, äußert sich
aber alsbald auch auf der anderen Seite. So erzeugt die Vorstellung leckerer
Speisen eine erhöhte Absonderung der Speicheldrüsen, und der sinnliche
Trieb nach Nahrung (Hunger) erweckt in uns
alsbald Vorstellungen von Speisen.
Nach Descartes (1596-1650
Passiones animae II, 86) ist die Begierde eine
durch die Lebensgeister bewirkte Erregung der Seele,
durch die sie bestimmt wird, für die Zukunft Dinge zu wollen, die sie sich
als angenehm vorstellt;
nach Spinoza (1632-1677
Ethica III, 9) ist die Begierde
der bewusste Trieb (appetitus cum eiusdem conscientia),
der Trieb aber das eigene Wesen des Menschen, insofern es sich in dem Zustande
befindet, das zu tun, was seiner Erhaltung dient (ipsa
hominis essentia, quatenus ex data quacumque eius affectione determinata est
ad ea agendum, quae ipsius conservationi inserviant).
Nach Kant (1724-1804 Anthropologie
§ 70) ist die Begierde (appetitio)
die Selbstbestimmung der Kraft eines Subjekts durch die Vorstellung von etwas
Künftigem, als einer Wirkung derselben. Die habituelle sinnliche Begierde
heißt Neigung, das Begehren ohne Kraftaufwendung des Objekts ist der Wunsch.
Nach Herbart (1776-1841),
der das Wesen aller Seelenvorgänge im Vorstellen sieht, entstehen Begierden,
wenn die Vorstellung irgend eines Gegenstandes im Bewusstsein zu steigen sucht,
aber Hemmnissen begegnet. Das Bewusstwerden des Anstrebens einer Vorstellung
oder einer Vorstellungsmasse gegen ihr widerstrebende Hemmnisse ist die Begierde.
Nach Wundt (Phys. Psych. I,
S. 535) ist die Begierde die aktive Reaktionsweise der
Apperzeption gegenüber äußeren Eindrücken.
Begriff
(lat. conceptus,
notio, gr. logos, ennoia)
S. 89ff.
heißt dasjenige psychische
Gebilde, durch welches ein Mannigfaltiges
zur einheitlichen
Gedankenbeziehung verknüpft wird.
In einem Begriff sind verschiedene
Einzelvorstellungen
nicht bloß zusammengefügt,
wie in der Anschauung,
sondern sie sind durch die Denkbeziehungen in Verbindung
gesetzt, welche die Form
ihrer Zusammengehörigkeit zum Ausdruck bringen.
Daher führt nur Denken
und Urteilen, nicht
aber bloße Anschauung und Erfahrung,
zur Bildung von Begriffen.
Der Begriff ist somit nicht
bloß die abgeschlossene Gesamtvorstellung,
sondern er entsteht erst aus den Vorstellungen durch
deren Vergleichung und die Heraushebung
des Gemeinsamen. Der
Begriff ist also das Produkt
einer Analyse
der Einzeldinge und
Synthese ihrer
gemeinsamen Merkmale
(notae) durch Abstraktion.
Er bestimmt daher
ein Allgemeines
und nicht ein Einzelnes.
Der Begriff Dreieck,
Mensch, Pferd usw. ist z. B. nicht die Vorstellung
eines einzelnen Dreiecks, eines Menschen, eines Pferdes
usw. überhaupt, sondern die Gesamtvorstellung
vieler Dreiecke, Menschen, Pferde
usw. Diese lässt sich freilich in jedem einzelnen Falle, wo man sie veranschaulichen
will, nur dadurch zur Anschauung bringen, dass man sich ein spezielles Dreieck
usw. vorstellt. Darum ist, was die Logik
einen Begriff nennt, mehr eine
Denkforderung als eine Denkleistung. Wir denken den
Begriff auf einmal nur durch die Forderung der Zusammenfassung
aller der einzelnen Dinge, auf die wir ihn anwenden wollen, während wir
ihn in seinen Anwendungen nur in einer Reihe
sukzessiver Vorstellungen und Denkakte erfassen können.
Ein Begriff heißt klar,
wenn das Bewusstsein
ihn von allen anderen bestimmt unterscheidet,
im entgegengesetzten Falle dunkel;
er heißt deutlich,
wenn auch die einzelnen Merkmale klar
vorgestellt werden, im entgegengesetzten Falle verworren.
Von Cartesius (1596-1650)
bis auf Kant (1724-1804)
galt Klarheit und Deutlichkeit
als Kriterium
der Wahrheit;
in der Tat wird dadurch mindestens formale
Richtigkeit erreicht
und die Zuverlässigkeit der Erkenntnis
angebahnt. –
Man unterscheidet an jedem Begriff Inhalt
(complexus) und Umfang
(ambitus). Jener ist die Summe
aller seiner Merkmale, dieser die Menge der unter ihm befassten Dinge.
Je reicher der Inhalt ist, d. h. je größer die Zahl der Merkmale
eines Begriffes sind, desto enger ist sein Umfang,
d. h. desto kleiner die Zahl der Dinge, die er umfasst; jede Hinzufügung
eines Merkmals beschränkt
das Geltungsgebiet eines Begriffes. Während z. B. das Parallelogramm
nur die Quadrate, Rechtecke, Rhomben und Rhomboiden
umfasst, ist der Umfang des Begriffes »Viereck«
größer, weil sein Inhalt kleiner ist, d. h. weil ihm das Merkmal
des Parallelismus der Seitenpaare fehlt.
Der Begriff, in dessen Umfang andere fallen, heißt
in Bezug auf diese der höhere oder übergeordnete;
diese selbst heißen untergeordnet im Verhältnis
zu dem übergeordneten, nebengeordnet im Verhältnis zueinander; die
niederen haben bei engerem Umfang reicheren Inhalt.
Nach den verschiedenen Stufen der Über- und Unterordnung der Begriffe scheidet
man Reich, Kreis, Klasse, Ordnung, Familie, Gattung, Art,
Abart, Spielart. –
Dem Inhalte nach sind die Begriffe entweder verwandt oder disparat,
je nachdem sie Merkmale gemeinsam haben oder nicht.
So sind Eiche und Buche verwandte
Begriffe, Ton und Farbe dagegen
disparate. In Bezug auf den Umfang heißen
Begriffe, welche derselben Gattung angehören, homogén
(aber spezifisch verschieden); die,
welche kein Merkmal gemeinsam
haben, heterogén (toto
genere diversae). Begriffe, deren Umfang ganz derselbe ist, heißen
Wechselbegriffe (aequipollentes,
reciprocae), z. B. gleichseitiges und gleichwinkliges
Dreieck.
Begriffe kreuzen sich, wenn ihre Umfänge zum Teil ineinander fallen, wie
Neger und Sklave; doch findet eine Kreuzung
nur statt, wenn die Begriffe überhaupt vereinbar sind.
Unvereinbar dagegen nennt man die Begriffe,
welche demselben Gegenstand nicht in derselben
Beziehung zugleich
beigelegt werden können; und zwar unterscheidet
man konträre
Begriffe, d. h. solche, die nicht im Umfange
des anderen liegen können, und kontradiktorische,
d. h. solche, bei denen jeder Unterbegriff, der nicht
im Umfange des einen liegt, in demjenigen
des anderen liegen muss. So schließen die Begriffe
schwarzes und braunes Pferd einander
konträr, die Begriffe Sein
und Nichtsein kontradiktorisch
aus.
Die Einteilung
des Inhaltes eines Begriffs heißt
Partitio, die
des Umfanges Divisio.
Die äußerste Grenzstellung nehmen unter den Begriffen
einerseits die Kategorien,
die allgemeinsten Begriffsformen, andererseits die Individualbegriffe, die äußersten
Sonderformen des Begriffs, ein. Das Ideal
der Klassifikation durch Begriffe ist das wissenschaftliche System
, welches alle durch Erklärung und Einteilung
auseinander abgeleiteten
Begriffe enthält, wie es die Naturwissenschaften anstreben.
Den Wert der Begriffsbildung hat zuerst Sokrates (469-399)
erkannt; seitdem hat kein Philosoph ihn
geleugnet.
bestimmt
S. 95
heißt in der Logik
ein Begriff,
von dem alles angegeben ist, was darin gedacht werden soll, der also gegen alle
anderen Begriffe nach Umfang
und Inhalt vollständig
abgegrenzt ist.
Die Bestimmung eines Begriffs
(Definition)
erfolgt durch Angabe seiner Unterarten (s.
Einteilung), durch Angabe des übergeordneten
Begriffes und durch die Aufzählung
seiner besonderen Merkmale.
Durch bestimmte Begriffe werden
Verwechslungen vermieden. –
Im psychologischen Sinne
heißt der Wille
bestimmt, sofern er von den Motiven
abhängt und dem stärksten folgt. Vergleiche
Determinismus.
–
In der Naturwissenschaft heißt
bestimmen: ein Tier, eine Pflanze,
ein Mineral der Familie, Gattung, Art oder Unterart einreihen, zu der es nach
seinen Merkmalen gehört. Man muss dazu eine
Reihe von Fragen beantworten, welcher von zwei Gegensätzen
dem zu bestimmenden Gegenstande jedes Mal als Merkmal
angehört und welcher nicht, und steigt
so von Reich, Kreis, Klasse immer weiter hinab bis zu Familie, Gattung, Art,
Unterart
(s. z. B. Lackowitz, Flora von Berlin u. d. Provinz Brandenburg. 9. Aufl. Berlin
1894. Vorwort).
Bestimmung
(lat. determinatio) S.
95f.
heißt logisch die Hinzufügung
eines Merkmals
zu einem Begriff.
Durch die Bestimmung wird aus
dem allgemeinen
Begriff ein minder allgemeiner
gebildet; fügt man z. B. zu »Soldat«
das Merkmal »zu Pferde«,
so wird jener Begriff reicher
an Inhalt,
aber ärmer an Umfang.
Spinoza (1632-1677) fasste den Begriff der
Determination nicht nur logisch, sondern auch metaphysisch und schloss von dem
Wirklichen, der einen unendlichen
Substanz, jede
Bestimmung aus, indem er lehrte:
omnis determinatio est negatio (Jede
Bestimmung ist eine Verneinung). Seine Behauptung hängt aber eng
mit seiner Wertschätzung des Allgemeinen und Zurücksetzung des Individuellen
zusammen. Jeder Schritt vom Allgemeinen der Substanz zum Individuellen des Modus
ist für ihn ein Schritt von dem Wahren zum Falschen.
Sein Standpunkt ist also der des Rationalismus.
Der Empirist muss anders urteilen. Wohl wird er anerkennen, dass durch Hinzufügung
eines Merkmals der Umfang begrenzt,
aber er wird auch behaupten, dass dem Ding
selbst neuer Inhalt
positiv hinzugefügt
wird. –
Im moralischen
Sinne heißt Bestimmung des
Menschen der Zweck
seines Daseins.
Vergleiche das
höchste Gut, Moralprinzip.
Vgl. J. Fiske, Die Bestimmung des Menschen, dtsch. v. F. Kirchner, Leipzig 1890.
Beweis
(lat. argumentatio,
gr. apodeixis) S. 100ff.
heißt die Feststellung
der Wahrheit
oder der Falschheit
eines Urteils.
Diese Feststellung erfolgt durch Rückgang auf objektiv
oder subjektiv
anerkannte Sätze, aus denen, das zu beweisende
Urteil durch Schlüsse
abgeleitet
werden kann.
Beweis ist demnach die Ableitung
eines Satzes aus unbezweifelten
anderen Sätzen durch syllogistische
Verknüpfung, oder allgemeiner
ausgedrückt, eine Zurückführung
des Anzuerkennenden auf Anerkanntes.
In der Regel verbinden sich beim Beweis mehrere Sätze
schrittweise miteinander. Bei jedem Beweise kommen
4 Stücke in Betracht:
1.
das Objekt,
welches (thesis probanda),
2. der Grund,
wodurch (Beweisgrund,
argumentum probandi),
3. das Subjekt,
für welches (obnoxius
probationi) und
4.
die Art, wie
bewiesen werden soll (modus
probandi). –
1. Das Objekt
kann entweder ein Erfahrungs-
oder ein Vernunftsatz sein. –
2. Die
Beweisgründe werden ebenfalls entweder der Erfahrung,
(Beobachtungen, Experimente, Zeugnisse)
oder der Vernunft
und ihren Gesetzen
entnommen.
Demnach unterscheidet
man Erfahrungs- und Vernunftbeweise
(induktive und
deduktive,
a posteriori und a priori,
empirische und
rationale); jenen wohnt nur beschränkte, diesen
absolute Gewissheit bei. Die Erfahrungssätze
aus der Natur und
Geschichte
werden meist induktiv und die
Vernunftsätze aus der Mathematik
deduktiv bewiesen. –
3. Bezüglich des Subjekts
gibt es solche Beweise,
die für alle
(ad omnes) und solche, die nur für einen
beschränkten Kreis
(ad hominem) überzeugend sind.
4. Was
die Art des Beweises betrifft,
so stehen den direkten oder ostensiven,
welche das zu Beweisende im geraden Gange aus vor ausgeschickten Sätzen
ableiten, die indirekten oder apagogischen
gegenüber, welche dadurch, dass sie das Gegenteil des zu Beweisenden
zunächst als richtig
annehmen, dann aber durch Folgerungen als falsch
dartun, die Richtigkeit des zu Beweisenden erschließen. Vermöge eines
disjunktiven
Obersatzes, welcher sämtliche Möglichkeiten der betreffenden Sphäre
erschöpft, kann der indirekte Beweis durch sukzessive Ausschließung
aller anderen Möglichkeiten die noch übrig bleibende zur Gewissheit
erheben. –
Der direkte Beweis ist
progressiv oder regressiv, je nachdem er aus den Beweisgründen
den zu beweisenden Satz (theorema)
folgert, oder diesen vorläufig als richtig voraussetzt und daraus
auf die unvermeidlichen Bedingungen
zurückschließt, mit deren Wahrheit
auch der fragliche Satz bewiesen ist.
Die Beweiskraft (nervus
probandi) richtet sich natürlich nach den Gründen; nur
die sogenannten apodiktischen,
d.h. die streng syllogistischen Beweise geben
volle Gewissheit,
die analogischen oder induktiven
und die oratorischen dagegen nur Wahrscheinlichkeit.
Neben den Hauptargumenten gibt es noch Nebengründe; sie bilden zusammen
den Stoff (materia) des Beweises, während
ihre logische Verbindung die
Form und die rhetorische Einkleidung die Gestalt des Beweises heißt.
Stellt man die Beweisgründe selbst wieder
in Zweifel, so
bedürfen auch diese eines Beweises. Im Rückgang des Schließens
gelangt man dann stets zuletzt zu unbeweisbaren Grundsätzen,
Prinzipien oder
Axiomen. Das Wichtigste
bei jedem Beweise ist die Vermeidung falscher Beweisgründe. Sie dürfen
weder an sich noch in Bezug auf das Theorem ungehörig
sein (ignoratio elenchi).
Wird zu viel oder zu wenig bewiesen, so ist der Beweis verfehlt (qui
nimium probat, nihil probat); dasselbe ist beim Zirkel
(circulus vitiosus,
petitio principii, Diallele)
der Fall, wo das Theorem
als Beweisgrund verwendet wird.
Hysteron-Proteron heißt dagegen
der Fehler, der entsteht, wenn man ein Argument verwendet, das schwieriger zu
beweisen ist, als der Satz selbst. –
Bei der Verknüpfung der Glieder
nennt man Sprung
(saltus in demonstrando) die Auslassung,
dagegen Fälschung (fallacia
medii tertii) die Einschiebung falscher Glieder. Unabsichtliche
Fehler beim Beweisen ergeben Fehlbeweise (Paralogismen),
absichtliche dagegen Trugbeweise
(Sophismen).
Vgl. Überweg, Logik. Bonn 1882, § 135.
Bewusstsein
S. 102f.
bedeutet im Allgemeinen den wachen
Zustand des Geistes,
in welchem sich
Empfindungen, Vorstellungen,
Gefühle und Strebungen nebeneinander
vorfinden (empirisches Bewusstsein). Es
besteht darin, dass wir überhaupt Zustände und Vorgänge in uns
vorfinden, kann aber seinem Grundwesen nach nicht erklärt werden, da wir
unbewusste
Vorgänge uns nur nach den Eigenschaften,
die sie im Bewusstsein annehmen, vorstellen und
somit die unterscheidenden Kennzeichen der bewussten und unbewussten Vorgänge
und Zustände nicht angeben können.
Aufgabe der Psychologie ist es, die im Bewusstsein liegenden Vorgänge (Empfindungen,
Vorstellungen, assoziativen und apperzeptiven Verbindungen) aufzudecken
und in ihre einfachsten und verwickelteren Funktionen zu verfolgen, sowie die
begleitenden äußeren Umstände (Nervenvorgänge)
festzustellen, unter denen das Bewusstsein vorkommt.
Aber auch die Psychologie kann nicht die Ursachen des Bewusstseins
aufdecken, und wir haben im Bewusstsein wohl den
Ausgangspunkt, auf den wir das geistige Leben zurückführen, aber für
das Bewusstsein selbst keinen weiteren Ausgangspunkt.
Insbesondere ist die Erklärung des Bewusstseins
aus materiellen Vorgängen völlig unmöglich und hiermit dem Materialismus
seine Grenze gesetzt. (Vgl. Wundt, Grundz. d. physiol.
Psychologie II, S. 225 bis 260.) –
Aus dem empirischen Bewusstsein entwickelt sich
durch Aufmerksamkeit und Willen die Bewusstheit der einzelnen
Seelenzustände; der Mensch wird sich namentlich mit Hilfe der beständigen
Sinnesempfindungen und Bewegungsvorstellungen, die er von seinem eigenen Leibe
empfängt, seiner selbst bewusst. Dieses Unterscheiden
schreitet allmählich weiter fort: der Mensch unterscheidet sich als Subjekt
von seinen Vorstellungen, Empfindungen usw., und diese wiederum unterscheidet
er von den Dingen, durch welche jene erregt wurden. Indem sich der Mensch als
Ich im Gegensatz zum Nicht-Ich erfasst, erhebt er sich zum Selbstbewusstsein.
Er erkennt die ganze Summe von Seelenzuständen, welche
er in sich vorfindet, als seine eigenen; er erfasst dieselben ferner als Einheit
und stellt sich endlich über alle Zustände als den autonom mit ihnen
schaltenden Herrn. Der erste Akt des Bewusstseins begreift
also die Seelenzustände als Objekt,
der zweite als zugehörig zu einem Subjekt,
der dritte erkennt, dass das Vorgestellte
nur im vorstellenden Wesen,
d.h. das Objekt im Subjekte, vorhanden ist. –
Das Bewusstsein ist nun aber nicht nur eine Summe
von inneren Zuständen und Vorgängen, sondern es ist eine Einheit,
wenn auch eine sich allmählich verändernde Einheit, und als solche
die Grundlage aller zusammenhängenden Erkenntnis,
die uns mit der
Wirklichkeit in Verbindung setzt. Aufgabe der Erkenntnistheorie ist es,
die Beziehungen
des Bewusstseins zu einer wirklichen Welt darzulegen.
Hierfür ist Kants Kritik der reinen Vernunft das grundlegende Werk geworden.
–
Das Bewusstsein des einzelnen Menschen begleitet
fast kontinuierlich das Leben, aber es ist doch kein völlig ununterbrochener
Zusammenhang, sondern es wird unterbrochen durch Schlaf, Ohnmacht, Rausch, Vergessen,
Fieber, Delirium, Wahnsinn. Auch hat man am Bewusstsein
verschiedene Grade zu unterscheiden. Vgl. Selbstbewusstsein, Apperzeption,
Aufmerksamkeit. –
Im weiteren Sinne spricht man von einem sittlichen, religiösen,
politischen usw. Bewusstsein und meint damit eine Summe
von Vorstellungen
nebst deren Wertschätzung. Vgl. G. Ulrich, Bewußtsein
und Ichheit. Zeitschr. f. Philos. und philosoph. Kritik Bd. 124, S. 58-79.
Beziehung
S. 103
ist der psychische Vorgang, kraft dessen wir
zwei Gebilde oder Vorgänge bewusst miteinander verbinden. Meist
geht damit eine Vergleichung Hand in Hand.
Die Beziehung ist eine der einfachsten Formen der
Apperzeption.
W. Wundt stellt drei Beziehungsgesetze
auf: 1. das der Resultanten,
2. der Relationen
und 3. der
Kontraste
(Grdr. der Psychol., S. 375 ff.. Leipzig 1896).
Vergleiche Kategorien.
böse
S. 106ff. Siehe
auch bei Eisler
heißt das Gegenteil von
gut. Da nun unter gut bald
das Nützliche, bald das Angenehme, bald das Schöne, bald das Sittliche
verstanden wird, so hat auch der Begriff des Bösen
verschiedene Bedeutung angenommen, und man spricht
z.B. von einem bösen Geschwür, einer bösen
Nachricht, einem bösen Gesicht und einem bösen Menschen.
Im engeren Sinne ist aber böse soviel als
unsittlich.
Das Wesen des Bösen besteht,
soweit unser Verhältnis zu den Mitmenschen in Betracht kommt, vor allem
in der Selbstsucht, in der rücksichtslosen Verfolgung des Selbsterhaltungstriebes.
Dieser ist an sich natürlich; er äußert sich auch auf natürliche
Weise in den Trieben nach Existenz, Nahrung, Ruhe, Eigentum, Schmuck, Ehre,
Macht usw. Solange wir diesen Trieben mit Maß, mit Vernunft und mit Berücksichtigung
unserer Nebenmenschen folgen, kann unser Handeln nicht böse heißen.
Erst die egoistische Selbstbehauptung, welche den Forderungen der Sympathie
und Gerechtigkeit widerspricht, ist böse.
Weiter besteht das Sittlich böse in allen Schwächen und Irrungen,
die die menschliche Anlage zu normaler Entfaltung und Vervollkommnung hemmen
und ablenken. –
Den Ursprung des Bösen hat
die Religion und Philosophie auf verschiedene Weise zu erklären versucht.
Der Parsismus leitet das Böse
aus einem Weltprinzip ab und stellt dem guten Ormuzd
den bösen Ahriman
als von Anfang an existierend gegenüber. Dadurch wird aber der
Begriff der Gottheit wesentlich eingeschränkt. Der Parsismus
und der vom Parsismus beeinflusste und im
3. Jahrh. n. Chr. entstandene Manichäismus,
der das Böse als selbständiges
Prinzip
ansieht, sind daher unvereinbar mit der allein haltbaren Idee des Göttlichen.
–
Auch die Ableitung des Bösen durch Platon (427-347)
aus der Materie
hylê befriedigt
nicht, weil dadurch das Böse zu einem Negativen verflüchtigt und in
den Stoff gelegt wird, während es doch positiv ist und, vor allem in der
Gesinnung, in der verkehrten Richtung des Willens liegt. –
Ebenso wenig genügt die Herleitung des Bösen
aus der menschlichen Freiheit,
mag man sie mit Origenes (†254),
Kant (†1804) und
Schelling (†1854)
als transzendentalen
Akt in einen Zustand vor der Geburt setzen, oder
mit Augustin (†430),
Schleiermacher (†1834)
und Jul. Müller
(†1875) in das Diesseits. Denn die Freiheit
reicht nicht aus, zu erklären, wie ein faktisch gutes
Wesen böse werden
konnte.
Auch die Ableitung des Bösen aus einem Abfall
von Gott, wie sie Plotin (†270)
und Augustin (†430)
lehren, kann nicht als angemessen gelten; ebenso wenig die Auffassung des Thomas
von Aquino (†1274), der im Bösen
ein Mittel zum Guten sieht.
–
Ein andrer Versuch der Ableitung des Bösen findet sich in der indisch-neuplatonischen
Ansicht, nach der zwar die gesamte Welt durch Emanation aus Gott hervorgeht,
aber das einzelne unberechtigt ist, sich als solches zu behaupten.
Ähnlich behauptet Leibniz (1646-1716),
in seiner Theodicee (1710),
das Böse sei bei der Unvollkommenheit der Geschöpfe unvermeidlich,
es habe mithin seinen Ursprung nicht in Gott, sondern in der Beschränktheit
der endlichen Wesen. –
Hieran anknüpfend kann man den Ursprung des Bösen im Endlichen und
Menschlichen suchen. Das Endliche ist unvollkommen, und der Mensch ist selbstsüchtig
von Natur. Aber so wenig der Naturzustand auf sozialem Gebiete festgehalten,
sondern zur Kultur veredelt wird, so wenig bleibt der ethische Naturzustand
(vgl. Bildung, Humanität).
Von Natur ist der Mensch noch nicht das, was seine Entwicklung aus ihm machen
kann. Dies lehrt uns die Betrachtung der menschlichen Entwicklung. Jedes Kind
ist, solange es ohne Selbstbewusstsein ist, weder gut noch böse. Sobald
aber der Selbsterhaltungstrieb erwacht, zeigen sich schlechte Eigenschaften,
Selbstsucht, Trotz, Grausamkeit, Ungehorsamkeit usw. Da sich nun die Sinnlichkeit
jahrelang entwickeln kann, ehe die Vernunft durch die Erziehung ausgebildet
wird, so findet sich der zum Selbstbewusstsein erwachte Mensch zu seinem Schrecken
in einem Zustande vor, den Kant das »radikale
Böse« genannt hat. Diesen Namen verdient es wenigstens
insofern, als es mit der menschlichen Entwicklung unvermeidlich verknüpft
ist. Nun beginnt in dem Menschen der sittliche Kampf gegen das Böse. –
Das Böse ist ein ethischer Begriff, der daneben auch seine kulturhistorische
Bedeutung hat. Was auf einer noch unerzogenen Stufe menschlicher Entwicklung
erklärlich und entschuldbar ist, wird auf einer höheren Unsittlichkeit.
Der verwandte metaphysische Begriff ist das Übel.
Vgl. Herbart, Gespräche ü. d. Böse,
Königsb. 1818. Blasche, das Böse im Einklang mit der Weltordnung.
Leipzig 1827. Jul. Müller, Christl. Lehre v. d. Sünde. 3. Aufl. Breslau
1849. Fr. Paulsen, System der Ethik. 6. Aufl. 1903.
Buridans
Esel S.108f.
ist der Name des erdachten Beispiels, durch welches der
Scholastiker Buridan (1300-1358) zu Paris seine Ansicht von der Unmöglichkeit
der Willensfreiheit zu erläutern versucht haben soll. Es ist zur sprichwörtlichen
Wendung geworden. Buridan soll, um seine Behauptung zu beweisen, das Beispiel
eines hungrigen Esels gewählt haben, welcher, zwischen zwei gleich große,
gleich beschaffene, in gleichem Abstande befindliche Heubündel gestellt
ist und nun nach Buridans Ansicht sich nicht zu entscheiden vermag, von welchem
Bündel er zuerst, fressen soll, der daher verhungern muss.
In Buridans Schriften findet sich dies Beispiel nicht; in der Ethik des Spinoza
wird aber darauf angespielt. Übrigens ist der Gedanke nicht Buridans Eigentum.
Schon Dante, Parad. IV, 1-3 sagt: »Zwischen zwei gleich entfernten und
gleich anlockenden Speisen würde der Mensch eher Hungers sterben, als dass
er bei der Willensfreiheit eine von ihnen zwischen die Zähne brächte«,
und Aristoteles (de caelo II, 13 p. 295b 32) weist schon wie auf ein bekanntes
Beispiel und Bild auf den »heftig Hungernden und Dürstenden hin,
der gleich weit von Speise und Trank entfernt ist und der in Ruhe verharren
muss«.
(Siehe Schopenhauers Schriften 1877. IV², 58.)
Cartesianismus
S. 112
ist die Lehre des Cartesius
(René Descartes, 1596
bis 1650) und seiner Schüler. Sie schreibt der Philosophie die rationalistische
Methode vor und beginnt mit dem Zweifel an allem demjenigen Wissen, das vordem
philosophischen Denken erworben ist (de omnibus dubitandum). Sie geht von der
Selbstgewissheit des Denkens (cogito, ergo sum), zu der Aufstellung der Klarheit
und Deutlichkeit als Kriteriums der Wahrheit (omne est verum, quod clare et
distincte percipio), zu der Annahme allgemeiner Kausalität (nihil ex nihilo
fit), zu dem Nachweis der Existenz Gottes, zu der dualistischen Aufstellung
einer unendlichen Substanz (deus) und zweier endlichen Substanzen, der ausgedehnten
und denkenden, der Materie und des Geistes, und endigt in der mechanistischen
Erklärung aller Naturvorgänge, die nur den Begriff von Druck und Stoß
voraussetzt, sowie in der Scheidung von Leib und Seele am Menschen. Aus dem
Cartesianismus hat sich der Okkasionalismus
entwickelt. –
Am charakteristischsten für den Cartesianismus ist der scharfe Dualismus
von Geist und Körper, Seele und Leib. Dem Prinzip des influxus physicus
gegenüber war der Cartesianismus ein Fortschritt, an sich aber eine unhaltbare
Idee. Ihn zu beseitigen, strebte die nachfolgende Philosophie
(Spinoza, Leibniz, auch Kant)
causa
sui (lat.), S.
113f.
Ursache von sich selbst, nannten die Scholastiker Gott.
Sie wollten mit diesem Begriff sagen, Gott habe sich selbst geschaffen und sei
durch nichts anderes bedingt.
Auch Spinoza (1632-1677), Schelling (1775-1864) und Hegel (1770-1831) nahmen
diesen Begriff auf.
Spinoza setzte die causa sui und die Substanz (Gott und Natur, deus sive natura)
einander gleich. Die erste Definition des ersten Teiles seiner Ethik lautet: »Per causam sui intelligo id, cuius essentia involvit existentiam, sive
id, cuius natura non potest concipi nisi existens«. (Unter causa sui verstehe
ich dasjenige, dessen Wesen die Existenz einschließt, oder dasjenige,
dessen Natur als existierend vorgestellt werden muss.) Hieran schließt
sich der Nachweis, dass die Substanz Gott, Natur und causa sui ist.
Schelling lehrt, dass Gott in sich den Grund seiner Existenz hat.
Hegel sieht in jeder Ursache eine causa sui, die sich in den endlichen Dingen
auseinander gezogen hat. So richtig aber Gott als absolut gedacht wird, so schließt
doch der Begriff der causa sui den logischen Widerspruch in sich ein, dass durch
ihn etwas zugleich als nicht existierend und als existierend gesetzt wird. Denn
Ursache heißt im Gegensatz zur Wirkung nur dasjenige, was vor einem anderen
als existierend gedacht werden muss. Vor allem aber beruht der Begriff der causa
sui auf einer fehlerhaften Definition des Daseins, nach der das Dasein zum Wesen
des Begriffs gehört.
Erst Kant (1724-1804) hat in seiner Kritik der Beweisgründe des Daseins
Gottes und vor allem des ontologischen Beweises (Kr.
d. r. V., S. 592-602) den richtigen Begriff des Daseins aufgestellt und
nachgewiesen, dass das Dasein kein Merkmal des Begriffs, sondern absolute Position
ist. Er hat hierdurch den Begriff causa sui aufgelöst. (Vgl.
Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins
Gottes. Königsberg 1763.)
Chaos
(gr. chaos v. chainô
gähne) S. 115 Siehe auch bei Eisler
bezeichnete bei den griechischen Dichterphilosophen den Urzustand der Welt,
den man sich als rohe, ungestaltete, verworrene, ungeordnete Masse vorstellte
(Ovid Met. I, 7:
rudis indigestaque moles). Man dachte sich, dass das Chaos
erst später durch ein höheres Prinzip: Streit, Liebe, Verstand,
Gott u. dgl. geordnet und gestaltet worden sei. Den Gegensatz zum Chaos bildete der Kosmos (gr.
kosmos), die gesetzlich geordnete Welt.
Charakter
(gr. charaktêr
v. charassô prägen = Gepräge)
S. 115ff.
heißt in anthropologischer Hinsicht die bleibende
Willensart des Menschen. Im weiteren Sinne hat jeder Mensch einen Charakter,
auch der Charakterlose, dessen Eigentümlichkeit
es ist, unbeständig zu sein. Im engeren Sinne
heißt Charakter soviel als
Willensstärke.
Charakter im engeren Sinne ist also das Wesen des
Menschen, wie es sich auf Grund angeborener
Individualität durch Gewöhnung und selbsterworbene Fertigkeit zu
vernünftiger, zusammenhängender und fester Selbstbetätigung entwickelt.
Der feste Charakter zeigt sich in der Entschiedenheit
und Konsequenz des Handelns nach Grundsätzen. Diese Konsequenz kann Entschiedenheit
im Guten oder Bösen sein. Einen guten Charakter besitzt nur der Mensch, der seinen Willen durch sittliche Grundsätze leiten
lässt. Nur er bleibt von Zerrissenheit des Gemüts, Zerfahrenheit des
Begehrens und Unschlüssigkeit im Handeln verschont. Bei ihm vereinen sich
Einsicht und Wille zur wahren sittlichen Freiheit.
»Charakter im Großen und Kleinen ist, dass
der Mensch demjenigen eine stete Folge gibt, dessen er sich fähig fühlt«,
sagt Goethe (Spr. in Pr.
587).
Kant (1724-1804) lehrt: »Von einem Menschen schlechthin sagen zu können:
'er hat einen Charakter' heißt sehr viel von ihm
nicht allein gesagt, sondern auch gerühmt; denn das ist
eine Seltenheit, die Hochachtung gegen ihn und Bewunderung erregt. Wenn man
unter dieser Benennung überhaupt das versteht, wessen man sich zu ihm sicher
zu versehen hat, es mag Gutes oder Schlimmes sein, so pflegt man dazu zu setzen:
er hat diesen oder jenen
Charakter, und dann bezeichnet
der Ausdruck die Sinnesart. - Einen Charakter
aber schlechthin zu haben, bedeutet diejenige Eigenschaft des Willens, nach
welcher du Subjekt sich selbst an bestimmte praktische Prinzipien bindet, die
es sich durch seine eigene Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat. Ob
nun zwar diese Grundsätze auch bisweilen
falsch und fehlerhaft sein dürften, so hat doch das Formelle des Wollens
überhaupt, nach festen Grundsätzen zu handeln (nicht
wie ein Mückenschwarm bald hierher, bald dahin abzuspringen), etwas
Schätzbares und Bewunderungswürdiges in sich, wie es dann noch etwas
Seltenes ist. - Alle anderen guten und nutzbaren Eigenschaften
(des Menschen) haben einen Preis - das Talent einen
Marktpreis - das Temperament einen Affektionspreis
- aber der Charakter hat einen inneren Wert
und ist über allen Preis erhaben.«(Kant,
Anthropologie S. 264f.) –
Die allgemeine Verwendung des Wortes Charakter in seiner jetzigen Bedeutung datiert von La Bruyere's
Schrift: Les caracteres de Theophraste et les moeurs
de ce siecle 1688 her. Vgl. Smiles,
der Charakter. Leipz. 1878. Th. Ribot, die Persönlichkeit,
a. d. Frzös. v. E. Papst. Berlin 1894.
Daimonion
S. 131
nannte Sokrates (469-399)
eine innere Stimme, die ihn in entscheidenden Augenblicken warnte und
von der Ausführung einer gefährlichen Absicht abhielt. (Nach Platon
Apol. 31 D und 41 D, Xen. Mem. I, 1, 6 warnte
das Daimonion peri
- tôn adêlôn, hopôs an apobêsoito.)
Dankbarkeit
(Dank, eigtl. das Denken) S.
131
heißt die Gesinnung eines Menschen, welcher empfangene
Wohltaten anerkennt, sich ihrer erinnert und sie nach Kräften erwidert.
Die Dankbarkeit ist verhältnismäßig selten zu finden; daher
das Sprichwort: »Undank ist der Welt Lohn«.
Vergesslichkeit, Leichtsinn, Gewohnheit, Selbstsucht, - aber auch die Umstände
verhindern oft die Dankbarkeit da, wo sie nicht gerade fehlt, sich zu äußern.
So wenig die Wohltat erzwingbar ist, so wenig ist es der Dank dafür. Beides
verliert durch Zwang allen Wert. Wenn daher, obwohl die Wohltätigkeit an
sich eine hohe Tugend ist, derjenige »seinen Lohn dahin hat«, der
etwas Gutes tut, um Dank zu ernten, so ist andrerseits Undankbarkeit ein Zeichen
von Hohlheit oder Rohheit des Gemütes, und Dankbarkeit eine schöne,
aber schwere Tugend.
Die Wohltaten, die wir anderen erweisen, vergessen wir langsam, die uns erwiesenen
schnell. Unedlen, selbstsüchtigen Menschen sind empfangene Wohltaten drückend,
weil sie sich nicht zum Dank verpflichtet fühlen möchten; freigebige,
großmütige dagegen, die anderen oft Wohltaten erweisen, vergessen
auch ihrerseits leicht des Dankes. Wer sich viel über Undank der Menschen
beschwert, macht sich dadurch verdächtig, dass er nicht aus Menschlichkeit,
sondern aus Eigennutz Wohltaten erwiesen hat.
Dasein
(existentia) S.133f
ist das Sein
in der Wirklichkeit.
Während das Sein zunächst nur Gesetztwerden,
Gedachtsein ist, so z.B. bei allem Abstrakten,
haben die realen Außendinge Dasein.
Das Dasein ist kein Merkmal
der Dinge, sondern
absolute Position.
Das Denken reicht
nie dazu aus, ein Dasein
nachzuweisen; vielmehr gehört dazu stets Empfindung,
Wahrnehmung
oder Zusammenhang mit Wahrnehmungen nach den Grundsätzen
der erfahrungsmäßigen Verknüpfung derselben. Ein Dasein
hat nur (d.h. wirklich ist nur) »was
mit den materialen Bedingungen
der Erfahrung
(der Empfindung) zusammenhängt«.
Vgl. Kant, Kr. d. r. V. S. 218ff. und Kant, der einzig mögliche Beweisgrund
zu einer Demonstration des Daseins Gottes. Königsberg 1763.
Dauer
S. 134
ist das unveränderte
Dasein eines Gegenstandes im Wechsel der Zeit. Die Zeit selbst
ist beständiger Fluss; ihr kommt keine Dauer zu. Nur von den Dingen in
der Zeit, dem Zeitinhalt, kann Dauer ausgesagt werden. Das Bewusstsein von der
Dauer eines Gegenstandes beruht auf dem Gegensatz, dass das Objekt mit seinem
Empfindungs- und Gefühlsinhalte verharrt, während der Vorstellende
sich ändert.
Dies geschieht besonders wirksam, wenn der Wunsch des Vorstellenden dem Zustande
des Objekts widerstrebt, d.h. das Nochdasein einer Vorstellung die Erwartung
einer anderen Lügen straft.
Unendliche Dauer
heißt Ewigkeit.
Alle Dauer im Fluss des Werdens
der Dinge leugnete
Herakleitos von Ephesos (um
600 v. Chr.), während die Eleaten
umgekehrt allen Wechsel und alle Veränderung für Sinnestrug erklärten.
Deduktion
(lat. deductio, gr. apagôgê),
S.135f.
eigentl. die Herabführung,
die Ableitung, ist diejenige Beweis- und Darstellungsmethode,
welche das Besondere aus dem Allgemeinen ableitet.
Das Mittel dieser
Ableitung ist der Syllogismus.
Sie ist also nur da in der Wissenschaft
möglich, wo ein Allgemeines bereits gegeben ist. Da dieses aber nur durch
Abstraktion und Induktion gefunden wird, so fußt die Deduktion
auf den Resultaten des Abstraktions- und Induktionsprozesses.
Sie stellt die Abstraktionen
und Induktionen
in Definitionen,
Gesetzen und Hypothesen
zusammen, gliedert dann durch Einteilung den wissenschaftlichen Stoff nach den
Verhältnissen der Über, Unter- und Beiordnung. Sie setzt die allgemeinen
Begriffe logisch in Beziehung
zueinander und zieht aus ihnen Folgerungen oder leitet aus den gewonnenen Gesetzen
syllogistisch die Tatsachen
und ihre Erklärung ab. Sie ist die fruchtbare Methode der Mathematik
und hat auch in der Naturwissenschaft da ihren Platz, wo man bereits Erfahrungen
gesammelt, Hypothesen aufgestellt und Prinzipien
gewonnen hat. Für die Philosophie ist sie dagegen die fruchtbare Methode
nicht.
Die Philosophie ist nur durch die Induktion vorwärts
gekommen, und auch in ihr kann die Deduktion erst der Induktion folgen.
Deduktive Systeme wie das des
Aristoteles, Fichtes, Schellings, Hegels, Schopenhauers
haben sich nicht bewährt.
So ist der Versuch des Aristoteles (384-322),
den ganzen Kosmos aus
vier Prinzipien: Form,
Stoff, Ursache
und Zweck,
Fichtes (1762-1814)
aus dem Ich,
Schellings (1776-1854)
aus dem Absoluten,
Hegels (1770-1831) aus
der Idee,
Schopenhauers (1788-1866)
aus dem Willen zu
konstruieren, doch im Kerne misslungen.
Deduktion,
transzendentale. S. 136
Der Kern der kantischen Vernunftkritik besteht darin,
nachzuweisen, wie Begriffe a
priori sich auf Objekte beziehen
und, ohne aus der Erfahrung zu stammen, Gültigkeit von Gegenständen
der Erfahrung erlangen können. Dieser Aufgabe dient in der Kritik
der reinen Vernunft von dem II. Teil der Elementarlehre (Transz. Logik) das
zweite Hauptstück der ersten Abteilung (Transz. Analytik), das sich,
S. 84-130, die transzendentale
Deduktion der
Kategorien nennt.
Kant weist darin nach, dass diejenigen Anschauungen
und Begriffe a priori, welche die Erfahrung erst möglich machen, nicht
subjektive Erdichtungen sind, sondern als Bedingungen aller Erkenntnis von allen
Objekten Gültigkeit haben müssen. Seinem Beweise
fehlt aber zweierlei, erstens der Nachweis der Notwendigkeit der einzelnen Anschauungsformen
und Kategorien und zweitens der Nachweis einer Notwendigkeit der Erkenntnis
überhaupt. Die Unmöglichkeit, diesen doppelten Nachweis anders als
empirisch und in den Einschränkungen, die der Empirismus vorschreibt, zu
geben, entscheidet über das Schicksal des kantischen Apriori, das in der
Form, wie Kant es selber gibt, unhaltbar sein dürfte.
Ein schlechthin Notwendiges und Allgemeines ist nicht nachzuweisen.
Vergleiche Angeboren,
a posteriori, Nativismus,
Kategorien, Raum
und Zeit.
Definition
(lat. definitio von definire = begrenzen,
bestimmen) S. 136f.
heißt die vollständige und geordnete Darlegung
des Inhalts eines Begriffs. Diese wird gewöhnlich in der Form eines Urteils
durch Setzung des zu definierenden Begriffs als Subjekt des Urteils und durch
Angabe des nächsten Gattungsbegriffs (genus proximum)
und des Artunterschiedes (differentia specifica)
als Prädikat des Urteils erreicht. Jede Definition in dieser Form enthält
also
1. als Subjekt den zu definierenden Begriff (definitum),
2. als Prädikat den in seine Merkmale nach Gattung und Artunterschied zerlegten
Inhalt desselben (definiens); z.B. das
Parallelogramm (definitum) ist ein Viereck
(Gattung) mit parallelen Seitenpaaren (Artunterschied).
–
Die Definitionen zerfallen
a) in Nominal- und Realdefinitionen, je nachdem nur der Gebrauch eines Wortes
festgelegt oder dem zu Erklärenden zugleich mit der Erklärung reale
Gültigkeit zugeschrieben werden soll;
b) in essentiale und distinguierende, je nachdem man die primären oder
abgeleiteten Merkmale angibt;
c) in existentiale oder genetische Definitionen, je nachdem sie ein Objekt als
fertig oder als entstehend darstellen. –
Eine gute Definition ist nicht leicht. Sie muss
1. ein kategorisches Urteil sein,
2. den höheren Gattungsbegriff und den Artunterschied ohne jede Künstelei
geben,
3. die konstitutiven Merkmale enthalten. Sie muss
4. präzis, klar und adäquat sein,
5. kein aus einem anderen schon gegebenen ableitbares Merkmal enthalten und
6. Zirkel, Tautologien, Bilder und Einteilungen vermeiden. –
Falsche Definitionen sind daher z.B. folgende: Psychologie ist Seelenlehre.
Das Gute ist die Sonne im Reiche der Ideen. Ein Dreieck ist eine dreiseitige,
dreiwinklige Figur. Ein Parallelogramm ist ein Viereck mit parallelen und gleichen
Seitenpaaren. –
Die Wichtigkeit und das Wesen der Definitionen
hat zuerst Sokrates (469-399)
erkannt (Arist. Met. XIII, 4, p. 1078b 27
dyo gar estin. ha tis an apodoiê Sôkratei
dikaiôs, tous t' epaktikous logous kai to horizesthai katholou).
Die Form der Definition hat zuerst Aristoteles
(384-322) durch Hinweis auf Gattung und Artbegriff
bestimmt. (ho horismos ek genous kai diaphorôn
estin. Top. I, 8, p. 103 b 15).
Deismus
(nlt., geb. von deus =
Gott)
S.
137f.
ist die religiöse Weltanschauung, welche eine
Gottheit als Urgrund aller Dinge annimmt,
diesen aber nicht, wie es der
Theismus tut, als den persönlichen Regenten
der Welt ansieht, und die zugleich alle geoffenbarte Religion
zugunsten einer natürlichen verwirft.
Der Deismus steht dem Naturalismus
nahe; beide verwerfen die Wunder,
die Weissagung, die übernatürliche
Offenbarung
und stellen die Vernunft als Norm der Religion auf.
Der Naturalismus aber leugnet
das Göttliche überhaupt, während der Deismus
an der Existenz eines Göttlichen
festhält.
Deisten oder Freidenker
(Freethinkers) nannte man demgemäß
diejenigen, welche die natürliche Religion
begründen wollten. Am bekanntesten sind die Engländer
Herbert v. Cherbury (1581-1648), Ch.
Blount (1659-1693), der sich zuerst Deist
nannte, John Toland (1670-1722),
Graf Shaftesbury (1671-1713),
Anthony Collins (1676-1729),
Matthew Tindal (1656-1733),
der Franzose Voltaire
(1694-1778), die Deutschen
Bahrdt, Edelmann, Lessing,
Mendelssohn.
Vgl. G. V.Lechler,
Gesch. d. engl. Deismus. Stuttgart 1841.
Kant (1724-1804) definiert
kurz: »Der Deist glaubt einen Gott, der Theist aber
einen lebendigen Gott
(summam intelligentiam)«. Kr.
d. r. V., S. 633.
Siehe Theismus.
Demiurg
(gr. dêmiourgos =
Werkmeister, Weltbildner) S. 138
bezeichnet schon bei Platon
(427-347) den Weltbaumeister (poiêtên
kai patera tou pantos Platon
Tim. V, 28 B);
ihm folgt Plotinos (205-270);
ähnlich ist in der Kosmologie
der Gnostiker (s.
Gnosis) der Demiurg der vom höchsten
Gott unterschiedenen Schöpfer der Sinnenwelt.
Er ist der Vorsteher (archôn)
der untersten Stufe der Geisterwelt (plêrôma).
Durch seine Berührung mit dem Chaos
schuf er eine beseelte Körperwelt. Dem Menschen
verlieh der höchste Gott, da der Demiurg ihm
nur eine psychê geben konnte, noch die Vernunft
(pneuma). -
Bei den Kirchenvätern heißt auch der
Logos Demiurg;
in der Philosophie
bezeichnet man jetzt noch allgemein die Gottheit
so, wenn sie nicht als Schöpfer der Welt, sondern nur als Weltbaumeister
gedacht wird.
Siehe auch bei Eisler
Demut
S. 139
ist die aus dem Bewusstsein eigener Unvollkommenheit oder Niedrigkeit entspringende
Ergebenheit, sich Gottes
Willen unterzuordnen. Die wahre Demut geht
aus religiöser Gesinnung hervor und ist ein
Kennzeichen echter Herzensbildung, die falsche entspringt dem Egoismus
oder der Eitelkeit.
Den Menschen gegenüber geziemt nicht Demut,
sondern Bescheidenheit. Diese ist die aus richtiger Selbsterkenntnis entspringende
Mäßigung in der Selbstschätzung und den Ansprüchen.
Denken
(lat. cogitare,
gr. noein, phronein) S.
139f.
heißt im weiteren Sinne im Gegensatz zu der Assoziation,
den passiven Erlebnissen des Bewusstseins, die Aktivität oder Selbstbetätigung
des menschlichen Bewusstseins, im engeren Sinne das nicht unmittelbar von außen
angeregte Vorstellen, während das Erkennen in der bewussten Erfassung der
wirklich vorhandenen Gegenstände besteht. Beide Tätigkeiten, Denken
und Erkennen, bedingen freilich einander. Denn das Erkennen ist nicht ohne Denken
möglich, und das Denken nimmt stets seinen Ausgang von dem Wirklichen.
Im engsten Sinne bedeutet Denken die logische Trennung und Verbindung der Vorstellungen
nach den Denkgesetzen.
Die durch Empfindung und Wahrnehmung gewonnenen Vorstellungen werden in reproduktiven
Verbindungen festgehalten, erneuert und fortgebildet, das Denken aber bearbeitet
sie nach der durch ihre Qualität bedingten Notwendigkeit.
Seine Hauptoperationen sind dabei: Apperzeption,
Aufmerksamkeit,
Abstraktion,
Begreifen, Urteilen und Schließen.
Seine Vorzüge sind Widerspruchslosigkeit und Einheit, Klarheit und Deutlichkeit,
Zusammenhang und Konsequenz. Dadurch erreicht es, sofern es sich auf sich selbst
beschränkt, logische Richtigkeit, sofern es mit Außendingen zu tun
hat, Wahrheit.
Denkgesetze
S. 140
heißen die Gesetze, welche die gleich bleibenden
Formen bestimmen, in denen sich unser Denken
vollzieht. Sie gleichen den Naturgesetzen darin, dass sie die Gleichmäßigkeit
des Geschehens zum Ausdruck bringen, während den juridischen und moralischen
Gesetzen, welche freien Persönlichkeiten als Postulate eine Verpflichtung
auferlegen, nicht natürliche Notwendigkeit beiwohnt. Da aber die Menschen
durch Gefühle, Vorurteile und Motive vielfach in ihrem Denken beeinflusst
sind und ferner aus Nachlässigkeit, Egoismus und Mangel an Methode falsche
Begriffe, Urteile und Schlüsse bilden, so werden die Denkgesetze, obwohl
sie den Naturgesetzen ähnlich sind, keineswegs immer befolgt und erleiden
Ausnahmen, wie es die Naturgesetze nicht erleiden.
Die Denkgesetze sind:
1. das Gesetz der Identität,
2. der Satz des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten,
3. der Satz vom zureichenden Grunde.
Daran schließen sich dann die zahlreichen Gesetze der Kategorienlehre,
der Lehre vom Begriff, Urteil und Schluss und der Methodenlehre. Vgl. Gesetz.
Determination
(lat.
determinatio, gr. prostheois),
S. 141
eigentl. Begrenzung, ist die der Abstraktion
entgegengesetzte Tätigkeit, welche einem Begriffe bestimmende Merkmale
hinzufügt und dadurch zu einem dem Inhalt nach reicheren, dem Umfange nach
engeren, dem Begriffe, von dem man ausgeht, untergeordneten Begriffe führt.
Dass ein durch ein bestimmtes Merkmal schon determinierter Begriff ohne Widerspruch
nicht auch durch das entgegengesetzte Merkmal bestimmt werden kann, besagt der
Satz des Widerspruchs (principium
contradictionis) und der Satz vom
ausgeschlossenen Dritten (principium
exclusi medii inter duo contradictoria) oder der Satz
der durchgängigen Bestimmbarkeit (principium
determinationis omnimodae).
Determinismus
(nlt.) (auch Prädeterminismus)
S. 141ff.
heißt diejenige ethische Ansicht vom Wesen
des menschlichen Willens,
welche diesen in seinen Äußerungen durch, bewusste oder unbewusste
Ursachen bestimmt sein lässt, während der Indeterminismus
unseren Willen für frei erklärt, mithin
annimmt, dass er auch eine den bestimmenden Ursachen entgegengesetzte Richtung
einschlagen oder zum absoluten
kausalitätslosen Anfang eines Geschehens werden könne.
Der Indeterminismus hat seine
bestimmteste Ausprägung in der Lehre Kants von
der intelligiblen Freiheit gefunden.
Der Determinismus hat verschiedene Formen angenommen.
Seine roheste Form ist der
Fatalismus, der die Willensakte, wie alles andere Geschehen, von einer allgemeinen,
blind wirkenden Notwendigkeit, dem Schicksal, beherrscht werden lässt.
Einen solchen Fatalismus schließt der Islam
in sich ein.
Einen mechanischen Determinismus
dagegen lehrt der Materialismus
der Naturalisten, der den Menschen bloß als eine Maschine betrachtet.
Der theologische Determinismus
hingegen, den z.B. Paulus, Augustinus
(†430) und Calvin
(1509-1564) vertreten, lässt die menschlichen
Handlungen von einem unbedingten Ratschluss Gottes abhängen (vgl.
Prädestination).
Einen metaphysischen Determinismus
lehrte Spinoza (1632-1677):
Alles Geschehen ist kausal begründet durch
die göttliche Natur, aus der mit mathematisch-logischer Notwendigkeit aller
Wille seine Bestimmung empfängt. –
Ähnlich nimmt Leibniz (1646
bis 1716) an, dass der Wille durch innere
Beweggründe, die von Gott begründet sind, bestimmt wird.
Der psychologische Determinismus
endlich, den Locke (1632-1704)
begründet und auch Herbart
(1776-1841) vertreten hat, hebt die praktische menschliche Freiheit und
die Verantwortlichkeit keineswegs auf; denn er betrachtet das Wollen
nicht als Folge äußerlich und mechanisch wirkender Ursachen, sondern
als Ausdruck und Folge der inneren Gesetzmäßigkeit des geistigen
Lebens selbst, einer psychologischen Kausalität,
für die freilich das Prinzip der quantitativen Äquivalenz von Ursache
und Wirkung nicht gilt. Die Willensregung hängt mit der Apperzeption
zusammen, wobei sowohl äußere Eindrücke wie reproduzierte Vorstellungen
und die ganze durch Erziehung, Leben und angeborene Eigenschaften entwickelte
Persönlichkeit des Wollenden mitwirken, so dass für den Beobachter
oft der Schein eines freien ursachlosen Handelns entstehen kann, weil oft der
direkte Zusammenhang mit einer äußeren Ursache fehlt. Für die
Existenz einer psychologischen Kausalität spricht die Stetigkeit des gesamten
Seelenlebens, die durchgängige Abhängigkeit des Wollens von Motiven,
ferner der Umstand, dass gerade das entschiedenste Wollen sich seiner Beweggründe
am deutlichsten bewusst ist, und dass der Begriff der Kausalität auf den
Willen nicht minder angewendet werden muss als auf sonst irgend eine Kraft.
Und der Satz des Indeterminismus:
»Ohne Freiheit keine Zurechnung« kehrt
sich gegen ihn selber. Denn die Zurechnung, indem sie den Faden der Kausalität
verfolgt, hört da auf, wo dieser abgerissen wird; bestände zwischen
dem Ich und seinem Endwollen kein Zusammenhang mehr, d.h. wäre dem Ich
dieses Wollen ebenso willkürlich als ein anderes, so hörte jede Verantwortlichkeit
des Ichs für dieses Wollen auf, und ein von allen Motiven unabhängiger
Wille müsste als von sittlichen Motiven unabhängig, d.h. als unfrei
gelten.
Ohne die deterministische Gesetzmäßigkeit unserer Handlungen wäre
die Rechtspflege wie die Erziehung unmöglich; jene allein begründet
den historischen Pragmatismus, die exakte Auffassung individueller Entwicklung
und die Moralstatistik. Vgl. Wundt, Gr. d. phys. Psych.
H 478-487, vgl. auch Freiheit.
deutlich
S. 142f.
heißt ein Begriff,
der nicht nur allen anderen gegenüber scharf
abgegrenzt, sondern auch durch die
Feststellung seiner Merkmale in sich
geklärt ist.
Nach Leibniz (1646-1716) heißt
eine solche Vorstellung
deutlich, »wie sie die Goldscheider vom Golde haben«,
auf Grund von Merkmalen
nämlich und Untersuchungen, die hinreichen, die Sache von allen andern
ähnlichen Körpern
zu unterscheiden.
(Leibniz, Betracht. über die Erkenntnis, die Wahrheit
und die Ideen 1687. Vgl. Philos. Bibl. Bd. 101, S. 20.)
Wundt (geb. 1832) versteht
unter der Deutlichkeit der Vorstellungen
die bestimmtere Abgrenzung gegenüber anderen
psychischen Inhalten.
(Grundzüge der Psychologie S. 152.)
Vergleiche klar,
dunkel, verworren.
Dialektik
(gr. hê
dialektikê sc. technê) S.
143f. Siehe auch
bei Eisler
ist eigentlich die Kunst der Unterredung,
dann die Kunst einer methodischen wissenschaftlichen
Forschung, also das, was wir gewöhnlich Logik
nennen.
Die Sophisten
(5. Jahrh. v. Chr.) verstanden darunter die Kunst
des logischen Scheins, die Fertigkeit, den Gegner durch
Fang- und Fehlschlüsse zu täuschen.
Als Erfinder dieser Dialektik wird
Zenon der Eleate (5. Jahrh.
v. Chr.) genannt.
Sokrates (469-399)
gestaltete die Dialektik zur Kunst mit anderen
zu meditieren (Sokratische
Methode) um.
Bei Platon (427-347)
ist es die Methode, einen Gegenstand begrifflich zu erforschen. Der Eros, welcher
das Endliche zum Unendlichen
zu erhöhen strebt, ist der philosophische Trieb; das Mittel, die Wahrheit
zu erlangen, ist die Dialektik,
d.h. die Gesprächskunst. Da sie aber die Wahrheit sucht, so ist die Dialektik
schließlich die Wissenschaft von dem wahrhaft Seienden, von den Ideen (Rep. VI, 511 B. Phil. 58A).
Aristoteles (384-322) hingegen unterschied wissenschaftliche Beweise von den bloß dialektischen
und verstand unter letzteren die Wahrscheinlichkeitsbeweise. Die Dialektik deckt
die verschiedenen Seiten auf, von denen aus ein Gegenstand betrachtet werden
kann, und dient daher namentlich zur Aufsuchung der verschiedentlichen Prinzipien.
(Vgl. Arist. Top. I, 2 p. 101b 2ff.). So näherte sich der Begriff
der Dialektik wieder bei Aristoteles dem der Sophistik.
Auch bei den Stoikern galt sie wieder als die Kunst gut zu reden (epistêmê
tou eu legein).
Für Kant (1724-1804) ist
die Dialektik nicht die Kunst, sondern die Kritik
des dialektischen Scheins der Logik;
sie kritisiert die Ideen, die eine unmittelbare objektive Beziehung nicht
haben, und sie entwickelt z.B. in der Lehre von der Antinomie der reinen Vernunft
den scheinbaren Widerstreit der Vernunft mit sich selbst in Bezug auf die Welt
als Ganzes und die das Geschehen in ihr betreffenden Fragen. (Kr.
d. r. V., S.62ff.)
Schleiermacher (1768-1834) und Hegel (1770-1831) hingegen sind zur platonischen Bedeutung zurückgekehrt.
Jener betrachtet die Dialektik als eine Architektonik alles Wissens, als Organon
für das richtige Verfahren im zusammenhängenden Fortschreiten alles
Denkens und als Kriterium für jedes Einzeldenken, welches Wissen zu sein
beansprucht. Hegel sieht in ihr die allein wissenschaftliche,
dem Gegenstand der Erkenntnis selbst immanente Methode, deren Wesen darauf beruht,
dass nicht bei den abstrakten Bestimmungen der Begriffe stehen geblieben, sondern über diese hinausgegangen und dadurch der wahrhaft
wissenschaftliche Fortschritt gewonnen wird. Sie ist die Aufzeigung
der dem Gegenstand selbst innewohnenden Widersprüche; denn alles
Endliche schlägt in sein eigenes Gegenteil um, damit es sich kraft dieser
Diremption zu einer höheren, reicheren Einheit erhebe.
Das dialektische Denken steht
mithin zwischen dem abstrakt verständigen, welches an der sicheren Bestimmtheit der Begriffe festhält,
und dem spekulativen
Denken, das die Einheit des Entgegengesetzten als das Affirmative betont,
was in ihrer Auflösung und ihrem Übergehen enthalten ist.
Die dialektische Methode betrachtet
das Umschlagen jedes Begriffs in sein Gegenteil und die Vermittlung des Gegensatzes
zu der höheren Einheit (Thesis - Antithesis - Synthesis);
in ihr ist sowohl der bloß unterscheidende Verstand, wie auch die bloß die Unterschiede aufhebende negative Vernunft oder Skepsis als Moment enthalten. Vgl. H. Ulrici, Prinzip und Methode d. Hegelsch. Philos.
1841.
Über das Unhaltbare
der dialektischen Methode Hegels siehe konträr und kontradiktorisch.
-
Neuerdings hat den Namen Dialektik wieder aufgenommen
E. Dühring in seiner natürlichen Dialektik,
1866.
Diallele
(gr. diallêlos sc. tropos) S.
144f.
eigentlich der Schluss
»durcheinander«, der Zirkelschluss,
ist der Fehler im Schlussverfahren, der eintritt,
wenn das zu Beweisende unmittelbar oder mittelbar zum Beweise verwendet wird.
Differenz
(lat. differentia = Verschiedenheit)
S. 145f.
ist in der Logik
ein aus dem beziehenden Denken
entspringender Begriff, dessen Korrelat die Gleichheit ist.
Individuelle Differenz ist der Inbegriff der Merkmale,
wodurch sich ein Einzelding von der Art unterscheidet, spezifische
Differenz (differentia specifica, diaphora
eidopoios) ist der Unterschied einer
Art von der Gattung, generische Differenz ist der
Unterschied der unter einer Familie enthaltenen
Gattungen.
In der Mathematik
ist Differenz der aus einer gegebenen Summe
(Minuendus) und dem einen gegebenen Summandus (Subtrahendus)
zu bestimmende zweite Summandus.
Differenzierung
S. 146
heißt in der Entwicklungslehre die Entstehung neuer
Merkmale, durch die eine Reihe gleichartiger Wesen sich in der Fortentwicklung
voneinander unterscheidet.
Dilemma
(gr. dilêmma von
dis zweimal, lêmma Satz =
Doppelsatz) S.146f.
eigtl. zweiteilige Annahme, ist im logischen Sinne
ein hypothetisch-disjunktiver Schluss, in dem der
Obersatz ein hypothetisches Vorderglied und ein disjunktives
Hinterglied hat, im Untersatz aber die in dieser Disjunktion
enthaltenen Fälle oder Folgen, und somit auch im Schlusssätze das
Vorderglied oder, was dasselbe ist, die Voraussetzung aufgehoben wird.
Das Dilemma schließt so:
Wenn A wäre, so müsste es entweder B
oder C sein; nun ist es weder
B noch C; also ist
A überhaupt nicht.
Ein Beispiel ist: Wenn eine reelle
Quadratwurzel aus -4 (
= Wurzel -4) existierte, so müsste sie entweder +2
oder -2 sein; nun ist sie aber weder +2,
denn (+2)² ist +4,
noch -2, denn (-2)²
ist ebenfalls +4; also existiert keine
reelle Quadratwurzel aus -4 ( = Wurzel-4).
Dieser aufhebende Schluss
(Syllogismus modo tollente) führt leicht zu trügerischen
Schlusssätzen (Cornutus, Krokodilsschluss, Antistrephon),
wenn die Disjunktion im Obersatze unvollständig
ist. Wenn er richtig sein soll, muss die Disjunktion
im Obersatze vollständig sein. Ist die Disjunktion
drei-, vier- oder vielgliedrig, so heißt der Schluss: Tri-,
Tetra- und Polylemma. -
Im allgemeinen Sinne heißt Dilemma eine schwierige
Lage, die uns die Wahl zwischen zwei unangenehmen
Dingen aufnötigt.
Dimension
(lat.) S. 147f.
ist im engeren Sinne die Richtung einer geraden Linie, die mit anderen rechte
Winkel bildet; in der Ebene lassen sich von einem Punkte aus nur zwei, im Räume
drei solcher Linien konstruieren; geht man von der Ebene zur einfachen geraden
Linie zurück, so fällt die eine Gerade fort; man sagt daher, den Sinn
des Begriffes Dimension erweiternd, diese habe eine Dimension (die Länge),
die Ebene zwei (die Länge und die Breite), der Raum drei Dimensionen (Länge,
Breite, Höhe [Tiefe, Dicke]).
Analytisch bestimmt wird ein Punkt in einer Geraden von einem gegebenen Punkte
aus durch eine Variable (x), in der Ebene von dem
Durchschnittspunkt zweier rechtwinkliger Geraden (Koordinaten)
aus durch zwei (x, y),
im Raume vom Durchschnittspunkt dreier rechtwinkliger
Geraden aus durch drei voneinander unabhängige
Variable (x, y, z). Analytisch kann nun der Gedanke
weiter verfolgt werden und ein Punkt durch 4, 5, 6...
n voneinander unabhängige Variable in seiner Lage bestimmt gedacht
werden. So entsteht der Gedanke mehrdimensionaler
Räume; doch korrespondiert der analytischen Formel keine Anschauung, und
der empirisch gegebene Raum wird von diesem Gedanken nicht berührt. Der
empirische Raum ist nur dreidimensional.
Von dem als Spiritisten auftretenden Betrüger Slade
betrogen, nahm dagegen Zöllner (Gesammelte
Abh. 1878) vier Dimensionen des empirischen
Raumes an.
Schon H. More, ein englischer Theosoph,
hat an die Erweiterung der Raumanschauung (Ende d. 17.
Jahrh.) gedacht, dann im 18. der Pfarrer
Fricker und F. C. Öttinger, um den
Zustand der Seelen nach dem Tode (Hiob 11, 7-9; Eph. 3,
18) zu veranschaulichen.
Auch Kant berührt in seinen frühesten Schriften
die Idee eines andersartigen Raumes, als der empirische ist.
Riemann (1826-1866)
suchte durch die vierte Dimension die Schwerkraft,
Mach mehratomige Moleküle zu erklären,
Zöllner deutete dadurch das Rätsel der Symmetrie,
das Hellsehen der Hypnotisierten und die spiritistischen
Phänomene.
Ding
(mlat. ens) S.
148
heißt alles,
was sich ohne Widerspruch
denken lässt.
Solange es nur in Gedanken
nicht auch in Wirklichkeit
existiert, ist es ein Gedankending
(ens cogitabile). Wird ihm Wirklichkeit
zugeschrieben, so heißt es ein reales
Ding (ensreale).
Das Gegenteil vom Gedankending ist das Unding
(non ens), das des
realen Dinges das Nichts
(nihil).
Ein gleichseitiges Tausendeck z.B. ist ein Gedankending,
ein viereckiger Kreis ein Unding;
die Sonne ist ein reales
Ding, ein Messer ohne Klinge und Heft ein
Nichts.
Was die Phantasie
erdichtet (ens imaginarium), existiert
auch nicht, aber muss sich doch wenigstens denken
lassen, z.B. Chimären, Feen, Gespenster, goldene
Berge.
Ding
an sich S.
148f.
heißt bei Kant (1724-1804)
das den Erscheinungen
zu Grunde liegende, außerhalb unseres Bewusstseins
existierende Wirkliche; es ist die Idee eines übersinnlichen
Grundes der Vorstellungen;
es enthält nur den Grund, das Vorstellungsvermögen
sinnlich zu bestimmen; aber es ist nicht selbst
der Stoff der
empirischen Anschauung.
Es ist vielmehr für uns ein völlig unbekanntes
X.
Kant hält Raum
und Zeit nicht für etwas Reales
oder den Dingen objektiv
Anhängendes, sondern nur für Formen
der äußeren und inneren Anschauung.
Aus dieser transzendentalen
Idealität
von Raum und Zeit folgert er, dass die räumlich
und zeitlich bestimmten Außendinge nur Vorstellungen
unserer Sinnlichkeit sind, dass überhaupt alle Objekte
unserer Anschauung nichts
als Erscheinungen (Phänomene)
sind; der nicht in die Sinne fallende, völlig
unbekannte Grund derselben ist das Ding
an sich. –
Diese Ansicht Kants ruft manchen Einwand hervor. So richtig es zunächst
ist, an der Wahrnehmung ein subjektives und objektives Element zu unterscheiden
und zu betonen, dass unseren Sinnen nicht die Dinge, wie sie sind, sondern nur
die Vorstellungen von den Dingen entstammen, so misslich ist es, an der Wahrnehmung Form und Inhalt zu trennen und jene als Raumzeitlichkeit abzusondern.
Der sinnliche Stoff unserer Erkenntnis, der auf den Empfindungen beruht, ist
ebenso sehr nur Bewusstseinsinhalt, wie die sinnliche Form. Andrerseits genügt
die Absonderung der Anschauungsformen Raum und Zeit von den Gegenständen,
unserer Erkenntnis nicht, um zu ihrem Wesen zu gelangen. Auch die Denkkategorien,
die dann übrig bleiben, sind nur im Bewusstsein zu finden und müssen
ebenso wie die Anschauungsformen von dem wirklichen Dinge außerhalb unseres
Bewusstseins abgezogen werden. Dann behalten wir aber nicht, wie
Kant annimmt, die Noumena
(nur begrifflich gedachte Dinge, die als leere Begriffe
dem Ding an sich korrespondieren), sondern schlechterdings nichts übrig.
Das Reelle lässt sich nicht auf dem von Kant eingeschlagenen
Wege der Scheidung von Sinnlichkeit und Verstand finden, sondern es ist das
uns ohne unseren Willen in der Erfahrung durch die Empfindung Gegebene und kann immer nur in den Formen des Bewusstseins erfasst werden.
Das Ding an sich ist eben, wie Schopenhauer
(1788-1860) schon bemerkte, für das Bewusstsein das Ding für mich, d.h. Objekte gibt es nur für Subjekte, und die
Außenwelt wird von uns nach Maßgabe unserer Sinneswahrnehmung und
in den Gesetzen unseres Verstandes erkannt. Der Begriff Ding an sich widerspricht
also dem Begriff des Bewusstseins überhaupt und gehört nicht in die
Erkenntnistheorie.
Also hat es absolut keinen Zweck, sich außerhalb metaphysischer Hypothesen in der Erkenntnistheorie mit Aufstellung des Begriffs des Dings an sich zu plagen.
disjunkt
(lat von disiungere
= scheiden), S.
149f.
geschieden heißen Begriffe, die innerhalb
eines anderen Begriffs einen Gegensatz
bilden, z.B. Mann und Weib (Mensch), Trapez
und Parallelogramm (Viereck).
Disjunkte Begriffe sind also im Umfang eines höheren
Begriffs gelegene koordinierte, aber gegensätzlich erfasste Arten eines
Gattungsbegriffs. Das Verhältnis der
Disjunktion ist die logische Grundlage der Einteilung. In einer Reihe von
koordinierten Artbegriffen müssen disjunkt aber auch diejenigen heißen,
die einen Abstand voneinander haben, nicht nur diejenigen, die die äußersten
Grenzen bilden. Vgl. konträr, kontingent.
Disjunktion
(lat. disiunctio = Scheidung)
S.149
heißt logische Entgegensetzung.
disjunktiv
(lat. disiunctivus)
S. 150
heißt gegensätzlich.
Disjunktive Urteile sind solche,
deren Prädikat oder Subjekt disjunktive Begriffe enthalten.
Ihre Formel ist: A ist entweder
B oder C;
oder: entweder A oder B ist C.
Der disjunktive Schluss ist derjenige,
welcher durch eine bestimmte Aussage über das eine Trennungsglied etwas
über das andere entscheidet:
A ist entweder B oder C;
nun ist A B; also ist A nicht C.
nun ist A nicht B; also ist A C.
Bekannt ist Leibniz' (1646-1716)
Disjunktionsschluss: Wäre die bestehende
Welt nicht die beste, so hätte Gott die beste Welt entweder nicht gekannt
oder nicht schaffen können oder nicht wollen; alle drei Annahmen aber sind
unhaltbar - folglich ist die bestehende Welt die beste von allen möglichen.
Diskrepanz
(lat. discrepantia)
S.150
heißt Abweichung.
diskret
(lat. von discernere
= absondern) S.150
heißt getrennt, abgesondert,
unterschieden.
Diskrete Größen
sind im Gegensatz zu den kontinuierlichen
solche Größen, deren Teile
voneinander abgesondert sind, während
bei kontinuierlichen Größen alle Teile
zusammenhängen. Eine gestrichelte oder punktierte gerade Linie z.B. ist
eine diskrete, eine nicht
unterbrochene gerade Linie, dagegen eine kontinuierliche
Größe.
Die Reihe
der ganzen Zahlen
ist eine diskrete Größe, während
die geometrischen Gebilde kontinuierliche Größen
sind. Dass auch die Zahlenreihe kontinuierlich
gemacht werden kann, hat Dedekind (geb.
1831) nachgewiesen. –
Zu scheiden von dem aus dem Lat. stammenden
Ausdruck ist der auf dem Franz, (discret)
beruhende diskret.
Dieser bedeutet: besonnen unterscheidend, umsichtig,
taktvoll, verschwiegen. Dementsprechend bezeichnet Diskretion
die angemessene Rücksicht in unserem Betragen auf Zeit und Umstände.
Vergleiche Stetigkeit.
diskursiv
(lat. discursus =
das Hin- und Herlaufen, die Besprechung)
S. 150
heißt begrifflich.
Es bildet den Gegensatz zu intuitiv,
welches anschaulich heißt.
Kant (1724-1804) stellt
in der »Kritik der reinen Vernunft«
diskursiv und ästhetisch
einander gegenüber. Eine diskursive Erkenntnis
entsteht demnach aus Begriffen,
die der Verstand
verknüpft, während die intuitive
(oder ästhetische) Erkenntnis auf Anschauungen
beruht.
disparat
S. 151
heißen diejenigen Begriffe,
welche unter keinem gemeinschaftlichen höheren
Gattungsbegriffe stehen, also ohne Gleichheit des
Inhalts sind und
einem dritten Begriff zugleich als seine Merkmale
beigelegt werden können, z.B. Mut
und Schönheit.
Ein Mensch kann zugleich Mut und Schönheit besitzen. -
Disparate Urteile
sind solche, deren Subjekte
disparate Begriffe sind; z.B.:
Den Dachs im Loche beißt der Hund, Soldaten tut
der Säbel kund. Die Zusammenstellung solcher Urteile
wirkt immer komisch,wie im Leben die von disparaten
Dingen.
Disposition
(lat. dispositio) S.151
heißt Gemütsstimmung, Geneigtheit,
Anlage. In anderer Bedeutung heißt es
logische Anordnung eines wissenschaftlichen Stoffs.
distinkt
(lat. von distinguere
= unterscheiden) S.
151
heißt unterschieden, klar. (Vgl.
clare et distincte.) Qui bene distinguit,
bene docet, heißt: Wer gut unterscheidet,
lehrt gut.
Distinktion
S. 151
heißt klarmachendes Urteil, Unterscheidung.
Divisio
(lat. divisio
= Teilung) S.151
heißt die Einteilung des Umfangs eines Begriffs,
also die Zerlegung der Gattung in Arten. Vgl. Einteilung,
Partitio, Anordnung.
Dogmatismus
S.151f.
heißt zunächst das wissenschaftliche
Lehrverfahren, welches von Grundsätzen
ausgeht und aus diesen die Lehrsätze durch Beweise
ableitet. So verfährt die Mathematik.
Als Methode ist
der Dogmatismus ( = Rationalismus)
dem Empirismus,
der in der wissenschaftlichen Forschung von Beobachtung und Experimenten ausgeht,
entgegengesetzt. –
Unter Dogmatismus versteht man ferner nicht nur
ein methodisches Verfahren, sondern eine bestimmte
Stellungnahme im Streite über die Grenzen der menschlichen Vernunfttätigkeit,
und, so genommen, ist der Dogmatismus jede Philosophie,
die den Erfahrungskreis überschreitet, ohne die Überschreitung
vorher durch eine Prüfung der Erkenntniskraft gerechtfertigt zu
haben.
So heißt Dogmatiker oder
Dogmatist derjenige Philosoph, welcher ein unbedingtes
Vertrauen auf die Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft
besitzt und ohne Prüfung und Beweis gewisse allgemeine Sätze als
Grundlage seines Systems aufstellt. Er gebraucht die Vernunft, ohne erst ihre
Fähigkeit und ihre Grenze zu untersuchen, zu metaphysischen Behauptungen.
Den Dogmatikern unter den Philosophen stehen die
Skeptiker und Kritiker gegenüber. Die ersten zweifeln an der Leistungsfähigkeit
der menschlichen Vernunft überhaupt ohne Prüfung der menschlichen
Erkenntniskraft, die zweiten fordern vor jedem Aufbau einer Erkenntnis erst
die Aufstellung einer Erkenntnistheorie, welche die Natur und Grenzen unserer
Vernunft zu prüfen hat.
Dogmatiker sind Cartesius,
Spinoza, Leibniz, Wolf
und die Aufklärungsphilosophen des XVIII.
Jahrhunderts, ferner Fichte,
Schelling, Hegel
gewesen.
(Vgl. Kant Kr. d. r. V. 2. Aufl. Vorrede S. XXXV.
»Dogmatismus
ist - das dogmatische Verfahren der reinen Vernunft
ohne vorangehende Kritik ihres eigenen Vermögens.«) Skeptiker
war Hume, Kritiker waren
Locke und Kant.
Dualismus
(nlt.-franz. von lat. dualis =
zweifach) S.
155ff. Siehe auch
bei Eisler
heißt diejenige Ansicht, welche, im Gegensatz zum Monismus,
zwei Prinzipien annimmt, und zwar entweder in Bezug auf den Menschen oder in
Bezug auf Gott oder in Bezug auf die Welt und das Dasein.
Die erste Form des Dualismus heißt anthropologischer,
die zweite theologischer,
die dritte kosmologischer oder
metaphysischer Dualismus. –
1. Der anthropologische Dualismus
sieht in Leib und Seele des Menschen zwei Wesen, die nicht bloß
durch einen Gegensatz von Qualitäten, sondern auch durch die ganze Form
ihrer Tätigkeit voneinander getrennt sind und weder eine Ableitung auseinander
zulassen, noch eine gemeinsame Grundlage besitzen. Um diesen Gegensatz der Seele
und des Leibes hervorzuheben, bedient sich der Dualismus der Prädikate:
einfach und zusammengesetzt, übersinnlich und sinnlich, unbedingt und bedingt
usw.
Er stützt sich auf die Behauptung, dass die Verschiedenheit der Erscheinungen
einen verschiedenartigen Träger fordere. Er fußt auch auf dem Gegensatz
zwischen Sinnlichkeit und. Vernunft auf dem Gebiet des Erkennens und auch des
Begehrens. Auch glaubt er am besten das Vorhandensein von Irrtum und Sünde
sowie die Existenz von apriorischen Wahrheiten und kategorischen Imperativen
erklären zu können; er rühmt sich, die ursprüngliche und
naive Ansicht zu sein. Gegen ihn aber ist geltend gemacht, dass die Prädikate,
die er an Leib und Seele gegenüberstellt, sich nicht ausschließen;
übersinnlich ist z.B. alles am Leibesleben, was sich unsrer Wahrnehmung
entzieht; und wenn die Körperwelt »bedingt« genannt wird, so
wird hierdurch gerade der Monismus gefordert.
Das Wesen des Geistes in die Freiheit, das des Leibes in die Notwendigkeit zu
setzen, ist willkürlich und hinfällig. Und wenn aus der Verschiedenheit
der Erscheinungen auf verschiedenartige Substanzen geschlossen wird, so ist
dieser Schluss dadurch entkräftet, dass uns nur Vorstellungen, nicht die
Dinge selbst durch unser Bewusstsein gegeben sind. Wir haben räumliche
und zeitliche Vorstellungen von den Dingen; aber die Dinge sind nicht selbst
räumlich, und die Vorstellung des Körpers ist auch nur Vorstellung.
Der Rücksicht auf ethische Interessen darf kein Einfluss auf psychologische
Theorien eingeräumt werden; und den Leib für den Irrtum verantwortlich
zu machen ist deshalb unstatthaft, weil der Irrtum nur Sache des Urteils ist.
Vor allem vermag der Dualismus nicht die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele
und besonders die Sinnesempfindung und Bewegung zu erklären.
Der eigentliche anthropologische Dualismus beginnt
in der Neuzeit erst mit Descartes (1596-1650)
und ist von Leibniz (1646-1716)
bekämpft, wirkt aber noch in Kant abgeschwächt
nach;
in neuerer Zeit haben ihn Krause, Günther, Ulrici
u.a. vertreten. Vgl. W. Volkmann, Psychol.
4. Aufl. 1894. 1, 102, 136. Flügel, die Seelenfrage. Köthen 1878.
2. Der theologische Dualismus
nimmt zwei Urprinzipien der Dinge, ein gutes und ein böses
an, welche seit Ewigkeit im Streite liegen. Diese durch den Parsismus und Manichäismus
vertretene Ansicht macht das Wesen Gottes innerlich widerspruchsvoll. Vergleiche
böse, Determinismus,
Freiheit.
3. Der kosmologische oder metaphysische
Dualismus stellt zwei Grundwesen auf, aus denen alles Vorhandene
bestehen soll, Geist und Materie (Anaxagoras)
oder Denken und
Ausdehnung
(Cartesius), von denen er annimmt, dass nicht
eins auf das andere oder beide auf ein drittes zurückgeführt werden
könnten. Aber dieses Stehenbleiben bei zwei Prinzipien hat etwas Unbefriedigendes
an sich, und fast alle modernen philosophischen Versuche zielen darauf hin,
ein einziges letztes Prinzip für die Lösung der Welträtsel zu
finden und sich monistisch abzurunden.
Das einzige ausgesprochen dualistische System eines bedeutenden neueren Philosophen
ist nur der Cartesianismus
gewesen, und wo die Systeme größerer Denker nicht voll monistisch
ausfielen, da hat die Mit- und Nachwelt sofort die monistische Umbildung in
die Hand genommen, wie es z.B. dem Kantianismus
durch Fichte, Schelling und Hegel
erging. Vergleiche Metaphysik,
Monismus.
Duldsamkeit
(Toleranz) S.
157
ist die Anerkennung fremder Ansichten und Grundsätze,
besonders auf religiösem und konfessionellem Gebiete.
Die Toleranz ist eine Pflicht jedes einzelnen wie
auch des Staates, da keine Partei behaupten kann, im Besitze der Wahrheit zu
sein, und jeder Mensch als moralische Person das Recht hat, religiös zu
denken, was er will, wenn er damit nicht gegen das Strafgesetzbuch oder die
Sittlichkeit verstößt.
Echte Toleranz entspringt nicht
aus Gleichgültigkeit gegen Religion
und Moral, sondern
aus Humanität
und Einsicht.
Die Toleranzidee hat sich philosophisch
in England und Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert entwickelt
und zur Zeit unserer klassischen Dichtung auch in Deutschland ihre bedeutenden
Vertreter, wie Lessing gefunden. (Vgl.
Lessings »Nathan«). In der verhetzten
und gespaltenen Gegenwart hat sie viele fanatische Gegner gefunden.
Dummheit
S. 157
ist die Schwäche der Erkenntnisfähigkeit, welche sich in Mangel an
Empfänglichkeit, an Denk- und Urteilskraft zeigt. Ursprünglich bezeichnet
»tumpheit« die Weltunerfahrenheit,
wie sie z.B. der junge Parzival und Simplicissimus
besaßen.
Dunkel
S. 157f.
ist der Gegensatz
zu klar.
Dunkel heißt eine Vorstellung,
wenn ihr Gegenstand für den Vorstellenden nicht genügend
gegenwärtig und verständlich, sie selbst nicht genügende
von anderen Vorstellungen gesondert sind. Vergleiche
klar, verworren.
Dynamik
(dynamikos von dynamis, Kraft)
S. 158
ist die Lehre von der Kraft,
welche die Körper in Bewegung setzt. Sie handelt nicht nur von den aus
der Erfahrung hervorgehenden Gesetzen der Bewegung, sondern auch vom Wesen der
Kräfte.
Im übertragenen Sinne kann man auch von einer
Dynamik der psychischen Vorgänge reden.
Z.B. ist Herbarts Psychologie in dieser übertragenen
Bedeutung Dynamik der Vorstellungen.
Dynamismus
S.158
ist eine Form des Materialismus und
bildet den Gegensatz zum Atomismus. Während der Atomismus die Naturerscheinungen
nur aus der Lage, Stellung und wechselnden Verbindung der Atome zu erklären
versucht, erklärt der Dynamismus die Naturphänomene
anthropomorphisierend aus qualitativ bestimmten Kräften, Abbildern des
menschlichen Willens, deren Wirksamkeit die mathematische Bestimmtheit der Natur
verursacht. Er stützt sich vornehmlich auf die organischen Vorgänge,
welche der Atomismus (s. d.) nicht zu erklären vermag.
Der Dynamismus schreibt entweder den Erscheinungen
gewisse ihnen innewohnende Kräfte zu, wie Kant der
Materie Attraktion und Repulsion, Liebig den Organismen
Lebenskraft, oder er setzt die Entstehung der Kräfte samt der mathematischen
Bestimmtheit ihrer Wirkungsweisen auf das Konto der qualitativen Verhältnisse
des den Phänomenen
zugrunde liegenden X.
Die verschiedenen Ansichten sind auch vielfach als verbindungsfähig angesehen
worden. Der Begriff der Kraft als Inhärenzbegriff ist dann als Korrelat
eines Wesens betrachtet worden, das sein Träger ist, mag man es als Substanz,
Monade oder Reales
denken.
Fechner hob hervor, dass gewisse Naturerscheinungen
nur unter Annahme der Atome denkbar seien: die Farbenzerstreuung, Wärmeleitung
und Wärmestrahlung. Vgl.
Fechner, d. physikal u. philos. Atomenlehre. 2. Aufl. Leipzig 1864:. Julius
Schultz, Die Bilder der Materie. Göttingen 1905.
Edelmut
S. 159
heißt die Gesinnung desjenigen, der, von Niedrigkeit
und Eigennutz frei, aus feinerem sittlichen Empfinden heraus sich getrieben
fühlt, gut und hilfreich gegen andere zu sein
und so das Göttliche in seinem
Beispiele herzustellen. Vergleiche
Goethes Gedicht, Das
Göttliche: »Der edle Mensch sei hilfreich
und gut. Unermüdet schaff' er das Nützliche, Rechte, sei uns ein Vorbild
jener geahnten Wesen!«, Wielands Oberon:
»Nichts halb zu tun ist edler Geister Art.«
Egoismus
(nlt. und franz. v. lat. ego =
ich) S. 159f
heißt eigentlich Ichtum,
Selbstsucht, Eigennutz.
Man kann einen doppelten Egoismus unterscheiden,
den theoretischen und den praktischen.
Der theoretische Egoismus, jetzt gewöhnlich
Solipsismus genannt, ist die Lehre, dass nur das eigene Ich existiere, und dass
die übrige Welt nur Vorstellung des Ichs, Phänomen für dasselbe
sei.
Ein solcher Standpunkt ist z.B. die logische Konsequenz des Immaterialismus
von Berkeley (1685 bis 1753),
der das Sein im Wahrgenommenwerden bestehen lässt (esse = percipi), obwohl
Berkeley selbst diese Theorie nicht konsequent durchgebildet hat
(siehe Liebmann, Analysis der Wirklichkeit, 1876, S. 19ff.); ein solcher
Standpunkt ist auch die Konsequenz der Lehre Fichtes
(1762-1814), soweit das Fichtesche Ich als persönliches
Einzel-Ich gefasst wird.
Goethe lässt im Faust
II, 2 den Baccalaureus Mephistopheles gegenüber
den sich zum Egotheismus
steigernden Gedanken des Solipsismus vertreten: »Die
Welt sie war nicht, eh' ich sie erschuf; die Sonne führt' ich aus dem Meer
herauf; mit mir begann der Mond des Wechsels Lauf; da schmückte sich der
Tag auf meinen Wegen, die Erde grünte, blühte mir entgegen«
usw.
Aller theoretischer Egoismus hat
aber etwas Unpraktisches, im Leben Undurchführbares an sich. –
Der praktische Egoismus ist nach
Kant (Anthropologie § 2)
ein dreifacher, der logische, ästhetische und
moralische.
»Der logische Egoist hält
es für unnötig, sein Urteil auch am Verstande anderer zu prüfen.«
»Der ästhetische Egoist
ist derjenige, dem sein eigener Geschmack schon genügt.«
»Der moralische Egoist (ist)
der, welcher alle Zwecke auf sich selbst einschränkt, der keinen Nutzen
worin sieht, als in dem, was ihm nützt auch wohl als Eudämonist bloß
im Nutzen und der eigenen Glückseligkeit, nicht in der Pflichtvorstellung,
den obersten Bestimmungsgrund seines Willens setzt. Denn weil jeder andere Mensch
sich auch andere Begriffe von dem macht, was er zur Glückseligkeit rechnet,
so ist's gerade der Egoismus, der es so weit bringt, gar keinen Probierstein
des echten Pflichtbegriffs zu haben, als welcher durchaus ein allgemein geltendes
Prinzip sein muss.
Alle Eudämonisten sind daher praktische Egoisten.« Den moralischen,
rücksichtslosen Egoismus meinen wir im allgemeinen, wenn wir das Wort Egoismus
gebrauchen. Vom Egoismus ist zu unterscheiden die Selbstliebe. (Siehe Selbstliebe
und Eigenwert.) Dem Egoismus entgegengesetzt ist
der Altruismus
oder Tuismus oder
nach Kant der Pluralismus.
Egotheismus
(Neubildung aus d. Lat. u. Gr.)
S. 160
heißt Selbstvergötterung.
Ehre
S. 161f.
ist die Anerkennung unserer wirklichen
oder vermeintlichen Vorzüge
durch andere (existimatio).
Da die Ehre eine Voraussetzung gedeihlicher Wirksamkeit des Menschen ist, so
tut der Mensch
nicht Unrecht, nach Ehre zustreben, soweit er dadurch
nichthöhere Pflichten versäumt. Es ist aber dabei zwischen äußerer
und innerer Ehre zu unterscheiden. Leicht kann man durch das einseitige
Trachten nach äußeren Ehren
(Titel, Orden, Würden u. dgl.),
die vor der Menge gelten, die Selbstachtung
und die Achtung der Urteilsfähigen (honor, dignitas)
einbüßen.
Das wahre Ehrgefühl jagt
daher nicht nach äußeren Ehrenzeichen, sondern begehrt nur nach dem,
was wirklich ein Lob oder eine Tugend
ist, und tröstet sich, falls es nicht anerkannt wird, mit dem Beifall seines
Gewissens. Kann
man nicht äußere und innere Ehre zugleich erlangen, so wird der bessere
Mensch nur nach der inneren oder moralischen Ehre, nach der auf Selbstachtung
gegründeten sittlichen Würde trachten.
Auch zwischen der allgemein menschlichen und
der bürgerlichen Ehre
ist zu scheiden. Jene ist die dem Menschen als solchem zukommende Würde
und Achtung, die nach den Grundsätzen der Moral von ihm sowohl beobachtet
als auch beansprucht werden kann; diese ist die Achtung, die ihm als Rechtssubjekt
gebührt, sei es überhaupt, sei es als Mitglied eines Standes (Familien-,
Berufs-, Standes-, Nationalehre). Auch sie ist ein Gut, dessen Verletzung
niemand dulden soll.
Unter den Idealen des Lebens nennt von den deutschen Dichtern die Ehre zuerst
Walther von der Vogelweide neben Reichtum und göttlicher
Huld (diu zwei sint ere und varnde guot, daz dicke einander
schaden tuot; daz dritte ist gotes hulde, der zweier übergulde. Lachmann
8, 14-17).
Schopenhauer (1788-1860)
widmet in den Aphorismen zur Lebensweisheit
Kap. IV (Von dem, was einer
vorstellt, Parerga u. Paralipomena S. 382) dem Begriff der Ehre einen
Abschnitt. Er definiert: Ehre ist objektiv die Meinung anderer von unserm Wert
und subjektiv unsere Furcht
vor dieser Meinung.
Ehrerbietung
S. 162
ist die durch Handlungen einem anderen erwiesene
Hochachtung; verbindet sich damit Anerkennung und Unterwürfigkeit,
so heißt sie Ehrfurcht.
Ehrgefühl
S. 162
ist das Gefühl für Ehre und Schande
und die Gesinnung, welche auf Ehre hält. Es ist das Gefühl
der sozialen Selbstachtung, welches
uns antreibt, das Bild, welches andere von uns haben, fleckenlos zu erhalten
oder, wenn nötig, wieder rein herzustellen. Aber das Ehrgefühl bleibt
nicht dabei stehen, unser Abbild in anderen als ein Heiligtum (noli
me tangere) zu hüten, sondern es verlangt auch, dass darauf
äußerlich Wert gelegt, dass es geehrt werde.
Das Ehrgefühl hat Stufen:
»Das Kind begnügt sich, überhaupt geschätzt
zu werden, etwa wie ein wertvolles Spielzeug; der Jüngling will als freie
Persönlichkeit gelten und fordert es despotisch; der Mann mag, weil er
sich in seinem Stande fühlt, als etwas Bestimmtes gelten.« Vgl.
W. Volkmann, Psychol.II, 377. Cöthen 1885. 4. Aufl. 1894. Lazarus, Leben
der Seele (Ehre und Ruhm). 3. Aufl. 1883. Ackermann, das Ehrgefühl im Dienste
d. Erziehung. 1883.
Ehrgeiz
S. 162
ist die übertriebene Begierde nach äußerer
Ehre. Wenn sich die Ehrliebe zum Ehrgeiz entwickelt, sinkt das
Ehrgefühl zum sittlich gleichgültigen
Selbstgefühl
herab; denn dem Ehrgeizigen ist meist jedes Mittel
recht; er schämt sich nicht, die Ehre durch Ehrlosigkeit zu erkaufen. Wie
jede Begierde,
wächst der Ehrgeiz, je mehr er befriedigt wird, und macht daher den Menschen
unglücklich.
Eifersucht
S. 163f.
ist die mit Hass
verknüpfte Furcht, den Besitz
einer geliebten Person
oder Sache mit einem anderen teilen oder an einen anderen verlieren zu müssen.
Vom Neid unterscheidet
sie sich dadurch, dass jener ein Gut einem anderen nicht gönnt, ohne es
gerade selbst besitzen zu wollen, die Eifersucht aber den ausschließlichen
Besitz beansprucht, auch dadurch, dass es sich beim Neide um
ein allgemeines, öfter vorhandenes Gut, bei der Eifersucht um eine bestimmte
einzelne Persönlichkeit oder um ein individuelles Gut handelt.
Die Eifersucht kann sich auf jede Art von Gut beziehen: Gelehrte, Künstler,
Helden, Könige können auf den Ruhm des anderen eifersüchtig sein;
Freunde, Geschwister, Eltern auf die Liebe, welche den anderen gewidmet wird.
Im engeren Sinne bezieht sich die Eifersucht aber nur auf die Geschlechtsliebe;
Liebende und Gatten werden am leichtesten und heftigsten aufeinander eifersüchtig,
da sie einander ausschließlich beanspruchen. Frauen verfallen diesem Affekt
öfter als Männer, teils wegen ihrer größeren Reizbarkeit,
teils wegen der größeren Freiheit der Männer. So verderblich
oft die Folgen dieser Leidenschaft sind, so ist es den Frauen keineswegs immer
unangenehm, wenn ihre Liebhaber eifersüchtig sind; ja sie legen es wohl
darauf an, sie dazu zu machen; denn Eifersucht zeugt von Liebe,
wenn auch zugleich von Misstrauen zu sich selbst und zu der Treue des Geliebten.
Ein klassisches Beispiel für die Eifersucht gibt
Shakespeare's Othello.
Eigenschaft
(attributum) S.
164
heißt jedes einem Dinge oder Begriffe beigelegte
Merkmal, durch
welches seine bleibende Beschaffenheit bestimmt wird. Im gewöhnlichen Sprachgebrauche
werden unter Eigenschaften sowohl die einem Gegenstande dauernd
angehörigen Merkmale als auch die vorübergehenden
Zustände desselben verstanden.
Im strengen wissenschaftlichen Sprachgebrauche sollten (mit
Wundt) nur solche Merkmale als Eigenschaften gelten, die dauernd an einem
Dinge haften.
Man kann somit wohl wesentliche und zufällige Merkmale unterscheiden; aber
nur jene verdienen vorzugsweise den Namen der Eigenschaften.
Man unterscheidet ferner konstitutive, d.h. unabgeleitete wesentliche, und konsekutive,
d.h. abgeleitete wesentliche Eigenschaften, endlich eigentümliche, die
einem Dinge allein zukommen, und gemeinsame, die es mit anderen teilt. Der
Eigenschaftsbegriff ist das Korrelat des Substanzbegriffes.
Vergleiche Substanz,
Akzidenz.
Eigensinn
S. 164f.
heißt die Gesinnung, welche zur hartnäckigen
Verfolgung eines Grundsatzes oder eines Entschlusses ohne
Achtung auf Gegengründe oder Hemmnisse oder den mangelnden Wert
des Erstrebten antreibt. Der Eigensinn ist eine Übertreibung
der Willensstärke, die dadurch zustande kommt, dass der Mensch sich
wider bessere Einsicht an eine einmal gefasste Idee oder Absicht anklammert,
nur um nicht schwach zu erscheinen. Dadurch wird der Eigensinn zur Schwäche.
Denn der Mensch befreit sich durch Starrheit von der Aufgabe, zu prüfen
und zu wählen; der Eigensinn, die Art sich ohne Erwägung zu entschließen
und bei dem unmotivierten Beschluss zu beharren (Hoc
volo, sic iubeo, sit pro ratione voluntas, Juvenalis Sat.
6, 223), tritt gewöhnlich an den Stellen hervor, wo
sich ein Charakter unsicher fühlt. Willensschwäche, einseitige, unfertige
und des plötzlichen Umschlags fällige Menschen sind oft die eigensinnigsten,
während Stärke, Vielseitigkeit der Einsicht und des Handelns und Konsequenz
vor Eigensinn bewahrt. Der wahre Charakter
hält seine Maximen
beisammen und lässt sich je nach den Verhältnissen durch die Vernunft
bestimmen, während der Eigensinnige blindes Vorgehen für Charakter
nimmt.
Vgl. Wolff, Gemüt u. Charakter Leipzig 1882.
Eigentum
(lat. dominium) S. 165f.
heißt alles, worauf jemand ein Recht durch Kauf, Erwerb, Geschenk oder
Erbschaft erworben, oder worauf er mit Ausschluss eines anderen einen Anspruch
hat. Er kann damit machen, was er will; er kann es verändern, verschenken,
verkaufen usf.
Besitz hingegen ist nur die faktische Herrschaft über eine
Sache. Das Eigentum kann Einzel- oder
Gemeineigentum sein, je nachdem
es einer Person
oder einer Gemeinschaft von Personen gehört.
Die Unverletzlichkeit des Eigentums bildet eine Hauptstütze der menschlichen
Gesellschaft.
Kant (1724-1804) definiert:
»Das Rechtlich-Meine (meum
iuris) ist dasjenige, womit ich so verbunden
bin, dass der Gebrauch, den ein anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen
möchte, mich lädieren würde. Die subjektive Bedingung der Möglichkeit
- des Gebrauchs überhaupt ist der Besitz«.
(Kant, Metaphysik der Sitten 1, S. 55).
Die natürliche Eigentumstheorie (Stahl, Bluntschli)
betrachtet das Eigentum als ein Urrecht der menschlichen Persönlichkeit,
die Okkupationstheorie (vertreten von den Naturrechtslehrern
des 17. und 18. Jahrhunderts) führt es auf erste Besitzergreifung
zurück, die Arbeitstheorie
(Locke, Thiers, Bertin) auf Arbeit, die Vertragstheorie
(Grotius, Pufendorf, Kant) auf Vertrag und die
Legaltheorie (Hobbes,
Montesquieu, Bentham,
Kant) auf positive Gesetze.
Der Sozialismus fordert die Rückkehr zum Gemeineigentum.
Der Begriff des Eigentums als Rechtsbegriff
ist ohne wesentliche Schwierigkeiten.
Der Begriff des Eigentums als philosophischer
Begriff ist weit schwieriger. Als Eigentum kann philosophisch
nur gelten, was dauernd mein ist, und was ich wahrhaft nutze. Dauernd mein sind
aber weder äußere Reichtümer, noch körperliche Eigenschaften,
noch geistige Habe. Darum ist selbst das die geistige Habe als wahre Habe der
körperlichen und äußeren voranstellende philosophische Wort
(des Bias) unzutreffend: Omnia
mecum porto mea (Cicero, Paradoxa I, 1,8),
und nur Goethes Wort trifft zu: »Was
du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, nm es zu besitzen. Was man
nicht nutzt, ist eine schwere Last. Nur was der Augenblick erschafft, das kann
er nützen.« Vgl. Leist, Natur des
Eigentums. Jena 1859. Mayer, Das Eigentum nach den verschiedenen Weltanschauungen.
Freiburg 1871.
Eigentum
ist Diebstahl (la propriete c'est le
vol) S. 166
behauptete Proudhon (1809-1865)
in seinem Buche »Qu'est-ce que la propriete?«
1840. Doch hat Ähnliches schon
Brissot 1780 gesagt.
Eigenwert
S. 166
ist der Wert, den wir als Persönlichkeit
erworben haben. In der Herausbildung eines Eigenwertes der Person
durch individuelle Vervollkommnung aller Gaben sieht August
Döring (Philosophische Güterlehre 1888)
das höchste Gut
und damit das ethische Ziel der Menschen.
Einbildung
(gr. phantasia)
S. 166
heißt
1. eine Vorstellung
überhaupt;
2. eine Vorstellung, der nichts
in der realen Welt
entspricht (imaginatio), vgl.
Vision;
3. eine unbegründete Vorstellung,
die jemand von seinem Werte
hat.
Einheit
S. 167 Siehe auch
bei Eisler
ist nach dem allgemeinen Sprachgebrauch
entweder das anschaulich gegebene Einzelne oder ein zusammengesetztes Ganzes,
das jedoch das
Bewusstsein auf einmal erfasst und denkt. So ist die Einheit
eines Begriffs
die Zusammenstimmung seiner Merkmale
in der Gesamtvorstellung. Vergleiche
Monade. -
In der Ästhetik
bezeichnet Einheit die Zusammenstimmung
der Teile
eines schönen Gegenstandes
in sich und die Durchdringung des Gegenstandes
durch eine verbindende
Idee.
Einteilung
S. 167f.
ist die Zerlegung des Umfangs
oder des Inhalts
eines Begriffs.
Man unterscheidet
demnach Divisio und Partitio.
Divisio ist die Einteilung des
Umfangs eines Begriffs, d.h. also die Zerlegung der Gattung in Arten usw. Die
Einteilungsglieder (membra divisionis) entstehen
dadurch, dass der Gattungsbegriff
(totum divisum) durch verschiedene Merkmale
determiniert wird, welche in einer
Reihe liegen, also ursprünglich selbst Determinationen eines der Merkmale
sind, die sich in dem einzuteilenden Begriff vorfinden.
Je nach der Zahl der Glieder heißt die Einteilung
dichotomisch, trichotomisch oder polytomisch
(zwei-, drei-, vielgliedrig).
Das Merkmal des eingeteilten Begriffs, nach dessen Determination sich die Einteilung
richtet, heißt Einteilungsgrund
(principium dividendi); ohne solchen würden
die Glieder nicht in einer Reihe der Unterordnung liegen. Für jeden Begriff
gibt es natürlich so viel Einteilungsgründe als Merkmale; der Begriff
Mensch lässt sich z.B. nach Alter, Geschlecht, Stand, Farbe, Temperament
usw. einteilen. Wendet man mehrere Einteilungsgründe zugleich an, so erhält
man Kodivisionen, d.h. koordinierte Einteilungen;
die fortgesetzte Einteilung schon gewonnener Einteilungsglieder führt zur
Subdivision (Unterteilung). Nur durch Anwendung
aller Einteilungsgründe kann das Ideal der Einteilung, die Klassifikation,
erzielt werden, welche ein System, z.B. die Botanik, Zoologie u. dergl. darstellt.
–
Partitio ist dagegen die Zerteilung
des Inhalts eines Begriffs in die Merkmale. Die Partitio muss die vollständige
Summe der wesentlichen Merkmale durchlaufen. Am besten bringt man also
den Begriff in eine Definition
und sondert nacheinander die einzelnen Merkmale aus.
Bei einer Divisio enthält
jedes Glied sämtliche Merkmale des eingeteilten
Begriffs, bei einer Partitio enthält
kein Glied das Wesen des Ganzen. –
Hauptregeln einer guten Einteilung sind:
1. Sie darf weder zu eng noch zu weit sein, d.h. es darf kein Glied zu viel
oder zu wenig sein;
2. die Glieder müssen sich wirklich ausschließen; es ist z.B. falsch,
die Menschen in Gebildete und Arme einzuteilen;
3. Ober- und Unterabteilungen dürfen nicht vermischt werden;
4. die Einteilung muss fruchtbar sein; es würde z.B. außer in einer
Kostümkunde nichts nützen, die Menschen nach ihrer Kleidung einzuteilen;
5. sie muss erschöpfend sein, d.h. das Einteilungsprinzip muss durchgeführt
werden;
6. sie muss auch stetig sein, um jeden Sprung
(hiatus divisionis) zu vermeiden.
Eitelkeit
(lat. vanitas)
S. 168
bezeichnet objektiv
die Vergänglichkeit der Dinge,
subjektiv das
Selbstgefühl,
welches sich auf wirkliche oder eingebildete nichtige
Vorzüge stützt.
Die subjektive Eitelkeit besteht in
dem beständigen Verlangen nach fremder Bewunderung für Dinge, die
gar nicht den inneren Wert des Menschen ausmachen, z.B. Schönheit, Orden,
Titel, Reichtum, Gelehrsamkeit u. dgl.
Der Eitle sucht bloß die äußeren Zeichen der Ehre ohne ihren
inneren Gehalt, ja er buhlt förmlich um Anerkennung, während der Stolze
sie verschmäht.
Die Eitelkeit ist eine der verbreitetsten Charakterschwächen der Menschen.
Nicht bloß die Frauen sind eitel auf Schönheit, Kleider, Putz, kleine
Füße und Hände, sondern auch Männer sind es, wenn auch
mehr auf Geburt, Stärke, Titel, Orden, Kunstfertigkeiten und Kenntnisse.
Vgl. Stolz.
Ekel (lat. nausea) S.168
ist in allgemeinerer Bedeutung der heftige Grad des Widerwillens gegen ein Objekt, der mit körperlichem Übelbefinden verknüpft ist. In engerer Bedeutung ist er ein Zustand der Geschmacks- und Geruchsempfindung. Dieser Ekel kann als eine Halluzination der Magen- und Geschmacksnerven (nervus vagus und glossopharyngeus) betrachtet werden.
Wundt (geb. 1832) definiert ihn als eine Muskelempfindung, deren Ausbreitung und Verlauf durch die antiperistaltischen Bewegungen der Schlingmuskeln des Ösophagus (Speiseröhre) und Magens bestimmt wird (Grundz. der phys. Psych. I S. 412). –
Sittlich ekelhaft heißt alles, was eine gemeine Denkart verrät.
Ekstase
(gr. ekstasis) S. 169 Siehe auch bei Eisler
eigentlich das Außersichsein, Veränderung,
ist derjenige Grad von Begeisterung, in welchem der Mensch seine Phantasiebilder
mit wirklichen Gegenständen verwechselt. Der Schwärmer hört Stimmen,
sieht Gestalten, fühlt und schmeckt etwas, von dem nichts in der realen
Wirklichkeit ist.
In diesen an Wahnsinn grenzenden Zustand wird er durch körperliche Störungen,
Nervenüberreizung oder Ausschweifung der Phantasie versetzt.
Nach Plotinos (205 bis 270)
ist die Ekstase die Ruhe
der Seele in Gott, den sie unmittelbar
erfasst.
Der Mystiker Joh.
v. Ruysbroek (1381) hieß Doctor
ecstaticus.
Vgl. B. A. Mayer, die Sinnestäuschungen, Hallucinationen
und Illusionen. Wien 1867. Preyer, die Entdeckung des Hypnotismus. Berlin 1881.
Eleaten
S. 169f.
Die Eleaten, die ihren Namen von
der Stadt Elea in Lukanien hatten,
waren Philosophen dreier Menschenalter
im 6. und 5. Jahrh. v. Chr. (ungefähr 550-450), welche
die Lehre von der Einheit
und Unveränderlichkeit des Seienden vertraten
und die Existenz der Vielheit,
der Bewegung und des
Werdens ableugneten.
Ihr ältester Vertreter Xenophanes von Kolophon
(zwischen 580 und 575) gab der Lehre eine theologische
Form, indem er den griechischen Polytheismus und Anthropomorphismus
bekämpfte, die Einheit, Ewigkeit,
Unveränderlichkeit und Geistigkeit des Göttlichen behauptete und das
Weltall dem Göttlichen pantheistisch gleichsetzte.
Der zweite Eleat, Parmenides (geb.
zw. 520 u. 510 in Elea), ein Schüler des Xenophanes,
gestaltete die eleatische Lehre in eine metaphysische Theorie vom Sein
und Nichtsein um. Nach ihm ist nur das Sein;
es ist ungeworden, ewig, eins, unveränderlich und
unbeweglich, eine den Raum kontinuierlich erfüllende
Kugel, und Sein und Denken
ist bei ihm ein und dasselbe. Das Nichtsein ist nicht.
Es gibt kein Werden. Alles Viele
und Wechselnde ist nur Schein
und Redetrug, und alle Sinneserkenntnis ist nur Täuschung.
Die dritte Generation bilden Zenon
(geb. am Anf. d. 5. Jahrh.) und Melissos
(5. Jahrh.), die beide Schüler des Parmenides
waren. Sie sind die Dialektiker der eleatischen Schule und suchen die Lehre
des Parmenides indirekt durch Beweise
gegen die Vielheit und Bewegung (wie den Achilleus,
den fliegenden
Pfeil usw.) zu stützen. Alle Eleaten haben
also gemeinsam den Gegensatz zur Volksreligion, die Verwerfung des Erfahrungswissens,
die Entwicklung der Begriffe des Seins und Nichtseins, die Leugnung der Vielheit
und Bewegung und andrerseits die Unfähigkeit, zum reinen Idealismus
vorzudringen.
Innerhalb der griechischen Philosophie hat die
Lehre der Eleaten am meisten auf Platon
(427-347) eingewirkt, der mit ihr in der Forderung
eines Seins und in der Verwerfung der Sinneserkenntnis übereinstimmte,
hierauf aber seine Ideenlehre begründete. Von neueren philosophischen Theorien
nähern sich stellenweise der eleatischen Philosophie der Spinozismus und
die Metaphysik Herbarts (1776-1841).
Emanation
(lat. emanatio) S.
171 Siehe auch
bei Eisler
eigentlich Ausfluss, ist die Lehre
des Zoroaster, der Neuplatoniker
und der Gnostiker,
nach der die Welt durch Überfließen
der göttlichen Fülle (plêrôma)
mit innerer Notwendigkeit
entstanden ist.
Das von dem ursprünglich Vollkommenen Emanierte
entfernt sich gradweise immer mehr davon und wird so immer
schlechter; so erklärt sich nach Ansicht jener Denker auch schließlich
das Hervorgehen des Bösen aus Gott.
Vergleiche böse.
Empfindung
(von ahd. intfindan) S.
172f.
heißt das durch einen Nervenreiz veranlasste objektive Element der Bewusstseinsinhalte.
Die Empfindung, die erfahrungsmäßig durch die Einwirkung eines Äußeren
auf das Innere, oder durch die Aufnahme eines Sinneseindruckes in die Seele
entsteht, ist ein durch ein körperliches Organ vermittelter objektiver
Grundbestandteil der Bewusstseinsinhalte, im Gegensatz zu dem auf dieselbe Weise
veranlassten subjektiven Gefühlszustand der Lust und Unlust. Zustande kommt
die Empfindung dadurch, dass ein äußerer Reiz eine Nervenfaser erregt
und diese Erregung ins Gehirn fortgepflanzt wird, wo sie sich in einen psychischen
Inhalt umsetzt. Man hat physikalische und physiologische Empfindungsreize zu
unterscheiden, je nachdem sie in der Außenwelt oder in unseren Organen
entspringen. Die physiologischen zerfallen wieder in zentrale und peripherische;
jene bestehen aus Vorgängen im Gehirn, diese aus solchen in den Körperorganen.
Alkmaion von Kroton (5. Jahrh.)
meinte, es drängen gewisse Ausflüsse von Dingen durch Poren in die
Augen, Ohren usw.; ähnlich lehrten Empedokles
(484-424), Demokritos
(460-320) und Anaxagoras
(500-428); aber schon Aristoteles
(384-322 v. Chr.) erkannte, dass nicht die Materie
des Objekts in die Seele kommt, sondern nur dessen Form.
Die Scholastik lehrte wieder einen physischen Einfluss
(influxus physicus) der Dinge in die Seele.
Descartes (1596-1650)
denkt sich, dass der Reiz vom Organ durch die Nerven sich zum Gehirn fortpflanze
und dort die vom Herzen aufsteigenden Lebensgeister bewege.
Leibniz (1646-1716)
betont die Selbsttätigkeit der Seele und lässt die Empfindung aus
dunklen Perzeptionen entstehen.
Kant (1724-1804) leitet
die Empfindung aus der passiven Sinnlichkeit ab, welche das empirische Material
hergebe, während es erst durch die apriorische Kraft des Subjektes geformt
werde.
Neuere Psychologen, wie Wundt, Lange
und Spencer, fassen die Empfindung
als subjektiv-innerliche Erscheinungsweise der objektiven Molekularbewegung
in der Nervenfaser. –
Die Empfindungen sind nach Inhalt (Qualität)
und Stärke (Intensität) verschieden.
Ferner unterscheidet man sensitive und sensorielle Empfindung; jene wird durch
die Empfindungsnerven, die im Rückenmark endigen, vermittelt, diese durch
die im Gehirn endigenden Sinnesnerven. Jene bringt uns den Zustand unseres eigenen
Leibes, diese die Außenwelt zum Bewusstsein.
Vgl. G. A. Spieß, Physiol. d. Nervensystems. Braunsch. 1844. Tourtual,
Die Sinne des Menschen. 1837. W. Wundt, Grundzüge d. physiolog. Psychol.,
3. Aufl. Leipzig 1887.
Empirie
(gr. empeiria, lat. experientia),
Erfahrung,
S. 173
heißt zunächst jede sinnliche
Wahrnehmung,
sodann die systematische Verknüpfung der
Wahrnehmungen, welche wir durch
Bearbeitung und innere Verbindung
der Wahrnehmungen gewinnen. Diese Erfahrung,
welche dem Hörensagen, der mündlichen und der schriftlichen Überlieferung
gegenübersteht, hat wegen ihrer Tatsächlichkeit und Allgemeinheit
einen hohen Erkenntniswert.
Natürlich verbindet sich das Erfahrungswissen aufs engste mit der sie zusammenfassenden
und gestaltenden Denktätigkeit.
Kant (1724-1804) drückt
dies in dem Satze aus: »Gedanken
ohne Inhalt sind leer,
Anschauungen
ohne Begriffe
sind blind.« Aber die Erfahrung allein
und nicht die von der Erfahrung
unabhängige Denktätigkeit
setzt uns mit der objektiven
Welt in Verbindung.
Die wissenschaftliche Erfahrung
vollzieht sich durch Abstraktion,
Analogie und
Induktion .
Die Vorzüge der Empirie sind
ihre Gewissheit
und Wahrheit,
d.h. die Unmittelbarkeit des Eindrucks und die
hieraus folgende relative
Notwendigkeit
des Inhalts. Ihre Mängel aber sind folgende:
Dieselben Dinge machen
auf verschiedene Menschen oft einen verschiedenen Eindruck, und das Wesen
der Dinge nehmen wir überhaupt nicht wahr. Die Erfahrung,
erhält dadurch etwas Persönliches, ihr
fehlt die volle Allgemeinheit;
sie erschöpft auch nicht den Umfang
des Wissens und
befriedigt den Wissensdrang des Menschen nicht.
Endlich fehlt ihr die absolute
Notwendigkeit; denn wir erfahren durch sie nicht
den Grund unserer
Erkenntnis.
Das sind aber im wesentlichen die Schranken unseres
Wissens überhaupt. Vergleiche
Sensualismus,
Rationalismus.
Empirismus
(nlt.-franz., von gr. empeiria = Erfahrung)
S. 173ff.
heißt diejenige methodische
Richtung in der Philosophie,
für welche die Erfahrung
die Quelle alles Wissens
ist. Nach der Auffassung des Empirismus ist die Beobachtung und
das Experiment der Ausgangspunkt der Wissenschaft,
von dem wir durch Zusammenfassung zu allgemeineren Sätzen und höheren
Prinzipien aufsteigen. Der Vernunft
weist der Empirismus nicht den Ursprung, sondern nur die Formung, Ordnung und
Gestaltung unseres Wissens zu.
Der Empirismus ist die eigentliche neuere philosophische Methode. England ist
seine Heimat.
Seine ersten Vertreter sind Bacon (1561-1626)
und Locke (1632 bis 1704).
Er ist jetzt die philosophische Methode der meisten
Vertreter der Naturwissenschaft geworden, und auch der größere Teil
der neueren Philosophen hat sich ihm angeschlossen.
In der Gestalt, die ihm Locke gegeben hat, scheidet
er die äußere und innere Erfahrung,
Sensation und Reflexion. In einseitigerer Form, die im Altertum
schon durch Epikur, in der Neuzeit
durch Gassendi, Hobbes,
Hume, Condillac, Bonnet
usw. vertreten wird, erkennt er nur die Sinnestätigkeit als letzte
Erkenntnisquelle an, so dass er jeden psychischen Vorgang als umgebildete Sinnesempfindung
ansieht. Er nennt sich in dieser Form Sensualismus.
In seiner reicheren Entfaltung und Ausgestaltung als kritischer
Empirismus gründet er sich aber auf die Doppelquelle der
Erfahrung und übersieht auch nicht, dass Erfahrung
nicht nur das Ergebnis
der Wahrnehmung,
sondern auch der gesamten geistigen Tätigkeit des Menschen ist. Auch führt
die Erkenntnis,
welche Rolle die geistige Arbeit beim Zustandekommen der Erfahrung spielt, dazu,
im Gegensatz zu den englischen Begründern
des Empirismus, der Vernunft und
ihren apperzeptiven
Verbindungen eine
viel aktivere, wenn auch nicht schöpferische
Leistung zuzuschreiben, die uns das Weltbild als ein den Gesetzen
des Bewusstseins unterworfenes menschliches Wissen erkennen lässt, uns
vor platter materialistischer
Weltanschauung,
wie sie gewöhnlich die Folge des Sensualismus gewesen
ist, bewahrt, und uns gestattet, hypothetisch
den Erfahrungskreis in zusammenfassenden Ideen zu überschreiten und mit
metaphysischen Gedanken abzuschließen. In dieser höher entwickelten
Form ist der philosophische Empirismus
die fruchtbare Methode
der jetzigen Philosophie geworden, während
kein Zweifel
darüber herrschen kann, dass die Bahnen der entgegengesetzten Richtung,
des Rationalismus,
heutzutage verödet daliegen. –
Neuerlich hat Richard Avenarius (1843-96)
ein System
reiner Erfahrung aufgestellt, welches er »Empiriokritizismus«
nannte. Die Empfindung
ist ihm das einzige objektiv Gegebene, das Element, von dem der Inhalt und die
Form des Seins abhängt. Er unterscheidet subjektive und objektive Erfahrung,
das Erfahren als Charakter
und als Inhalt. Aller Aussageinhalt des Menschen (die
sogenannten E-Werte) ist vom Zentralnervensystem
(C), von den Umgebungsbestandteilen oder Reizen
(R) und von den Wirkungen des Stoffwechsels (S)
abhängig. Die Schwankungen und die Selbstbehauptung des System
C bestimmen das Leben des Individuums.
Es ist Aufgabe der Kritik
der reinen Erfahrung aus der naiven Erfahrung durch Ausschaltung aller individuellen,
logisch unhaltbaren
Zwecke die reine
Erfahrung herzustellen. -
Ein roher Empiriker ist derjenige,
welcher sich auf die Praxis
beschränkt, ohne auf wissenschaftliche
Theorien
Rücksicht zu nehmen. –
Empirém heißt ein
Lehrsatz, dessen
Wahrheit
einzig auf Erfahrung
beruht. –
Empirische Wissenschaften sind
die, welche vorzugsweise auf Beobachtung und Sammlung des Tatsächlichen
angewiesen sind, z.B. Geschichte, Naturforschung, Medizin. Vergleiche
a posteriori,
Sensualismus.
Apelt, Theorie der Induktion. Leipzig 1854.
Fr. Paulsen, Versuch e. Entwicklungsgeschichte der Kritischen Erkenntnistheorie.
Leipzig 1875. Vorländer, Geschichte der Philosophie, 2 Bde. Leipzig 1903.
Endelechie
(gr. endelecheia,
lat. continuatio) S.
176f.
heißt Dauer, Fortsetzung.
Es tritt aber auch dieser Ausdruck in Verwechslung mit Entelechie
auf.
So zunächst bei Cicero Tuscul.
I, 10, 22, der die doppelte Verwechslung macht,
das fünfte
Element bei Aristoteles
mit dem Geiste zu identifizieren, während es der Äther
ist, und endelecheia für entelecheia
zu setzen: sie ipsum animum endelecheian appellat
(Aristoteles) novo nomine quasi quandam continuatam motionem et perennem.
Ihm folgt Melanchthon
(Commentarius de anima. 1540 abgedr. Corpus reformatorum
XIII S. 1 ff.), der die folgende Begriffsbestimmung der Seele gibt: Anima
est Endelelchia prima corporis physici organici, potentia vitam habentis.
Melanchthons Amtsgenosse in Wittenberg
Veit Amerbach trat für entelecheia
ein und verfeindete sich darüber mit Melanchthon.
Energie
(gr. energeia, lat.
actio), Tätigkeit, S.
177f.
bezeichnet bei Aristoteles
(384-322) die Form der Dinge, die Vollendung, Ausbildung oder Erfüllung
der Anlage, die dem Stoff eigen ist. Die Materie ist die Möglichkeit oder
Anlage und als solche im relativen Sinne ein Nichtseiendes, das Nochnichtsein
des vollendeten Gebildes. Die Form (entelecheia oder
energeia) ist der Vollendungszustand und die wirkliche Tätigkeit
des Vollendeten.
Der Energie entgegengesetzt ist das Beraubtsein oder der Mangel
(sterêsis). Durch immanente Selbstbewegung geht aus dem Zustande
der Möglichkeit (dynamis) oder des
relativen Nichtseins der Zustand der Wirklichkeit
(energeia) hervor; und weil dadurch das Streben der Natur zu seinem
Zwecke kommt, so ist die Form (energeia)
zugleich der Zweck der Natur.
Aristoteles geht zwar zunächst von vier Prinzipien in der Metaphysik,
dem Stoff, der Form, der Ursache und dem Zweck, aus (hylê,
eidos, hothen hê archê tês kinêseôs, hou heneka,
causa materialis, formalis, efficiens und finalis). Erfasst aber
die Form, die Ursache und den Zweck auch in ein einziges metaphysisches Prinzip
zusammen, so dass also nur zwei Prinzipien übrig bleiben: Stoff und Form,
welche sich wie Möglichkeit und Wirklichkeit zueinander verhalten. -
Im physikalischen Sinne versteht man unter Energie jetzt - (Young
[1773-1829] hat diesen Ausdruck eingeführt.
Lectures on Natural Philosophy, Lecture VII 1807)
- die Fähigkeit des Körpers, eine mechanische
Arbeit zu leisten.
Ostwald definiert sie als Arbeit, oder alles, was
aus Arbeit entsteht oder sich in Arbeit umwandeln lässt. (Vorles.
über Naturphilos., S. 152 ff.)
Man unterscheidet aktuelle (kinetische)
und potentielle Energie.
Aktuelle Energie
(Bewegungsenergie) ist die einer bewegten Masse vermöge ihrer Geschwindigkeit
eigene, auf irgend eine Weise direkt zu bestimmende Energie; sie wird durch
die lebendige Kraft (d.h. durch die Fähigkeit einer mit Geschwindigkeit
behafteten Masse, sich einer Kraft entgegengesetzt zu bewegen) gemessen.
Potentielle Energie (Energie
der Lage und Anordnung, Summe der Spannkräfte) ist diejenige, deren
Größe nur so weit zu bestimmen ist, als sie aus aktueller Energiegröße
entsteht, oder in solche umgewandelt werden kann. Der Ausdruck potentielle Energie
ist durch Rankine eingeführt.
Ein Beispiel der aktuellen Energie
ist eine Masse m,
welche die Geschwindigkeit v
besitzt, durch welche sie in der der Fallbewegung entgegengesetzten Richtung
so hoch aufsteigen vermag, als sie fallen müsste, um die
Geschwindigkeit v
zu erlangen.
Ein Beispiel der potentiellen Energie
ist ein Gewicht p,
das, in der Höhe h
über dem Boden hängend, sinkend die Arbeit
p • h zu leisten vermag. Andere Beispiele für die
potentielle Energie sind: das gestaute Wasser eines Mühlenteiches, die
gespannte Feder einer Taschenuhr, ein gespannter Bogen, die chemische Energie
des Schießpulvers usw. Der Vorgang, bei welchem durch Leistung einer kleinen
Arbeit eine große potentielle Energie veranlasst wird, sich in mechanische
Arbeit umzusetzen, heißt Auslösung der Energie. –
Die Beobachtung, dass bei vielen Bewegungen in der Welt potentielle Energie
in aktuelle umgesetzt wird, hat das Bedürfnis hervorgerufen, dieser Umsetzung
auch da nachzuforschen, wo eine Ausnahme stattzufinden und lebendige Kraft verloren
zu gehen scheint.
J. Robert Mayer (1842)
und James Prescott Joule (1850)
erkannten, dass z.B. die beim Stoß unelastischer Massen erzeugte Wärme
der verlorenen aktuellen Energie entspräche, dass zwischen der erzeugten
Wärmemenge und der aufgewendeten Arbeit ein festes und unveränderliches
Verhältnis bestehe. Es ist eine Arbeit von 423,55 Kilogrammetern erforderlich,
um 1 kg Wasser um 1°C zu erwärmen (mechanisches Äquivalent der
Wärmeeinheit).
Durch v. Helmholtz (1821-1891)
wurde diese Auffassung auf alle Gebiete der Physik übertragen und der Satz
von der Erhaltung der Energie gewonnen, der besagt, dass die Summe der aktuellen
und potentiellen Energie zu jeder Zeit konstant ist. Durch mechanische Arbeit
werden lebendige Kraft, Wärmezustände, elektrische Zustände usw.
hervorgerufen, die beim Verschwinden wieder nach festem Verhältnis in mechanische
Arbeit umgesetzt werden. –
Im anthropologischen Sinne bedeutet Energie soviel wie Willensanstrengung, Willensstärke.
(Vgl. Maxwell, Matter and Motion, Substanz und Bewegung,
übersetzt von E. v. Fleischl. Braunschweig 1881, Kp.V. Ostwald, Vorlesungen
über Naturphilosophie 1901. 3. Aufl. 1905. Poincare, Wissenschaft und Hypothes.
übers, von Lindemann. Lpz. 1904).
Entelechie
(gr. entelecheia v.
entelês = vollkommen und echein =
haben) S.179
Siehe auch bei Eisler
bedeutet bei Aristoteles die Form
(eidos), welche sich im Stoffe betätigt und im Einzelwesen darstellt. Als
Energie wird sie
aufgefasst, weil sie zugleich die wirkende Ursache (hothen
hê kinêsis) in sich schließt, als Entelechie
aber, insofern das Ziel (telos) des Wirkens
in ihr enthalten ist.
Entelechie bedeutet also den Vollendungszustand,
die Zweckrealisierung, wodurch ein abgeschlossenes Ganzes, ein vollendetes Einzelding
zustande kommt. Daher heißt der lebendige Organismus und die denselben
bildende Seele Entelechie (entelecheia),
vgl. Metaphys. IX, 8. 3. Phys. III, 1. VIII, 1. De anima II, 1.
Abstrakt gedacht und entsinnlicht, ohne hylê,
als reine Form des
denkenden Geistes nennt Aristoteles die Form auch
beharrliches wesentliches Sein
(to ti ên einai), Metaph.
VII, 4-6. VII,7, womit gesagt wird, dass dieser gedachte Begriff im Einzeldinge
war, dessen Wesen konstituierend. Vgl. Alb. Schwegler,
die Metaphysik des Aristoteles. Tüb. 1847. IV.
Demgemäß bezeichnet Aristoteles die
Seele
als »erste Verwirklichung eines physischen Leibes,
welcher der Möglichkeit nach Leben hat«.
De an II, 1.
Sie ist Energie, sofern sie für ihre organische
Verwirklichung tätig ist, Entelechie, sofern
diese Verwirklichung im beseelten, organischen Leibe erreicht ist. Vgl.
Frohschammer, die Prinzipien der aristotel. Philosophie. München 1881.
Ähnliches lehrt Leibniz (Nouveaux
Essais II, 21), vgl. F. Kirchner, Leibniz'
Psychol. Köthen 1875. Vergleiche
Energie, Endelechie.
Enthusiasmus
(gr. enthousiasmos) S.
179
oder Begeisterung
ist die Steigerung
der geistigen und leiblichen Kräfte
desjenigen Menschen, der lebhaft von einer Idee
ergriffen ist.
Von der Schwärmerei unterscheidet sich der Enthusiasmus
dadurch, dass er durch die Vernunft
geleitet ist; besonders erfährt durch ihn die produktive
Phantasie eine
Steigerung. Daher kommt es, dass man die Schöpfungen
der Begeisterung auf religiösem, ästhetischem und
ethischem Gebiete für übernatürliche
Offenbarungen der Gottheit angesehen
hat. Vergleiche Offenbarung.
Entstehen
und Vergehen S.
181
entstehen heißt sich aus
dem Nichts
in Etwas
zu verwandeln.
Der Begriff der Entstehung überschreitet
die Erfahrung.
Der Gegensatz
von Entstehen ist Vergehen.
Vergleiche Schöpfung.
Entwicklung
S. 181
bedeutet bei Begriffen
die allmähliche Darlegung
ihres Wesens
nach Inhalt
und Umfang
ohne die strengere Form
der Definition,
in der Natur die
allmähliche Ausbildung der Organismen.
So entwickelt sich ein Mensch,
wenn er stufenweise diejenige Größe und Stärke, diejenigen körperlichen
und geistigen Vorzüge erlangt, welche in seiner Natur veranlagt sind. Die
Entwicklung vollzieht sich entweder
so, wie jede Veränderung,
dass der eine Zustand in dem Maße
zu sein aufhört, als der andere zu sein beginnt,
oder so, dass eine beständige Bereicherung, Vermannigfaltigung
und Vervollkommnung der Zustände eintritt.
In beiderlei Weise hat man der Welt,
oder besser der Menschheit und der Erde, eine Entwicklung
zugeschrieben. Vergleiche
Geschichte,
Fortschritt,
Evolution, Darwinismus,
Mutation, Bewegung.
Enzyklopädie
(gr. enkyklios paideia),
S. 175f.
eigtl. der Kreis der Kenntnisse, die allumfassende Unterweisung,
bedeutete bei den Alten von Aristoteles
(384-322) ab die Gesamtheit von Wissenschaften
und Künsten, die jeder freigeborene Grieche und Römer kennen musste.
Er fasste sich später in den sieben freien Künsten zusammen: Grammatik,
Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik.
Wir reden jetzt dafür von einer allgemeinen Bildung. Das
erste enzyklopädische Werk soll Speusippos,
Platons Schüler, verfasst haben; ihm folgten
Varro, Plinius d. Ä., Stobaios, Suidas, Isidorus
und Hrabanus Maurus; aber erst
Vincenz v. Beauvais (†1264) mit seinem
Speculum majus (1250) und
Bacon v. Verulam (†1626)
begründeten die Enzyklopädie als Wissenschaftskunde
(Instauratio magna: De dignitate et augmentis scientiarum; Novum Organum;Sylva
sylvarum).
Aber dieser richtige Weg wurde in den folgenden Jahrhunderten nicht verfolgt,
bis erst die französische Enzyklopädie
(1751-1772) und in Deutschland Sulzers
»Kurzer Inbegriff aller Wissenschaften«
(1756) das Thema wissenschaftlich behandelten.
Daneben kamen Enzyklopädien der einzelnen Wissenschaften
auf, welche das Wichtigste daraus systematisch oder lexikalisch geordnet enthielten.
Lesenswerte Enzyklopädien der Philosophie sind:
Hegel, Enzykl. d. philos.
Wiss. Heidelb. 1817. Herbart,
Einl. i. d. Philos. Königsb. 1813. L.
Noack, Propädeutik der Philos. Weimar 1854.
Jos. Beck, Philos. Propädeutik. Stuttg.
1851. Ad. Steudel, Philos. i. Umriss. Stuttg.
1877. Fr. Paulsen,
Einl. i. d. Philos. 15. Aufl. 1906. Külpe,
Einleitung in die Philosophie. 1895.
Enzyklopädisten
S. 176
heißen die Herausgeber und Mitarbeiter der Enzyklopädie (ou
dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers. Paris 1751-1772),
welche, von Diderot (1713-1784)
und d'Alembert (1717-1783)
begründet, nicht bloß den ganzen Umfang menschlichen Wissens darstellte,
sondern zugleich das gemeinsame Organ der französischen Freidenker war.
Sie huldigten meist dem Materialismus
oder dem Rationalismus;
die berühmtesten sind: Diderot, Holbach
(1723-1789), Rousseau
(1712-1778), Voltaire
(1694 bis 1778), d'Alembert.
Allmählich bezeichnete das Wort Enzyklopädist
jeden Anhänger dieser Richtung überhaupt, z.B. Condillac
(1715-1780), Helvetius
(1715-1771), La Mettrie
(1709 bis 1751), Cabanis
(1757-1808), Destutt
de Tracy (1754 bis 1836) u.
a.
Epikureismus
S. 183
ist die Lehre des Epikuros
(geb. 341, gest. um 270) und seiner Schüler.
Sie besteht in der Unterordnung der Logik
unter die Physik
und der Physik unter die Ethik.
Epikuros leitet unsere Erkenntnis
aus der Sinneswahrnehmung
ab, folgt dem Atomismus
Demokrits, der nur dahin abgeändert ist, dass
den Atomen
Schwere, senkrechte Fallbewegung und eine Abweichung von dieser Bewegung zugeschrieben
wird und begründet einen Eudämonismus,
der aus dem Hedonismus
Aristipps abgeleitet ist.
Das höchste Gut
ist für Epikuros die Glückseligkeit.
Die Physik Epikurs hat der modernen
Physik vorgearbeitet, die Ethik Epikurs
ist der christlichen gewichen.
Erfindung
S. 185
ist diejenige schöpferische Tätigkeit des Menschen,
durch die er etwas bis dahin noch nicht Vorhandenes hervorbringt, Entdeckung
dagegen nur das Auffinden eines Gegenstandes, welcher bereits vorhanden, aber
noch unbekannt war.
Erfindungen und Entdeckungen sind ebenso oft Sache
des Zufalls als Ergebnis der Forschung und geistreicher
Kombination; doch setzen die Erfindungen
stets bestimmte neue Bedürfnisse, die einer Zeit erwachsen, voraus, und
die Geschichte der Erfindungen, die zugleich die Geschichte der Steigerung der
menschlichen Bedürfnisse ist, zeigt eigentümliche Gesetze
der Stufenfolge. (F. Reuleaux, Buch der Erfindungen,
Gewerbe und Industrien. 9 Bde. Lpz. 1889 bis 1893. 8. Aufl.)
Ergebung
S. 185
ist die auf dem Gefühl der Abhängigkeit von
Gott beruhende Bereitwilligkeit, sich in seine Schickungen zu fügen.
Sie unterscheidet sich durch Freudigkeit, Rührigkeit und Einsicht von der
den Schmerz fliehenden, einsichtsarmen Ataraxie
(Unerschütterlichkeit) der Stoiker,
ebenso von der passiven stumpfsinnigen Unterwerfung des Fatalismus,
nicht minder von der affektfliehenden, das Persönliche preisgebenden Resignation
des Pantheisten und der hoffnungslosen am Gemeinen klebenden Gleichgültigkeit
des Materialisten.
Schon in Platons »Phaidon«und
in Sophokles' »Oidipus
auf Kolonos« finden sich Spuren dieser Ergebung, deren klassischer
Ausdruck Hiobs Wort ist: »Der
Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt!«
Hiob, 1, 21. Von der Demut
unterscheidet sich die Ergebenheit, indem jene
das Bewusstsein der eigenen Unwürdigkeit, diese
die Anerkennung der göttlichen Macht zum Ausgangspunkt
hat.
erhaben
S. 186
heißt das Große, insofern
es das Gemüt und den Gedanken zum Unendlichen und
Ewigen hinführt. Es erscheint als ein anschauliches
Unendliches, obgleich es nur ein Begrenztes ist. –
Kant (1724-1804, Krit.
d. Urteilskraft) nimmt an, dass der erhabene Gegenstand nur als ein Begrenztes
sinnlich erfasst wird, und dass der Gedanke der Unendlichkeit
im Gegensatz zu dem Objekte erst
von dem urteilenden Menschen gefasst werde, also
nur im Subjekte
vorhanden, nicht im Objekte gegeben sei; er sagt:
»Erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des
Gemüts beweiset, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft.«
(Kr. d. U. S. 84.)
Dem Erhabenen schreibt Kant
daher eine größere Subjektivität
zu als dem Schönen. Schönheit ist Zweckmäßigkeit
der Form des Gegenstandes für das Subjekt,
Erhabenheit dagegen Zweckmäßigkeit
des Subjekts hinsichtlich des Gegenstandes. Das Schöne ist Gegenstand
eines unmittelbaren Wohlgefallens, das Erhabene
ruft zunächst durch den sinnlichen Anblick eine Hemmung und dann erst eine
stärkere Ergießung der Lebenskräfte hervor, sobald die Vernunftidee
in uns rege wird. -
Aber die Kantische Definition, die sich auch Schiller
und Schopenhauer im Wesentlichen angeeignet
haben, widerspricht dem tatsächlichen Vorgang. Der angeschaute Gegenstand
wird unmittelbar Bild und Symbol des Unendlichen,
und das Gefühl des Erhabenen ist einheitlich
und schließt nicht den Widerstreit der Lust
und Unlust ins ich ein. (Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft,
S. 73 bis 129 und H. Lotze, Geschichte der Ästhetik in Deutschland, S.
324ff.) –
Man kann das Erhabene mit Kant
in ein mathematisch und ein dynamisch Erhabenes
einteilen. Das mathematisch Erhabene wirkt
durch seine Ausdehnung, das dynamisch
Erhabene durch seine Macht.
Beispiele des Erhabenen sind das
Meer, der Sturm, hohe Felsen, der Sternenhimmel Am erhabensten
erscheint uns der sittliche Charakter,
welcher über die Macht des Schicksals triumphiert, selbst indem er leiblich
untergeht.
Vgl. Schiller, Vom Erhabenen 1792/93. Über das
Pathetische 1793. Über das Erhabene 1801. B. Zimmermann, Ästhetik
1865. Fr. Th. Vischer, Über das Erhabene und Komische. Stuttg. 1837.
Erinnerung
S. 186f.
ist nach der Auffassung
der vulgären und der Vermögenspsychologie die Fähigkeit des Geistes,
Vorstellungen,
die früher einmal in der Seele
gewesen sind, zu erneuern und wieder zu erkennen, ohne dass der Gegenstand selbst
in Wirklichkeit vor unsere Sinne tritt.
Vom Gedächtnis
unterscheidet
sich die Erinnerung dadurch, dass jenes die Fähigkeit
zur unwillkürlichen, unmittelbaren, diese die Fähigkeit zur absichtlichen,
mittelbaren Reproduktion und Wiedererkennung früherer Vorstellungen, jenes
mehr passiv, diese mehr aktiv ist.
Was die Erinnerung reproduziert, bringt sie als persönliches Erlebnis,
während das Gedächtnis Fremdes bewahrt.
Schon Platon und Aristoteles
machten diesen Unterschied (mnêmê und
anamnêsis) –
Die Erinnerungsvorgänge gehören nach Wundt
(Grundr. d. Psychol. § 16 S. 293ff.) zu den
sukzessiven Assoziationen; ihre Vorstufen sind die gewöhnliche simultane
Assoziation und der simultane und der sukzessive Wiedererkennungsvorgang. Vergleiche
Assoziation,
Jean Paul, Levana §141ff., F. Kirchner, ü. d. Gedächtnis. Berlin
1891.
Eristik
(gr. eristikê
sc. technê) S. 187
heißt die Streit-,
Disputierkunst. Eristiker hießen die Megariker, d. h.
die Anhänger des Euklides von Megara, eines
Schülers des Sokrates
(um 400 v. Chr.), wegen ihrer Neigung zum Streiten.
Euklides von Megara stellte die Lehre auf, dass das Gute eins sei trotz
verschiedener Namen (hen to agathon apephaineto pollois
onomasi kaloumenon. Diog. Laert.II, § 106).
Er verband also die eleatische Lehre mit der sokratischen und beharrte somit
auf einem Prinzip, das keiner reicheren Entwicklung fähig, aber zum Ausgange
für eine vielseitige Polemik geeignet war. –
Eristisch heißt streitsüchtig.
Erkenntnis
S. 187f.
ist das Gesamtergebnis der
Bewusstseinstätigkeit des Menschen, insoweit wir durch
diese Tätigkeit zu der Wirklichkeit
in fester Beziehung
stehen. Der zusammengesetzte Vorgang des Erkennens hat, in seine wichtigsten
Stadien zusammengefasst, folgende Stufen: durch Nervenreize entsteht
die Empfindung,
welche durch die ihr zugewendete Aufmerksamkeit
zur Wahrnehmung wird. Von
den Wahrnehmungen bleiben im Geiste
Bilder zurück, die Vorstellungen.
Zur Erkenntnis werden
die Vorstellungen, indem unser Geist
die Übereinstimmung zwischen Vorstellungen
und vorgestellten Gegenständen herausfindet
und in einem Urteil
ausspricht. Die einzelnen Vorstellungen verschmelzen
miteinander, werden zu Begriffen
gestaltet, indem sie in ihre Merkmale
zerlegt und nach den wichtigsten neu zusammengefasst
und in neuen Urteilen vereinigt werden; so wird
allmählich ein Zusammenhang und eine Ordnung
des gesamten Bewusstseinsinhalts hergestellt,
die uns mit der Wirklichkeit in sichere Verbindung
setzen.
Die Mittel, die
unser Geist bei dieser Arbeit verwendet, sind mannigfach.
Er ergänzt die Wahrnehmungen
beständig, erneuert die Vorstellungen
und gestaltet die Bewusstseinsmasse
gemäß den Denkgesetzen.
Er schafft sich ordnende Kategorien,
wie die der Zahl,
der Substantialität,
der Kausalität
und des Zweckes.
Daraus bildet er Schlüsse,
und vermittelst ihrer beweist
er die Wahrheit
oder Unwahrheit eines Urteils
auf deduktivem
oder induktivem
Wege. Er bedient sich
vor allem des Hilfsmittels der Zeichen und der Sprache.
Das Resultat aller dieser Tätigkeit ist nicht,
dass sich die Wirklichkeit in uns abspiegelt.
Der Bewusstseinsinhalt ist nicht
die Wirklichkeit selbst; sondern er ist
ein seinen eigenen Gesetzen
unterworfenes Gebilde; aber unsere Erkenntnis
bezieht sich auf die Wirklichkeit, und das feste
Band zwischen beiden ist in der Empfindung
und Wahrnehmung gegeben, auf deren Boden die ganze
menschliche Erkenntnis fußt.
Es ist eine Hauptaufgabe der Philosophie,
der sie sich namentlich seit Locke (1632
bis 1704) und Kant (1724-1804)
unterzogen hat, Ursprung,
Gesetze, Grenzen
und Wesen der menschlichen
Erkenntnis zu untersuchen. Diese Erkenntnistheorie
gehört teils in die Logik,
teils in die Metaphysik.
Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft. 1781 Prolegomena zu einer jeden künftigen
Metaphysik. 1783. Beneke, Erkenntnislehre. 1820. Drobisch, Logik. 3. Auflage.
Lpz. 1863. W. Schuppe, Das menschliche Denken, Berlin 1870. W. Wundt, Logik.
Leipzig 1881. A. Sigwart, Logik. Tübingen 1873-1878.
Erscheinung
(gr. phainomenon)
S. 189
heißt jeder Gegenstand, sofern er von den Sinnen
aufgefasst wird.
Die Erscheinung darf also nicht mit dem Schein
verwechselt werden, welchem nichts Wirkliches außerhalb unseres Geistes
entspricht. Da aber nicht die Dinge selbst in unser Bewusstsein
eintreten, sondern nur ihre sinnlichen Abbilder, so ist die
ganze Welt, in der wir uns bewegen, zunächst nur Erscheinung.
Jede Erscheinung deutet aber auf ein Sein
hin. Das Hauptresultat der Kantischen in der Kritik
der reinen Vernunft gegebenen Erkenntnistheorie
ist, dass dasjenige, was nicht
Erscheinung ist, kein Gegenstand der Erfahrung
sein kann, dass wir also die Dinge
nicht erkennen, wie sie sind, sondern nur, wie
sie uns erscheinen.
Hierin besteht Kants Phänomenalismus.
(Kant, Kr. d. r. V., S. 246). Vergleiche
Ding an sich,
Phänomen,
Phänomenalismus.
In einem anderen Sinne heißt Erscheinung
Vision, Illusion
oder Halluzination.
Erschleichung
(subreptio) S.
190
heißt jeder versteckte Beweisfehler, sofern
der Hinblick auf das gewünschte Resultat dazu verleitet hat, ferner die
beweislose Aufnahme eines durch die Grundannahmen nicht mitgegebenen
Begriffs in ein System.
Diesem Fehler sind alle Systematiker ausgesetzt, die aus einem oder wenigen
Prinzipien allein
ihr ganzes System ableiten, ohne dass das Besondere, welches unter jenes Allgemeine
zu subsumieren ist, anderweitig, sei es empirisch,
sei es hypothetisch,
hinzugenommen wird. Insbesondere hat die rationalistische Methode
nie zum Aufbau eines Systems genügt, und alle Rationalisten haben unbewusste
Erschleichungen, Entlehnungen aus der Erfahrung
nötig gehabt.
Aus dem Begriffe der Substanz lässt sich z.B. nie ohne
Zuhilfenahme der Erfahrung der Gegensatz von Ausdehnung
und Denken, aus
dem Begriffe der Anschauung nie der Gegensatz von Raum
und Zeit, aus dem Begriffe der transzendentalen synthetischen Einheit der
Apperzeption
nie die Kategorientafel im Einzelnen ohne Erschleichung
ableiten.
esoterisch
S. 192
heißt für Eingeweihte
bestimmt. Sein Gegensatz ist exoterisch
(allgemeinverständlich). Der
Gegensatz gilt zunächst von den Schriften des Aristoteles,
die teilweise streng wissenschaftlich, teilweise populär waren.
Ethelismus.
S. 192
Vergleiche Voluntarismus.
Ethik
(gr.
ta êthika von to êthos = Sitte, Gesinnungsart)
S.192ff.
oder Moral (lat.
pars philosophiae moralis) oder praktische
Philosophie
ist die Sittenlehre, d.h. die Wissenschaft
vom Sittlich-Guten und -Bösen.
Auf historischer, anthropologischer, psychologischer und metaphysischer Grundlage
untersucht die Ethik das Wollen und Handeln des Menschen, und ihre Entwicklung
hat, nachdem sie im Altertum durch Sokrates (469
bis 399) und Platon (427-347)
geschaffen war, mit den übrigen Teilen der Philosophie, namentlich mit
der Metaphysik, gleichen Schritt gehalten.
Eine naturalistische (empiristische), alle Metaphysik von sich weisende, oder
auf dem Boden des metaphysischen Realismus stehende Ethik lässt das Streben
des Menschen ausschließlich durch seine natürlichen Bedürfnisse,
Triebe und Anlagen bestimmt sein. Sie berechnet den Wert der einzelnen Handlungen
nach dem Maße der Lust, der Lebensbetätigung, des Nutzens, den dieselben
dem einzelnen oder der Gesellschaft bringen. Sie hat als Hedonismus (Lustlehre),
Eudämonismus (Glückseligkeitslehre) und Utilitarismus (Nützlichkeitslehre)
ihre reiche Entfaltung gefunden, und sie erklärt die menschlichen Handlungen
mehr, als sie dieselben zu beeinflussen strebt.
Ihre Gesetze sind im Kern Naturgesetze, nicht. Imperative, und schließen
nur einen geringen Grad der Verbindlichkeit in sich ein. Sie hat ihre Vertreter
im Altertum und in der Neuzeit, in den Cyrenaikern (Aristippos), in Aristoteles,
den Epikureern, Gassendi, Hobbes, Leibniz, den Enzyklopädisten und namentlich
in England (Bentham, Stuart Mill, Spencer usw.) gefunden. Sie hat sowohl eine
Güter- als auch eine Tugendlehre ausgebildet. –
Demgegenüber hat sich eine idealistische (rationalistische) Ethik gebildet,
welche die Antriebe des Handelns in der Vernunft und Gesinnung des Menschen
sucht und diese als Pflichten den natürlichen Trieben und Bedürfnissen
des Lebens entgegenstellt und imperativisch (als Pflichtenlehre) die Einschränkung
der Natur durch die Vernunft verlangt. Sie ist entweder rein formalistisch,
wo das Urteil über Gut und Böse nur von der Art, wie die Bestimmung
des Willens erfolgt, abhängig gemacht wird (so bei Kant und Fichte), oder
teleologisch, wo der Inhalt und Zweck der Handlung mit in Rechnung gezogen ist
(so bei Sokrates, bei Platon, im Christentum, im nachkantischen Idealismus).
Abseits von aller übrigen idealistischen Ethik steht die negativ-pessimistisch-quietistische
und atheistische Ethik Schopenhauers mit ihrer indischen Verneinung des Willens
zum Leben. Innerhalb der idealistischen Ethik ist durch die Stellung, in welche
der Wille zum Kausalitätsgesetz gebracht wird, der Gegensatz des Determinismus
(s. d.) und Indeterminismus entstanden, aber für beide, so weit sie idealistisch
sind, ist das Sittengesetz dem Naturgesetz entgegengesetzt. –
Die dritte Richtung der Ethik beruht auf
der absoluten oder Identitätsphilosophie. In ihr kann von einer Bevorzugung
des Natürlichen oder der Vernunft keine Rede sein. Sitten- und Naturgesetz
müssen innerlich verwandt und im Wesen eins sein. Die Scheidung von Gut
und Böse verliert in ihr die Schärfe.
Ihr erster Vertreter ist Spinoza gewesen, der das Sittliche in der Ablenkung
vom Einzelnen zum Zusammenhang des Ganzen, vom Vergänglichen zum Ewigen
(sub specie aeternitatis), vom Modus zur Substanz, von den passiven Affekten
zu den tätigen suchte, aber die sittliche Tätigkeit (wie Sokrates,
Platon, Aristoteles) wesentlich als intellektuellen Vorgang auffasste und das
höchste ethische Prinzip in der intellektuellen Liebe zu Gott (amor intellectualis
dei) suchte.
Ein zweiter Vertreter dieser ethischen Richtung ist Goethe, der im Wesentlichen
das Ethische aus der Entwicklung des Einzelnen auf Grund der angeborenen Individualität
fand und in den Gesetzen der Sittlichkeit eine Realität und den Ausdruck
der normalen Bedingungen individueller und gesellschaftlicher Entwicklung sah.
Rein-Menschliches ist ihm zugleich Sittliches und Sittliches ein Hauptteil der
menschlichen Natur.
Auch Schleiermacher, der in der Ethik die Güter-, Pflichten- und Tugendlehre
zu vereinigen sachte, strebte einen Ausgleich zwischen Natur- und Sittengesetz
an.
Besondere Wege geht dagegen die Ethik v. Hartmanns mit ihrer pessimistischen
Erlösung des Absoluten vom Dasein und ihrem optimistischen Gegenzug der
Steigerung der Intelligenz und Kultur zur Erreichung des negativen Ziels.
Die neueste sogenannte Ethik dagegen, die Ethik Nietzsches, ist mit ihrer Massenverachtung,
ihrem Willen zur Macht, ihrer Herrenmoral, ihrem Zukunftsbild des Übermenschen,
ihrer blonden Bestie wohl nicht, wie sie es zu sein vorgibt, eine Umwertung
aller Werte, sondern eine Aufhebung derselben und eine Ersetzung der Moral durch
Gewalt, ein Zusammenbruch der Ethik überhaupt. Jenseits von Gut und Böse
beginnt keine neue Ethik, sondern hört die Ethik einfach auf.
Allen diesen Richtungen der Ethik gegenüber bahnt sich eine von metaphysischen
Prinzipien freie, auf empirischer Grundlage und exakter Forschung beruhende
Ethik neuerdings an, die, wie es schon Platon, Aristoteles, Hegel und andere
anerkannt haben, alle Gebiete des Handelns und der individuellen wie sozialen
Betätigung der Menschheit, besonders auch die der Sprache, der Religion,
des Rechts-, Staats- und Gesellschaftslebens zu umfassen strebt. Sie hat richtig
erkannt, dass nur durch die umfassende und gründliche Berücksichtigung
aller Erscheinungen des sittlichen Lebens die Aufgabe der Ethik gelöst
werden kann. Sie muss freilich als normative Wissenschaft zur Aufstellung allgemeiner
Postulate des Willens schreiten, tut dies aber erst auf Grund der in der Kulturgeschichte
vorliegenden tatsächlichen Verhältnisse. Diese Ethik dürfte die
Ethik der Zukunft werden. Sie bewahrt in ihrem normativen Teile manches vom
größten deutschen Ethiker Kant, bricht aber mit dessen einseitigem
und unhaltbarem Rationalismus in der philosophischen Methode. Vgl.
Schleiermacher, Kritik d. bisher. Sittenlehre. 1808. Stäudlin, Gesch. der
Moralphilos. 1823. Koestlin, Gesch. der Ethik 1. Bd. Tübingen 1887. Laas,
Idealistische und positivistische Ethik. Berlin 1882. Wundt, Ethik. 2. Aufl.
1892. Fr. Paulsen, System der Ethik. 2 Bde. 1903. Ed. v. Hartmann, Phänomenol.
d. sittl. Bewußtseins. Berlin 1880. Th. Achelis, Ethik. Leipzig 1900.
Vgl. Eudämonismus und Determinismus, Freiheit.
Ethikotheologie
S. 194f.
nennt man seit Kant den Versuch, das Dasein
Gottes aus der moralischen Ordnung der Welt zu beweisen, während
die Physikotheologie es aus der Schönheit
und Zweckmäßigkeit der Natur
zu beweisen versuchte. Kant nannte Gottes
Dasein ein Postulat
der reinen praktischen Vernunft, d.h. etwas,
das man aus theoretischen Gründen zwar nicht wissen
könne, woran man aber aus praktischen Gründen glauben
müsse, und begründete so die Ethikotheologie.
Vgl. Gott.
ethisch
(gr. von êthos, Sitte)
S. 195
heißt sittlich, die Sittenlehre betreffend.
ethisieren
S. 195
heißt sittlich machen, der Ethik
gemäß gestalten.
Ethos
(gr. êthos) S.
195
heißt Sitte, sittliche Gemüts- und Denkungsart,
auch Charakter,
im Gegensatz zum Pathos, der wechselnden Sinnesart.
Eudämonie
(gr. eudaimonia)
S. 195
heißt Glückseligkeit,
Wohlbehagen.
Eudämonismus
(gr. eudaimonismos)
S. 195f.
ist diejenige Richtung in
der Ethik, welche
die Glückseligkeit
zum letzten Ziel alles Strebens, zum Maßstab des Guten
und Schlechten,
mithin zum Moralprinzip
macht. Eudämonist heißt
ein Anhänger dieser Ansicht.
Da aber das Glück in sehr verschiedenen Dingen gesucht werden kann, so
unterscheidet man gröberen und feineren Eudämonismus,
und da als Ziel des Handelns nicht nur das eigene Wohlbefinden, sondern auch
das des Mitmenschen gelten kann, so zweigt sich vom Eudämonismus
als besondere Richtung der Utilitarismus
ab.
Der gröbere Eudämonismus,
auch Hedonismus
(Lustlehre) genannt, hält den Sinnengenuss
für das Höchste; dieser Ansicht huldigten der Cyrenaiker Aristippos,
ein Teil der Epikureer und einige Enzyklopädisten,
wie Helvetius, Holbach
usw.
Der feinere Eudämonismus
sucht das Glück in der Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft, in
Schmerzlosigkeit, Reisen, Macht
und Ehre. Dieser
wird durch Demokritos, Aristoteles,
Epikuros, Leibniz, Strauß
und auch andere vertreten. –
Der Eudämonismus hat darin recht, dass er
als Tatsache annimmt, dass der Mensch nach Glückseligkeit strebe und dass
ein Motiv unseres Wollens die Lust sei. Aber zum ethischen Grundprinzip eignet
sich das eudämonistische nicht, weil es das Ethische viel zu eng und zu
individualistisch bestimmt.
Kant verwarf daher jedes
ethische Prinzip,
das Rücksicht auf unser Glück nimmt,
und forderte, man solle den Begriff des Guten nur aus dem Pflichtbegriff ableiten.
Aber seine Stellung war eine Konsequenz seines Formalismus
in der praktischen
Philosophie
und zwang ihn, bei einem nur die Form des Wollens bestimmenden Sittengesetze
stehen zu bleiben. Er spricht es selbst klar aus, dass alle materialen praktischen
Prinzipien unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe
oder der eigenen Glückseligkeit gehören
(Krit. d. prakt. V. I, 1 §3, S. 40). Edm. Pfleiderer,
Eudämonismus und Egoismus. Leipzig 1880.
Euhemerismus
(nach Euhemeros c. 300 v.
Chr. benannt) S. 196
ist die Lehre,
daß die Verehrung der
Götter nur aus der Apotheose
[Erhebung eines Menschen zum Gott]
verdienter Männer entstanden sei. Euhemeros'
»heilige Geschichte« (hiera
anagraphê) ist bloß noch bei Diodoros
und in Fragmenten der Übersetzung des Ennius
vorhanden.
Evolution
(franz. evolution) S.
196f. Siehe auch
bei Eisler
heißt Entwicklung. Fortschritt.
Hauptsächlich versteht man darunter die stufenmäßige
Entwicklung der organischen Natur.
(Siehe Darwinismus).
Herbert Spencer (1820-1904)
hat das Evolutionsgesetz
zum leitenden Grundgedanken seines gesamten philosophischen Systems
gemacht. Das Wesen der Evolution besteht
nach seiner Erklärung, in einer Vereinigung des Stoffes (integration
of matter) und der Ausbreitung der
Bewegung (dissipation of motion), wobei der
Stoff eine sich steigernde Differenzierung
und Gliederung erhält. Der entgegengesetzte Vorgang ist der der Dissolution
[Auflösung, Zerfall]
. Spencer überträgt das Evolutionsgesetz
auch von - der Natur auf die Seele
und auf gesellschaftliche und ethische Verhältnisse der Menschheit. Er
wendet es auf die Entstehung der Welten,
des Lebens, des Gedankens,
der Wissenschaft,
Kunst, Zivilisation
usw. an, bei den Problemen der Soziologie allerdings nicht ohne Zwang. Als Vorgänger
Spencers können Leibniz,
Herder u. a. gelten.
(H. Spencer, System of synthetic philosophy seit 1860. Th. Ribot, la psychologieanglaise
contemporaine 1875, S. 160-247.).
Ewigkeit,
S. 197 Siehe
auch bei Eisler
das Gegenteil von Zeitlichkeit, Vergänglichkeit,
bezeichnet die unendliche
Dauer in der Zeit
ohne Anfang und ohne
Ende. Die Ewigkeit ist nur ein
Denkbegriff; wir können uns die Ewigkeit
nicht anschaulich vorstellen, weil wir nur begrenzte Zeiten überschauen.
Die Ewigkeit der Welt behaupteten
die Hylozoisten
und die Pantheisten,
ja auch spekulative Theologen, z.B. Origenes,
Schleiermacher, Dorner
u. a.
Die Ewigkeit Gottes ist von dem
Begriff Gottes
nicht zu trennen. Fasst man mit Kant die Zeit
als bloß subjektive
Form der Anschauung,
so ist Ewigkeit soviel als Zeitlosigkeit,
das der subjektiven Zeitform entgegengesetzte intelligible
Wesen der Dinge.
exoterisch
(gr. exôterikos)
S. 198
heißt für Nichteingeweihte bestimmt,
populär, volksmäßig. Der Ausdruck wird vor allem
von einem Teil der Schriften und Lehren des Aristoteles
(384-322) gebraucht. Sein Gegensatz ist esoterisch.
Falsch
(falsus) S.
199
heißt das
Gegenteil von richtig.
Falsch nennt man allgemein etwas,
das nicht so ist, wie es sein soll, mag die Abweichung nun absichtlich (durch
Betrug und Heuchelei) oder unabsichtlich (durch Irrtum)
veranlasst worden sein.
In der Logik heißt
falsch soviel als wahrheitswidrig.
In der Moral ist
Falschheit die Gesinnung, welche
die absichtliche Täuschung des Mitmenschen
über die eigene Denkweise durch unwahre Äußerungen
erstrebt, um dem anderen zu schaden.
Fanatismus
(franz. fanatisme, vom lat. fanum,
Tempel, eigtl. Glaubensschwärmerei)
S. 200
heißt die leidenschaftliche Begeisterung für
etwas Heiliges (ein religiöses, politisches, soziales, wissenschaftliches
System, eine Kunstrichtung), welche den Menschen zur rücksichtslosen Feindschaft
und zu Gewalttätigkeiten gegen Andersdenkende hinreißt. Der Gegensatz
zum Fanatismus ist der Indifferentismus; zwischen beiden steht die Toleranz.
Fatalismus
(nlt. v. lat. fatalis =
verhängnisvoll) S. 200f.
heißt diejenige Ansicht, nach der alle Erlebnisse und Handlungen des Menschen
nicht sowohl durch den Kausalzusammenhang des Weltlaufs, als durch ein unabwendbares
Schicksal vorherbestimmt sind; der Fatalismus glaubt,
was der Mensch auch tue, mag er gut oder böse handeln, das Verhängte
geschehe notwendig.
Diese Absicht, welche von Epikuros, den Stoikern und vom Islam vertreten wird, ist das einseitige Extrem der
Wahrheit, dass alles in der Welt, auch die menschlichen Handlungen, durch
Ursachen und Gründe bestimmt sind. In Wirklichkeit aber besteht nicht eine
blinde und unheimliche Macht, welche vorher die Reihenfolge der Ereignisse festsetzt,
sondern nur die Wechselwirkung der physischen, logischen und moralischen Gesetze,
durch welche der Einzelne bestimmt wird, ohne dass er darum aufhörte, ein
Freiheitsgefühl zu besitzen und praktisch frei zu sein.
Auch der Pantheismus,
der praktisch das Individuum zu Aktionen des All-Einen macht, kann zu ähnlichen
Auffassungen wie der Fatalismus führen, ebenso
der Materialismus, der die menschlichen Handlungen nur als Resultate physischer
Antriebe betrachtet, und der Naturalismus,
dem der Weltlauf nur ein Produkt der Naturgesetze ist. Die
Folgen des Fatalismus sind einerseits kühner Todesmut und Zügellosigkeit,
andrerseits Resignation und Quietismus,
Kulturniedergang. Vgl Freiheit, Determinismus, Prädestination.
Fehlschluss
(Paralogismus)
S. 201
heißt ein formal unrichtiger Schluss,
der auf einem Irrtum
beruht. Er entsteht entweder aus der Missachtung der für die Schlüsse
geltenden Regeln oder aus der Mehrdeutigkeit eines Begriffs,
vor allem des Mittelbegriffs.
Ein Paralogismus entsteht z.B., wenn in der ersten Schlussfigur ein negativer
Untersatz gesetzt oder in der zweiten Figur beide Prämissen affirmativ
gewählt oder in der dritten Figur der Schlusssatz allgemein gemacht wird
oder wenn versteckterweise statt dreier Begriffe vier in dem Schlüsse miteinander
verbunden werden (quaternio terminorum).
Vgl. Überweg, System der Logik § 126.
Fetischismus
oder Fetismus (portugies.
Feitiçio = Zauberei) S.
202
heißt eine der niedrigsten
Stufen der Religion,
auf der der Mensch
einen sinnlichen Gegenstand, dem
er Zauberkraft zuschreibt, zu
seinem Gott macht, aber
fortwirft, wenn er seiner überdrüssig ist.
Der glänzende Scherben, der messingene Knopf ist dem Neger Afrikas keineswegs
etwa nur Symbol, sondern Talisman, nicht Zeichen
für ein Übersinnliches,
sondern Träger desselben, ja Gott selbst. Wer jenen zu sich steckt, hat
diesen und befreit sich dadurch, wenigstens in einem Punkte, von der Abhängigkeit
gegenüber der Natur.
Es ist offenbar die roheste Form des Polytheismus.
Vgl. Fr. Schultze, der Fetischismus. Leipzig 1871.
Folge
(lat. consecutio,
gr. akolouthêsis) S.
203
bedeutet eigentl. dasjenige, was nach einem anderen stattfindet; der Begriff
der Folge ist also der eines Zeitverhältnisses. Da aber häufig das
einer Erscheinung Vorangehende zugleich die Ursache dafür ist, so hat jenes
ursprünglich zeitliche Verhältnis eine logische Bedeutung bekommen
- aus: »post hoc« ist: »propter hoc« geworden - und
zwar die Bedeutung, dass die Folge als ein Zweites gedacht wird, das nur unter
Voraussetzung eines Ersten, des Grundes, denkbar ist. Grund und Folge
(ratio und consecutio) sind Korrelata; d.h. etwas ist nur Grund,
sofern es Folgen hat, und Folge heißt etwas nur, sofern es in anderem
begründet ist.
Insofern hat jede Folge etwas Hypothetisches an sich. Erst seitdem der Menschheit
der Satz vom zureichenden Grunde aufgegangen ist, kann von Erkenntnis die Rede
sein. Man scheidet nun ferner im philosophischen Sprachgebrauche Grund und Folge
von Ursache und Wirkung.
Die ersteren Begriffe bezeichnen ein Denk-, die letzteren ein reales Verhältnis.
–
Folgerung heißt das, was man aus dem Vorhergehenden ableitet;
folgerichtig (konsequent) ist
ein Gedanke oder eine Gedankenreibe, in der das Gefolgerte wirklich aus dem
als Grund Gesetzten folgt; ist das nicht der Fall, so nennt man den Schluss
folgewidrig. Vgl. Grund, Ursache, Wirkung.
Form
(lat. forma, gr.
eidos) S. 203f.
oder Gestalt ist das Gegenteil und Korrelat von Stoff und bedeutet im Allgemeinen
die Gesamtheit der bestimmten Verhältnisse, in welchen ein Objekt erscheint.
Am deutlichsten tritt die Form uns in Zahl, Raum und Zeit entgegen.
Der Gegensatz von Stoff und Form beschäftigte die Philosophie zu allen
Zeiten. Die ältesten griechischen Naturphilosophen, die Hylozoisten, trennten
Stoff und Form noch nicht, erfassten aber das Dasein wesentlich von der stofflichen
Seite (Wasser, Luft),
Herakleitos von Ephesos (um 500 vor Chr.) erfasste im Gegensatz zum Stoff (Feuer) zuerst die beständige Formveränderung der Welt,
die Pythagoreer reduzierten das Dasein auf die Form der Zahl;
Empedokles (um 490-430) und Anaxagoras (500-428) stellten Stoff und formende
Kräfte in Gegensatz zueinander,
während die Eleaten in einseitiger Metaphysik, abseits von den übrigen
Philosophen, sich nur mit dem logischen Begriff des Seins beschäftigten.
Die Verbindung der Lehre der Eleaten mit der des Herakleitos, die von Sokrates angeregte Abstraktion der Begriffe aus den Einzelvorstellungen, die ästhetische
Wertschätzung der künstlerischen Form, welche dem Marmor erst Leben
verleiht, die personifizierende Richtung unserer Phantasie und die mythologische
Tradition von einem erst durch den Demiurgen geformten Chaos führten Platon
(427-347) zu seiner Ideenlehre, welche die Formen als hoch über dem Stoffe schwebende, selbstgenugsame Urbilder aller Vollkommenheit ansah. Da, mit ihnen
verglichen, die wirklichen Dinge mangelhaft erschienen, so gewannen dadurch
die Formen an Wert.
Auch Aristoteles (384-322), obgleich er die Ideen nicht als vor und neben den
Dingen existierend dachte, legte ihnen doch alles Wesen, alles wahrhafte Sein an den Dingen bei. Die Materie ist, sofern sie nicht geformt ist, überhaupt nichts Wirkliches, sondern nur Möglichkeit. Die Formen sind das Wesentliche,
der Stoff nur die Anlage. Aristoteles setzt zwar vier Prinzipien an: Stoff, Bewegung, Wirklichkeit, Zweck, aber er reduziert dieselben auch, namentlich,
wo es sich um die organische Welt handelt, auf die zwei Prinzipien Stoff und
Form, die also das Dasein ausmachen, und zwar so, dass die Form das höhere
Prinzip ist.
Wie Platon und Aristoteles den Wert der Form überschätzten, so verfuhr
auch die rationalistische und idealistische Philosophie der Neuzeit; sie hat
vielfach eine einseitige Auffassung in der Naturphilosophie, Metaphysik, Logik,
Ethik und Ästhetik geschaffen, die wir mit dem Namen Formalismus charakterisieren, während der Empirismus und Realismus und namentlich der
Materialismus der Neuzeit die Überschätzung des Wertes des Stoffes herbeigeführt hat.
Auch Kant (1724-1804), der nach einem Ausgleich zwischen beiden Bewertungen
strebte, hielt sich von der Überschätzung der Form. nicht frei; die
Sinnlichkeit, meinte er, gebe uns in der Empfindung einen ungeordneten Stoff, den erst die Anschauung durch die Raum- und Zeitform und der Verstand mit seinen
Kategorien zu ordnen habe; ja selbst in die Natur bringe der Verstand erst Ordnung
hinein. Kants Ethik und Ästhetik waren ganz formalistisch.
Bei Hegel (1770-1831) wurde das Spiel der logischen Formen sogar zum Selbstentwicklungsprozess
des Absoluten. Aber gerade dieser Panlogismus trug zur Untersuchung des Verhältnisses
von Form und Stoff bei; auf die einseitige Überschätzung der Form durch Hegel folgte die einseitige Unterschätzung derselben durch die Naturwissenschaft.
Am richtigsten betrachtet man beide, als denknotwendige Wechselbegriffe, welche
nicht ohne einander sein oder gedacht werden können und welche mit anderen
die Grundlage unserer Erkenntnis bilden. Vgl. Materie.
Ostwald, Vorlesungen über Naturphilosophie. 1902. 3. Aufl. 1905.
formal S.
205
heißt alles, was sich auf die Form bezieht, ohne den Inhalt des Gegenstandes
zu berücksichtigen.
So steht die formale Logik der metaphysischen Logik gegenüber, da jene
es mit formalen Begriffen und formaler Wahrheit zu tun hat, diese das Wesen
und die Bedingungen des Daseins erforschen will.
Formale Prinzipien bestimmen die Art und Weise, nicht den Inhalt unseres Denkens
und Handelns; die formale Wahrheit bezieht sich nur auf den logischen Charakter
unserer Erkenntnisse und entspricht den Gesetzen des reinen Denkens; das formale
Recht ist die allgemeine Befugnis jedes vernünftigen Wesens, mit Freiheit
die Außenwelt zu bestimmen.
Formalismus
S. 205
heißt im Leben ein sich genau, oft peinlich nach bestimmten konventionellen
Regeln richtendes Verhalten, welches korrekt, aber für sich allein herz-
und gemütlos ist.
In der Wissenschaft ist Formalismus diejenige Richtung, die in der Form das Wesen der Dinge sieht. Oft sucht sie, um das Lebendige zu erkennen und zu beschreiben, erst
den Geist herauszutreiben
und hält dann die Teile ohne das geistige Band in den Händen (Goethe). –
Der logische Formalismus feiert
seinen Triumph in der Syllogistik. –
Der ethische Formalismus lässt
den Wert des Handelns nur von der Art, wie sich der Wille bestimmt, ob autonom oder heteronom, nicht von dem Inhalt und den Folgen des Geschehens abhängen und wird leicht zum sittlichen
Rigorismus. -
Der ästhetische Formalismus sucht das Schöne nur in der Form des Objekts und nicht zugleich, wie es nötig ist, in Stoff, Inhalt, Aufgabe, Idee.
Er schafft meist nur unfruchtbare Kunstkritik. –
Der Formalismus ist die Einseitigkeit,
der aller Rationalismus immer wieder verfallen muss, und damit im
Grunde der Tod des wahren philosophischen Geistes.
Fortschritt S.
205f.
bedeutet seit der zweiten Hälfte des 18.Jahrh. die
allmähliche Vervollkommnung. Ob die Natur und das Menschengeschlecht bei ihren Veränderungen fortschreiten oder nicht,
ist nicht leicht zu entscheiden. Es ist dies ein Hauptproblem der Geschichtsphilosophie.
Manche leugnen es, indem sie den Werdeprozess entweder dem Kreislauf oder der
Wellenlinie vergleichen und auch darauf berufen, dass alles schon einmal da
gewesen sei, ja dass die Menschen heute schlechter seien als je.
Dagegen lässt sich einwenden, dass zwar im allgemeinen die Naturgesetze und die Triebe, Gefühle und
Bestrebungen der Menschen seit Anfang der Natur und des Menschengeschlechts
dieselben sind, dass aber unleugbar in der Natur eine Vermannigfaltigung der
Arten und in der Kultur, d.h. in der Beherrschung der Natur durch den Menschen,
eine stetige Ausdehnung stattgefunden hat, und nicht nur das menschliche Wissen,
sondern, was wichtiger ist, seine Fähigkeit zu denken, seine Art, die Dinge
zu begreifen, sich gesteigert hat, seine Gefühle verfeinert, seine Ideen
gereift und seine Triebe veredelt worden sind, endlich dass die Glückseligkeit
der Menschen extensiv und intensiv gewachsen ist. Heutzutage befinden sich mehr
Individuen in einem menschenwürdigen Dasein als früher, und ihre Ansprüche
an das Leben sind höher.
So wird man von einem Fortschritt in Natur und Geschichte,
wenn auch nicht im transzendenten Sinne reden dürfen. –
Hiernach scheint ein gewisser Fortschritt der Natur und Menschheit, der freilich
nicht in gerader Linie erfolgt ist, denn mit den Fortschritten sind auch Rückschritte
verbunden, wirklich stattgefunden zu haben. Vgl.
J. G. v. Herder, Ideen zur Geschichte der Menschheit 1784-1791 und Briefe zur
Beförderung der Humanität 1793. Eucken, Geistige Strömungen der
Gegenwart 1904, S. 192. H. Rickert, Geschichtsphilosophie1902.
Freiheit,
S. 207ff. Siehe
auch bei Eisler
im weitesten Sinne, ist die einem
Wesen gegebene
Möglichkeit,
so zu handeln,
wie es will.
In dieser weitesten Fassung schließt die Freiheit
auch die Willkür
in sich ein und bildet den Gegensatz
sowohl zur Notwendigkeit
wie zum Zwange.
Enger gefasst, wie es gewöhnlich geschieht, ist die Freiheit
die Möglichkeit der Selbstbestimmung
eines vernünftigen Wesens im Gegensatze
zur Abhängigkeit
von fremder Macht. Derjenige Mensch handelt frei, für dessen Handlungen
die Ursachen in
ihm selbst liegen und nicht in fremden Gewalten.
So gedacht, ist die Freiheit dem Zwange,
aber nicht der Notwendigkeit entgegengesetzt.
Die Freiheit kann nun eine vollständige
(absolute, metaphysische)
oder eine beschränkte (relative)
sein. Zur Annahme einer absoluten
oder metaphysischen Freiheit muss
konsequenter Weise der streng idealistische
Standpunkt führen, der die Außenwelt
als eine Setzung des Subjektes
und das mit Selbsttätigkeit begabte Ich
als die einzige unmittelbare Wirklichkeit
ansieht.
Eine solche Freiheit hat Fichte (1762-1814),
von Kants praktischer Philosophie ausgehend, gelehrt,
während Spinoza (1632
bis 1677), der andere Denker, von dem Fichte beeinflusst ist, den entgegengesetzten
Standpunkt einnahm, die Wirklichkeit in Gott-Natur und den notwendigen Gesetzen
suchte und dem Menschen die metaphysische Freiheit absprach.
Auch Schopenhauer (1788-1860)
nimmt wie Fichte eine metaphysische
Freiheit an. Er rückt aber die Freiheit aus dem Gebiete des Handelns,
in dem der Satz des Grundes herrscht, in eine höhere, unserer Erkenntnis
schwerer zugängliche transzendente
Region hinaus. Indem er den Willen,
den er sich blind und ziellos vorstellt, als das metaphysische Prinzip annimmt
und dem Menschen diesen Willen als intelligiblen
Charakter angeboren
sein lässt, führt er aus: »Jedes Ding wirkt gemäß
seiner Beschaffenheit, und sein auf Ursachen erfolgendes Wirken gibt diese Beschaffenheit
kund. Jeder Mensch handelt nach dem, wie er ist, und die demgemäß
jedes Mal notwendige Handlung wird im individuellen Fall allein durch die Motive
bestimmt. Die Freiheit, welche daher im Operari nicht
anzutreffen sein kann, muss im Esse
liegen. Es ist ein Grundirrtum, ein hysteron proteron
aller Zeiten gewesen, die Notwendigkeit dem Esse und die Freiheit dem Operari
beizulegen. Umgekehrt im Esse allein liegt die Freiheit; aber aus ihm und den
Motiven folgt das Operari mit Notwendigkeit, und an dem, was wir tun, erkennen
wir, was wir sind. Hierauf, und nicht auf dem vermeinten
libero arbitrio indifferentiae, beruht das Bewusstsein der Verantwortlichkeit
und die moralische Tendenz des Lebens« (Über
d. Freiheit des menschlichen Willens Werke Bd. IV S. 47).
Auch in der Konsequenz der Humeschen metaphysischen Gedanken hätte, da
Hume (1711-1776) die Gültigkeit
des Kausalitätsgesetzes bestreitet, die Annahme einer metaphysischen Freiheit
liegen müssen; aber Hume hat diese Konsequenz nicht gezogen, sondern huldigt
vielmehr, rein empirischen Betrachtungen folgend, einem psychologischen Determinismus.
–Innerhalb der relativen Freiheit ist zu scheiden zwischen äußerer
und innerer Freiheit, der Unabhängigkeit von äußeren und inneren
Gewalten, die die Möglichkeit der Selbstbestimmung aufheben.
Die äußere Freiheit
ist entweder eine okkasionelle oder physische oder nationale oder soziale oder
politische Freiheit.
Die okkasionelle Freiheit ist
die jeweilige Nichtexistenz äußerer beschränkender und hindernder
Umstände für die Person, wie Kerker und Fessel; ihr Gegensatz ist
die Gefangenschaft, Fesselung und Ähnliches.
Die physische Freiheit ist Möglichkeit des Gebrauchs der körperlichen
Werkzeuge beim Handeln; ihr Gegensatz ist Ohnmacht, Hemmung, Lähmung usw.
Die nationale Freiheit ist da vorhanden, wo ein Volk, gleichviel wie es regiert
wird, seine Angelegenheiten durch sich selbst bestimmen kann und nicht von einer
anderen Nation abhängig ist. Nationale Unfreiheit ist dagegen da vorhanden,
wo ein Volk unter das Joch eines anderen gerät. Ein solcher Zustand ist
der Zustand vieler Völker in der Weltgeschichte gewesen, so der Mittelmeervölker
nach Unterwerfung unter die römische Republik, so der Iren in Großbritannien
in der Jetztzeit.
Aus der nationalen Unfreiheit hat sich vielfach die soziale Unfreiheit, die
Ausnutzung der Kräfte eines zum dienenden Stande herabgedrückten,
unterjochten Volkes, das Sklaventum und Schutzbürgertum (Metöken),
ein jetzt wesentlich überwundener Zustand, entwickelt. Sein Gegensatz,
die soziale Freiheit, ist die Zugehörigkeit eines Menschen zu den Rechten
des Staatsbürgers.
Die politische Freiheit entsteht nur bei besonderer Gestaltung des Staatswesens
und ist die Unabhängigkeit des einzelnen Bürgers von der Gewalt eines
Einzelnen, einer Gruppe von Menschen oder einem Stande. Ein solche Freiheit
gewährender Staat ist, im Gegensatz zur Monarchie, Tyrannis, Oligarchie,
Aristokratie usw., ein Freistaat, eine Republik, wie z.B. die Schweiz, Frankreich,
die amerikanische Union. –
Der die Philosophie aber am meisten beschäftigende Begriff der Freiheit
ist der Begriff der inneren Freiheit, der Willensfreiheit, der Möglichkeit,
aus reiner Selbstbestimmung sich zu entschließen und zu handeln. Die Frage,
ob der menschliche Wille sich selbst bestimmen könne, autonom sei, oder
ob er von fremden Mächten bestimmt werde, unfrei, heteronom sei, hat die
Philosophie zu allen Zeiten beschäftigt und hat im Allgemeinen drei verschiedene
Antworten hervorgerufen.
Entweder haben Philosophen den Willen für autonom erklärt, und diese
Autonomie als den Gegensatz zur Ursächlichkeit, als die Aufhebung des Kausalitätsgesetzes
für den Willen angesehen, oder sie haben den Willen für heteronom
und alles Handeln lediglich für verursacht erklärt, wie die Vorgänge
in der Natur es sind, oder sie haben die Selbstbestimmung des Willens nicht
geleugnet, aber die Freiheit des Willens nicht für den Gegensatz zur Ursächlichkeit,
sondern für eine bestimmte Form der Verursachung genommen.
Der erste Standpunkt heißt Indeterminismus,
der zweite Determinismus,
der dritte psychologischer Determinismus. Im einzelnen
haben diese Standpunkte durch das Eingreifen religiöser Lehren und individueller
Auffassung mannigfaltige Färbung angenommen.
Am schärfsten hat den Indeterminismus Kant
(1724-1804) vertreten. Zwar steht nach seiner Lehre die Natur unter der
Herrschaft des Kausalitätsgesetzes, und das menschliche Handeln, insofern
es in die Erscheinung tritt, ist ebenfalls diesem Gesetz unterworfen. Aber der
Mensch ist Bürger zweier Welten, einer sichtbaren und einer
intelligiblen, und als Bürger der letzteren besitzt er völlige
Willensfreiheit. Die intelligible Freiheit ist
die Fähigkeit des Menschen, eine
Kette des Geschehens, die erst, sobald sie in die Erscheinung tritt, nach Naturgesetzen
abläuft, ursachlos durch Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit der
praktischen Vernunft zu beginnen, und auf die Existenz dieser
Freiheit gründet sich das Sittengesetz mit seiner Überordnung
der Pflicht über
die Neigung und mit seiner Forderung: Du sollst, denn
du kannst, und der Glaube
an Gott und die Unsterblichkeit der Seele als Postulaten
der praktischen Vernunft.
Auf ähnlichem Standpunkt wie Kant steht auch
Aristoteles (384-322).
Er erklärt den Menschen für die Quelle seiner Taten (
eoike dê, kathaper eirêtai, anthrôpos einai archê tôn
praxeôn Arist. Eth. Nicom. III 5 p.
1112b 31) und definiert das freiwillige Handeln als die bewusste Selbstbestimmung
('Ontos de akousiou tou bia kai di' agnoian, to hekousion
doxeien an einai, hou hê archê en autô eidoti ta kath' hekasta
en hois hê praxis - Eth. Nic. III 3
p. 1111 a 22).
Der Indeterminismus begnügt sich aber meist
damit, nicht wie Kant eine
intelligible Freiheit, sondern nur eine Wahlfreiheit
des Willens, bei verschiedenen Möglichkeiten des Handelns,
anzunehmen. Einen solchen Indeterminismus vertritt
z.B. Platon (427-347),
wenn ersagt: »Die Tugend untersteht keinem Herrn,
und je nachdem jeder sie ehrt oder missachtet, wird er mehr oder weniger von
ihr besitzen. Die Schuld fällt dem Wählenden zu. Gott trägt keine
Schuld« (aretê de adespoton, hên
timôn kai atimazôn pleon kai elatton autês hekastos hexei.
aitia helomenou; theos anaitios. Rep. X, 16,
617 E).
Von den neueren Philosophen ist außer Fichte
und Kant vor allem Descartes
(1596-1650) Anhänger des Indeterminismus.
Er nimmt eine unbeschränkte Wahlfreiheit des Willens an und rechnet diese
Annahme zu den angeborenen und verbreitetsten Begriffen
(»Dass aber unser Wille Freiheit besitzt, und dass wir vielem willkürlich
zustimmen oder nicht zustimmen können, ist so offenkundig, dass es unter
die obersten und allgemeinsten Begriffe, die uns angeboren sind, zu rechnen
ist« Princ. phil. I, 39).
Der Indeterminismus, der sich auf die Wahlfreiheit
bei der Möglichkeit verschiedener Handlungen stützt und behauptet,
dass die Verantwortlichkeit der menschlichen Handlung nur im Zusammenhange mit
seiner Auffassung nachgewiesen werden könne, übersieht aber, dass
die Antriebe des Willens keineswegs immer eine Wahl in sich schließen,
und dass bei stattfindender Wahl der Wille tatsächlich unter dem Einfluss
mannigfaltiger äußerer und innerer Bestimmungsgrunde steht, und endlich,
dass eine Verantwortlichkeit auch im Zusammenhange mit anderen Theorien angenommen
werden kann. Der Wille steht, wo eine wirkliche Wahl stattfindet, stets unter
dem Einfluss von Motiven und dem Charakter der wählenden Person. Die Möglichkeit,
verschieden zu wählen ist oft vorhanden; aber die wirkliche Entscheidung
erfolgt stets durch Gründe.
Insbesondere ist Kants Annahme einer
intelligiblen Freiheit auf eine in Wirklichkeit nicht zutreffende Scheidung
der empirischen Willenstätigkeit und der Vernunfttätigkeit des Menschen
begründet. Kant hat nicht die Frage im Auge gehabt, wie der Mensch, dessen
Wille nach Inhalt und Ziel bestimmt ist, handele, sondern nur, wie reine Vernunft
den Willen bestimme. Er kommt daher mit seinen Untersuchungen nur zu einem formalen
inhaltlosen Moralprinzip. Nur durch seine einseitige und isolierende Fragestellung
ist er zur Theorie der intelligiblen Freiheit des Willens gekommen. Wer nicht,
wie Kant, das Apriori
ins Auge fasst, sondern den ganzen Menschen, wird zu einer Lehre von der intelligiblen
Freiheit keine Veranlassung finden. -
Vertreter des Determinismus sind im Altertum die Stoiker
gewesen. Nach ihrer Auffassung erfolgt in der Welt alles vermöge
eines natürlichen und unveränderlichen Zusammenhangs von Ursachen
und Wirkungen; eine Freiheit des Willens könne darum nicht bestehen. Die
Stoiker nahmen sogar eine alles beherrschende heimarmenê
an (Zeller, Die Phil. d. Gr., IV. S. 144, 146, 148,
151).
Das Mittelalter mit seiner Prädestinationslehre und seinem Dogma von der
Erbsünde denkt wesentlich deterministisch.
In der Neuzeit vertreten den Determinismus (außer
Spinoza) Hobbes, Leibniz und die Materialisten.
Nach Hobbes (1588-1678)
sind alle Erscheinungen
Körperbewegungen, die mit mechanischer Notwendigkeit vonstatten gehen;
auch die sittlichen Erscheinungen unterliegen ebenso wie die physischen dem
Gesetz der mechanischen Kausalität. Aus sinnlichen Eindrücken gehen
die Gefühle der Lust
und Unlust, aus diesen gehen die Affekte und Begehrungen und aus dem Sieg der
einen Begehrung über andere der Wille hervor, der daher nicht frei genannt
werden kann.
Auch Leibniz (1646-1716)
erklärt den Willen für determiniert. Der Wille unterliegt wie jede
einzelne Monade und wie das Weltganze einer Vorherbestimmung. Wir sind in unserm
Wollen niemals indifferent und werden auch niemals von gleich starken Bestimmungsgründen
nach entgegengesetzten Seiten getrieben. Der Mensch wählt immer das, wozu
ihn eine an Stärke überwiegende Neigung hinzieht. Unsere Willensakte
sind das natürliche Ergebnis unserer Individualität und ihrer Entwicklung,
wie diese in Rücksicht auf das Weltganze angelegt ist.
(Vgl. Zeller, Gesch. d. deutschen Philos. S. 118 ff.)
Auch der gesamte Materialismus
der Neuzeit tritt in innerer Konsequenz für
den Determinismus ein. Aber soweit der Determinismus
lediglich äußere Bestimmungsgründe für den Willen ansetzt,
wie dies bei den Materialisten geschieht, während Leibniz
schon einen freieren Blick besitzt, beruht er auf ungenügender Beobachtung
der Vorgänge; denn die Willensbestimmung erfolgt ebenso sehr durch innere
wie durch äußere Bestimmungsgründe, und der psychische Charakter
des Menschen hat oft den größeren Anteil an der Bestimmung als das
den äußeren Bestimmungsgrund bildende Motiv, oft sogar den einzigen.
Auch hebt der konsequente Determinismus in der Tat die praktische Willensfreiheit
und die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen auf und setzt
sich dadurch in Widerspruch zur natürlichen Auffassung. -
Der einzige den Tatsachen entsprechende und die Vorgänge richtig erklärende
Standpunkt bleibt darum der des psychologischen
Determinismus, der den Willen als zugleich durch äußere
und innere Ursachen, durch Motive und psychische Gründe, vor allem durch
den ganzen Charakter des Menschen bestimmt ansieht, der das Gesetz der Willensbestimmung
nicht als einen Gegensatz zum kausalen Geschehen ansieht, sondern der Kausalität
der Außenwelt eine innere Kausalität, für die freilich das Gesetz
der Äquivalenz von Ursache und Wirkung noch nicht aufgestellt werden kann,
an die Seite setzt und sowohl die Selbstbestimmung des Willens, die praktische
Freiheit, wie auch die Verantwortlichkeit zu erklären vermag, indem er
alle Zufälligkeit im Gebiete des Handelns aufhebt und zugleich allen fatalistischen
Ansichten ein Ende macht.
Die Hauptvertreter dieses psychologischen Determinismus sind Locke
und die englische Empiristen sowie Herbart
und Wundt.
Locke (1632-1704) sieht
den Willen selbst als nicht
frei an. Der Wille wird stets durch ein Verlangen in Bewegung gesetzt
und der Entschluss durch ein Urteil der Vernunft bestimmt. Aber es steht in
der Macht des Menschen, eine Überlegung anzustellen und ihr die Richtung
zu geben. Die Freiheit liegt zwar nicht im Willen,
sie ist ein Vermögen, wie der Wille es auch ist; aber die Freiheit
liegt in der Person des Menschen und kommt bei den Überlegungen
zur Geltung, so dass eine sittliche Verantwortlichkeit des Menschen besteht
(Locke, Versuch ü. d. menschl. Verstand II 21
§§ 4-73).
Herbart (1776-1841)
betrachtet die innere Freiheit als
die Einstimmigkeit des Willens mit dem eigenen Urteile.
Das Wollen hängt nach seiner Auffassung von der Einsicht ab und wird durch
die Vorstellungen und den Charakter des Menschen bestimmt. Freiheit ist nur
die Bestimmbarkeit des Willens durch Motive und den Charakter, und eine Freiheit,
die der Kausalität entgegengesetzt wäre, existiert nicht.
Am schärfsten hat Wundt (geb.
1832) den Begriff des psychologischen Determinismus
entwickelt und für die Willensbestimmung die inneren Ursachen und
eine geistige Kausalität ohne das Prinzip der Äquivalenz von Ursache
und Wirkung aufgestellt (Wundt, Grundz. d. phys. Psych.
II S. 463-487). Es ergibt sich mithin, dass der Mensch beim Handeln bald
durch Motive getrieben wird und dann nicht frei ist, bald durch seinen Charakter
bestimmt wird und dann frei handelt, dass aber Willensfreiheit nicht die Fähigkeit
ursachlosen oder grundlosen oder gar gesetzlosen Handelns, sondern die Möglichkeit
der Willensbestimmung aus psychologischer Notwendigkeit, unabhängig von
äußerem Zwange, ist. Die Freiheit ist kein dauernder Zustand des
Willens, sondern muss in jedem Falle errungen werden; so trifft Goethes
Wort zu: »Das ist der Weisheit letzter Schluss;
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss.«
Vgl. Determinismus,
Willkür,
Zurechnung, Notwendigkeit.
Drobisch, d. moral. Statistik und Willensfreiheit.
Lpz. 1867. J. C. Fischer, Die Freiheit des menschlichen Willens. Lpz. 1871.
H. Sommer, Freiheit des Willens. Berlin 1880.
Frömmigkeit
(abgeleitet von fromm, mhd. vrum, ahd. fruma,
eigentlich = der Nutzen)
S. 214f.
heißt die durch das Gefühl
der Abhängigkeit
vom Göttlichen
hervorgerufene Gesinnung.
Diese Gesinnung führt alles Sein
und Geschehen in Natur,
Geschichte und im persönlichen
Leben, wie nicht minder alle moralischen Gebote auf Gott als das letzte Prinzip zurück.
In dem religiös gestimmten Gemüte wird die Vorstellung Gottes zum
Mittelpunkte aller Vorstellungen, Gefühle und Triebe und erregt im Ich,
wenn dies nicht in Harmonie mit jener ist, Unlust (Furcht
vor Gott), sobald es aber sich in Harmonie mit jener fühlt, Lust (Gottseligkeit).
Ihrem Wesen nach kann die Frömmigkeit gleich tief und stark sein, wie man
sich auch Gott dabei vorstellt: ein Buddhist, ein Jude, ein Katholik und ein
Protestant können gleich fromm sein.
Wahre Frömmigkeit beweist auch in milder und sanfter Gesinnung, in Taten
der Nächstenliebe und in der Moral. –
Frömmelei dagegen ist die
aus Furcht oder Selbstsucht entspringende Affektion der Frömmigkeit.
Vgl. Schleiermacher, Reden über die Religion.
1799. Ziller, Allgem. phil. Ethik. Langensalza 1880.
Furcht
S. 215
ist das Gefühl
heftiger Unlust, welche aus der Erwartung,
eines künftigen Übels
entspringt. Sie ist einer der passiven Affekte,
welche aus plötzlicher Herabdrückung
des Gemüts entstammen.
Die Furcht jagt das Blut zum Herzen;
daher das Erbleichen und der beschleunigte Herzschlag; sie lähmt
den Willen und
lässt unsere Vorstellungen stocken. Furcht
ist oft sogar tödlich. Was Furcht
erregt, heißt furchtbar.
Die Furcht ist ein den lebenden Wesen
natürlicher Affekt, dem der am meisten
ausgesetzt ist, der die lebhafteste Phantasie
hat.
Stufen der Furcht sind Bangigkeit,
Angst und Verzagtheit.
Plötzliche Furcht heißt
Erschrecken, Grausen und Entsetzen; ihr
ist auch der Mutigste ausgesetzt, weil auch ihn das Gefühl seiner Ohnmacht
durch Überraschung überfallen kann.
Geneigtheit zur Furcht heißt
Furchtsamkeit; diese kann physisch,
geistig oder moralisch sein. Im Umgang mit Menschen erscheint die mäßige
Furchtsamkeit als Schüchternheit.
Vgl. Mosso, Über die Furcht. Aus d. Ital. Lpz.
1894.
Gedächtnis
(lat. memoria) S.
217f.
ist nach der Auffassung der vulgären und der Vermögenspsychologie
das Vermögen des Geistes, Vorstellungen, die aus dem Bewusstsein entschwunden
waren, unverändert wieder hervorzurufen (zu reproduzieren) und wiederzuerkennen.
Von der Erinnerung (s. d.) unterscheidet es sich dadurch, dass jene eine willkürliche,
dieses eine unwillkürliche Reproduktion ist, von der Phantasie dadurch,
dass diese die Vorstellungen verändert und in neue apperzeptive Verbindungen
bringt, das Gedächtnis sie dagegen unverändert und in ihrer assoziativen
Ordnung reproduziert. Ein Vorzug des Gedächtnisses ist also die Treue.
Diese hängt von der Stärke der ursprünglichen Auffassung, vom
Interesse an der Sache und von der Wiederholung desselben Eindruckes ab.
Neben der Treue bildet die Dauerhaftigkeit, Leichtigkeit und Vielseitigkeit
einen Vorzug des Gedächtnisses. Die sogenannten besonderen Gedächtnisse
für Zahlen, Namen u. dgl. hängen vom Interesse und der Gewöhnung
ab. Bei Kindern ist ein starkes Gedächtnis das erste Zeichen von Begabung,
bei Erwachsenen jedoch nicht; denn wo viel Gedächtnis ist, pflegt weniger
Urteilskraft zu sein. Die Abnahme des Gedächtnisses entspringt entweder
aus dem Alter oder aus Gehirnkrankheit.
Kant (1724 bis 1804) definierte
das Gedächtnis,
Erinnerung und Gedächtnis nicht unterscheidend, als Vermögen,
vormalige Vorstellungen willkürlich zu. reproduzieren; memorieren bezeichnete
für ihn, etwas methodisch ins Gedächtnis fassen. Er unterschied mechanisches,
ingeniöses und judiziöses Memorieren.
Das erste beruht nach seiner Auffassung auf Wiederholung, das zweite auf Assoziation,
das dritte auf Einreihung der Vorstellung in ein System
(Kant, Anthropologie I, § 31, S. 92 ff.).
Beispiele von ausgezeichnetem Gedächtnis sind Themistokles,
welcher die Namen aller athenischen Bürger kannte, Scaliger,
der den Homer in 21 Tagen auswendig lernte, Leibniz
und Euler, welcher die Aneide,
Giambattista Giuliani, der Dantes
Divina Commedia, und Hugo
Grotius, welcher das ganze Corpus iuris auswendig
wusste. Die neuere Psychologie führt jeden Gedächtnisvorgang auf Erinnerungsassoziationen
zurück (vgl.
Erinnerung).
Vgl. Jean Paul, Levana § 141ff. E. Hering, Über das Gedächtnis.
Wien 1870. J. Huber, Das Gedächtnis. München 1878. Ribot, maladies
de la mémoire. 1881. Wundt, Grundr. d. Psychologie, § 16, 18 ff.,
S. 293 ff.
Gedanke
S. 218
ist das Erzeugnis eines
Denkaktes (s.
Denken). Gedankenlosigkeit bedeutet entweder
Mangel an Herrschaft über die dem Bewusstsein
sich aufdrängenden Vorstellungen
oder Langsamkeit im Ablauf
der Vorstellungen und Begriffe
oder endlich Mangel an selbständigen Gedanken.
Geduld
S. 218f.
ist Selbstbeherrschung
im Leiden,
die ruhige, entschlossene Hinnahme von Übeln,
Anstrengungen und Widerwärtigkeiten,
die wir entweder nicht abwenden können oder (aus
Pflichtgefühl) nicht abweisen wollen.
Gefühle
S. 219f.
heißen die subjektiven Elemente unseres Bewusstseinsinhalts,
welche wie die objektiven Elemente, die Empfindungen,
sich im einzelnen durch ihre Qualität und Intensität voneinander unterscheiden,
aber im Gegensatz zu jenen nicht durch größte Unterschiede, sondern
durch größte Gegensätze begrenzt werden. Die Empfindungen bieten
innerhalb ein und derselben Qualität regelmäßig Intensitätsunterschiede
dar, die von einem Minimum aus in einer Richtung zu einem Maximum aufsteigen;
die Gefühle dagegen entwickeln sich von einem Null- oder Indifferenzpunkte
aus regelmäßig nach zwei einander entgegengesetzten Richtungen, wobei
sie zu immer stärker kontrastierenden Gefühlen werden.
Irrtümlich werden die Gefühle oft mit den Empfindungen überhaupt
oder im besonderen mit den Empfindungen des Tastsinnes verwechselt, und der
ältere Sprachgebrauch wirft beide Ausdrücke unterschiedlos durcheinander;
aber die neuere Psychologie scheidet sie mit größter Schärfe.
So wenig zwar Gefühle in dem Verlaufe unseres Seelenlebens isoliert für
sich auftreten, so sehr sie Begleiterscheinungen von Empfindungen und Vorstellungen
sind - man nennt sie daher auch Gefühlstöne der Empfindung - so richtig
trennt sie doch die Analyse als besondere subjektive Elemente unseres Erfahrungsinhalts
von den objektiven Elementen des Empfindungs- und Vorstellungsinhalts. Diese
bringen uns die objektiven Verhältnisse der Wirklichkeit, jene die Zustände
unserer eigenen Person zum Bewusstsein.
Auf den Empfindungen baut sich in uns die Erkenntnis der Welt auf, die Gefühle
treiben uns zur Erhaltung und Vervollkommnung des eigenen Ichs und der Menschheit.
An die Empfindungen schließen sich also als eigenartige Begleiterscheinungen
die Gefühle der Lust und Unlust, der Beruhigung und Erregung, der Lösung
und Spannung an und. bilden die Hauptklassen einfacher sinnlicher Gefühle,
aus denen sich in beständiger Wechselwirkung mit den Erkenntnis- und Willensvorgängen
die aus Partialgefühlen entstehenden mannigfaltigen zusammengesetzten niederen
und höheren intellektuellen ästhetischen und ethischen Gefühle
herausbilden, die zeitweise zu Gemeingefühlen, zu Stimmungen und zu Affekten
anwachsen.
Die Gefühle sind eigenartigen Gesetzen unterworfen. Sie vermindern sich
mit der Dauer. Sie entwickeln sich vom Nullpunkt in zwei Richtungen, aber die
angenehmen Gefühle schlagen an einer bestimmten Grenze bei weiterer Steigerung
in ihr Gegenteil um, während schwache unangenehme Gefühle unter Umständen
noch angenehm wirken können.
Lust und Unlust hat
also etwas Relatives an sich. Herabgesetzte Unlust wird als Lust empfunden und
umgekehrt. Derselbe Anlass bereitet verschiedenen Menschen verschiedene Lust
oder Unlust und denselben Menschen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen
Lagen verschiedene Gefühle. –
Die Erklärung der Gefühle hat der Psychologie viel Schwierigkeiten
bereitet, und ihre Analyse ist noch unfertig.
Vor Kant unterschied man im allgemeinen nur Vorstellen
und Begehren und dementsprechend theoretische und praktische Philosophie.
Kant (1724-1804) leitete
nach Sulzers (1720-1779)
Vorgange die Gefühle aus einem besonderen Vermögen der Seele ab, dem
Vermögen der Lust und Unlust. (Vgl. Kant, Von
der Einteilung der Philosophie, Einleitung in die Kr. d. Urteilskraft, S. XI
- LVI, Anthropologie I, § 67-59, S. 169-202).
Da aber, abgesehen von der Unhaltbarkeit der Vermögenstheorie, wie die
neuere Psychologie zeigt, Gefühle nicht gesondert von den Empfindungen
und Vorstellungen entstehen, so kann den Gefühlen keine andere Existenz
und kein anderer Ursprung zugeschrieben werden als den übrigen psychischen
Elementen, und die Annahme eines besonderen Gefühlsvermögens erscheint
unberechtigt. Nur die psychologische Analyse sondert die Gefühle von den
übrigen psychischen Vorgängen ab. Vgl. Wundt,
Grundzüge der phys. Psychologie I, S. 508-544; Grundriß d. Psychol.,
§§ 5, 7, 12. Nahlowsky, Das Gefühlsleben. 2. Aufl. Leipzig 1894.
Biunde, Empirische Psychologie III, S. 72f. George, Psychologie. Berlin 1851.
Horwich, Psychologische Analysen. 2 Bde. 1872-1878. Anton Palme, J. G. Sulzers
Psychologie und die Anfänge der Dreivermögenslehre. Berlin 1905.
gegeben
S. 221
heißt alles, was ohne
unseren Willen
in unser Bewusstsein
mittels
des Sinnenreizes und der Empfindung
eintritt.
Gegensatz
(oppositio) S.
221
heißt entweder das Verhältnis zweier
Begriffe,
die sich gegenseitig ausschließen, oder das
Verhältnis zweier Sätze, die beide zwar
unwahr, aber nicht beide zugleich
wahr sein können.
Der Gegensatz ist entweder kontradiktorisch
(Widerspruch),
wenn er der Gegensatz der Bejahung
und Verneinung
ist, d.h. wenn nicht nur die Wahrheit
des einen Teils die Falschheit
des anderen bedingt, sondern auch die Falschheit des
einen die Wahrheit des anderen, oder konträr,
wenn nur das erstere Verhältnis stattfindet.
Geist
(pneuma lat. Spiritus, hebr.
[...] Hauch) S.
222f. Siehe auch bei
Eisler
heißt anthropologisch
dasselbe wie Seele,
nur dass diese auch den Inbegriff der inneren oder auch der niederen Lebenszustände,
nicht nur den Träger des Denkens
und die Persönlichkeit bezeichnet.
Die Unterscheidung von Geist und Seele
beruht historisch auf dem alten spiritualistischen
Dualismus, welcher
dem Leibe als toter
Materie (vgl.
Cartesius, Spinoza,
Leibniz, Fichte) die
immaterielle Seele gegenüberstellte
und letztere wieder in eine vegetative, empfindende
niedere Seele und eine denkende
höhere Seele (Geist)
zerlegte. –
So hat namentlich Aristoteles (384
bis 322) dem threptikon
(der Ernährungskraft),
dem aisthêtikon (der
Empfindungskraft), dem orektikon
(der Begehrungskraft) und
kinêtikon kata topon (der Bewegungskraft),
die der Mensch mit dem Tiere gemeinsam hat, den nous
(Geist) als höheres menschliches Vermögen
entgegengestellt.
Ob man sich den Geist als Substanz
oder als Energie
denken will, hängt wesentlich von dem Erkenntniswerte ab, den man diesen
Kategorien beilegt; auch den göttlichen Geist
denken wir uns gegenwärtig nicht mehr nur mit dem altchristlichen Begriff
als unendliche
Substanz, sondern vielmehr als
höchste Energie und zwecksetzenden
Willen.
Doch ist der Substanzbegriff metaphysisch
nur schwer zu entbehren und für den Begriff
von Geist und Gott vielfach festgehalten.
In jedem Falle zwingt uns die Summe unseres Bewusstseinslebens dazu, den Begriff
der materiellen Außenwelt
durch den der geistigen zu ergänzen und in ihr den tieferen Kern des Daseins
zu suchen. Siehe
Idealismus
Der philosophische Materialismus
übersieht einfach die Hälfte der gegebenen Tatsachen. –
Da der Geist auch als Lebensprinzip angesehen werden kann, so legt man nicht
bloß dem einzelnen Menschen, sondern auch Gemeinschaften
einen Geist bei; man spricht vom Geist
einer Schule, Kirche, vom Geist eines Zeitalters, d.h. von seiner Denkweise.
Ferner stellt man den Geist, d.h. Inhalt, dem Buchstaben, der äußeren
Form entgegen.
Je nachdem ein Mensch
viel oder wenig Geist zeigt, heißt er geistig,
geistvoll resp.geistesarm, geistlos. Geistreich
ist witzig; geistlich
bedeutet soviel als kirchlich.
Ein schöner
Geist (bel-esprit) heißt
ein Freund der Literatur und Kunst; ein starker
Geist ist ein Freidenker.
Geschichte
(von geschehen) S.
230ff.
heißt, unmittelbar und objektiv erfasst,
die Summe
von Veränderungen
und Entwicklungen, welche einzelne Dinge
oder Personen während
ihres Daseins erleiden.
Im Allgemeinen hat jedes einzelne Ding seine Geschichte,
ein Baum, ein Stein, die Erde usf.; denn alles verändert
sich fortwährend.
Im engeren Sinne aber hat nur der Mensch
eine Geschichte; denn er allein
erlebt die Veränderungen
durch sein Selbstbewusstsein
und bestimmt
sie durch seine Freiheit.
Zunächst hat nur jeder einzelne Mensch seine Geschichte. Aber die Geschichte
erweitert sich zu derjenigen einer Familie, eines Geschlechts, einer Stadt,
eines Landes, eines Menschenalters, eines Jahrhunderts, ja der ganzen Menschheit.
Von der Geschichte des einzelnen
können wir also stufenweise bis zur Geschichte
der Menschheit aufsteigen. Diese umfasst nicht bloß die
Entwicklung der Individuen
und aller Völker, also die Entwicklung der Personen und Personengemeinschaften,
sondern auch die aller Tätigkeitsgebiete, welche der Mensch auszuüben
gelernt hat, z.B. des Ackerbaus, des Handels, der Industrie, des Staatswesens,
des Rechts, der Kunst, der Religion, der Wissenschaft usf.
Jedes Zeitalter in der Entwicklung der Menschheit bildet eine bestimmte Stufe,
und der Mensch erscheint auf solcher Stufe als abhängig von der Vergangenheit
und bestimmt durch die vorausgegangene Geschichte.
Andrerseits hat jede Zeit ihre eigenen Aufgaben und macht wie die vorausgegangenen
Zeiten einen Fortschritt
und wird ein die Folgezeit mitbestimmender Faktor. Es geht aus diesem Verhältnis
im Allgemeinen eine Schwierigkeit für die lebenden Menschen hervor, ein
Kampf zwischen Altem und Neuem, zwischen dem Bestehenden
und dem erst zu Schaffenden, zwischen der Fessel, die die Vergangenheit bildet,
und dem Drang nach Freiheit, und denkende Zeitalter nehmen auch bestimmte Stellung
zur Frage vom Werte und der Bedeutung des Geschichtlichen.
Und gerade in der Gegenwart macht sich das Bedürfnis einer solchen Stellungnahme
besonders geltend.
Das 18. Jahrhundert, das Zeitalter
der Aufklärung
und des Rationalismus,
versuchte unbekümmert um die Vergangenheit sich das Leben auf abstrakter,
vernünftiger Grundlage neu zu gestalten, verlor aber dabei den Reichtum
des Lebens aus der Hand und gelangte nur zu unhaltbaren Schöpfungen.
Das 19. Jahrhundert, das saeculum
historicum, entwickelte nach dem Zusammenbruch des Rationalismus
die historische Denkweise der Menschheit und gewann damit das tiefere Verständnis
für die Gegenwart, schuf sich aber durch sein historisches Denken eine
Schranke im eigenen Schaffen, eine schwer zu bewältigende Last und eine
einengende Unfreiheit.
Eucken (Geistige Strömungen
der Gegenwart, Leipzig 1904, S. 252 ff.) fasst daher das Problem dahin
zusammen:
»Wir können die Geschichte weder festhalten,
noch entbehren; wir geraten ins Leere, wo wir sie abschütteln, wir verfallen
in ein Schattenleben, wo wir uns ihr anschmiegen. Die Durchschnittsart mag sich
demgegenüber mit Kompromissen behelfen und sich ein Mittelding von Freiheit
und Knechtschaft gefallen lassen, eine energische Denkweise wird die Unmöglichkeit
eines Kompromisses durchschauen und auf einer inneren Überwindung des Gegensatzes
bestehen.«
Die innere Überwindung des Gegensatzes sucht Eucken
in einer Erhebung über die Zeit, in dem Streben nach Entfaltung einer zeitüberlegenen
Geistigkeit, zu der in der Geschichte Anweisungen, Aufforderungen und Möglichkeiten
liegen, die aber selbst vom Zeitlichen zum Ewigen vordringt.
In der Geschichte muss Vergängliches und Unvergängliches geschieden,
aus ihr eine geistige Gegenwart herausgehoben und so aus der Vergangenheit ein
Stück einer zeitüberlegenen Gegenwart gemacht werden, das in einer
durchgreifenden Umwälzung, einem Aufsteigen einer neuen Art des Lebens
besteht.
Wer weniger idealistisch denkt, wird vielleicht anders als Eucken
den Kampf zwischen Historismus, Rationalismus wenigstens in der Praxis,
für eine fortdauernde, niemals zu beseitigende und zu versöhnende
Erscheinung des Menschengeschicks ansehen. –
Die Geschichte mittelbar und subjektiv erfasst, ist die Erforschung und Darstellung
des objektiven Geschehens; diese umfasst im weitesten Sinne als Universalgeschichte
zugleich alle Gebiete des Lebens in- und nebeneinander; da eine solche Zusammenfassung
aber meist die Fähigkeit des Darstellers oder Lesers übersteigt, so
hat man gewöhnlich die einzelnen Gebiete in besonderen Darstellungen behandelt,
und wir unterscheiden Staats-, Rechts-, Kirchen-,
Kunst-, Literatur-, Handelsgeschichte usw.
Ein Zweig derselben ist auch die Geschichte
der Philosophie. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
hat man auf die Kenntnis der Kulturentwicklung immer mehr Gewicht gelegt, und
zuerst haben Voltaire (†
1778) und Herder (†
1803) auf die gesonderte Darstellung derselben hingewiesen. Neben der
Kulturgeschichte hat die individualistische (politische)
Geschichte ihr volles Recht, und beide Zweige der Geschichtswissenschaft haben
sich im 19. Jahrhundert kräftig entwickelt.
Die Aufgabe der Geschichtsforschung
besteht darin, sowohl die allgemeinen Bedingungen des Lebens und Handelns der
Menschheit, als auch die besonderen Bedingungen eines jeden einzelnen Zeitraums
und jeder einzelnen Kulturstufe bis zu den individuellen Faktoren des einzelnen
Menschenlebens festzustellen.
Andere Wissenschaften,
wie die Mathematik,
die Naturwissenschaft, die Philosophie,
suchen in den Erscheinungen
das Gleichbleibende, das Gesetz,
und beschäftigen sich nicht mit dem Einzelnen.
Sie verfahren also generalisierend.
Die Geschichte ist individualisierende Kulturwissenschaft und beschäftigt
sich gerade mit dem einzelnen Menschen und dem einzelnen Ereignis, wie sie gegeben
sind, und jeder Historiker behandelt sein Objekt stets individualisierend, es
als ein einmal zu bestimmter Zeit und an bestimmter Stelle Gegebenes betrachtend.
Und für die Geschichte kommen auch neben den allgemeinen kausalen Faktoren
des Geschehens der Zufall und der freie Wille mit in Betracht, die in der Geschichte
neue Kausalreihen beginnen und herbeiführen, die wieder ihrerseits andere
Kausalreihen als Gegenwirkung hervorrufen.
Auf dem Zusammenwirken dieser Faktoren beruht die Wirklichkeit des Daseins mit
ihrer großen Mannigfaltigkeit, und sie hat der Historiker darzulegen und
bezüglich seiner Werte für die Kultur zu bestimmen, indem er das einzelne
Geschehen im Zusammenhang mit dem Vorausgegangenen und mit der gleichzeitigen
Umwelt betrachtet. -
Die Philosophie der Geschichte untersucht das Wesen der Geschichte im Unterschied
von der Natur, stellt die Gesetze ihres Ursprungs und ihrer Entwicklung auf
und hebt die Ideen hervor, von welchen bedeutende Individuen, ganze Perioden
und Völker geleitet worden sind. Sie geht von der Universalgeschichte aus,
sucht die Prinzipien des geschichtlichen Lebens auf und begründet eine
Logik der Geschichtswissenschaft. Sie darf nicht dazu führen, die Geschichte
zu konstruieren, wie das Hegel getan hat, besteht aber doch zu Recht, soweit
es Allgemeines in der Geschichte gibt.
Vergleiche
Herder, Ideen zur Philosophie
der Geschichte der Menschheit 1784 ff.
Lessing, Erziehung des Menschengeschlechts 1781.
Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert
man Universalgeschichte? 1784.
Kant, Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht 1784.
Hegel, Phänomenologie 1832.
Lotze, Mikrokosmos 3. Auflage
1882.
Jhering, Geist des römischen Rechts.
5. Auflage, Leipzig 1878-91.
Niebuhr, Römische Geschichte.
Berlin 1811-1832.
Savigny, Geschichte des römischen Rechts im
Mittelalter. Heidelberg 1815-1831.
J. G. Droysen, Grundriß der Historik.
3. Auflage 1862.
K. Lamprecht, Die kulturhistorische Methode. 1900.
H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft.
1892.
H. Rickert, Geschichtsphilosophie.
Heidelberg 1904.
G. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie.
1899.
Windelband, Naturwissenschaft und Geschichte.
1894.
Geschichte
der Philosophie S. 233f.
Wie jede Wissenschaft, hat auch die Philosophie (s. d.) ihre Geschichte, d.h.
sie hat eine Summe allmählicher Veränderungen und Entwicklungen durchgemacht.
Diese haben (vgl. Fortschritt) zu einer immer besseren Herausgestaltung ihres
Wesens geführt.
Die Geschichte der Philosophie ist die Geschichte des menschlichen Ringens nach
Erkenntnis. Und wenn Erkenntnis uns auch nie vollständig zu teil wird,
wenn auch kein Philosoph unfehlbar, kein System unangreifbar ist, so ruht und
rastet die Menschheit doch nicht, die alten Probleme immer aufs neue zu untersuchen,
neue Fragen aufzuwerfen und, was die Einzelwissenschaften an neuen Gedanken
gewinnen, zur Begründung einer haltbaren Weltanschauung zu verwerten.
Oft ist geurteilt worden, dass die Geschichte der Philosophie uns in der Denkarbeit
der Menschheit nur ein Penelopebild gebe. Was ein Zeitalter schaffe, löse
das andere wieder auf. Wer aber schärfer zusieht, erkennt doch den Fortschritt,
die Entwicklung und die Ausdehnung der Probleme. Rein negierend stehen sich
die einzelnen Philosophen doch nicht gegenüber. Nur wird oft, was ein Zeitalter
als das Ganze nimmt, später als bloßes Glied des Wissens erkannt.
An der Entwicklung der Philosophie sind hauptsächlich im Altertum die Griechen
und Römer, im Mittelalter und
in der Renaissancezeit die Italiener, die Franzosen, die Deutschen und die Engländer,
in der Neuzeit die Franzosen, Engländer und Deutschen beteiligt gewesen.
Neuerdings zeigt sich aber wieder in Italien frisches philosophisches Streben.
Die angemessene Darstellung dieser Entwicklung ist weder bloß gelehrt,
noch skeptisch, noch konstruierend;
die gelehrte Darstellung häuft Wissensstoff, ohne den Gang der Entwicklung
aufzuzeigen;
die skeptische hält die ganze Geschichte für ein zweckloses Hin und
Her von Irrtümern;
die konstruierende zwängt jedes System in das Schema vorgefasster Begriffe.
Demgegenüber wird nur die kritische Darstellung den einzelnen historischen
Erscheinungen gerecht, indem sie zunächst die Ansichten der einzelnen Philosophen
möglichst objektiv darstellt, dann ihren Gedankengang nachzuphilosophieren
und auf die Folgerichtigkeit durchzuprüfen und endlich das Bleibende herauszuschälen
sucht. -
Quellen dieser Geschichte sind die noch vorhandenen Schriften der Philosophen,
ihrer Schüler, Gegner und Zeitgenossen.
Wichtige Werke zum Studium der Geschichte der
Philosophie sind:
H. Ritter, Geschichte der Philosophie Berlin 1839f.
Überweg-Heinze, Geschichte der Philosophie 10. Auflage Berlin 1907.
Job. Ed. Erdmann, Grundriß der Geschichte der Philosophie 2 Bände,
4. Auflage 1896.
Ed. Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung.
3. Bände, 4. Auflage 1889.
Ed. Zeller, Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz. München
1875.
W. Windelband, Geschichte der neueren Philosophie. 2 Bände. 1892.
R. Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie. 1898.
Kuno Fischer, Geschichte der neueren Philosophie. 8 Bände, 5. Auflage 1904.
L. Noack, Philosophisch-geschichtliches Lexikon. 1879.
Vorländer, Geschichte der Philosophie. 2 Bände, Leipzig, 1903.
Gesetz
(lat. lex,
gr. nomos)
heißt im Allgemeinen der Ausdruck des in einer Reihe
von Vorgängen Wiederkehrenden oder einer Regel,
wonach etwas zu geschehen hat.
Kant definiert Gesetze
als Prinzipien
der Notwendigkeit
dessen, was zum Dasein
eines Dinges gehört
(Metaph. Anfangsgr. der Naturw., Vorrede S. VII).
Die Notwendigkeit, deren Ausdruck das
Gesetz ist, ist entweder eine physische
oder eine psychische oder eine
logische oder eine moralische
oder eine juridische. Es gibt
daher Natur-, Seelen-, Denk-, Sitten- und Staatsgesetze.
Im Sprachgebrauch ist der älteste Begriff
des Gesetzes der juridische gewesen. Er ist vom
menschlichen Handeln zur Natur
gewandert, hat hier eine neue Gestalt genommen und kehrt mit ihr zum
Menschen zurück, um auch sein Dasein in ein neues Licht zu rücken.
(Eucken, geistige Strömungen 1904, S, 151.)
Naturgesetz bezeichnet zunächst
nicht Gesetz der Außenwelt,
sondern ungeschriebenes Gesetz der menschlichen Natur
(agraphos nomos). Erst bei den Stoikern
wird der Name auf die Natur übertragen.
Lukrez kennt den Ausdruck leges
naturae.
Aber erst die Neuzeit benennt allgemein die Gesetze
des Geschehens Naturgesetze.
(Vgl. Zeller, über Begriff n. Begründung der sittlichen Gesetze. 1883.)
Die Natur- und Seelengesetze
sind Gesetze, von denen es keine
Abweichung gibt; es steht nicht in jemandes Belieben, sich von ihnen frei zu
machen. Die Natur- und Seelengesetze sind Formeln
für die Stetigkeit
des Geschehens in der Natur und in der Seele,
für die Resultate gewisser bleibender Verhältnisse; in ihnen fällt
Notwendigkeit und Tatsächlichkeit zusammen. Es ist z.B. ein Gesetz, dass
Eisen im Sauerstoff oxydiert; das heißt, es ist eine stets beobachtete
Tatsache, dass Eisen durch Sauerstoff eine bestimmte Veränderung erleidet,
oder Sauerstoff hat die Eigenschaft, d.h. die Kraft, Eisen zu. zersetzen; ebenso
verhält es sich mit den Fallgesetzen, mit dem Gesetz von der Erhaltung
der Energie
- es sind Ausdrücke für Vorgänge, die unter denselben Bedingungen
immer wieder eintreten, und zwar, weil es nicht anders geschehen kann.
Auch die Sprachgesetze schließen
sich den Natur- und Seelengesetzen an und zeigen
dieselbe Ausnahmelosigkeit wie jene. (Siehe Paul,
Prinzipien der Sprachgeschichte. 3. Aufl. 1898.) –
Anders steht es mit den Denk-, Sitten- und Staatsgesetzen,
welche sich auf dem Gebiete der Wissenschaft,
der Moral, der Geschichte,
des Hechts, mit einem Wort, der menschlichen Kulturarbeit beseitigen. Diese
sind von den Menschen geschaffen und aufgestellt,
damit sie von Menschen anerkannt und befolgt werden.
Weil diese aber Personen
sind, d.h. Wesen mit Selbstbewusstsein
und Selbstbestimmung,
so steht es bei ihnen, ob sie den Gesetzen gehorchen wollen oder nicht. Daher
finden wir, wenn wir die Geschichte der Individuen
wie der Völker betrachten, dass sie so oft dasjenige, was ihnen die Gesetze
gebieten, übertreten, indem sie ihren Trieben,
Interessen,
Gefühlen
oder Gewohnheiten folgen. Darauf beruhen alle Fehler in der wissenschaftlichen
Forschung, alle moralischen Gebrechen, alle Verstöße gegen die Ordnung
des Staates.
Der Unterschied zwischen den Natur- und Seelengesetzen
einerseits und den logischen, moralischen, juridischen
Gesetzen anderseits besteht also darin, dass jene eine Notwendigkeit,
diese eine Verpflichtung in sich
schließen; jene müssen, diese sollen befolgt werden; jene sind nur
der Ausdruck der objektiven Verhältnisse, diese wenden sich an den Willen
des Menschen. Dass jene unter denselben Bedingungen nicht zur Geltung kommen
sollten, ist ebenso unmöglich, als dass diese nicht übertreten werden
sollten. Damit hängt ein weiterer Unterschied zwischen jenen und diesen
zusammen. Jene sind induktiv, diese deduktiv gefunden, d.h. jene sind durch
(vielleicht nicht immer zureichende und nie völlig
abzuschließende) Beobachtung gewonnen, diese hingegen nicht allein
aus der Erfahrung, sondern auch aus der Vernunft selbst abgeleitet.
Ein Naturgesetz, welches durch eine Instanz nicht
bewährt wird, muss umgestaltet werden;
ein Vernunftgesetz, z.B. aus der
Moral, bleibt gültig,
auch wenn es hundertmal übertreten würde. Was die Vernunft
als gut
oder wahr oder
schön oder
recht usf. anerkannt
hat, bleibt so, selbst wenn es Tausende von Menschen, ja zeitweilig gar die
Mehrzahl derselben nicht anerkennen.
Andrerseits zeigt sich bei tieferer Betrachtung doch auch wieder eine merkwürdige
Übereinstimmung zwischen beiden Arten von Gesetzen.
Beide werden von den Menschen durch ihre Erkenntnistätigkeit gefunden und
aufgestellt, beide werden von ihnen fort und fort modifiziert entsprechend dem
Stand ihrer Erkenntnis.
Die Vernunftgesetze ferner, welche
wir für die menschliche Gesellschaft aufstellen, beruhen auch auf der Natur,
nämlich auf der über die ganze Erde verbreiteten Menschennatur, ebenso
wie die Naturgesetze, welche wir
finden, schließlich auch als Beweise
einer objektiven
Vernunft zu
gelten haben - eine Auffassung,
welche von der Metaphysik
näher zu begründen ist. Vergleiche
Natur, Zweckmäßigkeit,
Notwendigkeit,
Hypothese.
Siehe
auch bei Eisler
gewiss/Gewissheit
S. 241
nennen wir dasjenige, von dessen Wahrheit
wir überzeugt sind; je nachdem wir uns dabei auf subjektiv
oder objektiv
zureichende Gründe
stützen, ist etwas für uns allein oder für alle gewiss. So sind
z.B. alle Glaubenserfahrungen
zwar für den, der sie hat, etwas Gewisses;
was sie aber begründen, gilt nicht für andere.
Ein niederer Grad der Gewissheit
ist die Wahrscheinlichkeit.
Über sie führt z.B. alle Induktion
nicht hinaus. Alle Gewissheit
ist ferner eine unmittelbare,
sofern sie sich auf Tatsachen,
oder eine mittelbare, sofern sie
sich auf Schlüsse
gründet.
Den Ausdruck der letzten, fundamentalsten Tatsachen bilden die Prinzipien,
Axiome und Hypothesen,
welche eines Beweises nicht fähig sind. Auf
sie müssen auch alle Beweise schließlich zurückgehen, wenn sie
stichhaltig sein sollen. Damit erscheint alle
Gewissheit nur als eine
relative. Manche Wahrheit, die für alle Zeiten gefunden zu sein schien,
wird im Fortgang der Wissenschaft
umgestaltet und verändert. Vergleiche
Beweis, Hypothese,
Denkgesetz, Grund.
Vgl. Windelband, ü. d. Gewißheit d. Erkenntnis.
Berlin 1873. Poincaré, Wissenschaft u. Hypothese, übersetzt v. Lindemann.
Lpz. 1904.
Gewissen
(von wissen) S. 241f.
ist die Gesamtheit aller bei einer Willensentscheidung mitwirkenden inneren
Bestimmungsgründe. Das Gewissen
ist nicht angeboren,
sondern entwickelt sich langsam in den einzelnen Menschen. Je nach dem Alter
und nach der intellektuellen und moralischen Bildung des einzelnen äußert
es sich entweder als ein dunkles Gefühl der Unlust,
sobald er in Versuchung zum Bösen gerät, oder als klares
Bewusstsein der Pflicht.
Die Regungen des Gewissens gehen
der Tat voran, sie
begleiten sie und wirken als Reflexion über die Tat auch nach derselben
nach.
Vor der Tat sind sie, je nachdem
diese gut oder böse
ist, ratend oder warnend,
in derselben
fördernd oder hemmend,
nachher lobend oder
tadelnd. Es betreffen dieselben immer den Einzelfall und die Einzelperson;
daher rührt auch der subjektive
Charakter des
Gewissens, der es ungeeignet macht, als allgemeine Norm zu dienen. Niemand,
auch der Frömmste und Klügste nicht, hat mithin das Recht, sein Gewissen
anderen zum Gesetz
zu machen. Bei jedem entwickelt es sich individuell.
Je nach unserer Anlage, Erziehung und Lebensführung
ist unser Gewissen stark oder schwach, eng
oder weit, zart oder stumpf. Da es die subjektive
Vernunft des
einzelnen ist, sofern sie über Sittliches
urteilt, so kann es natürlich auch irren, und einzelne wie ganze Völker
haben für recht gehalten, was wir heute verwerfen.
Aus Gewissenhaftigkeit
hat vielleicht Calvin den Servet
verbrannt, Ravaillac Heinrich IV. ermordet; aus
Gewissenhaftigkeit haben ganze Völker ihre Eltern erschlagen, ihre Feinde
verzehrt i. dgl. m. Daraus folgt, dass das Gewissen
steter Erziehung bedarf.
Kant (1724-1804) nennt
es ein Bewusstsein,
das für sich selbst Pflicht
ist (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen
Vernunft IV, §4, S. 237),
J. G. Fichte (1762-1814) das unmittelbare
Bewusstsein unserer bestimmten Pflicht,
Hegel (1770-1831) den
seiner unmittelbar als der
absoluten Wahrheit
und des Seins
gewissen Geist,
H. Ulrici (1806-1884)
das ins Bewusstsein getretene Gefühl
des Sollens,
Schopenhauer (1788-1860)
die Zufriedenheit oder Unzufriedenheit
mit uns selbst.
Theologen wie Wuttke,
Rothe, Schmid,
v. Oettingen bezeichnen es als die im vernünftigen
Selbstbewusstsein
gegebene Offenbarung
Gottes, eine Definition,
die vor der Analyse
nicht standhält. Vgl.
Rée, d. Entstehung d. Gewissens. Berlin 1886.
Eine besonders klare Analyse
des Gewissens hat A. Döring
in seiner philosophischen Güterlehre
1888 gegeben.
gewissenhaft
S. 242
heißt derjenige, der her seinen Handlungen
streng seinem Gewissen
folgt.
Gewissensfälle sind Lagen
des Menschen, in denen er handeln muss, ohne über
die Moralität
der Handlung
zur Klarheit zu kommen. Vgl. Kollision der Pflichten
und Kasuistik. Stäudlin, Gesch. d. Lehre vom Gewissen. Halle 1824.Wohlrabe,
Gewissen und Gewissensbildung. Gotha 1883.
Gewissensfreiheit
S. 242
ist das Recht des Menschen, in seinen Reden und Handlungen seiner eigenen Überzeugung
zu folgen. Vgl. Gedankenfreiheit. Dieses Recht darf keinem Menschen verkümmert
werden, am wenigsten auf moralischem und religiösem Gebiete, wenn dadurch
das Wohl anderer oder der Gesellschaft überhaupt nicht geschädigt
wird. Freilich hat derjenige, welcher seinem Gewissen folgt, auch die Nachteile
zu tragen, welche ihm Vorurteil, Herrschsucht und Tyrannei bereiten.
Glaube
(lat. fides) S.243f.
ist die auf subjektiv
zureichende Gründe
gestützte Überzeugung;
der Glaube steht also zwischen
Meinen und Wissen;
während jenes eine zufällige, unmaßgebliche Ansicht, dieses
eine subjektiv und objektiv
begründete Erkenntnis
ist, gewährt der Glaube nur eine
rein persönliche Gewissheit,
welche sich entweder auf Autoritäten (Eltern, Lehrer,
Überlieferung, Schriften), oder auch auf die eigenen
Erfahrungen des Subjekts
stützt. Die Gewissheit der Meinung ist problematisch,
die des Wissens apodiktisch,
die des Glaubens assertorisch.
Der Glaube behauptet einfach, ohne sich durch Gegengründe
irre machen zu lassen; er wird sogar durch Widerspruch
meist noch befestigt.
Obgleich er einer objektiven Begründung nicht
fähig ist, pflegt der Glaube dem Wissen
an Überzeugungskraft keineswegs nachzustehen.
Glaube heißt daher auch die Zuversicht,
die der Herzenshingabe entspringt. So glaubt der
Freund an den Freund, das Kind an die Eltern, der Mensch an Gott. Diesem rein
ethischen Glauben ist der spezifisch religiöse
verwandt, welcher die Realität
übersinnlicher
Dinge auf Grund
von Autoritäten und persönlicher Erfahrung behauptet. Dieser erscheint
wieder als positiver Glaube
(fides quae creditur) und als Eigenglaube
(fides qua creditur).
Da aber der menschliche Geist
immer mehr über sich selbst und die Welt
zur Klarheit kommt, ist ein Widerspruch zwischen
Glauben und Wissen
unvermeidlich. Jener liebt Wunder
und Geheimnisse, dieses kann und will sie nicht dulden; jener stützt sich
vor allem auf das Gemüt, dieses auf die Vernunft;
jener erkennt eine übernatürlich
geoffenbarte,
unfehlbare Urkunde als Norm an, dieses betrachtet
sie nur als eine von Menschen
allmählich verfasste Schriftensammlung. Dazu
kommt, dass durch die historische, psychologische und naturwissenschaftliche
Forschung die Weltanschauung vielfach umgestaltet
wird. Daraus erwächst für den einzelnen die schwere Aufgabe, Glauben
und Wissen in Einklang zu setzen, d.h. zu untersuchen, was sich von seinem Kindesglauben
gegenüber unserer Weltanschauung als haltbar
erweise; er hat sich zu fragen, was Haupt-, was Nebensache,
was Kern, was Schale sei.
Anderseits ist auch der Glaube von höchster
Bedeutung auf dem Gebiete des Gemütes,
der Liebe, der Moral
und Religion;
denn er ist die auf moralische Gründe gestützte Überzeugung
von demjenigen, was zu wissen zwar unmöglich,
aber anzunehmen subjektiv notwendig ist. Ja auch
für das Wissen hat der Glaube Wichtigkeit; denn zunächst müssen
wir unseren Sinnen glauben, dann den Eltern und Lehrern, ferner den Büchern.
In historischen Fragen haben wir den besten Zeugen zu glauben, in naturwissenschaftlichen
denjenigen, welche von uns nicht auszuführende Experimente angestellt haben.
Endlich verläuft alles Wissen zuletzt in metaphysischen
Glauben, d.h. in unbeweisbare
Annahmen (Hypothesen).
Die Axiome unserer
Vernunft wie
die psychologischen und kosmologischen
Probleme enden
schließlich in Hypothesen. Vgl.
Ulrici, Glauben und Wissen. Lpz. 1858.
Glück
oder Glückseligkeit (Eudämonie)
S.244f.
ist derjenige Zustand, in welchem sich der Mensch in vorübergehender oder
dauernder Übereinstimmung mit seinem Zwecke findet, mithin zufrieden ist.
Die Glückseligkeit definiert Kant (Kr. d. r. V., S. 40) als »das
Bewusstsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens,
die ununterbrochen sein ganzes Dasein beglückt«.
Weil aber die verschiedenen
Menschen eine verschiedene Vorstellung vom Zweck ihres Daseins oder vom Wesen
des Menschen haben, verstehen sie unter Glück meistens etwas anderes. Die
einen denken, es sei Gold, Macht, Besitz, die anderen Sinnenlust, andere wieder
Ehre, noch andere Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft; andere endlich
verstehen darunter Tugendhaftigkeit. Da nun das Wesen des Menschen offenbar
nicht nur im Leibe, sondern in dem von der Vernunft beherrschten Leibe besteht,
die Vernunft aber nicht nach sinnlichen, sondern nach ewigen, unvergänglichen
Gütern strebt, so kann dauernde Glückseligkeit nur in sittlicher Tätigkeit
beruhen. Vergleiche Eudämonismus.
Gnade
S.245
ist die Güte, welche einem niedriger stehenden oder einem unwürdigen
Menschen von einem höher Stehenden erwiesen wird.
Gnosis
(gr. gnôsis)
S. 245 Siehe
auch bei Eisler
bedeutet die (höhere)
Erkenntnis, welche die positive Religion durch Philosopheme tiefer begründen will. In der alten christlichen Kirche gab es katholische
und häretische
Gnostiker. Jene, wie die Alexandriner
Clemens und Origenes,
wollten den Glauben
(pistis) nur durch Spekulation stützen, diese (Basilides, Valentinus, Saturninus, Marcion usw.) verwandelten ihn durch heidnische und
jüdische Ideen in eine phantastische Metaphysik,
in welcher sie die Welt und das Christentum durch Emanation aus dem Absoluten hervorgehen ließen. Vergleiche Emanation, Äon, Logos.
Auch die Neuplatoniker und Schelling gehören hierher. Vgl.
C. F. Baur, Die christl. Gnosis. Tüb. 1836.
Gott
S. 245ff.
Siehe auch bei Eisler
bedeutet das höchste
Wesen. Je nach ihrem Bildungsstandpunkt, nach Abstammung und Umgebung
und Glauben stellen
sich die Menschen dieses Wesen verschieden vor. Mit der Darstellung der Entstehung und Kritik der verschiedenen Vorstellungen,
welche die Menschheit allmählich von Gott erworben hat, beschäftigt sich die Religionsgeschichte,
während die Religionsphilosophie
Gottes Wesen, seine Existenz und
Wirksamkeit untersucht.-
Furcht und Liebe
(Dankbarkeit) sind die Wurzeln des religiösen
Gefühls,
welches mit Hilfe der Phantasie
verschiedene Naturgegenstände und Kräfte
personifiziert
(vgl. Religion).
Die niedrigste Stufe dieses Gottesbewusstseins ist der Fetischismus,
der in der Verehrung irgend eines Gegenstandes als
Gott besteht; aus diesem entwickelt sich dann der Polytheismus,
der Glaube an viele Götter.
Dieser verehrt als Zoolatrie
Tiere, als Sabäismus Gestirne,
als Naturalismus Naturkräfte.
Letzterer verklärt sich allmählich zum ethischen
Anthropomorphismus,
welcher die Götter wie verklärte
Menschen schildert. In derselben Richtung bewegt sich der Dualimus,
der ein gutes und ein böses
Prinzip annimmt.
Mit zunehmender Abstraktion erhebt sich die Menschheit zum Monotheismus,
dessen niedrigste Stufe der Henotheismus ist; dieser verehrt nur einen
Gott, als Gott eines Stammes,
eines Volkes, ohne jedoch die Existenz anderer Götter zu leugnen.
Der reine Monotheismus hat drei
Formen: Theismus, Deismus und Pantheismus.
Der Theismus (Juden-,
Christentum und Islam) denkt sich Gott als den persönlichen Schöpfer und Regenten
der Welt, der Deismus denkt ihn sich nur als Schöpfer.
Beide aber trennen Gott und die Welt als Schöpfer und Schöpfung
(deus et natura).
Der Pantheismus dagegen, der sich Gott als geistiges
Prinzip der Welt denkt, sucht Gott in
der ewigen Natur, nicht außerhalb derselben oder identifiziert
Gott und Natur
(deus in natura, deus sive natura).
Die Religionsphilosophie untersucht
zunächst Gottes Dasein.
Für dieses haben Theologen und Philosophen eine Reihe von Beweisen aufgestellt.
Schon Melanchthon (†
1560) kannte deren zehn, reformierte Dogmatiker, wie Polanus,
sogar sechzehn. Diese sechzehn aber lassen sich mit Ausscheidung der sekundären,
die nur geringe Bedeutung gehabt haben, sämtlich auf vier zurückführen.
Der Beweis a tuto hat z.B. keinen, der a consensu gentium geringen Wert, der ab utili entspricht nur bestimmten Gesellschaftstheorien.
Der erste sagt, Gottes
Dasein sei zwar nicht ausgemacht,
aber es sei doch sicherer, dasselbe anzunehmen;
der zweite beruft sich darauf, dass alle
Völker an eine Gottheit glauben (Arist, de
caelo I, 3. Cic. Tusc. I, 13); der dritte leitet die Existenz Gottes aus
der praktischen
Nützlichkeit des Gottesglaubens für die Wohlfahrt der Gesamtheit ab (Si Dieu n'existait pas, il faudrait
l'inventer. Voltaire).
Die vier Beweise dagegen, die allein als primäre gelten können, sind
folgende:
1. Der kosmologische Beweis,
welcher von der Zufälligkeit und Bedingtheit der Schöpfung, also
a posteriori, auf einen bedingenden Schöpfer schließt. Jedes
Ding hat seine Ursache, diese wiederum usf., folglich muss es eine letzte Ursache
(eine causa sui) geben. Dieser Beweis findet sich schon bei Anaxagoras, Aristoteles (kinei
ou kinoumenon) und Cicero. Wenn man nun
auch weiter fragen kann, woher diese »letzte« Ursache stamme, so
führt uns doch dieser Gedankengang auf ein Allbedingendes, Allererstes,
aber freilich nur durch eine im Grunde eigenmächtige Bescheidung und Grenzsetzung.
Unser Geist vermag bei Beobachtung des Wechsels in allem Werdenden nicht stehen
zu bleiben, sondern sucht das Sein eines Unbedingten, eines Wesenhaften und
Allbedingenden zu gewinnen, welches ihm gerade, je mehr er in den Zusammenhang
der Welt eindringt, als Einheit erscheinen wird (Aristoteles, Duns Scotus).
2. Der teleologische Beweis,
welcher von der Zweckmäßigkeit des Kosmos auf einen höchst geschickten
Weltbaumeister schließt, und zwar entweder physikotheologisch von der
sichtbaren Schönheit und Harmonie des einzelnen Weltobjektes auf einen
ebenso beschaffenen Weltgrund (Sokrates, Augustin), oder spezifisch teleologisch
aus der Zielstrebigkeit des Universums auf die Idee einer zwecksetzenden Urvernunft
(Platon, Aristoteles, Fechner). Dieser Beweis hat sehr viel für sich und
wirkt am tiefsten auf das Menschengemüt ein; denn wenn sich auch manche
Unzweckmäßigkeiten oder Lücken in den Tatsachen nicht leugnen
lassen, so findet sich doch solche Harmonie zwischen den Dingen untereinander,
sowie zwischen den physikalischen, logischen und moralischen Gesetzen, dass
wir uns getrieben fühlen, die Existenz einer objektiven Vernunft anzunehmen.
3. Der Moralbeweis,
welcher den Zweckbegriff auf die sittliche Sphäre anwendet und aus dem
Widerspruch zwischen Tugend und Glück, Pflicht und Leistung, Ideal und
Wirklichkeit auf eine göttliche Gerechtigkeit schließt, welche diesen
Streit ausgleicht und in der dieser Widerspruch nicht existiert. Er schließt
also entweder von der Unendlichkeit des sittlichen Bedürfnisses auf das
Sein eines absoluten Wertes (Jacobi) oder von der Tatsache des Sittengesetzes
und des Freiheitsbewusstseins auf einen absolut verpflichtenden höchsten
Willen (Kant) oder von unserem sittlichen Streben auf eine sittliche Weltordnung
(Raimund v. Sabunde, Fichte, Ulrici). Der moralische Beweis führt leicht
zu der Idee eines unpersönlichen Gottes; das Schicksal, welches die Alten
als etwas Über- und Außerweltliches vorstellten, war das Resultat
eines solchen Widerstreites der psychologisch begründeten Handlungen, welche
mit anderen Verhältnissen kollidieren. Der Moralbeweis ist aber auch lückenhaft,
sofern nicht bewiesen ist, ob jene sittliche Weltordnung auch außerhalb
der Menschen existiere; denn sittliches Bedürfnis, Gewissen und Streben
sind zunächst nur im Menschenkreise gegeben. Dazu kommt nun
4. der ontologische Beweis,
welcher aus der Idee des höchsten Wesens auf dessen Dasein schließt.
Dieses metaphysische Argument sucht allein aus Gottes Wesen den Zusammenhang
zwischen seinem Sein in uns und seinem Sein an sich zu ermitteln. So Augustin,
Anselm und Cartesius. Wer Gott denkt, muss ihn als das vollkommenste Wesen denken;
dieses muss mit allen nur denkbaren Eigenschaften ausgerüstet sein; eine
derselben ist auch die Existenz - folglich muss Gott nicht nur gedacht werden,
sondern auch existieren.
Gegen diesen Beweis hat schon Gaunilo, Roscellin (c. 1100) und später Kant
mit Recht eingewendet, er beweise nur, dass Gott als existierend gedacht werden
müsse, nicht aber, dass er existiere. Gegen diese Kritik lässt sich
vielleicht nur erwidern, dass, wenn der Gottesbegriff mit Ernst psychologisch
erfasst ist, der Mensch ihn nicht leicht spielend wieder aufgeben wird und somit
eine subjektive Nötigung, an ihm festzuhalten, zurückbleibt.
Die Kritik aller dieser Beweise überhaupt fasst sich dahin zusammen: Keiner
derselben ist stringent. Dies hat z.B. Kant, der Vertreter
des moralischen Beweises, der aber auch diesen nicht
als demonstrativen Beweis ansieht, sondern die Existenz Gottes nur für ein Postulat
der praktischen Vernunft erklärt, in seiner Kritik
der reinen Vernunft, S. 571-704 zu zeigen versucht. Aber zusammen haben
die Beweise doch ein gewisses Gewicht. Das Richtigste ist wohl: das Verhältnis
des Menschen zu Gott als ein persönliches aufzufassen.
Wer Gott nicht in den Schicksalen des Lebens von innen heraus findet, um in
ihm seine Ruhe und sein Ziel zu gewinnen, wird ihn nicht finden. (Unser
Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in Gott. Augustinus.)
Alle solche Begriffe wie Ursache, Zweck, Moral, Wesen haben ihren Hauptwert
in Bezug auf den Menschen. Ob z.B. die Welt als solche und an sich einen Zweck
habe, ist für die meisten viel unwichtiger, als dass wir Menschen eben
genötigt sind, nach Zwecken zu handeln und bei allen Dingen nach dem Zweck
zu fragen; und das religiöse Gefühl des Menschen besteht wesentlich
darin, dass er sich und alles abhängig setzt von einem Höheren, das
alle diese Zwecke zusammenfasst. Für ihn existiert also Gott so real wie
alles Geistige überhaupt, d.h. mehr als das Sinnliche. Dieses Gefühl
findet dann in den für jene Gottesbeweise benutzten Gedanken seine unterstützende
theoretische Wendung.
Ist für uns die Vielheit der Weltdinge undenkbar ohne eine allbedingende
Einheit und ohne einen vernünftigen Zweck, hat das Leben des einzelnen
wie der ganzen Menschheit keinen Zweck ohne die sittlichen Maßstäbe,
so ist eben die Existenz Gottes so weit bewiesen, als sie bewiesen zu werden
braucht, d.h. die Idee Gottes ist in den Zusammenhang unseres geistigen Bewusstseins
aufgenommen.
Das Wesen und die Wirksamkeit Gottes ergibt sich aus dem bisherigen. Wie die
Wahrheit, ist Gott für uns erkennbar und unerkennbar zugleich; jenes, soweit
sein Geist in uns lebt, dieses, soweit seine Fülle weit über unsere
beschränkte Einsicht hinausgeht.
Wir denken ihn uns als »das vollkommenste Sein« zunächst substantiell
oder auch aktuell. Da nun Sein und Tätigkeit wieder als Wechselwirkung,
dieses aber nur unter Voraussetzung einer Ordnung, d.h. einer zweckmäßigen
Harmonie gedacht werden kann, Zweckmäßigkeit, Ordnung, Harmonie aber
wiederum dasselbe ist als Vernunft, so lässt sich aus jener einfachen Definition
das Wesen Gottes als das objektiv Vernünftige erschließen.
Die pantheistische Strömung unserer Philosophie fasste Gott
unpersönlich, so Fichte
(1762 bis 1814) als moralische
Weltordnung, Schelling (1775-1854) als
absolute Indifferenz, Schleiermacher
(1768-1834) als einfache Kausalität der Welt, Hegel (1770-1831)
als die absolute, sich in der Welt realisierende Vernunft.
Dagegen trat die theistische Richtung des J. H. Fichte, H. Ulrici und
C. Schwarz auf, welche die Persönlichkeit mit der Immanenz zu vereinigen
strebt. Ihn aber persönlich, d.h. als höchste Einheit des Bewusstseins,
zu denken, fühlen wir uns durch unser eigenes Wesen gedrängt.
Persönlichkeit ist die höchste Daseinsform, die wir kennen, folglich
neigen wir dahin, sie auch Gott beizulegen. Will man Gott besondere
Eigenschaften
zuschreiben, so würde dem ontologischen Argument die Macht,
dem teleologischen die Weisheit, dem moralischen die Gerechtigkeit, dem kosmologischen
die Liebe entsprechen.
Daraus lassen sich dann die anderen Eigenschaften: Gnade, Langmut, Güte usw. ableiten. Vergleiche
Religion,
Glaube, Theodizee.
Schleiermacher, Der christliche Glaube. 1821. F. E.
Beneke, System d. Metaphysik. 1840. M. W. Drobisch, Religionsphilosophie. 1840.
Pfleiderer, Religionsphilosophie. 1878. R. Seydel, Die Religion u. d. Religionen.
1872.
Gottähnlichkeit S. 249
ist ein Ideal,
welches nicht bloß die Bibel
(Genes. 1, 26. Matth. 5, 48), sondern auch Platon und andere Philosophen aufgestellt haben. In dem
Sinne, dass Gott das vollkommenste
Wesen und das
Ideal ist, welches unser Geist
erfassen kann und dem er zustrebt,
ist jener Begriff
richtig; doch
darf er nicht buchstäblich genommen werden.
Grenzwert S. 249
ist eine unveränderliche Größe,
der sich eine veränderliche so weit nähern kann, dass sie zuletzt
mit derselben zusammenfällt. (Bonnel,
les limites et l'atome.)
Größe
S. 249f.
ist eine Grundeigenschaft der sinnlichen Anschauung. Alles sinnlich Angeschaute
erscheint in Raum und Zeit. Die Größe ist uns zunächst als Merkmal
des Räumlichen gegeben. Alles Räumliche hat, bestimmte Größe.
Die Größenbestimmung beginnt mit der geraden Linie und ist durch
das Axiom ermöglicht, dass durch die Endpunkte einer begrenzten geraden
Linie auch deren Größe bestimmt ist. Indem nun willkürlich gewählte,
geeignet bestimmte gerade Linien als Einheiten zu Grunde gelegt werden, findet
jede weitere Größenbestimmung durch Vergleichung mit diesen Einheiten
und Bestimmung des Zahlenverhältnisses zueinander statt.
Von der Linie schreitet die Größenbestimmung zur Ebene, von da zum
Raume, vom Raume zur Zeit, von den mathematischen Größen zu physikalischen
Maßbestimmungen fort, so dass schließlich die ganze Außenwelt
in Maße gefasst und in Größenverhältnissen bestimmt wird.
Alle Größen sind demnach relativ; was im Vergleich zum Kleineren
groß, ist, mit Größerem verglichen, klein. Man unterscheidet
extensive, protensive und intensive Größen, je nachdem die Ausdehnung
räumlich, zeitlich oder graduell ist. Alle wirklich gegebenen Größen
sind endlich; lässt sich für die Konstruktion einer Größe
keine bestimmte endliche Grenze nachweisen, so heißt sie unendlich.
Verkehrt ist es, die abstrakte (unbenannte) Zahl als Größe zu bezeichnen.
Die Zahlen in Verbindung mit Größen sind bei der Messung unentbehrlich,
aber die Zahlen selbst sind keine
Größen.
Herbart unternahm es, die Psychologie mit Hilfe bloßer Zahlen in eine
Größenlehre zu verwandeln, was vollständig unmöglich war;
erst die Psychophysik hat es zur Größenbestimmung auch in den psychologischen
Vorgängen gebracht. Vgl. Maß.
Großmut
(lat. magnus animus) S.
250
bedeutet die aus Erhabenheit über gemeine Denk- und Handlungsweise hervorgehende
hochherzige Gesinnung gegen andere. Diese tritt besonders darin hervor, dass
man Kleinigkeiten als solche behandelt, Beleidigungen leicht verzeiht und auf
Vorteile gern verzichtet.
Vgl. F. Kirchner, Gemütsbildung. Hamburg 1888.
Grund
(lat. ratio) S.
250f.
heißt ein Urteil (Satz, Gedanke), dessen Gültigkeit zugleich die
Gültigkeit eines anderen notwendig macht. Das Verhältnis von Grund
und Folge ist die Abhängigkeit eines Gedankens von einem anderen. Dieses
Verhältnis nachweisen heißt etwas begründen oder beweisen (s.
Beweis); die von einem Gedanken abhängenden Gedanken entwickeln, heißt
folgern.
Der Satz vom zureichenden Grunde (principium rationis sufficientis), welcher
lautet:
»Setze nichts ohne Grund«, enthält die Anerkennung, dass unsere
Erkenntnis ohne Beziehung auf ihre Gründe zusammenhangs- und haltlos wäre.
Stützt sich unser Urteil auf objektiv zureichende Gründe, so begründen
sie ein Wissen oder Erkennen; subjektiv zureichende Gründe gestatten nur
ein Glauben; sind die Gründe aber unzureichend, so kann daraus nur ein
Wähnen oder Meinen hervorgehen. Alle Begründung (Demonstration) endet
zuletzt in unbeweisbare Sätze (Grundsätzen, Axiomen oder Prinzipien),
welche einer Begründung weder fähig noch bedürftig sind, sondern
entweder unmittelbar aus der Anschauung hervorgehen oder denknotwendig sind.
–
Man kann zwischen Erkenntnisgrund und Realgrund unterscheiden; jener bestimmt
die Richtigkeit unserer Schlüsse, dieser die Wahrheit unserer Erkenntnis.
Häufig fällt Erkenntnis- und Realgrund nicht zusammen; z.B. wenn ich
sage: »Die Störche kommen, also wird es Frühling«, so
ist die Ankunft der Störche wohl für mich der Erkenntnisgrund für
den Eintritt des Frühlings; Realgrund aber ist gerade umgekehrt der Frühling
für die Ankunft der Störche.
Der Grund für die Vorstellung einer Sache ist nicht immer Grund für
ihr Sein. Aus den Gründen können wir freilich oft auf die Ursachen
schließen. Sowohl Erkenntnisgrund wie Realgrund sind aber zu scheiden
von Ursache.
Unter Ursache und Wirkung verstehen wir ein reales Verhältnis, unter Grund,
gleichviel ob von Erkenntnis- oder Realgrund die Rede ist, ein Verhältnis
unserer Gedanken. Vgl. Kausalgesetz, Folge, Beweis,
Schließen, Bedingung. Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des
Satzes vom zureichenden Grunde. 1813.
Grundbegriffe
S.251
sind
1. die reinen oder ursprünglichen Begriffe des Verstandes, welche auch
Stammbegriffe oder Kategorien (s. d.) heißen;
2. diejenigen Begriffe einer Wissenschaft, aus welchen sich die anderen oder
wenigstens viele derselben ableiten lassen.
In dieser Bedeutung ist der Titel des vorliegenden Werkes zu nehmen.
Grundsatz
(lat. principium)
S. 251
bedeutet
1. ein allgemeines Urteil, aus welchem andere durch Folgerung abgeleitet werden
(s. Deduktion);
2. eine Richtschnur unseres Handeins (Prinzip, Maxime). Vgl. Moralprinzip.
Beide müssen schließlich im Wesen der (logischen, psychischen, physischen)
Natur des Menschen begründet sein, wenn sie Anerkennung finden sollen.
Darin beruht aber gerade der Mangel mancher sonst äußerst konsequenter
Systeme, dass ihr Grundprinzip unbegründet ist. Vgl. Prinzip.
gut
S. 252f.
heißt im Allgemeinen alles, dem der Mensch einen Wert beilegt, weil es
ihm Lust bereitet, sei es in der Erinnerung oder sei es im Genuss oder sei es
in der Hoffnung. Diese Lust aber entspringt aus der Steigerung unseres Lebensgefühls,
unserer Selbstbetätigung. Da diese nun nicht ohne ein vorgestelltes Ziel
stattfinden kann, so verbindet sich mit der Wertschätzung eine Art von
intellektuellem Wohlgefallen.
Man unterscheidet ein mehrfaches Gutes: das Nützliche, Angenehme, Geschmackvolle
und Sittlich-Gute.
Nützlich ist ein Ding, sofern es uns als Mittel zu irgend einem Zwecke
dient. Die Wertschätzung des Nützlichen ist nicht frei von Subjektivität;
denn manches Ding, welches dem einen nützlich ist, kann dem anderen schädlich
oder wenigstens für ihn unbrauchbar sein. Daher hat das Nützlich-Gute
nur relativen Wert.
Angenehm heißt das Gute, welches unseren Sinnen Lust bereitet; auch dieses
ist bis zu einem gewisse Grade Subjektiv, ja noch mehr als das Nützliche;
denn während dieses doch stets tatsächlichen Verhältnissen entsprechen
muss, um zu wirken, hängt das Angenehme so sehr von der Situation des Subjekts
ab, dass, was eben angenehm war, jetzt schon das Gegenteil davon sein kann.
Das Geschmackvolle unterscheidet sich vom Nützlichen insofern, als seine
Brauchbarkeit gar nicht dabei in Frage kommt; dagegen ist es mit dem Sinnlichen
so weit verwandt, als es auch durch die Sinne (freilich nur die höheren)
uns zugeführt wird. Es erhebt sich aber dadurch über das Angenehme,
dass es ein mehr geistiges uninteressiertes Wohlgefallen erregt und nicht die
niederen Begierden des Menschen erweckt. Es beruht also wohl auf einer Zweckmäßigkeit
des Objekts (wie beim Nützlichen und Angenehmen), aber auf einer mehr idealen;
sein Wert ist ein allgemeinerer. Insofern ist ihm endlich das Sittlich-Gute
verwandt. Es erweckt unsere Billigung, weil es der Idee des Menschen entspricht;
die Lust, die es hervorruft. ist rein geistig; aber in der geistigen Natur des
Menschen (Willen und Intellekt) veranlasst es ein lebhaftes Interesse; die Lust
am Sittlich-Guten ist zugleich intellektuell und praktisch, so dass nicht bloß
die Handlung selbst, sondern auch der Guthandelnde für uns Wert erhält.
Das Nützliche erfreut uns, das Angenehme vergnügt, das Geschmackvolle
gefällt, das Sittliche wird geschätzt. Das Schöne und Gute hat
bleibenden, das Nützliche und Angenehme nur vorübergehenden Wert;
jene haben objektiven, diese subjektiven Wert. Anderseits gruppieren sich die
vier Arten so: dem Schönen und Angenehmen gegenüber verhalten wir
uns überwiegend passiv, rezeptiv, dem Nützlichen und Sittlichen hingegen
aktiv.
Jene wenden sich an unser Gefühl, diese an den Willen.
Im ethischen Sinne ist also gut dasjenige, was an sich wertvoll und von einer
Persönlichkeit mit Bewusstsein und Freiheit aus idealem Interesse getan
wird.
Das Sittlich-Gute inhaltlich zu bestimmen, ist schwer. Die bloß formale
Bestimmung desselben dahin, dass es auf der Übereinstimmung mit einem formalen
Sittengesetze beruhe, ist jedoch völlig unzureichend; inhaltlich lässt
es sich im einzelnen wesentlich nur aus der Praxis des Lebens, von einem philosophischen
System oder von einer Religion aus bestimmen.
Der inhaltsreichste Kodex des Sittlich-Guten ist das Neue Testament.
Gut/sittliches.
S. 253f.
Da sich bei jeder Handlung dreierlei unterscheiden lässt, das Handeln selbst,
die Person, welche handelt, und das Objekt, das dadurch hervorgebracht wird,
so zerfällt die Ethik in die Pflichten-, Tugend- und Güterlehre (vgl.
Ethik).
Ein sittliches Gut ist im Allgemeinen alles, was durch sittliches Tun erworben
wird und zur Förderung der Menschheit dient. Zunächst muss es irgendwie
gut sein, d.h. uns ideale Lust, Lebensförderung bereiten. Es muss aber
ferner irgendwie Produkt unserer sittlichen Tätigkeit sein; alles in der
Welt kann dazu werden. Das Sinnliche, Genuss, Reichtum, Macht wird uns aber
auch leicht ein Gegenstand der Versuchung und Sünde.
Wir dürfen es also weder durch schlechte Mittel erwerben, noch selbstsüchtig
erstreben, noch auch beliebig verwenden, sondern wir haben es wieder in den
Dienst des Guten der Menschheit zu stellen. Das Sinnliche bildet den Kreis der
äußeren und leiblichen Güter. Von ihm sind die geistigen Güter
und Fähigkeiten, wie Wissen, Kunstfähigkeit und Tugend, zu scheiden.
Die Stoiker wollten nur die geistigen Güter als wahre Güter anerkennen,
während sie die anderen als gleichgültig adiaphora bezeichneten. Ihre
Auffassung war einseitig und rigoros. Auch blieben sie sich darin nicht konsequent:
Einiges sollte unter dem Gleichgültigen annehmlich lêpta, anderes
nicht annehmlich alêpta und unter jenem manches vorzüglich proêgmena
sein. –
Eine ausführliche Darlegung alles dessen, was sittliches Gut sein kann,
gibt A. Döring, philosophische Güterlehre, 1888.
Das höchste Gut ist nicht nur dem Range nach das erste, sondern auch das,
was alle anderen mit einschließt. Je nach dem philosophischen Standpunkt
und je nachdem man dabei auf die Menschheit Rücksicht nimmt, wird man es
anders bestimmen.
Kant erklärte Glückseligkeit in Verbindung mit Sittlichkeit für
das höchste Gut.
Metaphysisch hat man darunter Gott zu verstehen. Ethische Betrachtungen führen
dazu, es als Humanität, d.h. als eine wahrhaft menschliche, folglich der
Vernunft gehorchende und daher auch glückliche Handlungsweise der Menschheit
zu bestimmen. Die Lehre vom höchsten Gut heißt Agathologie.
Habsucht
S. 254
ist die leidenschaftliche Begier nach Besitz, nur um zu haben. Sie ist die auf
das Streben nach äußerem Besitz eingeschränkte Selbstsucht;
der Habsüchtige strebt nach Geld und Besitz, der Selbstsüchtige nach
jedem Vorteil: jenem ist das Geld der alleinige Götze, dieser ist Sklave
des Nutzens. Vgl. Geiz.
Halluzination
(lat. hallucinatio
von hallucinari = faseln) S.
254f.
heißt die Sinnestäuschung, durch welche der Mensch eine reproduzierte
Vorstellung
abwesender Gegenstände für eine Empfindung nimmt und diese veräußerlicht,
d.h. in die Außenwelt
projiziert.
Von der einfachen Sinnestäuschung (Nachbilder, Doppeltsehen)
unterscheidet sie sich durch die Zusammengesetztheit der Wahrnehmungen,
von der Illusion durch Abwesenheit eines veranlassenden Reizes. Doch ist auch
bei der Halluzination nicht ausgeschlossen, dass kleine, unmerkbare Reize die
Reproduktion veranlassen. Entweder usurpiert eine Vorstellung eine schon vorhandene
Empfindung, oder sie begründet selbst eine neue. Solche Täuschungen
entstehen aus abnormer Reizung der Sinnesnerven. Es handelt sich dabei entweder
um abnorme Empfindungen im Innern des Leibes oder in den peripherischen Sinnesorganen
oderum solche, die aus Reaktion gegen äußere Erregungenstattfinden.
Zu jenen gehören die Wahngebilde der Säufer von Ratten und Flammen
im Unterleib, die Kugel der Hysterischen. Bisweilen bilden sich Seelenkranke,
Sterbende, Trunkene ein, sie hätten einen ganz anderen Leib, etwa von Glas,
Holz oder dergl.
Zur zweiten Art sind die Gesichtebilder Sterbender, das Glockengeläute
bei Kongestionen des Gehirns, der Leichengeruch, der manche stets verfolgt,
zu rechnen.
Bei der dritten Art glaubt der Mensch, wenn er sich selbst im Spiegel sieht,
einen Toten, einen Dämon zu sehen, oder fortgesetzt Schimpfworte zu hören.
Eine Abart der Halluzination. ist die Vision (s.d.). Oft werden Mörder
vom Gesicht ihres Opfers verfolgt, Pascal sah, seitdem
er in Gefahr gewesen, in die Seine zu stürzen, zeitlebens einen Abgrund
neben sich, Shakespeares Macbeth sieht den Geist Bankos.
Wie ansteckend diese Psychose ist, zeigt der Hexenglaube, die Gespensterfurcht,
das »zweite Gesicht« (second sight) der Schotten und das »Ragl«
der Wüstenreisenden. Vgl Wundt, Grundriß
d. Psych. § 18, 3 S. 331. B. A. Mayer, die Sinnestäuschungen, Halluzinationen
und Visionen. 1869. Leubuscher, Grundzüge z. Pathol. d. psych. Krankheiten.
1848. Clemens, die Sinnestäuschungen. 1858. Perty, die myst. Erscheinungen
d. mschl. Nat. 2. Aufl. 1872. Wundt, Grundz. d. phys. Psych. II 430 ff. Hellpach,
Grenzwissenschaften der Psychol. 1902. S. 309 ff.
Handlung
(actio) S. 255f.
ist eine auf eine Absicht gerichtete Betätigung des menschlichen Willens.
Der Handelnde hat ein Motiv und ein Ziel, fasst einen Entschluss und schreitet
zur Ausführung. Das Ziel ist die Vorstellung
eines Gegenstandes oder Vorganges, welcher durch irgendwelche Mittel
realisiert werden muss.
Dieses bleibt aber so lange nur eine subjektive Idee, als nicht ein Motiv, d.h.
ein Beweggrund, unseren Willen anreizt, die Idee also Kausalität gewinnt.
Die Motive wurzeln stets in Gefühlen der Lust
oder Unlust, welche sich als sinnliches, ästhetisches, praktisches, religiöses
oder ethisches Interesse darstellen.
Solange jedoch diese Interessen noch in der Schwebe sind, kommt es noch nicht
zum Handeln. Erst wenn das eine Motiv stärker wird als alle übrigen,
kommen wir zum Entschlusse. Damit tritt das Handeln in die Außenwelt
über. Es folgt die Ausführung, durch welche ebenso sehr der Verstand,
wie der Willen, wie der Körper in Anspruch genommen wird, um die richtigen
Mittel herauszufinden und anzuwenden. Vgl. Zurechnung, Freiheit,
Wahl. S. Smiles, der Charakter. 1878. –
In der Kunst heißt alles Handlung, was Leben und Bewegung zeigt, im engeren
Sinne das Auftreten und Benehmen des Menschen, besonders im Epos und Drama,
während die Fabel das Ganze der dargestellten Begebenheiten bedeutet; im
engsten Sinne enthält das Drama Handlung, d.h. aus Motiven entspringende
einheitliche menschliche Tätigkeit, welche gegenwärtig vor uns erscheint
und in Entstehung, Fortgang und Abschluss, durch das Wechselwirken bewusster
und freier Persönlichkeiten vorgeführt wird.
In Skulptur und Malerei bezeichnet Handlung nur Andeutung der Handlung und Bewegung
durch Haltung und Stellung.
Hang
(propensio) S. 256
ist die starke Disposition, etwas zu wollen.
Kant (1724-1804) definiert:
Hang ist die subjektive
Möglichkeit der Entstehung einer gewissen Begierde,
die vor der Vorstellung
ihres Gegenstandes vorhergeht. Die Neigung ist dagegen die dem Subjekt
zur Regel dienende sinnliche Begierde. (Anthropol.
I, § 77, S. 225.)
Häresie
(gr. hairesis) S. 256
bedeutet bei den alten Philosophen eine Sekte oder Schule, in der Kirchensprache
eine Ketzerei, d.h. Abweichung
von der geltenden Kirchenlehre.
Harmonie
(gr. harmonia
= Zusammenfügung) S. 256f.
ist eigentl. die den Klanggesetzen angemessene gleichzeitige Verbindung
von Tönen. Von der Musik hat man das Wort auf jede wohlgefällige
Einheit eines Mannigfaltigen übertragen, besonders in der bildenden Kunst;
daher spricht man auch von einer Harmonie
der Anordnung, des Ausdrucks, der Lichtabstufungen, der Farben usw. –
Eine harmonische Weltanschauung nennt man die Vereinigung des Glaubens mit dem
Wissen, der Forderungen des Gemüts mit den Resultaten der Forschung.
Ein harmonischer Charakter ist derjenige, bei welchem alle Grundkräfte
des Geistes gleichmäßig ausgebildet sind, wie es uns an Sokrates,
Goethe u. a. entgegentritt. –
Die Pythagoreer erfanden den Begriff einer Harmonie der Sphären, d.h. eines
gesetzmäßigen Kreislaufs der Himmelskörper um die Hestia, das
Zentralfeuer, den ein. musikalischer Heptachord begleiten sollte.
Leibniz (1646-1716)
lehrte pluralistisch, alle Monaden seien voneinander
unabhängig, jede ein Wesen für sich, ohne kausale Beziehung zu den
anderen, er nahm aber eine »prästabilierte«
(d. h. vorher von Gott bestimmte) Harmonie zwischen
den Monaden an, um ihr Zusammenwirken zu erklären,
und ersetzte durch diese Lehre den unhaltbaren Okkasionalismus
der Cartesianer.
Swedenborg (1688-1772) spricht von einer »konstabilierten«
Harmonie, welche die Ordnung der mechanisch-organischen Welt ausmacht.
Die Materialisten alter und neuer Zeit nennen endlich
die Seele die »Harmonie des Leibes«.
So auch schon Philolaos, Aristoxenos,
Dikaiarchos und Galenus.
Vgl. Seele.
Siehe auch bei Eisler
Hass
(odium = feindliche Verfolgung)
S. 257
ist die leidenschaftliche Abneigung gegen das, was uns
Unlust bereitet hat. Der Hass, das Gegenteil der Liebe, verabscheut nicht nur
einen Menschen, sondern möchte ihm auch schaden. Er entspringt oft dem
Eigennutz, dem Neide, dem gekränkten Ehrgeiz, der Eifersucht oder der verschmähten
Liebe. Insofern er dem Gehassten Wichtigkeit beilegt, unterscheidet er sich
von der Verachtung. Dinge kann man im Grunde nicht hassen, sondern nur Abneigung
gegen sie, Abscheu vor ihnen empfinden; denn man vermag sie wohl zu zerstören,
aber nicht ihnen zu schaden. Auch der Hass gegen das Böse ist nur der Abscheu
vor demselben.
Hedonismus
(v. gr. hêdonê = Vergnügen)
S.258f.
heißt die niedrigste Stufe des Eudämonismus,
welche die körperliche Lust, den Sinnesgenuss, für das Höchste
ansieht.
Aristippos (436 bis 366), der Schüler des Sokrates, das Haupt der Kyrenaiker,
heißt Hedoniker, weil er die Sinnenlust als das höchste Ziel des
menschlichen Strebens ansah (einai de tên hêdonên
agathon. Diog. Laert. II, 8 § 88.)
Andere Anhänger des Hedonismus waren Theodoros, Euhemeros, Bion, Hegesias.
Auch ein Teil der Epikureer huldigte dem Hedonismus, der die Philosophie der
griechischen Lebemänner wurde. Reiche Griechen trugen auf ihrem Siegelringe
Aussprüche, wie etwa die Pardala peine, trypha, perilambane; thanein se
dei ho gar chronos oligos (Pardalas, trink, schwelge, genieße Wollust;
du musst einmal sterben; das Leben ist nur kurz).
Schon der assyrische König Sardanapal (668-628) soll auf sein Grabmal bei
Anchialos die Inschrift haben setzen lassen esthie kai pine kai paize (Iß,
trinke und scherze. Arrian Anab. II 6, 4).
Neuere Hedoniker sind Helvetius (1716-1771), Holbach (1723-1789), La Mettrie
(1709-1751).
Als Lebensphilosophie herrscht auch in der Gegenwart der Hedonismus vielfach
in den Kreisen der Reichen; nur wagt er sich selten so offen und so schamlos
hervor wie im Altertum.
heilig
(v. Heil = Heil habend und Heil bringend) S.
259
bedeutet
1. unverletzlich (sacer),
2. vom gewöhnlichen Gebrauch abgesondert,
3. moralisch vollkommen.
So gibt es heilige Gegenstände, Orte, Gebräuche,
Schriften, aber auch Personen, Gefühle und
Gedanken. Auch das Recht, die Wahrheit, der Staat, das Vaterland kann
heilig heißen, also auch Begriffe und Verhältnisse.
Endlich heißt Gott,
das höchste Wesen, heilig.
Humanität
(franz. humanité,
lat. humanitas) S. 266
eigentlich Menschlichkeit, bezeichnet
zunächst das für den Menschen im Unterschied vom Tier Charakteristische,
also den Gegensatz zur Bestialität, Brutalität.
Da dieses aber durch Erziehung und Unterricht ausgebildet werden muss, so bedeutet
es auch die Bildung, welche nicht bloß gewisse Kenntnisse gibt, sondern
auch Gemüt und Charakter erzieht.
Als Wirkung der Humanität
gilt das humane, d.h. leutselige
und freundliche Benehmen gegen Schwache, Niedere, Arme usw. Denn dem
wahren Menschen ist nichts Menschliches fremd, weder der Sinn für ein geistiges
oder sittliches Gut, noch das Mitgefühl für fremdes Leid.
Die Idee der Humanität, welche die Einheit des Menschengeschlechts zur
Voraussetzung hat, ist allmählich zur Anerkennung gelangt.
Im Altertum verachtete und hasste jedes Volk das andere. Erst Alexanders Züge,
durch welche griechische Sprache und Literatur Gemeingut der Völker wurde,
sowie die Lehren der Kyniker und Stoiker haben den Satz in Aufnahme gebracht,
dass alle Menschen Brüder seien.
Ihnen schloss sich das Christentum und die Philosophie
im Allgemeinen an.
Als dann im 15. Jahrhundert die alten Künste
und Wissenschaften ihre Wiedergeburt (Renaissance)
feierten, erschienen sie ihren Anhängern im Gegensatz zu dem verzerrten,
beschränkten Zeitalter als einzig menschlich, daher nannte man sie Humaniora
und die, welche sich ihrem Studium widmeten, Humanisten
(Reuchlin, U.
v. Hutten, Erasmus von Rotterdam u.
a.).
Allmählich verloren diese sich aber in Buchstäbelei und Pedanterie,
so dass ihnen im 18. Jahrhundert der Philanthropinismus
(s. d.) entgegentrat, der das ausschließliche Studium der alten Sprachen
mit Recht bekämpfte.
Aber noch heute ist der Streit zwischen Humanismus
und Realismus
nicht geschlichtet.
Aus der tieferen Erkenntnis des Altertums, namentlich aus dem
Studium der Griechen erwuchs dann in unserer klassischen Zeit unter Vorangang
J. J. Winckelmanns
(1707-1768) die Humanitätsidee,
wie sie vor allem Lessing, Herder,
Goethe, Schiller und
W. v. Humboldt beherrscht.
Im 19. Jahrhundert hat die Humanitätsidee
ihre Einschränkung durch das Erwachen des Nationalgefühls, die Entwicklung
der Naturwissenschaft und der Technik und die Neuerungsrechte auf dem Gebiete
des Schulwesens gefunden.
Humor
(lat. humor,
ital. umore) S. 267
eigtl. Feuchtigkeit, heißt
1. die Laune,
2. diejenige Komik, deren Vater der Schmerz ist,
3. der Scherz, der auf Ernst gegründet ist.
Der Humor im letzteren Sinne entspringt aus bestimmter Stellung zum Leben. Nur
der ist seiner fähig, der sich von den Bedürfnissen frei weiß
und doch sich gern dem Leben hingibt und an demselben mit Freude teilnimmt.
Der Humorist beklagt weder das Übel, noch bewitzelt er es, sondern er lächelt,
wie Jean Paul sagt, unter Tränen, d.h. er fasst die moralischen, physischen
und intellektuellen Übel als Totalität, zu welcher er sich aber auch
selbst rechnet. Er poltert daher nicht wie der Moralprediger, noch geißelt
er die Menschen, wie der Satiriker tut, sondern er schildert sie mitempfindend,
liebevoll und nicht ohne innige Teilnahme.
Ohne schmerzliche Erfahrung und liebevolle Teilnahme ist kein Humor. Er ist
je nach seiner Aufgabe ernst oder heiter, streng oder milde; jetzt dämpft
er unser verblendetes Entzücken, dann hebt er unseren gesunkenen Mut; das
Übermenschliche macht er menschlich, das Kleinste bedeutend.
Gute Humoristen sind natürlich selten; Beispiele sind: Aristophanes, Cervantes,
Rabelais, Fischart, Shakespeare, Hippel, Jean Paul, Dickens, Thackeray, F. Reuter,
W. Raabe, W. Busch, A. Seidel.
Hyle
(gr. hylê) S.
267
heißt Urstoff,
Materie.
Hylozoisten
(gr. hylê =
Stoff und zôê = Leben)
S.267f. Siehe
auch bei Eisler
im Beginn der Neuzeit gebildet, seit dem 17. Jahrhundert
vorhanden, nennt man bisweilen die ionischen Naturphilosophen, welche
noch nicht Stoff und Kraft trennten, sondern der Materie
eine in ihr liegende ursprüngliche Lebenskraft zuschrieben,
die sich in den Erscheinungen
der Natur offenbare.
So sah Thales (ca. 600)
das Wasser, Anaximandros
(ca. 570) das Apeiron
(das Unbestimmte), Anaximenes (ca.
530) die Luft, Herakleitos
(ca. 500) das Feuer als
Prinzip des Weltprozesses an. Diese Ansicht ist eine Art von Materialismus,
der entweder dynamisch oder mechanisch auftreten kann, je nachdem die Welt als
Produkt einer Kraft
oder nur nebeneinander geschichteter Stoffe angesehen wird. Der
Hylozoismus widerspricht dem Gesetze
der Trägheit.
Kant (Metaph. Anf. d. Nat. S.
121) sagt: »Auf dem Gesetze der Trägheit
beruht die Möglichkeit einer eigentlichen Naturwissenschaft ganz und gar.
Das Gegenteil des ersteren und daher auch der Tod aller Naturphilosophie wäre
der Hylozoism(us).« In der Kritik der Urteilskraft
II, § 72, S. 319 dagegen nennt Kant Hylozoism(us)
den physischen Realismus der
Zweckmäßigkeit
in der Natur, der die Zwecke in der Natur auf das Analogon eines nach Absicht
handelnden Vermögens, das Leben in der Materie gründet, während
der hyperphysische
Realismus der Zweckmäßigkeit der Natur
Theism(us) genannt wird.
hyperphysisch
(lat.)
S. 268
heißt übernatürlich,
supranatural
Hypnose/Hypnotismus
(v. gr. hypnoein = einschläfern)
S. 268
heißt der künstliche,
durch bestimmte psychische Einwirkungen, durch Fixierung eines glänzenden
Objekts, durch Suggestion usw. erzeugte Schlafzustand, in dem
der Geist eine abnorme
Einseitigkeit der Aufmerksamkeit oder eine abnorme Konzentration des
Bewusstseins
annimmt.
Vom Traume unterscheidet
sich die Hypnose dadurch, dass jener in der Regel
auf sensorische Funktionen beschränkt bleibt, während indieser auch
äußere Willenshandlungen automatisch ausgeführt werden.
Der hypnotisierte Mensch stellt
sich vor, spricht und tut, was der Hypnotiseur
will. Dieser Zustand wirkt bisweilen auch noch im Wachen nach.
Die Hypnose umfasst mithin alle
früher als Mesmerismus, animalischer
Magnetismus,
Somnambulismus, Od
und Rapport bezeichneten Erscheinungen,
soweit sie sich auf bekannte psychische und physiologische Prozesse
zurückführen lassen. Bezüglich der Entstehung der Hypnose bestehen
noch Dunkelheiten, da die Disposition
des Nervensystems, an die der Eintritt der Hypnose geknüpft ist, noch unbekannt
ist.
Die Lehre von der Hypnose heißt
Hypnotismus. Vgl.
W. Preyer, die Entdeckung des Hypnotismus 1881.
Hypostase
(gr. hypostasis)
S. 268
heißt eigtl. Unterlage,
dann Substanz,
dann Anwendung des Begriffes der Substanz auf Nichtsubstanzielles.
hypostasieren
S. 268
heißt etwas Ungegenständliches
zum Gegenstand, etwas Unsubstantielles zur Substanz
machen, einem Unselbständigen Selbständigkeit beilegen.
Hypothese
(gr. hypothesis) S.
269f.
heißt Voraussetzung, Annahme,
Bedingung. Ihre einfachste Form ist das hypothetische
Urteil: »Wenn A ist, so ist B«,
in dem die Gültigkeit des Nachsatzes (thesis)
durch die des Vordersatzes (hypothesia)
bedingt ist.
Hypothetisches Verhältnis
heißt demnach das Verhältnis von Bedingung und Bedingtem,
von Grund und Folge.
Hypothetisch heißt daher eine Behauptung,
welche, weil ihre Gültigkeit erst von einer anderen abhängt, ungewiss,
zweifelhaft ist. –
Hypothesen im engeren Sinne sind verallgemeinernde
Annahmen, welche man macht, um für eine Menge von Naturerscheinungen das
Gesetz, den Erkenntnisgrund zu finden. Jede Hypothese ist also ein Versuch,
die Lücken unserer Erfahrung durch Begriffe auszufüllen und zu erklären,
eine vorläufige Annahme einer Prämisse, die eine für wahr gehaltene
Ursache festzustellen versucht. Sie ist keine willkürliche, aus der Luft
gegriffene Behauptung, sondern das Resultat der Rückschlüsse aus Erfahrungen
und zugleich die Prämisse für zu versuchende Deduktionen.
Die Form der Hypothese ist der Weg zu den höheren abschließenden
Begriffen; sie dient dazu, den logischen Zusammenhang der Tatsachen zu vermitteln.
Eine gute Hypothese muss die einschlägigen Tatsachen wirklich erklären,
so einfach als möglich sein, nicht viele Hilfshypothesen erfordern und
keinem Vernunft- oder Naturgesetz widersprechen. Für erwiesen gilt sie,
wenn entweder alle anderen Erklärungen sich als logisch undenkbar oder
faktisch unhaltbar herausstellen, während sie selbst den Tatbestand genügend
erklärt, oder wenn sie über Gebiete Licht verbreitet, die bisher unbekannt
waren. Sie erlangt dadurch den Rang eines wissenschaftlichen Lehrsatzes; solche
Hypothesen sind z.B. das Trägheitsgesetz, die Gravitationshypothese Newtons,
Laplaces Hypothese von der Kosmogonie, die Annahme eines Äthers, die elektrische
Lichttheorie, das Prinzip von der Erhaltung der Energie.
Dass alle Hypothesen keinen dauernden Abschluss der Forschung bilden, und jede
der beständigen Nachprüfung bedarf, da neue Erfahrungen gemacht werden
können und auch unser Geist sich vervollkommnet, hat in feinsinniger Analyse
der Begriffe, Zahl und Größe, Raum, Kraft und Natur neuerdings Poincaré
(Wissenschaft und Hypothese, Leipzig 1904, übersetzt
v. Lindemann) gezeigt.
Die Aufstellung von Hypothesen hängt ebenso sehr von Gelehrsamkeit als
von scharfsinniger Kombination und glücklichem Blick ab.
Vgl. Apelt, Theorie der Induktion. J. St. Mill, Logik
II. W. Wundt, Logik I. Sigwart, Logik. Tübingen 1873-78.
Ich
(ego) S.
270ff.
bezeichnet für den Sprechenden oder Denkenden die
eigene Person. Unter Person
aber verstehen wir die individuelle
und kontinuierliche
Einheit des Bewusstseins,
welche durch das Leben
im Wechsel der körperlichen und geistigen Zustände
und Tätigkeiten, die sich in demselben abspielen, fortbesteht. So
bestimmt, heißt das Ich: individuelles Ich. Dieser Begriff
des individuellen Ichs gründet sich nur auf das
Gefühl
des Zusammenhanges aller eigenen psychischen Erlebnisse.
Die Realität
dieses Ichs erscheint aber dem naiven Menschen, der über das erste Kindheitsstadium
hinaus ist, so gewiss, dass die Formel: »so wahr
ich bin« eine der stärksten Beteuerungen der Realität
ist.
Für den Unmündigen (d.h. das Kind, den Naturmenschen
und den Ungebildeten) fällt dabei zunächst das Ich offenbar
ganz mit dem Leibe
zusammen, denn durch Gesicht und Getast, Gemeingefühl, Muskelempfindung
und Schmerz wird
es alsbald der Außenwelt
entgegengestellt. Durch den Leib
treten wir in Erscheinung,
orientieren wir uns im Raume,
treten wir mit der Welt
in Wechselwirkung
und vergewissern wir uns, ob wir wachen oder träumen. Er ist der Sitz unserer
Vorstellungen,
Gefühle und Bestrebungen.
Das individuelle Ich ist also
in erster Linie das leibliche Ich.
–
Allmählich aber lernt der Mensch, dass sein Ich
nicht mit dem Leibe
identisch sei. Denn dieser kann
sehr wohl verletzt oder verstümmelt werden, ohne dass jenes sich dadurch
ändert, und jenes kann an Tiefe, Umfang und Klarheit zunehmen, während
der Leib verfällt. Infolgedessen sehen wir das Ich als den ideellen Kern
unseres Wesens, als seelisches
Ich, an, das seine lange Entwicklungsgeschichte je nach den
verschiedenen Verhältnissen unseres Lebens hat. So schwer es auch ist anzugeben,
was dasselbe eigentlich in einem bestimmten Moment sei, so drängt sich
seine Kontinuität, Einheit und Identität
jedem leicht auf; es ist zunächst die Summe aller unserer Lebenserfahrungen,
die Seele selber.
Die Existenz dieses empirischen
Ichs spricht Cartesius (1596
bis 1650) in dem berühmten Satze aus:
Cogito, ergo sum, Ich denke, also
bin ich; d.h. ich bin ein Denkendes, folglich
existiere ich als Subjekt
des Denkens.
Dieses Ich ist nichts körperlich, sinnlich
Wahrnehmbares; es erscheint selbst nicht; ja auch seine Daseins-Äußerungen
treten nicht äußerlich in die Erscheinung. Dritte nehmen nur körperliche
Modifikationen wahr, welche ein äußerlicher Ausdruck dessen sind,
was im Innern des Ichs vorgeht. Es ist zunächst nur sich selbst bekannt,
im Selbstbewusstsein
gegeben. Aber aus seinen Äußerungen beim Mitmenschen schließen
wir von uns aus ebenfalls für sie auf ein Ich. Freilich nimmt dieses Schließen
bald auch infolge unserer eigenen Erlebnisse, der Übung und der Verständlichkeit
der Äußerungen fast den Charakter der Unmittelbarkeit an.
Wirklich bewusst wird jedem jedoch nur sein eigenes Ich. Die Äußerungen
des Ichs aber sind Empfindung, Gefühl, Sinnesperzeption, Vorstellen, Wollen
und Handeln. Diese Akte treten nie unvermischt auf, sondern immer in Verbindung
miteinander und sind zum Teil der Isolierung gar nicht fähig. Alle aber
werden dem Ich im Bewusstsein offenbar; es ist also das Innewerden, das klare,
innerliche Auffassen, Haben und Festhalten der objektiven und subjektiven Erscheinungen
in ihrem Detail wie in ihrer Totalität die Grundeigenschaft des Ichs. Man
könnte das Ich daher mit einem Lichte vergleichen, das sich ruhig, doch
intensiv über die Gegenstände ausgießt, aber ohne einen Gegenstand
sich nicht manifestieren kann. Dieses Ich gilt dabei als der Träger des
Bewusstseins, nicht als das Bewusstsein selbst; auch erscheint der Inhalt des
Ichs durch das Bewutsein nicht vermehrt, sondern nur erleuchtet. –
Das Ich ist zwar ein Individuelles, aber auch ein bei allen gesunden Menschen
Verwandtes und gleichen Gesetzen Unterworfenes. Sein spezieller Gegenstand ist
aber immer das eigene Selbst; in dieser Hinsicht heißt es Selbstbewusstsein
oder reines Ich. Aber dieses Selbstbewusstsein, insofern es die Erfahrung des
eigenen Ichs als Trägers des Bewusstseins zu sein vorgibt, ist eine Selbsttäuschung.
Es existiert in Wahrheit nicht. Das Selbstbewußtsein besteht nur darin,
dass die Lebensäußerungen des Ichs ein Gegenstand des Bewusstseins
werden. Das Ich selbst - und das ist die Schranke des Selbstbewusstseins - ist
uns nur durch seine Zustände und Tätigkeiten in der Erfahrung gegeben.
Das Ich als Träger aller Bewusstseinsvorgänge, als Substanz oder Ursache
unabhängig von seinen Zuständen, das reine Ich wird nie von uns erkannt.
Wir erschließen es nur entweder als eine geistige Substanz oder als eine
geistige Energie, als individuelle Seele, oder wie wir es sonst nennen, um das
Ruhende in der Flucht der Erscheinungen um das Bleibende im Wechsel, um den
Zusammenhang unseres individuellen Daseins zu erklären; und so gewiss uns
im Bewusstsein ein Faktor des Daseins gegeben ist, der neben den Erscheinungen
des materiellen Lebens ein Stück oder der Kern des Daseins ist, so gewiss
ist das reine Ich doch auch nur die metaphysische Hypothese, durch die wir die
innere Erfahrung abschließen, verallgemeinern und ergänzen.
So hat also das Ichbewusstsein drei Stufen, indem es als leibliches Ich, als
seelisch-empirisches Ich und als seelisch-reines Ich erfasst wird. Man kann
das Ich demnach sowohl die reichste als auch die ärmste Vorstellung nennen,
jenes, was ihren eigenen Erfahrungsinhalt als Leib und empirisches Ich, dieses,
was das reine Ich betrifft.
Die Psychologie geht jetzt, soweit sie eine induktive exakte Wissenschaft ist
- das ist der methodische Fortschritt, den die Neuzeit gemacht hat -, nicht
mehr von dem reinen Ich, sondern nur von Tatsachen des Bewusstseinslebens, dem
empirischen Ich in allen seinen Einzelzuständen, aus. –
Die Erkenntnistheorie dagegen statuiert, indem sie die Bedingungen der Erfahrung
untersucht, eine synthetische Einheit des Bewusstseins, die die Bedingung der
Erfahrung ist; Kant hat
eine solche als Grundbedingung aller Erkenntnis in der Kritik
der reinen Vernunft geltend gemacht. –
Das reine Ich fällt aber vor allem der Metaphysik
zu. Es ist ein metaphysischer Begriff, eine letzte Hypothese zur Erklärung
des Daseins. Es gehört wie alle Metaphysik nicht an den Anfang, sondern
an das Ende der Philosophie. Wer mit dem reinen Ich in der Philosophie beginnt,
wie Fichte (1762-1814) es getan hat, baut sein metaphysisches System in die
Luft und schlägt andere Wege, als die Wissenschaft mit Erfolg verfolgen
kann, ein, wobei dann doch die Methode den Denker bald verlässt, und er
sich gewöhnlich der Subreptionen aus der Erfahrung schuldig macht. Fichte
aber ist der metaphysische Ich-Philosoph, der versucht hat, diesen Begriff nach
allen seinen Konsequenzen auszudenken.
Störungen in den Funktionen des Ichs sind
verhängnisvoll; sie bestehen
1. in Störungen
in der Wechselwirkung des Ichs mit den übrigen
Vorstellungen (Unterbleiben der inneren Wahrnehmung);
2. in Störungen
innerhalb der Vorstellungskreise des Ichs (Aufhebung
des Selbstbewusstseins);
3. in Entwicklung
eines abnormen Ichs und
Unterdrückung des normalen
durch jenes.
Die erste Art findet sich während des Hellsehens, des Erwachens aus einer
Ohnmacht, während heftiger Affekte und Beobachtung äußerer Vorgänge,
auch bei künstlerischer Konzeption wie in Träumen.
Die zweite Art tritt beim Übergang einer Altersstufe in die andere auf,
bei habitueller Trunkenheit und fortgesetztem Opiumgenuss.
Die dritte Art bildet eine Seelenkrankheit, welche mit einer Veränderung
der Gemeinempfindung beginnt, sich in einer Verfälschung der Leibesvorstellung
zeigt (man wähnt, einen Leib von Glas, Butter u. dgl. zu haben) und in
voller Halluzination eines zweiten Ichs endet! Im Wahnsinn ist das
abnorme Ich an Stelle des normalen
getreten.
Auf das individuelle Ich sollte der Name seiner
Entstehung nach auch beschränkt bleiben. Aber da im Ich die Seele, das
geistige Dasein des Einzelnen, gegeben ist, so überträgt die Philosophie
den Namen des Ichs auf die Seele der Welt, auf die geistige Substanz überhaupt.
Sie fasst damit den Gedanken eines universellen Ichs. Während
Fichte in den ersten Stadien seines Philosophierens entschieden das individuelle
Ich, in dem freilich die Form des allgemeinen Ichs liegt, die in allen anderen
Ich-Individualitäten wiederkehrt, ins Auge fasste, hat er in den späteren
Stadien das allgemeine und absolute Ich in den Vordergrund gestellt und so seinem
Idealismus eine pantheistische Färbung gegeben.
Vgl. v. Krafft-Ebing, Psychiatrie. Stuttgart 1883. Kirn, Die periodischen Psychosen.
Stuttgart 1878. E. Hitzig, Ziele und Zweck der Psychiatrie, Zürich 1876.
Hellpach, Die Grenzwissenschaften der Psychologie. 1902. G. Ulrich, Bewußtsein
und Ichheit. Zeitschr. f. Philos. u. philos. Kritik, Bd. 124, S. 58-79.
ideal
(französisch
idéal) S.
274
heißt
1. das der Idee, dem Musterbilde entsprechende Einzelne,
2. das Nichtwirkliche im Gegensatz zum Realen;
in letzterer Bedeutung gebraucht man auch die Form ideell; der ersteren Bedeutung
entsprechend gibt es so viel Ideales oder soviel Ideale (Musterbilder), als
Gebiete menschlicher Tätigkeit vorhanden sind: Die Wissenschaft z.B. strebt
nach dem Ideal, der Erkenntnis. Die Ethik zeichnet Ideale der Vollkommenheit,
die Kunst strebt den Idealen der Schönheit zu. Und insofern manche Menschen
diesen Idealen nahe gekommen sind, bezeichnet man sie selbst oder ihre Werke
als Ideale.
So nennt man den Apollon von
Belvedere, Phidias Zeuskopf,
Rafaels Sixtina, Goethes
»Hermann und Dorothea«
Kunstideale, weil sie die Idee mustergültig zur Darstellung bringen.
Das wahre Ideal wird zur
adäquaten Darstellung der Idee
in einem Individuum
(W. v. Humboldt über Goethes »Hermann und Dorothea«, 1798).
Auch der einzelne Mensch hat Ideale, d.h. höchste
Ziele oder Musterbilder seines Strebens; das sind entweder historische
Personen, wie Achilleus für
Alexander, Cäsar für Napoleon I.,
oder frei von der Phantasie
entworfene Bilder. Psychologisch richten sich die Ideale
der Menschen nach ihrer Geistesbildung. Wie Einzelne, so haben auch ganze
Zeiten und Völker ihre Ideale. –
Idealisieren
S. 274f.
heißt ein Wirkliches einer Idee
gemäß gestalten, also verklären. Der echte Künstler
ahmt die Natur nicht einfach nach, sondern idealisiert
sie.
Vgl. Schillers Gedicht: Die Ideale.
Idealismus
S. 275ff.
ist dasjenige monistische System der Metaphysik,
das dem Allgemeinen, der Idee,
der Seele, dem Geiste
die Existenz zuschreibt, und dem Einzelnen, dem Wahrnehmbaren, dem Körperlichen,
der Materie nur
eine abgeleitete
untergeordnete Existenzart als Erscheinungswelt zuweist, oder die Existenz ganz
abspricht.
Der Idealismus ist zunächst
die Philosophie Platons (427-347)
gewesen. Platon schreibt den Ideen,
den Allgemeinbegriffen, die Existenz zu und spricht sie der Körperwelt
ab. Der Stoff ist ihm nur ein Nichtseiendes.
Aristoteles (384-322)
modifizierte den Idealismus des Platon,
indem er das Allgemeine nicht vom Einzelnen trennte, sondern als Wesen in dasselbe
verlegte, dem Stoff nicht die Existenz absprach, sondern denselben als eine
Anlage bezeichnete, in der Form aber eidos den Zweck und die Entfaltung der
bloßen Anlage zur vollen Energie sah.
Im Mittelalter nannte man gerade die Anhänger
des Platon Realisten, weil sie die allgemeinen
Gattungsbegriffe für etwas Wirkliches hielten.
Seit Descartes (1596-1650)
stellte sich die alte Bedeutung des Wortes Idealismus wieder her, indem es wieder
die Theorie bezeichnete, welche die Realität der Außendinge leugnet.
Man fragte sich nämlich, wie denn die Außenwelt auf die Seele einwirke,
und ob nicht die Annahme jener überhaupt nur eine Vorstellung der Seele
sei.
Descartes (1596-1650)
und Malebranche (1638-1715)
begnügten sich damit, einen physischen Einfluss des Körperlichen
auf das Geistige zu leugnen und an dessen Stelle die Systeme der Assistenz und
des Okkasionalismus
zu setzen; aber sie leugneten nicht die Realität der Körperwelt, obgleich
Malebranche meinte, es sei sehr schwer zu beweisen, dass es Dinge außer
uns gebe.
Erst Leibniz (1646-1716),
seit dessen Zeit auch das Wort Idealist in Gebrauch kommt, schuf den konsequenten
neueren Idealismus, indem er die Körperwelt nur für eine Erscheinung
(phaenomenon bene fundatum) erklärte,
das Wesen der Dinge aber in den Vorstellungen fand und die Dinge selbst für
vorstellende Monaden, Seeleneinheiten (âmes)
erklärte. Für Leibniz ist also nicht die Idee (der allgemeine Begriff),
sondern die Seele der Kern des Daseins.
Nach Leibniz ist der moderne Idealismus aus vielen
Quellen hervorgeströmt, zunächst aus der empirischen Naturwissenschaft
und Philosophie, was auf den ersten Blick Verwunderung erwecken könnte,
aber doch natürlich ist. Die Physik
erkannte bald als das Wesen ihrer Methode nicht nur die induktive Ableitung
aus Beobachtung und Experiment, wie Galilei es gezeigt
und Bacon es gelehrt hatte, sondern vor allem die
Zurückführung der Qualitäten der Körperwelt auf Quantitäten,
Raum-, Zeitverhältnisse, Bewegungen.
So entstand der zuerst von Locke (1632-1704) fixierte naturwissenschaftliche
Idealismus, welcher bewies, dass die sinnlichen Qualitäten der Dinge nicht
ihr Wesen, sondern bloß Erscheinung seien, nicht primäre, sondern
sekundäre Eigenschaften wären. Damit wurde schon das Konto des Objekts
zu Gunsten des Subjekts entlastet.
G. Berkeley (1686 bis. 1753) erklärte dann, dass körperlich-materielle
Wesenheiten nicht außerhalb des Geistes existieren. Im menschlichen Geiste
würden sie durch einen höheren Geist, Gott, nach Naturgesetzen erzeugt.
Und abgesehen vom menschlichen Geiste existierten sie auch als Ideen Gottes
fort, ohne dass wir sie zu haben oder wahrzunehmen brauchten, und hätten
außerhalb unseres Geistes wenigstens im göttlichen Geiste ein wirkliches
Dasein. Aber die wirkliche Welt bildeten nur die geistigen Wesen, und was man
die sinnliche Erscheinung der Dinge nennt, habe keine gesonderte Existenz. –
Kant (1724-1804) schuf dann den kritischen oder transzendentalen Idealismus.
Dieser beruht auf der Lehre, dass zwar der Stoff der Erfahrung durch die Empfindung
gegeben werde, und dass dazu die Dinge an sich als reales Äquivalent vorausgesetzt
werden müssen, dass aber die Formen der Erfahrung (Raum, Zeit und die Kategorien)
als Bedingung jeder möglichen Erfahrung in uns a priori, d.h. unabhängig
von der Erfahrung entstehen, und dass wir die Dinge daher immer nur erkennen,
wie sie erscheinen, nicht aber, wie sie an sich sind. Kant setzte also die räumliche
und zeitliche Form, die Locke noch auf dem Kontoblatt des Objekte gelassen hatte,
auf die Seite des Bewusstseins. So musste die objektive Realität des Sinnesdings
schließlich leer und inhaltslos erscheinen. –
J. G. Fichte (1762-1814) ging daher noch einen Schritt weiter und hielt die
Voraussetzung realer Dinge an sich für überflüssig, wenn sich
nachweisen ließe, durch welche Tathandlung das Ich, als das allein Produktive
unseres Vorstellungskreises, überhaupt dazu komme, sich die Außenwelt,
das Nicht-Ich als einen Widerstand aufzubauen. Hiernach ist also das Ich, das
sich selbst und die Welt setzende Subjekt, sowohl Träger als auch Urheber
der als objektiv gegebenen Erscheinungswelt.
Diesem moralischen und subjektiven Idealismus stellte Schelling (1775-1854)
den objektiven gegenüber, indem er die Identität von Sein und Denken
auch unabhängig vom Ich als Fundament der Philosophie ansah; nach ihm hatten
die Begriffe und Ideen im Gebiete des geistigen wie des körperlichen Daseins
kraft der intellektuellen Anschauung absolute Produktivität.
Daran schloss sich endlich Hegels (1770-1831)
absoluter Idealismus, der das Denken, den Begriff,
die Idee, resp. den Denkprozess, das immanente Werden des Begriffs für
das allein Wirkliche und Wahre ansah. -
Aber auch die nachhegelschen Philosophen, Herbart (1776-1814), der im wesentlichen
wieder zu Leibniz zurückkehrte, Schopenhauer (1788-1860), der den Willen
zum Kern des Daseins machte, bewegen sich in Bahnen des Idealismus, obgleich
namentlich der erste von ihnen sein System Realismus genannt und die Monaden
durch die Realen ersetzt hat.
Zu den neuesten Idealisten gehören Fechner
(1801-1887) und Lotze
(1817-1881).
Im Gefolge des Idealismus sind meist die Teleologie,
der Theismus und der Optimismus gewesen, so dass der Idealismus die Zwecke in
der Welt, Gott als letzte Ursache derselben und ein gewisses Maß der Vollkommenheit
im Dasein anerkannt hat.
Nur in der widerspruchsvollen Willenslehre Schopenhauers
(1788-1860) hat sich der
kantisch-platonische Idealismus mit dem Atheismus und Pessimismus in
wunderlicher Weise verquickt. –
Für den Idealismus spricht die Tatsache, dass
der wahre Ausgang aller Philosophie vom Bewusstsein hergenommen werden muss,
und dass wir in der inneren Erfahrung ein unmittelbareres Dasein erschlossen
sehen als in den äußeren. Vgl. Eucken,
Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipzig 1904, S. 66 ff.
Idealität
S. 277
heißt Begriffsmäßigkeit,
Subjektivität, Urbildlichkeit, Vollkommenheit, auch Empfänglichkeit
und Begeisterung für Ideale.
Idealrealismus
oder Realidealismus S. 277f.
bezeichnet diejenige Auffassung, nach welcher das Ideale
zugleich das Reale ist, oder welche die Forderungen des Idealismus und Realismus
zu versöhnen sucht.
Ein solches System ist z.B. das Herbarts (1776-1841). Herbart setzt zwar an
die Stelle der Leibnizschen Monaden die Realen und stattet sie mit Selbsterhaltungskraft
aus; aber bei seiner rationalistischen Methode erfolgt doch in seiner Metaphysik
die Bestimmung der Realität durch ideelle Momente.
Auch Schleiermacher (1768-1834) huldigt einem Idealrealismus. Raum, Zeit, Kategorien
sind ihm z.B. nicht nur subjektive Erkenntnisformen, sondern auch objektive
Wirklichkeit; zahlreiche Versuche, einen Idealrealismus zu schaffen, sind ferner
in Deutschland nach Hegels Tode hervorgetreten.
Auch der Monismus Haeckels enthält idealrealistische Elemente.
Idee
(gr. idea, eidos)
S. 278f. Siehe
auch Eisler
heißt eigtl. Bild,
Gestalt, Anblick, dann Art, Gattung.
Platon (427-347), welcher
diesen Begriff
zuerst in die Philosophie
eingeführt hat, versteht darunter das bestimmte Wesen
oder das Was der Dinge
oder das, was jedes Ding
an sich ist, also das Allgemeine
und wahrhaft Wirkliche im Gegensatz zu dem sinnlich erscheinenden Einzelnen,
das Eine, sich selbst Gleichbleibende im Mannigfaltigen. In der Idee Platons
liegt zweierlei verbunden:
1. der Allgemeinbegriff, 2.
das substanzielle
Dasein, und diese
zwei Bestandteile erschöpfen, konsequent ausgedacht,
den Begriff der Idee Platons.
Als einfaches, für sich seiendes, selbständiges, vollkommenes, unkörperliches
und unräumliches Wesen
beharrt jede Idee unveränderlich im Wechsel der Erscheinungen.
Als lebendige Kräfte
sind die Ideen die ewigen Musterbilder, deren
Abbilder die sinnlichen Einzeldinge sind.
Es gibt so viele Ideen, als es Gattungen und Arten
von Dingen gibt, die unscheinbarsten, ja schlechtesten nicht ausgenommen. Alle
aber werden durch die Idee des Guten beherrscht.
Wie die Sonne in der sichtbaren Welt, so ist in der übersinnlichen
das Gute die Quelle
alles Seins und Wissens,
des Erkennbaren wie des Erkennens
selbst; und wie die Sonne höher ist als Licht und Auge, so ist das Gute
höher als Sein und Wissen, die Idee des Guten
ist Ursache alles
Seins und Wissens,
ist die göttliche Vernunft
selbst.
Zu seiner Ideenlehre ist Platon
außer durch den Einfluss der orphischen Mysterien
und der pythagoreischen Philosophie dadurch gekommen, dass er die Lehre des
Herakleitos vom Wechsel
der Dinge und die Lehre der Eleaten vom unveränderlichen
Sein miteinander verband (Theaetet).
Die Gegenstände der Erfahrung
zeigen stetige Veränderung, Verwirrung und beständiges Schwanken.
Während wir noch von einer Erfahrungsvorstellung sprechen, verschwindet
sie und weicht einer anderen entgegengesetzten; die Dinge der
Wahrnehmung besitzen also keine Realität.
Dagegen sind die allgemeinen Begriffe, durch die wir das Wahrgenommene denken,
nicht der Veränderung
und Verwirrung unterworfen. Diese allgemeinen
Begriffe sind also das Reale. -
Andrerseits ist Platon auch von der Sokratischen
Philosophie aus zur Ideenlehre gekommen.
Sokrates hatte die Frage angeregt: »Wie ist
das Wissen möglich?« (Parmenides, Republik.)
Er antwortete: »Nur durch allgemeine Begriffe.«
Platon steigt nun die Frage auf: »Ist
durch das Wissen eine Beziehung zum Sein gegeben? Wie verhält sich der
allgemeine Begriff zur Realität?« Darauf antwortet Platon:
»Es kann der allgemeine Begriff kein Wissen enthalten,
wenn sein Gegenstand nicht etwas Reales wäre. Er muss ein noêma
tou ontos und nicht tou mê ontos (des
Seienden und nicht des Nicht-Seienden) sein.
Die Ideen (eidê)
sind also real.«
Eidos (allgemeiner
Begriff) und Ousia
(substanzielles Dasein) sind hiernach der Kern
der Ideen. Vgl. Th. Achelis, Platons Metaphysik,
1873. S. Ribbing, Genet. Darst. d. platon. Ideenlehre, 1863. Vegleiche
Nous.
In der englischen und französischen Philosophie
bedeutet Idee nur Vorstellung
oder Begriff im
Gegensatz zur Wahrnehmung. Die
Wahrnehmungen sind das Erste Ursprüngliche, die Ideen haben nur
eine sekundäre, abgeleitete
Existenz. –
In der deutschen Philosophie dagegen bedeutet Idee
seit Kant Gedanke, abschließender,
metaphysischer Vernunftbegriff,
im Unterschied von den sinnlichen Anschauungen
und Verstandesbegriffen
(Kategorien).
Eine Idee ist nach Kant (1724-1804)
ein notwendiger Vernunftbegriff von der durchgängigen
Einheit der Verstandesbegriffe, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt,
dem also »kein kongruierender Gegenstand in den
Sinnen gegeben werden kann«. (Krit. d.
r. Vern. S. 327.) Da die Vernunft
nach Kant sowohl theoretisch als praktisch ist,
so unterscheidet er den theoretischen
und praktischen
Gebrauch der Ideen. In jenem sollen die Ideen von Gott,
Freiheit und
Unsterblichkeit
sich nicht rechtfertigen lassen, in diesem aber ihre
Rechtfertigung finden. –
J. G. Fichte (1762-1814)
definiert die Idee als einen selbständigen,
in sich lebendigen und die Materie
belebenden Gedanken,
als dessen Ausflüsse er die schöne
Kunst, die soziale Tugend,
die Wissenschaft
und die Religion
betrachtet. –
Bei Hegel (1770-1831)
ist die logische
Idee oder der adäquate Begriff, in welchem die Objektivität
der Subjektivität
gleich ist, oder das Dasein
dem Begriff als solchen entspricht, der Grundgedanke des gesamten Systems.
Aus ihrer Selbstentwicklung geht das ganze Dasein, Gedanke,
Natur und Geist
hervor. Hegel nähert sich daher am meisten
Platon, hat aber den ethischen Gesichtspunkt der
Ideenlehre Kants aufgegeben. -
Identität
(nlt. von idem, derselbe)
S. 280
heißt Einerleiheit, Sich-gleichbleiben.
In der Logik schreibt
man Identität Begriffen von
gleichem Inhalt und Umfang, die völlig gleichlautend sind, zu; so
sind Zahlen, die durch 2
restlos teilbar sind, und gerade Zahlen
identisch. In der Wirklichkeit
nennt man identisch dasjenige, was nur einen Gegenstand
oder eine Person ausmacht, z.B. ist der Täter eines Verbrechens
identisch mit dem Angeklagten, der vor dem Richter steht, wenn der Richtige
gefasst ist. Identität wohnt dem Bewusstsein
jedes einzelnen inne.
Identitätsphilosophie
S. 280f.
wird diejenige Philosophie genannt, für die Denken
und Sein oder Subjekt und Objekt oder Materie und Geist identisch ist. Diese
Philosophie, die auch Philosophie des Absoluten heißt, ist der dritte
monistische Standpunkt neben dem Realismus und Idealismus.
Wenn der Realist die Materie, der Idealist den Geist zur Existenzweise der Welt
macht, sucht der Vertreter der absoluten Philosophie die Einheit von Körper
und Geist in einem letzten Urgrunde der Dinge, in dem die Gegensätze beider
verschwinden und die selbständige Existenz derselben aufgehoben wird.
Der Schöpfer der Metaphysik des Absoluten, soweit man diese Richtung nicht
etwa schon im Altertum bei den Eleaten
suchen darf, ist Spinoza (1632-1677),
der Gott (Natur) (deus sive natura) zur
einzigen Substanz, Geist und Körper zu Gottes Attributen machte und den
modernen Pantheismus ins Leben rief. Seine philosophischen Nachfolger sind außer
Herder und Goethe
(»Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,
als dass sich Gott-Natur ihm offenbare, wie sie das Feste lässt zu Geist
zerrinnen, wie sie das Geisterzeugte fest bewahre!«
Bei Betrachtung von Schillers Schädel.)
Schelling (1776-1854),
Schleiermacher (1768-1834)
und v. Hartmann (1842-1906).
Schelling verschmilzt die Fichtesche
Ichlehre mit dem Spinozismus
und erklärt Objekt und Subjekt, Reales und Ideales, Natur und
Geist für identisch im Absoluten.
Für Schleiermacher, der Platon,
Kant und
Spinoza verbindet, schließt sich die Vielheit
zu einer Objekt und Subjekt umfassenden Einheit zusammen. Die Totalität
alles Existierenden ist die Welt, ihre Einheit Gott; Gott-Welt
ist also für Schleiermacher das letzte
Prinzip des
Daseins.
E. v. Hartmann,
der an Schelling, Hegel
und Schopenhauer anknüpft, schafft einen
Panpneumatismus, dessen oberstes
Prinzip das Unbewusste
mit den Funktionen des unvernünftigen Willens
und der kraftlosen Idee ist. –
Die Philosophie des Absoluten
ist zwar vielleicht der höchste Standpunkt,
den die Metaphysik
einnehmen kann; aber das Absolute
hat doch nie eine selbständige Farbengebung erhalten, selbst nicht
bei Herder und Goethe,
die den substantiell beharrenden Gott Spinozas
in Anschluss an Leibniz durch den tätigen,
belebten und sich entfaltenden Gott des mehr naturwissenschaftlichen
Pantheismus ersetzten. Wo das Absolute von Philosophen, Theologen
und Dichtern aufgenommen ist, hat es seine Merkmale immer entweder dem Realismus
oder dem Idealismus entlehnt oder bei beiden eine Anleihe gemacht. Etwas anderes
als äußere, oder innere Erfahrung steht den Denkern des Absoluten
nicht zu Gebote, und die vermeintliche besondere Erkenntnisgabe für das
Absolute (intellektuelle Anschauung,
höherer Empirismus
usw.) ist in Wahrheit nicht vorhanden. Es dürfte also bei aller
Anerkennung für Spinoza und seine Nachfolger
doch der Idealismus die höchste ausführbare Metaphysik sein und die
Identitätsphilosophie ein bloßes Ideal bleiben.
Ideologie
(franz.
idéologie) S. 281
heißt eigentlich Ideenlehre,
und man könnte so jede Philosophie nennen.
Die Franzosen, namentlich Victor Cousin (1792-1867),
bezeichnen aber mit dem Worte die Metaphysik.
Napoleon I. nannte politische Schwärmer
Ideologen.
Idiosynkrasie
(franz. v. gr. idios
= eigen u. synkrasis = Mischung)
S. 281
ist die eigentümliche Empfänglichkeit des einzelnen
Organismus für gewisse Reize und seine Reaktion darauf. Sie spricht sich
manchmal durch unüberwindliche Abneigung gegen gewisse. Speisen, Getränke,
Gerüche, Töne aus, manchmal durch die. Folgen der Einwirkung, selbst
wenn diese unbewusst oder zuerst angenehm war, so im Nesselfieber nach Erdbeergenuss
oder in der Ohnmacht nach dem Geruch von Gasen. Bei anderen zeigt sich die Idiosynkrasie
darin, dass sie begehren, was andere verabscheuen, oder dass ihnen nicht gleichgültig
ist, was den meisten schadet. Bald ist die Idiosynkrasie dauernd, bald vorübergehend.
Idiot
(gr. idiôtês)
S. 281
heißt eigtl. Privatmann,
dann Ignorant, Pfuscher, endlich
Schwachkopf.
Idiotismus
S. 281
heißt 1.
Eigenheit im Ausdruck einer Sprache,
2. Blödsinn.
Idol
(gr. eidôlon)
S. 281f.
heißt Götzenbild;
Idolatrie oder richtiger Idololatrie (gr.
eidôlolatreia v. eidôlon = Bild u.
latrein = dienen) heißt Götzendienst.
Bacon (1561-1626) nennt
Idole die Vorurteile, die beseitigt werden
müssen, ehe ein reines Wissen des Menschen entstehen kann. Er zählt
die Idole des Theaters (theatri),
des Marktes (fori), der
Höhle (specus) und des
Stammes (tribus)
auf. Die ersten bestehen in der Neigung,
der Autorität zu folgen, die zweiten
in der Neigung, die Worte für Dinge anzunehmen,
die dritten sind persönliche
Befangenheiten, die letzten liegen in der
menschlichen Natur überhaupt.
(Bacon, Novum Organum Buch I 38-66.)
Ignorabimus
S. 282
»Wir werden es nicht wissen«, ist die Losung
des Physiologen E. Du Bois-Reymond
(1818-1896) in seinen Schriften: »Von
den Grenzen des Naturerkennens« Leipzig 1872
und »Die
sieben Welträtsel« Leipzig 1882.
Er bezeichnet hier sieben Schwierigkeiten als unüberwindlich für
unser Denken:
1. Das Wesen der Materie und Kraft,
2. den Ursprung der Bewegung,
3. das Entstehen der einfachen Sinnesempfindung,
4. die Willensfreiheit,
5. den Ursprung des Lebens,
6. die anscheinend zweckmäßige Einrichtung der Natur und
7. das menschliche Denken und Sprechen.
Von diesen sieben Schwierigkeiten fällt die erste und zweite im Wesen zusammen,
die vierte weicht völlig den Resultaten des psychologischen Determinismus,
und auch die siebente ist durch psychologische Analyse bis zu einem gewissen
Teile überwunden.
Illusion
(lat. illusio v. illudere =
täuschen) S.282f.
Selbsttäuschung, Einbildung,
findet auf verschiedenen Gebieten statt.
Die logische
Illusion entsteht durch Fehler
im Denken, durch
Bildung falscher
Begriffe, Urteile
und Schlüsse.–
Die metaphysische
Illusion ist die Verwechslung
der Erscheinung
mit den Dingen selbst. Siehe
Ding
an sich. –
Die ästhetische
Illusion ist die durch die Kunst
erzeugte Täuschung, vermöge welcher
man den schönen
Schein für
die Wahrheit,
das Dargestellte für die Sache selbst hält. Das Wohlgefallen daran
entspringt aus der dadurch belebten Phantasie
des Beschauers. Der Grad
der Illusion ist bei verschiedenen Kunstarten verschieden. Die Architektur erweckt
am wenigsten Illusion, demnächst die Plastik, da sie den wirklichen Stoß
der Raum- und Bildformen gestalten.
Dagegen ist schon in der Malerei mit ihren zwei Dimensionen und ihren relativen
Größen alles schöner Schein, und den Objekten ist in ihr jede
reale Körperlichkeit genommen. Noch mehr Schein herrscht in der Musik und
in der Poesie, in denen die Töne und Worte das Wirkliche ersetzen müssen
und das Zeichen an die Stelle der Sache tritt. –
Die psychologische Illusion ist
der Sinnestrug, welcher von einer wirklichen Empfindung
ausgeht, dann aber diese durch reproduktive Elemente stark beeinflusst und verändert
und so als Äußeres aus der Seele heraussetzt und schließlich
Lokalisation und Projektion miteinander verwechselt. Die Halluzination irrt
in der Substanz, die Illusion im Attribut der objektiven
Wirklichkeit; jene bezüglich des Dass, diese des Was; jene bedarf der Zurücknahme,
diese der Korrektur.
Die Illusion entspringt entweder aus Abnormitäten
der Sinnesorgane (Entzündung, Erkältung, Lähmung)
oder aus Anwendung von sinnestäuschenden Gegenständen, wie Spiegeln,
Linsen u. dgl. Auch bei Seelenkrankheiten findet sie sich. Die Ursachen
der Illusion sind mithin überwiegend physiologisch und physikalisch,
weniger psychologisch. Vgl. Sinnestäuschungen. –
Endlich kann man moralische Illusionen diejenigen
Selbsttäuschungen nennen, denen wir uns unser
Leben lang hingeben, verleitet durch Hoffnung und Furcht, Erinnerung
und Begierde, Liebe, Freundschaft, Ehrgeiz, Stolz und Eitelkeit. Alle Güter
des Lebens als Illusionen hinzustellen, haben sich
die Pessimisten Schopenhauer
und von Hartmann bemüht. Doch dürfte
hierdurch der Pessimismus
eher widerlegt als bewiesen werden. Denn wenn die Illusionen,
wie dies erfahrungsmäßig der Fall ist, den Menschen beglücken,
so sind sie nur imstande, die Summe des vorhandenen Glücks zu mehren, nicht
zu vermindern.
immanent
(franz., lat. immanens) S.
283f.
eigtl. darinbleibend,
innewohnend, heißt vom 13. - 18. Jahrhundert
im Gegensatz zu transeunt (transiens)
oder transzendent
diejenige Ursache
oder Handlung, welche nicht
über sich selbst hinausgeht.
So nennt Spinoza (1632-1677)
Gott die immanente Ursache der Welt,
denn Gott ist die Welt selbst (deus
sive natura).
Seit Kant bürgerte
sich der Begriff immanent fest ein. Der
immanente Vernunftgebrauch beschränkt sich nach
Kant auf die Grenzen der durch die Erfahrung gegebenen Erscheinungswelt,
während der transzendente sie überschreitet.
So sagt Kant:
»Wir wollen die Grundsätze, deren Anwendung
sich ganz und gar in den Schranken möglicher Erfahrung hält, immanente,
diejenigen aber, welche diese Grenzen überfliegen sollen, transzendente
Grundsätze nennen«(Kr. d. r. V.
S. 295).
Man nennt jetzt auch immanente Methode diejenige,
welche sich durch den Gegenstand der Untersuchung selbst bestimmen
lässt.
Immanenzphilosophie nennen Schuppe, Rehmke, Leclair,
Kaufmann und Schubert-Soldern ihr System
der Erfahrungsphilosophie, welches alles Sein
als Bewusst-Sein ansetzt. Vgl. transzendent, transeunt. Eucken,
Geistige Strömungen der Gegenwart, Leipzig 1904, S. 376.
Immaterialität
(franz.) S.284
Stofflosigkeit, heißt
diejenige Eigenschaft (die seit Cartesius
(1596-1650) viele der Seele
beilegen), welche sie im Gegensatz zum Körper besitzt. Aber dieser
Seele und Leib trennende und entgegensetzende Dualismus ist unhaltbar, sowohl
wegen des Widersinns einer substanzlosen Substanz als auch wegen der Schwierigkeit,
zu erklären wie die immaterielle Seele und
der materielle Leib aufeinander wirken sollen. Die Lösungsversuche des
Okkasionalismus
und Prästabilismus (s. d.) sind misslungen. Vgl. Seele, Leib.
Imperative
S. 284
heißen bei Kant, im
Gegensatz zu den Maximen,
den subjektiven Grundsätzen der praktischen Vernunft, die objektiven
Grundsätze, d.h. diejenigen Regeln, welche durch ein Sollen bezeichnet
werden und bedeuten, dass, wenn die Vernunft den Willen gänzlich bestimmte,
die Handlung unausbleiblich nach dieser Regel geschehen würde (Kr.
d. prakt. V. I §I, S. 36 f.). Vgl. kategorisch.
Indifferentismus
(nlt.) S. 285
heißt die Gleichgültigkeit
gegen Wesen und Wert wichtiger Dinge.
Der Indifferentist entscheidet sich für keine
von zwei Seiten, weil er für keine eine besondere Neigung hat oder aus
Mangel an Interesse überhaupt keine
Kenntnis davon nimmt. So gibt es politische, philosophische,
religiöse und moralische Indifferentisten.
Meist ist der Indifferentismus der Gesellschaft
schädlich und des Menschen unwürdig. Wer die Fähigkeit hat, sollte
auch das Interesse haben, zu den wichtigen Lebensfragen der Menschheit Stellung
zu nehmen; am wenigsten würdig ist der totale Indifferentismus,
den nichts mehr interessiert, weil er sich gegen alles
abgestumpft hat. Vgl. Latitudinarier.
Individualbegriff
S. 285
ist diejenige Art der Gegenstandsbegriffe,
welche aus der wiederholten Anschauung desselben Gegenstandes
und der Erkenntnis seiner bleibenden Eigenschaften entspringt. Er entkleidet
die Wahrnehmung ihrer jedesmaligen besonderen räumlichen und zeitlichen
Beziehung zu anderen Dingen und erhebt sich vermittelst des Gemeinbildes
vom Gegenstande zum Begriff, der die Merkmale desselben zusammenfasst.
Die Individualbegriffe bilden die untersten
Stufen in der Reihe der Begriffe. Vgl. Vorstellung, Art, Gattung, Begriff.
Individualität
(franz.) S.
285f.
heißt die Eigentümlichkeit
des einzelnen Wesens, der Inbegriff seiner Eigenschaften. Jeder Mensch
besitzt eine Individualität; denn leiblich
und geistig gibt es nicht zwei gleiche Menschen. Jeder hat sein eigenes
Aussehen, seine Körperkonstitution, sein Temperament (s. d.) und seine
Anlagen, deren besondere Zusammenstellung die Vorbedingung seiner Leistung,
seines Glückes ist.
Oft tritt die Individualität eines Menschen
nicht stark hervor. Es gibt Dutzendmenschen. Ist z.B. Denken, Fühlen und
Wollen gleichmäßig schwach veranlagt, so wird ein solcher Mensch
gar nichts Besonderes leisten, doch in seiner Beschränkung zufrieden sein;
ist umgekehrt eine gleichmäßig starke Anlage vorhanden, so wird er
ein sehr nützliches und glückliches Glied der Gesellschaft. Das sind
die harmonischen Naturen ohne besonders hervorstechende Züge. Bei den übrigen
wiegt eine Funktion des Geistes vor und macht die Individualität
stärker sichtbar. Übrigens ist Individualität und Charakter
nicht dasselbe. Die Individualität ist das,
was die Natur von selbst Besonderes aus dem Menschen
gemacht hat, der Charakter beruht auf der sittlichen Arbeit des Menschen an
sich, die oft in einen Gegensatz zur Natur tritt.
Individuation
S. 286 Siehe
auch bei Eisler
ist die Sonderung
des Allgemeinen
in Einzelwesen.
Über das Prinzip
derselben (principium individuationis) haben
sich Nominalisten und Realisten im Mittelalter
heftig gestritten.
Jene behaupteten, das Individuum
werde in und mit der
Wirklichkeit
(so die Scotisten), die Realisten
dagegen durch die Gattung (so die Thomisten).
Spinoza (1632-1677)
fasste als Prinzip der Individuation
die Negation
auf.
Leibniz (1646-1716)
dagegen verfocht 1663 die nominalistische
These, als deren
erste Vertreter er Petrus Aureolus und Durandus
anführt, »was
ist, ist durch sein Dasein
selbst Individuum«.
Schopenhauer (1788-1860)
sieht in Raum
und Zeit, die ihm mit Kant
freilich nur subjektiv
sind, das principium individuationis.
Durch Raum und Zeit ist alle Vielheit
bedingt. Alle Vielheit
und Verschiedenheit der Individuen existiert daher nur in der Welt
als Vorstellung.
Individuum
(lat. individuum)
S. 286
bezeichnet ein Unteilbares, ein
Einzelwesen.
Induktion
(lat. inductio = das
Hineinführen, gr. epagôgê) S.
286ff.
heißt
1. der Schluss
vom Besonderen aufs Allgemeine,
2. die Methode,
die, von einzelnen Dingen und Vorgängen ausgehend, zur Bildung allgemeiner
Begriffe und zur Aufstellung allgemeiner Sätze über die Wirkung der
Ursachen führt.
Der Induktionsschluss, der vom
Besondern auf das Allgemeine schließt, hat nicht so große
Stringenz (Zugkraft) wie der Syllogismus,
der vom Allgemeinen aufs Besondere schließt.
Der Induktionsschluss erzielt nur
Wahrscheinlichkeit,
nicht Gewissheit,
es sei denn, dass die Induktion eine vollständige
ist, d. h. dass man alle Teile eines Ganzen vollständig
berücksichtigt hat.
Dies ist jedoch innerhalb der Naturwissenschaft meist unmöglich. Da die
Erfahrung nach Raum und Zeit unendlich ist, so kann die
Induktion nie zur vollständigen Apodiktizität
führen. Aber die Induktion hat an der Voraussetzung,
dass die Natur gesetzmäßig verfahre, eine starke Stütze.
Die Form des induktiven Schlusses ist:
A, B, C, D.... sind P (oder nicht P),
X befasst A, B, C, D.... unter sich,
---------------------------------------
Folgt sind alle X (wahrscheinl.) P (oder nicht P).
Oder auch in der 3. Schlussfigur:
A, B, C, D.... sind P,
A, B, C, D.... sind S,
----------------------
Jedes S ist P.
Beispiel: Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter und Saturn
haben Achsendrehung; diese sechs sind die alten Planeten, folglich haben sämtliche
alte Planeten Achsendrehung.
Die Induktion als methodisches Verfahren ist die
wichtigste Methode der Wissenschaft. Sie muss in sämtlichen Wissenschaften
der Deduktion vorausgehen
und allgemeine Begriffe und Sätze schaffen, ehe die Deduktion
einsetzen kann. Nur wenige Wissenschaften, wie die Mathematik
und Physik, sind so weit, dass sie sich im ausgedehnten
Maße: der Deduktion bedienen können.
Das induktive Verfahren hat zuerst Sokrates
(469 bis 399) angewendet (Aristot. Metaph.
XIII, 4 p. 1078b 28 dyo
gar estin hatis an apodoiê Sôkratei dikaiôs tous t' epaktikous
logous kai to horizesthai katholou), indem er zu richtigen allgemeinen
Begriffen zu gelangen strebte.
Platon (427-347) erkannte
dies als die eine Seite des Begreifens, ließ
aber, indem er das Wissen als Erinnerung
ansah, nach dem Vorbilde der Mathematik
der deduktiven Methode den Vorrang.
Aristoteles (384-322)
hielt die Induktion für die
mehr populäre Erkenntnisweise; denn als wissenschaftlich galt ihm
nur die vollständige Induktion (inductio
completa), gegen welche keine Ausnahme (als
Instanz) vorliegen dürfe.
Erst Bacon v. Verulam (1561-1626)
hat die Theorie der Induktion aufzustellen versucht
(Nov. Organ. I, 105); er verlangt ein methodischeres Verfahren als die
bloße Aufzählung einzelner Fälle, gegen die sich immer andere
aufführen lassen.
Die Rationalisten Cartesius, Spinoza, Leibniz und
Wolff schätzten die
Induktion gering, und selbst die Empiristen,
Locke und seine Schule, machten keinen rechten
Gebrauch von ihr, bis erst in jüngster Zeit philosophierende Naturforscher
die Theorie reicher entwickelt haben.
Besonders hat Stuart Mill (1806-1873)
die Hilfsoperationen und die Methoden der Induktion, die
zu allgemeinen Sätzen über die Wirkungen der Ursachen führen,
die Methode der Übereinstimmung, der Differenz,
die indirekte Differenzmethode und die Rückstandsmethode
in ihrem Verfahrengenau gekennzeichnet.
Vgl. Whewell, Gesch. der induktiven Wissenschaft,
dtsch. v. Littrow (1839-42). J. Stuart Mill, Logik, dtsch. v. Schiel. 1849.
Apelt, Theorie der Induktion. 1824. W. Wundt, Logik. 1880. 3. Aufl. 1906. J.
Schiel, Die Methode der induktiven Forschung. Braunschweig 1865.
Vollständige Induktion (ind.
completa) ist bei einer unendlichen Zahl von Gliedern nur möglich,
wenn die Glieder sich zu einem Kontinuum oder zu einer gesetzmäßigen
Reihe zusammenschließen, so dass eine Übersicht über alle in
endlicher Zeit möglich wird (wie in der Geometrie)
oder sich syllogistisch
beweisen läßt, dass was für ein n-tes
Glied gilt, auch für jedes (n+1)te Glied
gelten müsse.
Die unvollständige Induktion führt nur
zu partikulären Schlüssen, findet jedoch
an der Voraussetzung eines allgemeinen Kausalzusammenhanges der Dinge stete
ihre Ergänzung und Stütze.
Die Induktion hat besonders die biologischen Wissenschaften
und die Chemie gefördert; die Physik hat die Induktion
mit der der Mathematik
entlehnten Deduktion
verbunden. Der eigentliche Kern ihrer Methode ist aber die Reduktion des
Qualitativen auf das Quantitative; hierbei spielt die
Induktion ihre Rolle mit; es wird aber auch erst durch diese Reduktion
für die mathematische Behandlung die Grundlage geschaffen.
Die Mathematik
verfährt im Wesentlichen deduktiv.
Ihre Grundlagen können aber nur durch Induktion gewonnen
werden. Beide Methoden,
die induktive wie die deduktive,
haben also ihren wissenschaftlichen Wert. Die obersten Sätze der Wissenschaft
lassen sich aber niemals syllogistisch ableiten,
sondern nur induktiv feststellen. Der häufigste
Fehler bei der Induktion ist die falsche Verallgemeinerung
(fallacia fictae universalitatis), die
da stattfindet, wo man eine unvollständige Induktion
mit der vollständigen verwechselt.
Ein anderer Fehler besteht darin, dass man fälschlich einen Kausalzusammenhang
von Subjekt und Prädikat voraussetzt, wo nur zeitliche Folge besteht (post
hoc; ergo propter hoc!).
Inhalt
S. 289
eines Begriffes
nennt die Logik
die Summe seiner Merkmale.
Vergleiche Begriff,
Umfang
Innervation
(franz.) S. 289f.
heißt die innere Tätigkeit
der Nerven an die die psychischen
Lebensäußerungen gebunden sind. In den Ganglienzellen
der tierischen Körper sammelt sich vorrätige Arbeit, die zur Verwendung
bereit liegt. Die Größe des Vorrats und die Form seiner Ansammlung
beruht teils auf der Bildung des Nervensystems, die eine Erbschaft früherer
Geschlechter ist, teils auf der Einwirkungsart der von außen kommenden
Reize. Die Reize lösen entweder innere Arbeit aus oder sie setzen sich
in äußere Arbeit um und bedingen so die gesamte Sinnesvorstellung
mit der auf ihr beruhenden geistigen Arbeit und die spontane Bewegung mit der
äußeren Betätigung des tierischen oder menschlichen Organismus.
In der Innervation sah Alexander
von Humboldt (1769-1859) einen galvanischen
Vorgang.
John Brown (1735-1788)
deutete sie als eine physikalischen und chemischen Gesetzen
nicht unterworfene
Lebenskraft.
Johannes Müller (1801-1858)
sah in der Nerventätigkeit eine spezifische
Energie.
H. v. Helmholtz (1821-1894)
bildete die Lehre Johannes Müller weiter aus.
Wundt (geb. 1832) bestritt
die Lehre von der spezifischen Energie.
Hering (geb. 1834) lehrte
vermittelnd, daß die spezifische Energie der Sinnesnerven zwar nicht ursprünglich
gegeben, aber in der Stammesentwicklung erworben und vererbt ist.
Nach Wundt besteht die Innervation
in der Verbrennung komplizierter und loser Verbindungen durch Oxydation zu einfacheren
und festeren Verbindungen und der Entstehung neuer komplizierter Verbindungen
durch die im Blute zugeführten Nährstoffe. Vgl.
Wundt, Grundz. d. physiol. Psychol. I, 246-288. Hellpach, Grenzwiss. d. Psychologie,
Leipzig 1902, S. 184 ff.
Inspiration
(lat. inspiratio), S.
290
Vergleiche Offenbarung
Instinkt
(von lat. instinctus
= Antrieb) S.
290f.
bedeutet soviel als Naturtrieb.
Instinkte nennen wir Triebe
(d.h. Gemütsbewegungen), die sich in solche Körperbewegungen
umzusetzen streben, dass durch sie ein Lustzuwachs oder eine Unlustverminderung
erreicht wird, und die ein tierisches Wesen
als angeborenes
Besitztum zur Welt bringt. Sie beruhen auf der von vorausgehenden Generationen
erworbenen Bildung des Nervensystems, die durch Vererbung auf die jüngeren
Generationen übergeht.
Der Instinkt ist bei jedem Individuum
in seiner ersten Äußerung ein Streben, welches sein Ziel noch nicht
kennt, sondern sich desselben erst allmählich bewusst wird, indem es, vom
Drange nach Befriedigung getrieben, äußere Eindrücke erfährt
und verarbeitet. Aus dumpfem Gefühl entstanden, entwickelt sich das Streben
bei seiner Erfüllung zur dunklen
Vorstellung der Gegenstände, die sich ihm darbieten, und der Bewegungen,
die zur Befriedigung führen.
Obwohl also die Instinkte angeboren
sind, so müssen die Bewegungen und Handlungen, die durch sie hervorgerufen
werden, doch erst durch Sinnesreize angeregt werden, und alle instinktiven Handlungen
vervollkommnen sich erst durch Übung. Die Natur zeigt uns, dass bezüglich
der Instinkte die Tiere besser ausgestattet sind
als die Menschen. Es stimmt dies mit der Regel überein, dass bei einfacher
Organisation des zentralen Nervensystems auch die ererbten Dispositionen sicherer
vorgebildet sind.
Für den Menschen hat der Instinkt dagegen
geringere Bedeutung, und es gilt der Satz: Wo viel Instinkt
ist, da ist wenig Denken!
Der Instinkt behält stets etwas
Blindes und Rücksichtsloses. Die Kultur verdrängt jenen in
der Menschheit, bei Verwilderung oder Krankheit tritt er erst wieder hervor.
Kant (1724-1804) erklärt
den Instinkt »als ein gefühltes Bedürfnis,
etwas zu tun oder zu genießen, wovon man noch keinen Begriff hat«,
oder an anderer Stelle »als die innere Nötigung des Begehrungsvermögens
zur Besitznehmung des Gegenstandes, ehe man ihn noch kennt«. Er nennt
als Beispiele den Kunsttrieb der Tiere und den Trieb zum
Geschlecht. (Religion innerh. d. Gr. d. bloßen
Vernunft. S. 20, Anm. u. Anthrop. § 77. S. 225.)
Darwin (1809-1882) sieht
die Instinkte als vererbte
Gewohnheiten an, die unter Fortwirkung konstanter Naturbedingungen verstärkt
werden. Aber der Begriff Gewohnheit ist selbst zu dunkel, um zur Erklärung
der Instinkte zu dienen.
Wundt hat die oben entwickelte Erklärung gegeben
(Grundz. d. phys. Psych. II, S. 412 ff.).
Vgl. Burdach, Blicke ins Leben. Lpz. 1842. Autenrieth, Ansichten über Natur
u. Seelenleben. Stuttg. 1836. Schütz, der sog. Verstand der Tiere. Paderborn
1880. H. Schneider, der tierische Wille. Lpz. 1880. Büchner, Aus dem Geistesleben
der Tiere. Berlin 1877.
Integration
(lat. integratio)
S. 291
im philosophischen Sinne ist nach Herbert Spencer
(1820-1905) soviel als Vereinigung,
Zusammengehen, im Gegensatz zur Diaintegration oder Dissipation, der
Ausbreitung, dem Auseinandergehen von Stoff und Bewegung. –
In der Mathematik
ist Integration die Bestimmung
der Funktionen aus den Differenzialquotienten.
Intellekt
(lat. intellectus) S. 291f.
heißt Verstand, Geist, Denkkraft; intellektuell,
geistig, heißt das, was sich auf das
Wissen, die Erkenntnis
bezieht. So unterscheidet man intellektuelle Bildung
von der moralischen und ästhetischen.
Intellektuelle Erkenntnisse, d.h. Begriffe,
stehen den sensualen, d.h. den sinnlichen Wahrnehmungen und den Erfahrungen
gegenüber.
Intellektualismus ist daher in erster Linie der
Gegensatz von Sensualismus
und Empirismus.
Diese leiten das Wissen aus der Sinnestätigkeit
oder Erfahrung ab, jener leitet alle Erkenntnis
aus den Begriffen des Verstandes ab. –
Andrerseits bedeutet Intellektualismus in zweiter
Linie seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts des
philosophischen Standpunkt, den die alten und neueren Philosophen bis zu Kant
vertraten, nach dem die Tugend
wesentlich in geistiger Arbeit und Ausbildung besteht und der Welterkenntnis
der Vorrang vor dem sittlichen Handeln zukommt.
Im Gegensatz zu dieser Anschauung hat Kant (1724-1804)
den Primat der praktischen Vernunft über die theoretische gelehrt, und
an ihn knüpft die Richtung der Neuzeit an, den Schwerpunkt des Daseins
in das Wollen zu
verlegen.
Dieser Gegensatz zum Intellektualismus wird von
Fr. Paulsen (geb.
1846) im Anschluss an Tönnies Voluntarismus
genannt, kann aber wohl auch Thelismus, Ethelismus oder Theletismus
(v. gr. thelô, ethelô, thelêtos) genannt werden.
Intellektuelle Anschauung nannten
Fr. Jacobi (1743 -1819), J.
G. Fichte (1762-1814) und Schelling
(1775-1854), ähnlich den Mystikern, die
unmittelbare Anschauung, welche ohne sinnliche Wahrnehmung
und Reflexion in Gott versetze, auf die sich alle Metaphysik gründe
- eine freilich willkürliche Behauptung.
Vgl. Eucken, Geistige Strömungen d. Gegenwart,
1904, S. 38 ff. Vgl. Voluntarismus.
Intellektualsystem
S. 292
nannte Ralph Cudworth (1617bis
1688) seine gegen den
Sensualismus und Atheismus
des Hobbes gerichtete Ableitung des Rechts
und der Moral
aus dem Wesen
Gottes (The
true intellectual system of the universe, 1678).
Intelligenz
(lat. intelligentia)
S. 292 Siehe
auch bei Eisler
heißt entweder das Vermögen, Erkenntnis
zu erwerben, oder der Besitz von Erkenntnis, oder
die Erkenntnis selbst.
Anaxagoras (500-428)
hat zuerst die Welt
von einer höchsten
Intelligenz, dem Nous
(nous) abgeleitet.
intelligibel
(franz. intelligible)
S. 292 Siehe
auch bei Eisler
heißt eigtl. verständlich,
dann das, was nur dem Verstande, nicht den Sinnen entstammt. So spricht man
von der intelligiblen Welt,
einem intelligiblen Charakter,
welcher (nach Kant) Gegensatz
und Voraussetzung des empirischen
sein soll.
Intension
(lat. intensio)
oder Intensität, Spannungsgrad,
S. 292
heißt die innere Steigerung der
Kraft im Gegensatz zur Extension
(der äußeren Ausdehnung),
die oft zu jener in umgekehrtem Verhältnis steht; intensive
Größe ist daher Gehalt,
extensive Umfang.
Intensives Leben ist das nach
seinem Inhalte
nicht nach seiner Dauer
beurteilte.
Intention
(lat. intentio)
S. 292
heißt Absicht.
Intentionalismus
ist die Lehre, dass jede Handlung
nur nach ihrer Absicht zu beurteilen sei, dass also
der Zweck
die Mittel heilige.
Interesse
(lat. interesse), S.
293
eigtl. das Dabeisein, Teilnehmen, ist die freudige Aufnahme,
das Entgegenkommen, das wir einer Sache gegenüber zeigen.
Es ist das Ergebnis der Aufmerksamkeit; wo diese
fehlt, kann sich kein Interesse herausbilden, und
andererseits weckt das Interesse immer von neuem
die Aufmerksamkeit. So stehen beide in Wechselwirkung.
Es ist schwer, bei Anfängern für einen Unterrichtsgegenstand Aufmerksamkeit
zu erwecken, weil noch das Interesse fehlt, man muss Interesse stiften, wo man
auf jene rechnen will; die Vorschrift: »Unterrichte
interessant« kommt deshalb darauf hinaus: »Unterrichte
so, dass ein Interesse erwacht!«
Wovon wir schon eine Vorstellung, aber noch kein fertiges Wissen haben, das
interessiert uns; was uns zu fremd oder zu bekannt
ist, langweilt uns. Allgemeine Interesselosigkeit zeugt entweder von Rohheit
oder von Blasiertheit. Je nach Bildung, Erziehung, Beruf, Alter und Geschlecht
hat der Mensch aber verschiedene Interessen. Dem
sinnlichen Menschen ist nur das Sinnliche, Nützliche interessant; der höher
Gebildete hat Interesse an geistigen Dingen.
Von dem die einzelnen Stände, Geschlechter usw. Interessierenden ist das,
was allen Menschen interessant sein soll, verschieden
Dies ist das Menschliche, das an sich Wertvolle, das die höheren Tätigkeiten
beschäftigt oder der Ausdruck derselben ist. Zu diesen
Interessen gehören das gesellschaftliche, politische, ästhetische,
sittliche und religiöse Interesse.
Kant definiert Interesse als das, wodurch Vernunft
praktisch, d.h. eine den Willen
bestimmende Ursache
wird (Grundlage d. Metaphysik d. Sitten III. Abschn.
von der äußersten Grenze aller prakt. Phil.). –
Interessiert heißt sowohl teilnehmend als
eigennützig. Wenn Kant das Wohlgefallen am Schönen »uninteressiert«
nannte, meinte er »uneigennützig, begierdefrei«, aber nicht
»ohne Teilnahme«. -
Interessenharmonie, d.h. Verträglichkeit der
Interessen von Individuen, Klassen und Völkern findet nach Bastiat
(1801-1860) statt, soweit diese berechtigt
sind, nach Carey (1793-1879)
überhaupt nicht.
Intuition
(franz. intuition) S.
294 Siehe auch bei Eisler
heißt Anschauung,
intuitiv anschaulich,
zur Anschauung gehörig; intuitive
Erkenntnis heißt die durch unmittelbare
sinnliche Anschauung gewonnene Erkenntnis.
Irrtum
S. 295f.
heißt ein falscher Gedanke,
der für wahr gehalten wird.
Veranlasst wird er stets durch einen Schein
des Wahren (species
veri), der das Subjekt
täuscht. Mit der Aufhebung der Täuschung schwindet auch der Irrtum.
Denn wenn ein Mensch etwas für falsch
erkennt, hält er es nicht mehr für wahr, mag er es auch aus Eigennutz,
Furcht oder Bosheit noch dafür ausgeben. Jener Schein aber kann entweder
szientifische oder moralische Ursachen haben: mangelhafte oder schlecht geschulte
Urteilskraft,
Vorurteile,
Leidenschaften
oder Mangel an Aufmerksamkeit sind seine Quellen.
Bezieht er sich auf die
logische Form
des Urteils, so
heißt er formell, geht er
auf den Inhalt,
so heißt er materiell.
Jener widerspricht
den Gesetzen des
Denkens, dieser dem Tatbestände.
Logisch falsch ist z.B. der Satz: »Die Substanz
verändert sich«, sachlich falsch: »Die
Sonne bewegt sich um die Erde«.
Formelle Irrtümer lassen sich aus den logischen Gesetzen des Geistes, materielle
dagegen nur durch das Studium der betreffenden Wissenschaften erkennen und widerlegen.
Alle Irrtümer sind also Sache
des Verstandes
(nicht der Sinne), des Gefühls
oder des Willens;
denn sie entspringen stets aus einem falschen Schlusse.
Übereilung in der Annahme und Trägheit in der Prüfung veranlassen
sie leicht und oft; daher die zahlreichen Sinnestäuschungen, die Verwechslungen
von Einbildungen
und Räsonnements mit sinnlicher Anschauung, die Parteilichkeit und Leichtgläubigkeit
in historischen Dingen, die Verwechslung der Erkenntnisquellen, die häufigen
Paralogismen (Fehlschlüsse)
und Sophismen (Trugschlüsse).
Zur Vermeidung des Irrtums führt vor allem
ruhig-klare Gemütsstimmung, ernstes Nachdenken, Befreiung von Vorurteilen,
Aufmerksamkeit, Konsequenz im Denken und Kritik fremder Ansichten. Vergleiche
Widerlegung,
Kritik.
Kanonik
(v. gr. kanôn =
Richtschnur) S. 297f.
nannte Epikuros (341-270)
die Logik, die er
ausschließlich in den Dienst seiner hedonischen
Ethik stellte und
einfacher gestaltete, als andere Philosophen, so dass die schwierigen Lehren
übergangen und der Sinneswahrnehmung und den Gefühlen sowie den daraus
hervorgehenden Vorstellungen die Entscheidung über die Wahrheit
zugewiesen war. Vgl. Diog. Laert. X § 31. –
Kant (1724 bis 1804. Kr.
d. r. V. Methodenlehre II, S. 796-831. Der Kanon der reinen Vernunft)
verstand darunter die Wissenschaft
vom richtigen Gebrauch des Erkenntnisvermögens. Der Grundgedanke dieser
Kanonik ist die Unterordnung der Metaphysik
unter ethische Gesichtspunkte, die Bestimmung der
Philosophie
als Lehre vom höchsten Gute.
Der Kanon der reinen Vernunft
betrifft also nur deren praktischen Gebrauch.
Kantianismus
S. 298f
ist die Philosophie
Kants (1724-1804) und
seiner Anhänger.
Kant hat in seiner philosophischen
Entwicklung drei Stufen
durchgemacht.
Zuerst (1755-1760) war er Wolfianer,
schloss sich aber in der Naturwissenschaft schon enger an Newton
an.
Dann (1760-1770) sagte er sich vom Wolfischen
Rationalismus los und neigte dem englischen
Empirismus zu.
Zuletzt von 1770 ab bildete er, in gewisser Beschränkung
zum Rationalismus zurückkehrend, seine eigene
kritische Philosophie
aus. Nur diese letztere kann Kantianismus heißen.
Der Kantianismus besteht im Rationalismus:
Kant erkennt zwar das Wissen
a posteriori, das
Wissen aus der Erfahrung
an, ihm ist aber die Philosophie
lediglich Wissenschaft
aus Begriffen
a priori; -
im Formalismus:
Kant scheidet
Form und Stoff
der Erkenntnis.
Alles Wissen a priori umfasst nur die Form
der Dinge
, Raum, Zeit,
Quantität,
Qualität,
Relation und
Modalität;
das Sittengesetz ist formal,
die Schönheit ist nur Zweckmäßigkeit
der Form der Dinge; -
im Kritizismus:
Die Vernunft ist im Gebiete der Erfahrung, aber (im theoretischen
Gebrauche) nicht über dasselbe hinaus gesetzgebend; -
im Phänomenalismus:
Zeit und Raum sind
a priori: die Welt der Erkenntnis
ist nur die Welt der Erscheinungen,
nicht die Welt an sich; -
im Idealismus:
Die Dinge an sich
bilden eine intelligible Welt; -
im Indeterminismus
(Eleutherismus): Es gibt eine intelligible
Freiheit des
Willens und Unabhängigkeit
vom Kausalitätsgesetz;
- im Ethizismus: Die praktische
Vernunft hat den Vorrang (Primat) über die
theoretische Vernunft; -
Im Dualismus:
Es gibt eine sinnliche (der Kausalität
unterworfene) und eine intelligible (freie)
Welt. –
Der Kantianismus ist die Philosophie, welche die
neueren Richtungen die von England einerseits und Frankreich und Deutschland
andrerseits im XVII. und XVIII. Jahrhundert ausgegangen
waren, die empiristische und die rationalistische zu vereinigen strebte und
am Schluss der Entwicklung des Rationalismus diesen
in die gebührenden Schranken zurückwies, aber an ihm prinzipiell festhielt.
Der Kantianismus versucht festzustellen, was reine
Vernunft für sich zu leisten vermag, und beantwortet die Fragen:
»Was kann ich wissen?« »Was soll ich
tun?« »Was darf ich hoffen?«,
soweit reine Vernunft die Antwort darauf geben kann. (Kr.
d. r. V. S. 805).
Hierdurch ist seine gegensätzliche Stellung bedingt. Er steht im Gegensatz
zum Sensualismus
und Empirismus,
zum Skeptizismus
und Dogmatismus,
zum Realismus
und Materialismus,
zum Determinismus
und Intellektualismus, und ihm fehlt die strengere
monistische Abschließung.
Vgl. Fr. Paulsen, Immanuel Kant 2. u. 3. Aufl. 1899.
S. 114-123. Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Kantischen Erkenntnistheorie.
Leipzig 1875. A. Riehl, Der philosophische Kriticismus, Leipzig 1876 ff. Joh.
Volkelt, Immanuels Kants Erkenntnistheorie, Leipzig 1879. Konrad Dieterich,
Die Kantische Philosophie, Freiburg u. Tübingen 1885.
Kardinaltugenden
S. 216ff.
heißen die Haupttugenden,
denen alle anderen untergeordnet sind.
Platon (427-347), der
die Tugend in der
Tauglichkeit der menschlichen Seele zu dem ihr zukommenden Werke sah, stellte
vier Haupttugenden auf: Weisheit
(sophia, prudentia),
Tapferkeit (andreia fortitudo),
Gesundsinnigkeit (sôphrosynê, temperantia) und Gerechtigkeit (dikaiosynê, iustitia).
Während die drei ersteren, der Einteilung der Seele in die erkennende,
mutige und begehrliche entsprechend, Tugend einzelner Seelenkräfte sind,
besteht die letzte Tugend in dem rechten Verhältnis der Seelenkräfte
zueinander; sie bestimmt also den drei anderen ihr Maß.
Aristoteles (384-322),
für den die Tugend die aus der natürlichen Anlage durch Handeln erworbene
Fertigkeit, das Vernünftige zu wollen, war, gab jene Einteilung auf und
unterschied die ethische (tätige) Tugend von der dianoetischen
(der Denktugend).
Die ethische Tugend ist die Fertigkeit,
die uns entsprechende Mitte zwischen zwei Extremen innezuhalten. Ihre Wurzel
ist nicht, wie bei Platon, die Einsicht sophia,
sondern die Mannhaftigkeit andreia. An
sie schließen sich die anderen ethischen Tugenden: Gesundsinnigkeit sôphrosynê,
Freigebigkeit und Großherzigkeit eleutheriotês,
megaloprepeia, Ehrliebe megalopsychia,
philotimia, Sanftmut praotês,
Wahrhaftigkeit alêtheia, Freundlichkeit
eutrapelia, philia, Gerechtigkeit dikaiosynê
und Billigkeit to epieikes (Ethic.
Nic. II, 7, p. 1107 a 28 ff.) an.
Die dianoetischen Tugenden, die in dem richtigen Verhalten der denkenden Vernunft
an sich und bezüglich der niederen Seelentätigkeiten bestehen, sind
Vernunft, Wissenschaft, Kunst und praktische Einsicht. Sie gipfeln in der Theorie,
der höchsten menschlichen Glückseligkeit.
Die platonische Tugendlehre ist
populär geworden und auch in die stoische Lehre und römische Philosophie
übergegangen, die aristotelische hat sich weniger verbreitet.
Plotin (205-270) stellte drei Klassen von Tugenden
auf; bürgerliche (politische), philosophische (reinigende) und religiöse
(vergöttlichende).
Ambrosius (340-397)
schloss den vier sog. philosophischen Kardinaltugenden Platons
die drei theologischen: Glaube, Liebe, Hoffnung an, ebenso später Petrus
Lombardus (†1164), der alle sieben
aus der Liebe abzuleiten sucht.
Schleiermacher (1768-1834)
endlich unterscheidet erkennende und darstellende Tugenden; jene sind Weisheit
und Besonnenheit, diese Liebe und Beharrlichkeit.
Die Lehre von den Kardinaltugenden
hat im allgemeinen für die Gegenwart wenig Bedeutung. Die reiche Gestaltung
des Lebens verbietet jeden starren Schematismus in der Tugendlehre.
Kasualimus
(nlt.) S.
219
ist diejenige Lehre, nach der die ganze Welt durch Zufall (casus)
entstanden ist und sich unter der Herrschaft des Zufalls
entwickelt hat.
So dachten sich z.B. Epikuros
(342-270) und Lucretius (99-55)
die Weltentstehung und Weltentwickelung.
Kasuistik
(franz. casuistique) S. 219 f.
heißt derjenige Teil der Moral, welcher von den Gewissensfällen
(casus conscientiae) oder der Kollision der Pflichten handelt.
Kasuist ist derjenige Moralist, welcher solche
Fälle zu lösen sucht. In Wahrheit kollidieren freilich viel weniger
die Pflichten
untereinander, als die menschlichen Wünsche.
Spuren von Kasuistik finden sich zuerst bei den
Stoikern (um 260 v. Chr.).
So stritten Diogenes und Antipater
darüber, ob ein Kaufmann, der zur Zeit einer Hungersnot Getreide nach Rhodos
bringe, aber unterwegs erfahre, dass mehr Zufuhr komme, dies sagen und einen
geringeren Preis fordern solle oder nicht. Auch den Fall erwogen die
Stoiker, wie sich zwei Schiffbrüchige verhalten sollten, die sich
auf ein Brett retteten, das doch nur einen tragen könnte.
Aber erst die Talmudisten und die Scholastiker
haben diese meist fruchtlosen Untersuchungen fleißig ausgeführt.
Bekannt sind von kasuistischen Schriften die Summa Raimundiana
des Raymund de Pennaforti (1176-1273),
die Summa Astesana vom Franziskaner
Astesanus und die Summa Bartolina vom Dominikaner
Bartholomäus de Sancta Concordia.
Auch die Jesuiten Escobar, Sanchez und Busenbaum
sind als Kasuisten bekannt.
Kategorie
(gr. katêgoria,
lat. praedicamentum, eigtl. Aussage),
S. 300ff. Siehe auch Bonus
heißt in der weitesten Bedeutung jedes Merkmal, das auf einen Gegenstand,
jedes Prädikat, das auf ein Subjekt bezogen wird; in engerer Bedeutung
versteht man unter Kategorien die allgemeinsten Stammbegriffe
des Verstandes, unter welche alle Gegenstände der Erfahrung, sofern
sie gedacht werden, fallen und von denen die übrigen Begriffe abgeleitet
werden können.
Sehr frühe wurde sich der menschliche Geist solcher Stammbegriffe bewusst;
denn das Begreifen selbst führt zu ihrer Auffindung.
Wir setzen, sobald wir uns ein Objekt vorstellen, nicht nur ein Ding im Unterschiede
von aus selbst, sondern zugleich zahlreiche Beziehungen desselben zu anderen
Dingen in Raum und Zeit;
seine Gestalt, Größe,
Bewegung, Lage usw. drängt sich uns auf.
Dass diese Begriffe aber Grundfunktionen unseres Geistes sind oder mit den Grundfunktionen
zusammenhängen, ergibt sich aus der Unmöglichkeit oder Schwierigkeit,
sie auf andere zurückzuführen; Gestalt, Größe, Zahl, Maß,
Bewegung, ferner Tun, Leiden, Ursache, Wirkung bringt unser Geist zu den Dingen
hinzu, um diese ins Bewusstsein aufnehmen zu können. Nur durch den Hinzutritt
dieser Begriffe wird die ungewollt und ungesucht in uns entstandene Vorstellung
zum Begriff, indem unser diskursives Denken den Objekten ihre Merkmale in festen
Formen beilegt.
Der Begründer der Kategorienlehre ist Aristoteles
(384 bis 322), der zehn
Kategorien annahm:
Substanz, Quantität,
Qualität,
Relation, Ort,
Zeit, Lage, Haltung, Tun und Leiden (substantia, quantitas,
qualitas, relatio, ubi, quando, situs, habitus, actio, passio; ousia (oder ti
esti),
z.B. Mensch, Pferd, poson, z.B. zwei, drei Ellen lang, poion, z.B. weiß,
grammatisch, pros ti, z.B. doppelt, halb, größer, pou, z.B. im Lyzeum,
auf dem Markte, pote, z.B. gestern, im vorigen Jahre, keisthai, z.B. liegt,
sitzt, echein, z.B. ist beschenkt, bewaffnet, poiein, z.B. schneidet, brennt,
paschein, z.B. wird geschnitten, gebrannt).
Diese Aufzählung in seiner »Topik« (I,
9 p. 103 b 22 ff.) hat Aristoteles später
verlassen. Er lässt die Kategorien keisthai
und echein fallen, so dass eine Achtzahl
entsteht (Analyt. post. I, 22, p. 8