Friedrich
Kirchner (1848 – 1900) - Seite 2
Mathematik
(gr. mathêmatikê sc.
epistêmê), S. 350 ff.
eigtl. Wissenschaft überhaupt, heißt die Quantitätslehre.
Alle Bestimmung von Quantitäten erfolgt aber durch Zahlen und anschaulich
gegebene Größen. Die Mathematik ist also die Wissenschaft von den
Zahlen und den Größen.
Die Größen können Raum-, Zeit-, Bewegungs- oder Kraftgrößen
sein.
Das allgemeinste grundlegende Gebiet der Mathematik ist die Lehre von den Zahlen
(Arithmetik und Algebra).
Zahlen sind diejenigen Verbindungen gleichartiger Vorstellungen oder Objekte
(Einheiten) im Bewusstsein, in denen jedes dieser Objekte als niedere Einheit
getrennt für sich bestehend und zugleich doch alle Objekte im Bewusstsein
auf einmal zu einer Einheit verbunden gedacht werden.
In der Zahl liegt also ein Bewusstsein zugleich stattfindender Trennung und
Verbindung, der Begriff des Ganzen und seiner Teile.
Zahlen sind die abstraktesten Formen, in denen das Gesetz des diskursiven Denkens (Trennen und Verbinden) zum Ausdruck kommt und für die Anwendung auf Größen
geformt wird.
Die Arithmetik ist daher der Teil der Mathematik, auf den sich alle anderen
stützen. Ohne Zahlenbestimmungen und Rechnungsoperationen lässt sich
im Gebiete der Größen nicht arbeiten.
Einen Hauptteil der Mathematik bildet dann zweitens die Lehre vom Räume
(Geometrie).
Aber Arithmetik und Geometrie machen nicht die Gesamtmathematik aus und stehen
nicht im Verhältnis der Beiordnung. Vielmehr wendet die Geometrie überall
die Gesetze der Zahlenlehre an, und mit der Kombinations- und Reihenlehre tritt
der Begriff der Sukzession und der Zeit, mit der Differential- und Integralrechnung
der Begriff der Veränderungs-, der Bewegungsgrößen in die Mathematik
ein. Werden Zahl, Raum-, Zeit-, Bewegungsgrößen zusammengefasst,
so dienen sie zur Bestimmung der Kraftgrößen (siehe das über
das CGS-System unter Maß Gesagte).
So bildet die Mathematik eine Fülle von Einzelgebieten aus und lässt
Anwendungen in allen Wissenszweigen zu, wo Größenbestimmungen nötig
sind, namentlich im Gebiete der Astronomie, Geodäsie, Physik usw. –
Die Methode der Mathematik ist im Wesentlichen deduktiv. Sind die Grundbegriffe
eines ihrer Gebiete gegeben, so lässt sich aus diesen schrittweise die
ganze Wissenschaft folgern; von der Idee der Zahl z. B. kommen wir schrittweise
zum Aufbau der Zahlenreihe, zu der Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division,
Potenzierung, Radizierung, Logarithmierung und könnten von da aus weiter
noch höhere Rechnungsarten entwickeln. Aber die Grundbegriffe der Mathematik
beruhen ebenso auf der Erfahrung wie die Begriffe anderer Wissenschaften.
Die Mathematik ist wohl im Aufbau und in der Methode rational, nicht aber in
ihrem Ursprunge. Zahlen bauen sich nur auf Empfindungsgrößen, Raumgebilde
nur auf Anschauungen der Erfahrung auf. Der deduktive Charakter der mathematischen
Methode hat vielfach über ihr Wesen getäuscht, sie als reine Vernunftwissenschaft
erscheinen lassen, für die sie Kant nahm, und die Philosophie hat andrerseits
vergeblich versucht, sich mit mathematischer Methode aufzuhelfen.
Mathematik und Philosophie berühren sich nur wenig. Die Aufgaben der Philosophie
sind viel reicher als die der Mathematik. Sie will ein Weltbild liefern und
nicht nur Quantitätsverhältnisse bestimmen; aber es gibt ein Grenzgebiet
beider Wissenschaften, die Klarlegung des Wesens von Zahl, Raum, Zeit, Bewegung,
Kraft usw. Hier greifen sie ineinander.
Pythagoras (580 bis um 500) wollte allerdings das Wesen aller Dinge in der Zahl
finden und so Mathematik und Philosophie auf ein Prinzip zurückführen,
Platon (427-347), der keinen Nichtmathematiker (ageômetrêtos) als
Schüler aufnehmen wollte, fasste ebenfalls gelegentlich die Ideen als Zahlen auf, und die Neuplatoniker schlossen sich noch enger an die pythagoreische Lehre an.
Descartes, Spinoza, Leibniz, Wolf strebten danach, der Philosophie durch mathematische
Methode, die ersteren beiden durch geometrische Methode, die letzteren durch
einen calculus universalis, mehr Evidenz zu geben, und
Herbart (1776-1841) hat die Mathematik besonders auf die Psychologie angewandt,
ohne überhaupt eine Maßeinheit für psychologische Größen
zu besitzen. Aber gerade die Geschichte der Philosophie zeigt, dass die Verirrung
in mathematische Spekulationen und die Anwendung der mathematischen Methode
dem Philosophieren eher hinderlich als förderlich ist.
Kant hat demgemäß in der Kritik der reinen Vernunft im II. Teile
in der Methodenlehre (I. Abschn. v. d. Disziplin d. r. V.) scharf die Methode
der Mathematik und Philosophie geschieden. Mathematik ist ihm Wissenschaft aus
der Konstruktion der Vernunftbegriffe in der Anschauung, Philosophie Wissenschaft aus reinen Vernunftbegriffen. Vgl. Zahl. G. Michaëlis,
über Kants Zahlbegriff. 1884. Über Stuart Mills Zahlbegriff. 1888.
Maxime
(lat. maxima scil. propositio)
S. 352
heißt eine Art der Grundsätze des menschlichen Handelns. Im Unterschied
von den Gesetzen und Imperativen sind die Maximen subjektive Regeln. Jene sind
für jedes vernünftige Wesen, diese nur für den Willen des einzelnen
gültig. (Siehe Kant, Kr. d. pr. V., S. 36.)
Mechanismus
(nlt., franz. v.
gr. mêchanê = Maschine) S.
352f.
nennt man, im Unterschied vom Organismus,
ein Wesen, das nur durch äußere Kräfte, also Druck und Stoß,
in Bewegung gesetzt wird.
Mechanismus heißt ferner
die Weltansicht, welche das Geschehen in der Natur nur auf Ursachen und Kräfte
zurückführt und alle Zweckerklärungen ausschließt. Ihr
Gegensatz ist die Teleologie.
Vgl. Lamettrie, L'homme
machine. 1748.
Mensch
(ahd. mannisco, substantiviertes Adj. [menschlich],
abgel. von mann, dessen Grundbedeutung nicht feststeht) S.
354f.
ist das leiblich und geistig vollkommenste aller
organischen Wesen auf der Erde.
Der Mensch hat das ausgebildetste Nervensystem und Gehirn; seine Glieder, welche
symmetrisch geordnet sind, und die Richtung seiner Wirbelsäule bedingen
den aufrechten Gang, er übertrifft alle Tiere durch seine Sprachfähigkeit
und seinen Verstand. An Körperstärke wird er von manchem Tiere weit
überholt; auch haben diese vor ihm vielfach die Ausstattung mit natürlichen
Waffen voraus. Aber gerade durch seine Hilflosigkeit, Nacktheit und physische
Schwäche wird der Mensch zur Ausbildung seines Verstandes genötigt.
Er entwickelt sich langsamer als alle Tiere; aber um so höher reift sein
inneres Wesen, und er allein kommt unter allen Klimaten fort und nährt
sich durch die mannigfaltigste Nahrung.
Vor allem aber unterscheidet sich der Mensch von den Tieren dadurch, dass er
sich zur Person
herausbildet, d.h. zu einem selbstbewussten freien Wesen, das sein eigner letzter
Zweck ist. Während jene in die ihnen angeborenen
Instinkte und Vorstellungskreise
gebannt bleiben, entwickelt er seinen Geist
zu größerer Feinheit, Fülle und Tiefe. Sein Denken
verwandelt die Empfindungen
und Anschauungen
durch Reproduktion und Verallgemeinerung in Vorstellungen,
Begriffe und Ideen;
es verbindet sie zu Urteilen
und Schlüssen;
es macht Versuche, stellt Hypothesen
auf und konstruiert Systeme.
Alles das geschieht mit Hilfe des Verstandes
und der Sprache,
welche sich von Geschlecht zu Geschlecht vererben, fortentwickeln und vervollkommnen.
Durch Vernunft
erhebt sich sein Wille
über das dunkle, blinde Triebleben,
durch jene erhält er Motive, welche ihn von diesem frei machen, und Wissenschaft
und Sittlichkeit
führen ihn zum religiösen
Glauben hin. –
Der Mensch ist aber nicht bloß ein leiblich-geistiges,
sondern auch ein soziales Wesen
(politikon zôon Aristot.
Pol. I, 2 p. 1253 a 7). Durch Geschlecht und Sympathie wird
er zur Ehe, zur gesellschaftlichen Verbindung, zur Staatengründung geführt.
Das soziale Leben des Menschen in seinem Fortschreiten
bildet die Geschichte der Menschheit.
Eine Charakteristik des Menschen gab Herder (1744-1803)
in seinen »Ideen zur Geschichte der Menschheit«
(1784-1791), ferner
Kant (1724-1804) in seiner
»Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abgefasst«.
Königsberg 1798.
Eine Charakteristik des Menschen zu geben, welche die ideale Fähigkeit
desselben philosophisch bestimmen und empirisch ermitteln sollte, um in die
praktische Spitze einer Theorie
der Menschenbildung auszulaufen, war vor allem auch das Ziel W.
v. Humboldts (1767-1835), und er hat diese
Idee teilweise durch seine Sprachphilosophie verwirklicht.
Vgl. Anthropologie,
Humanität,
Makrokosmos.
Huxley, Stellung des Menschen, dtsch. v. Carus. Braunschweig
1863. Joh. Ranke, Der Mensch. Leipzig 1886.
Merkmal
(nota) S.
355f.
oder Prädikat
ist eine Vorstellung,
die zur Bestimmung einer anderen dient. Jeder Begriff
(notio) wird durch eine Reihe von Merkmalen
bestimmt; man analysiert (zergliedert) ihn also, indem man diese aufsucht. Durch
diese Zergliederung wird er deutlich. –
Widerstreitend heißen zwei Merkmale,
wenn sie sich aufheben, wie gut
und böse, einstimmig,
wenn sie, wie gut und schön,
miteinander bestehen können.
Konstitutiv, absolut, primitiv oder wesentlich
heißt ein Merkmal, ohne welches ein Begriff überhaupt
nicht denkbar ist.
Korrelativ heißen diejenigen
Merkmale, die sich gegenseitig
erfordern.
metamathematisch
S. 356f.
heißen die Spekulationen,
welche sich mit der Untersuchung nicht-euklidischer Räume, wie z.B. des
pseudosphärischen, hyperbolischen und
der mehrdimensionalen beschäftigen.
Unser dreidimensionaler Raum,
in dem ein Punkt durch drei voneinander unabhängige
Variable (oder durch Abstände von drei aufeinander
senkrechten Koordinaten) bestimmt ist und in dem das Parallelenaxiom
gilt, ist nicht der einzig denkbare, obwohl der einzig vorstellbare, sondern
nur eine Spezies des allgemeinen analytischen Begriffs, einer
n-fach bestimmten Mannigfaltigkeit.
In einem Raume von
n Dimensionen
würde jeder Punkt durch n voneinander
unabhängige Variable bestimmt.
Ein Raum von vier Dimensionen
z.B. ist logisch denkbar, wenn auch nicht vorstellbar.
Zu einer wirklichen Definition
des Raumes führen die metamathematischen
Spekulationen nicht, und die Theorie
n-dimensionaler Räume oder solcher Räume, in denen
die Summe der Dreieckswinkel
nicht 180° groß
ist, hat keinen wirklichen Erkenntniswert; aber sie haben die Bedeutung, dass
sie zeigen, dass unser Raum uns nicht unabhängig
von der Erfahrung
gegeben ist, und dass die geometrischen Axiome
nicht absolute
Notwendigkeit
in sich schließen, sondern auch nur Hypothesen
sind, wenn auch solche, die sich überall durch die Erfahrung bestätigt
haben.
Übrigens stammt die Idee andersartiger Räume, als der euklidische
ist, nicht erst, wie gewöhnlich behauptet wird, von Gauß,
Riemann, Lobatschewsky usw. her, sondern von Kant
(1724-1804), der sie in seinen
vorkritischen Schriften hinwirft. Vgl.
Kant, Gedanken von der wahren Schätzung
der lebendigen Kräfte (1747)
§9 ff. v. Helmholtz, Ursprung und Bedeutung d. geom. Axiome. Braunschw.
1876. Liebmann, Zur Analysis d. Wirklichkeit. 2. Aufl. 1880. B. Erdmann, Die
Axiome der Geometrie. Leipzig 1877.
Metapher
(gr. metaphora), S.
357
eigtl. Übertragung, dann Bild, heißt die Vertauschung des gewöhnlichen
Ausdrucks mit dem bildlichen, z.B. Balsam statt Trost, Klemme statt Verlegenheit.
Die Sprache, selbst
die philosophische, ist reich an Metaphern. Es gibt verschiedene Arten der Metapher.
Man setzt z.B. einen sinnlichen Ausdruck für den anderen (ein
Wald von Masten); oder man vergeistigt das Sinnliche durch Personifikation
(das Meer tobt); oder man versinnlicht das Geistige
(die Säule des Staates); oder man vertauscht
ein geistiges Bild mit einem andern (Kraft ist dein Wort).
Metaphorisch bedeutet bildlich, uneigentlich.
Metaphysik
(gr. ta meta ta physika = die Bücher
des Aristoteles hinter der »Physik«)
S. 357 ff.
heißt die Wissenschaft,
die es mit den letzten Gründen
alles
Daseins zu tun hat, also mit dem, was
über der Natur,
was hinter der Erscheinungswelt liegt, was die
eigentliche Wirklichkeit ausmacht.
Aristoteles (384-322) nannte sie »Weisheit«
oder »erste Philosophie«
(sophia, prôtê philosophia).
Diese Wissenschaft ist der älteste
Teil der Philosophie.
Solange Menschen sind, haben sie nach dem Wesen,
Grunde oder Zwecke der Dinge gefragt, nach dem, »was
die Welt im Innersten zusammenhält«. Sie ist auch
der schwierigste, immer neue Lösungsversuche herausfordernde und der wichtigste
Teil der Philosophie; denn sie behandelt die Fundamentalbegriffe,
welche von allen anderen Wissenschaften
vorausgesetzt werden: Wirklichkeit,
Sein, Werden,
Raum, Zeit,
Bewegung, Ding,
Veränderung,
Ursache, Wirkung,
Grund, Folge,
Zweck, Kraft,
Stoff usf.
und somit alle die großen Rätsel- und
Grundfragen des Daseins.
Dass über die letzten Begriffe
des Daseins die Ansichten sehr
auseinander gehen müssen, ist natürlich; daher ist die
Geschichte der Metaphysik die der theoretischen Spekulation
überhaupt. Viele Philosophen, so zum Beispiel
die Skeptiker,
die Naturalisten
und Positivisten,
lehnen die Metaphysik
gänzlich ab, aber die meisten
Denker haben doch nach Metaphysischem Abschluss
ihrer Weltansicht gestrebt.
Nachdem die Hylozoisten
(5. Jahrh. v. Chr.) einen einzelnen
mit Kraft belebten Stoff
als Prinzip angenommen
hatten,
Pythagoras (580 bis um
500) die Zahl
als das Wesen der
Welt betrachtet,
Herakleitos (um 500 v. Chr)
die Welt in einen ewigen
Werdeprozess,
die Eleaten (6.
u. 5.Jahrh.) in ein starres unveränderliches
Dasein umgewandelt,
Empedokles (484-424)
Mischung und Entmischung der Stoffe durch
Liebe und Hass,
Anaxagoras (500 bis 428)
Stoff und ordnenden
Geist angesetzt
hatte,
bemühten sich Platon (427-347)
und Aristoteles (384-322)
um die Feststellung des Verhältnisses von Materie
und Geist, Stoff und Form,
Einzelnem und Allgemeinem.
Platon schrieb den allgemeinen
Begriffen Dasein
zu und nannte sie Ideen.
Aristoteles gab den allgemeinen
Begriffen nicht
Sonderexistenz, sondern
verlegte sie in das Einzelne. Den Stoff aber dachte er sich als ein Mögliches,
noch nicht Wirkliches, in beständiger Fortentwicklung
zur Form, dem eigentlich Wirklichen. Die Anschauungen dieser zwei Denker haben
dann das Mittelalter beherrscht.
Durch Hinzunahme christlicher Dogmen und empirischer Naturerkenntnisse wurden
die metaphysischen Fragen noch komplizierter. In der neueren Philosophie waren
die Lösungsversuche entweder
monistisch (Spinoza,
Leibniz, Fichte, Schelling,
Hegel, Herbart, Schopenhauer,
v. Hartmann, Lotze,
Fechner), oder
dualistisch
(Cartesius, Malebranche).
Daneben traten Philosophen wie Locke, Hume
hervor, welche im Grunde der Metaphysik alle Berechtigung absprachen und, dem
Skeptizismus huldigend,
dasjenige, was die Metaphysik bisher gelehrt, für subjektive Aussagen unserer
Vernunft ansahen.
Kant (1724-1804) nahm
eine eigentümliche Stellung zur Metaphysik ein, die ein Gemisch von Hinneigung
und Scheu war. Er kam zu dem kritischen Resultat, dass wir die Dinge
nicht erkennen, wie sie sind, sondern nur, wie
sie uns erscheinen. Er schränkte also das Wissen auf das Erfahrungswissen
ein und verstand unter wissenschaftlicher Metaphysik zunächst nur Vernunftkritik,
aber er hatte ein darüber hinausweisendes metaphysisches
Bedürfnis, neigte zum Idealismus
und hielt an der Idee einer übersinnlichen
intelligiblen
Welt fest. So baute er die Metaphysik
auf praktische Postulate
auf und schuf eine Art Ethiko-Metaphysik
(Ethikotheologie),
eine Lehre vom höchsten
Gute mit den Ideen Gott,
Freiheit und
Unsterblichkeit.
Nach Kant haben Fichte, Hegel,
Schelling, Schopenhauer usw. die Metaphysik wieder zum Kern der Philosophie
zumachen gesucht.
Nachdem aber A. Comte (1798-1857) verkündet
hat, das metaphysische Zeitalter sei vorüber, haben sich viele der »exakten«
oder »wissenschaftlichen« Philosophie
gewidmet und die Metaphysik gemieden. Aber die Metaphysik ist weder überflüssig
noch aussichtslos, wenn sie nur auf kritisch-exaktem Grunde ruht und sich bewusst
ist, dass alle ihre Aussagen sich in den Formen unseres Bewusstseins
bewegen müssen, und wenn sie die Resultate, welche die exakte Forschung
erzielt, zu ausprechenden Hypothesen
benutzt. Unter den Richtungen der Metaphysik ist die dualistische, die zwei
Prinzipien, Körper und Geist annimmt,
am wenigsten befriedigend.
Sie ist auch in der neueren Philosophie eigentlich nur bei Cartesius
und seinen Nachfolgern vorhanden gewesen, und soweit in der Kantischen
Philosophie Dualismus
lag, ist er sofort durch die deutschen Idealisten umgebildet worden. Im Monismus
sind drei Zweigrichtungen denkbar, der Realismus,
der Idealismus
und die Identitätsphilosophie,
die Metaphysik der körperlichen, geistigen
und absoluten Wirklichkeit. In der Ausbildung der idealistischen
Richtung, zu der auch die Resultate der Naturwissenschaft und der Erkenntnistheorie
hinleiten, hat die deutsche Philosophie am meisten getan, und der deutsche Geist
dürfte auch dauernd in dieser Richtung seine Befriedigung finden.
Vgl. Kant, Prolegomena z. e. jed. künft. Metaphys.
1783. Schwab, Welches sind die Fortschritte, die die Met. seit Leibniz gemacht
hat? 1796. Herbart, Einl. in die Philos. 1813. Beneke, Syst. d. Metaph. 1840.
Ulrici, Glauben und Wissen. 1858. Lotze, Metaph. 1879. Frohschammer, die Phantasie
als Grundprinzip. 1877.
Metempsychose
(franz. métempsychose,
vom gr. metempsychôsis, das von meta = um und empsychoô
= beseelen abgeleitet ist),
S. 359
Umseelung, Seelenwanderung,
heißt die Wanderung der menschlichen Seele
durch verschiedene tierische und menschliche Körper.
Die Annahme einer solchen Seelenwanderung
beruht sowohl auf dem Pantheismus,
der alles für beseelt hält, als auch auf dem Dualismus,
wenn er die Erde als einen Straf- und Läuterungsort annimmt.
Wir finden die Lehre von der Metempsychose
oder Metensomatose (Körperwechsel)
beim Brahmaismus und Buddhismus,
bei der ägyptischen Geheimlehre, bei Pherekydes
und Pythagoras, Empedokles,
Platon, Plotinos, Pindaros,
Cicero und Vergilius,
auch in der Kabbâla,
bei den Manichäern,
amerikanischen Wilden und afrikanischen Negern.
Schon Aristoteles hat dagegen das schlagende
Argument geltend gemacht, dass sich die Seele nicht
gleichgültig gegen ihren Körper
verhalte.
Vergleiche Unsterblichkeit.
Methode
(gr. methodos v. meta =
nach u. hodos = Weg) S.
360f.
heißt das planvolle und zusammenhängende Verfahren zur Erreichung
eines bestimmten Zweckes auf wissenschaftlichem oder auf praktischem Gebiete.
Der Gegensatz dazu ist das planlose, unzusammenhängende Vorgehen, das von
subjektiven Einfällen Willkürlichkeiten und Zufällen geleitet
wird. Unentbehrlich ist die Methode für den Aufbau der Wissenschaft, so
dass methodisch und wissenschaftlich dasselbe ist. Jede Wissenschaft bedarf
aber einer eigenen Methode und muss sie für sich ausbilden. Die allgemein
wissenschaftliche Methodenlehre ist dagegen ein Teil der Logik (s. d.). Sie
unterscheidet im Wesentlichen zwei Arten der Methode. Die Ableitung allgemeiner
Gesetze aus einer Vielheit beobachteter Fälle ist die induktive Methode
(s. Induktion). Sie ist die Methode mehrerer Gebiete der Naturwissenschaften.
Die Ableitung dagegen von Folgerungen aus Prinzipien und Hypothesen durch Schlüsse
ist die deduktive Methode (s. Deduktion). Sie ist die Methode der Mathematik.
In vielen Wissensgebieten, wie z.B. der Physik, finden beide Methoden ihren
Platz. Jene heißt auch regressiv oder analytisch, diese progressiv oder
synthetisch oder konstruktiv. Je nachdem ferner das Ganze der Wissenschaft vorausgesetzt
oder entwickelt, gegeben oder gesucht wird, unterscheidet man die systematische
Methode von der heuristischen oder genetischen Methode. Die Anwendung einer
falschen Methode führt die Wissenschaft auf Abwege oder hindert ihren Fortschritt
(s. Mathematik). So war es z.B. ein Irrweg des Spinoza und Wolf, wenn sie die
mathematische Methode, die von Erklärungen und Axiomen zu Lehrsätzen
fortschreitet, für die einzig wissenschaftliche hielten und auf die Philosophie
übertrugen. In dieser gilt ebenso der Weg von den Erfahrungen zu den Gesetzen
wie das Entwickeln und Ausdenken der Ideen.
Als kritische Methode bezeichnen wir die Methode Kants, die Funktionen der reinen
Vernunft als die Formen von dem aus der Erfahrung herrührenden Bestandteile
unserer Erkenntnis, dem Inhalte, abzusondern und ihren Bestand im einzelnen
durch Analyse nachzuweisen; dialektisch nannte Hegel die von ihm angewandte
Methode, die von einem Begriff zu dessen Gegenteil und von da zu einer höheren
Synthese der Gegensätze, also von einer Position zu einer Negation und
von da zu einer affirmativen Totalität emporsteigt (s. Dialektik).
Was den mündlichen Vortrag einer Wissenschaft, den Unterricht, betrifft,
so unterscheidet man die akroamatische Methode (zum Anhören nötigende
Vortragsmethode), (vgl. akroamatisch) von der erotematischen (dialogischen,
katechetischen, Sokratischen, Fragemethode, Vgl. erotematisch). Nach der ersteren
trägt der Lehrende im Zusammenhange vor, dem Hörer das Verständnis
überlassend, nach der letzteren sucht er durch Frage und Antwort den Stoff
dem Schüler schrittweise zu übermitteln. Innerhalb der schriftlichen
Darstellung einer Wissenschaft unterscheidet man die darstellende und entwickelnde
Methode. Darstellend heißt die Methode, welche das System einer Disziplin
vorführt und der Regel das Beispiel folgen lässt, entwickelnd die,
welche zur eignen Erzeugung der Gedanken anleitet und vom Beispiel zur Regel
führt. Jene deckt sich im Allgemeinen mit der systematischen, diese mit
der heuristischen Methode. Die entwickelnde Methode ist besonders für die
Darstellung der Philosophie geeignet. Endlich unterscheidet man noch die gelehrte
M. von der populären, von denen sich jene an die Fachleute, diese an die
Gebildeten überhaupt wendet. Den wissenschaftlichen Methoden reihen sich
die praktischen Methoden an, die unaufzählbar sind. Zu zahllosen Methoden
in der Gewinnung bestimmter Körper führt uns schon die Chemie und
noch viel mehr die Praxis des Lebens.
Vgl. W. Wundt, Logik II. 1881. Stuart Mill, induktive
u. deduktive Logik, dtsch. von Schiel. 1849.
Mitleid
S. 364
heißt die Teilnahme am Unglück anderer und die hieraus entspringende
Bereitwilligkeit, den Leidenden zu helfen. Diese Art des Mitgefühls ist
viel verbreiteter als die Mitfreude, weil die Mitfreude schwer ist, und weil
sich im Mitleide zu der Unlust des Leidens auch eine Art von Lust (the luxury
of pity), nämlich die Steigerung des Selbstgefühls, die aus dem Bewusstsein,
anderen helfen zu können, entspringt, und das Bewusstsein, augenblicklich
selbst nicht zu leiden, hinzugesellt; Mitleid schmeichelt dem Selbstgefühl und geht, wo es werktätig und bleibend wird, leicht in Liebe über, Mitfreude dagegen hat die Liebe schon zur Voraussetzung. Trübsinn und Kummer
disponieren zum Mitleid; doch bleibt das so entstandene Mitleid meist nur kontemplativ;
der Heitere und Glückliche entledigt sich desselben durch schnelle Tat.
Stolz weist geschenktes Mitleid zurück, während Eitelkeit es sucht.
Der gewöhnliche Mensch will lieber beneidet als bemitleidet sein. –
Nach Schopenhauer (1788-1860),
Die beiden Grundprobleme der Ethik, ist
das Mitleid die einzige moralische Triebfeder, die Quelle aller freien Gerechtigkeit und aller echten Menschenliebe.
Nach Nietzsche (1844 bis
1900) taugt das Mitleid gar nichts.
Eine große Rolle in der Erörterung der ästhetischen Frage vom
Wesen des Tragischen hat die Definition des Mitleids, die Aristoteles gibt,
gespielt: estô dê eleos lypê tis
epi phainomenô kakô phtharktikô kai lypêrô tou
anaxiou tynchanein ho kan autos prosdokêseien an pathein ê tôn
autou tina, kai touto, hotan plêsion phainêtai: Es
sei Mitleid die Trauer über ein sichtbares, verderbliches und leidbringendes
Übel, das jemand trifft, der es nicht verdient, und von dem man wohl vermuten
könnte, dass man selber oder dass einer unserer Angehörigen es erleiden
könnte, besonders wenn es nahe erscheint.
Rhet. II 8, p. 1385 b 13 ff.
Schon Lessing in der Dramaturgie
(Stück 75) erörterte den Aristotelischen Begriff des Mitleids ausführlich.
Mittel
S.364f.
heißt dasjenige, was zur Erreichung eines Zweckes dient. Es steht
in der Mitte zwischen Wollen und Erreichen. Man stellt sich zunächst eine Wirkung vor und begehrt dieselbe (Zweck); hierauf begehrt man die Ursache oder
den Ursachenkomplex, durch den diese Wirkung (Zweck) herbeigeführt werden
kann (Mittel). Schließlich führt die in Tätigkeit gesetzte Ursache
die Wirkung herbei; dann ist der Zweck erreicht.
Das Vorstellen und Begehren des Zwecks verursacht also das Vorstellen und Begehren
des Mittels. Der vorgestellte und begehrte Zweck ist die Ursache der Vorstellung
und Begehrung des Mittels; aber das Mittel selbst ist die wirkliche Ursache
des erreichten Zwecks. Mittel und Zweck setzen also die subjektive und objektive Welt zugleich voraus und stehen in einem zwiefachen ursächlichen Verhältnis.
Der gewollte Zweck ist die Ursache des gewollten Mittels, und das reale Mittel ist die Ursache des realisierten Zwecks.
Aber Mittel und Zweck können auch in ein doppeltes subjektives und doppeltes
objektives Verhältnis des Gegensatzes zueinander treten. Im Subjekte kommt
der zwiefache Gegensatz zum Ausdruck, wenn man das Mittel begehrt, ohne den
Zweck herbeizuwünschen oder wenn man den Zweck wünscht, aber das Mittel
verabscheut.
Das Geld z.B. will man im Allgemeinen als Mittel erwerben, um bestimmte Wünsche
zu befriedigen. Aber der Geizige begehrt das Geld, ohne es zu verwenden. Umgekehrt
ist der Zweck der Arznei die Heilung einer Krankheit. Aber der Kranke begehrt
oft zwar gesund zu werden, weist aber doch jede Arznei zurück. Im Objekte
liegt der zwiefache Gegensatz, falls zwischen Mittel und Zweck kein entsprechendes
Wertverhältnis stattfindet.
Der Zweck kann gut, aber das Mittel schlecht, oder umgekehrt, das Mittel erlaubt,
aber der Zweck verwerflich sein. Darum darf weder der Satz gelten: »Der
Zweck heiligt das Mittel«, noch umgekehrt: »Das
Mittel heiligt den Zweck«.
Modalität
(franz. modalité von lat. modus =
Art und Weise) S. 366f.
bezeichnet zunächst allgemein die Art und Weise, wie etwas geschieht oder
gedacht wird.
Nach Kant (1724-1804), der den Begriff enger fasst, ist Modalität eine
Prädikatsbestimmung im Urteile, durch welche dem Subjektsbegriffe kein Merkmal hinzugefügt, sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen,
die Art der Gewissheit der Urteile bezeichnet wird. »Die Modalität
der Urteile ist eine ganz besondere Funktion derselben, die das Unterscheidende
an sich hat, dass sie nichts zum Inhalte der Urteile beiträgt, sondern
nur den Wert der Kopula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht«
(Kant, Kr. d. r. V., S. 74).
Je nachdem im Urteile eine Sache für möglich (A kann B sein) oder
für wirklich (A ist B) oder für notwendig (A muss B sein) erklärt
wird, heißt das Urteil entweder problematisch oder assertorisch oder apodiktisch. Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit sind daher die Modalitätsbegriffe. Kant hält sie für besondere Funktionen, Stammbegriffe des Verstandes
(s. Kategorien), aber kaum mit Recht.
Die Modalität bezeichnet nur verschiedene Grade der Überzeugung von
der Wirklichkeit eines Dinges. Auch ist der Unterschied zwischen Wirklichkeit
und Notwendigkeit im Naturgeschehen kaum aufrechtzuerhalten. Was in der Natur geschieht, muss auch geschehen, da das Kausalitätsgesetz Ausnahmen nicht duldet. Vgl. Kategorien, Notwendigkeit. Vgl. Postulate des empirischen Denkens
und Urteils.
Modus
(lat. = Art und Weise) S. 367f.
ist die Art und Weise eines Dinges zu sein (m. essendi) oder zu handeln (m.
agendi). Da diese Art und Weise nun als das Unselbständige oder Veränderliche für nicht so wesentlich gehalten wird, wie die Substanz des Dinges, so
wird oft Modus mit Akzidenz (s. d.) gleichgesetzt.
Spinoza (1632-1677) versteht dagegen unter
Modus (Eth. I def. 5) »Zustände (affectiones) der Substanz oder das, was an einem anderen ist, durch das es auch vorgestellt
wird«. »Per modum intelligo substantiae
affectiones, sive id, quod in alio est, per quod etiam concipitur.«
Er denkt sich die Modi nicht als etwas Positives, das zur Substanz hinzukommt,
sondern als Negationen und Einschränkungen der Substanz (»omnis determinatio
est negatio«), wie ein mathematischer Körper vermöge seiner
Bestimmtheit eine Negation der unendlichen Ausdehnung ist. Die Modi entsprechen
daher bei Spinoza den nicht wahrhaft wirklichen vergänglichen Einzeldingen.
Modus
ponens und Modus tollens S.368
heißen die beiden Arten hypothetisch-kategorischer Schlüsse, in denen
ein hypothetisches und ein kategorisches Urteil verbunden ist. Jenes ist der
Schluss von der Setzung des Subjektes (des Grundes) im Untersatze auf die Setzung
des Prädikats (der Folge) im Schlusssatz; dieses der Schluss von der Aufhebung
des Prädikate (der Folge) im Untersatze auf die Aufhebung des Subjekts
(des Grundes) im Schlusssatz. Die Grundform ist:
1.
Wenn A gilt, so gilt B;
A gilt;
----------------------
also gilt auch B
2.
Wenn A gilt, so gilt B;
B gilt nicht;
----------------------
also gilt auch A nicht.
möglich
S. 368f.
heißt dasjenige, was den Bedingungen, der Erfahrung entspricht. Wir unterscheiden
das formal Mögliche und das real Mögliche.
In erster Linie muss das Mögliche den formalen Bedingungen der Erfahrung,
also den Denkgesetzen entsprechen.
Demgemäß definiert Kant Kr. d. r. V., S. 218: »Was mit den
formalen Bedingungen der Erfahrung übereinkommt, ist möglich.«
Diese logische oder formale Möglichkeit ist die Denkbarkeit einer Sache.
Das logisch Unmögliche ist also der Widerspruch in sich selbst (contradictio
in adjecto).
In zweiter Linie muss das Mögliche den realen Bedingungen der Wirklichkeit,
also dem Inhalte der Erfahrung, den Gesetzen, die wir in der Außenwelt vorfinden, entsprechen.
Das inhaltlich Denkbare heißt das real Mögliche.
Die reale Möglichkeit ist aber nicht ein Zustand der Außenwelt -
in ihr gibt es nur Wirkliches, nicht Mögliches; selbst potentielle Energie
ist wirklich vorhandene Energie, nicht nur mögliche Energie -,
sondern sie ist ein Verhältnis des menschlichen Gedankens zur Wirklichkeit.
Es war also falsch, wenn Aristoteles (384-322) die reale Möglichkeit als
ein rein physisches Verhältnis ansah und hiernach den Begriff der Materie
bestimmte. Er verstand unter Materie das Mögliche, das Noch-nicht-Seiende,
welches erst durch Hinzutritt der Form zum Wirklichen wird. So wird nach ihm
eine Bildsäule erst durch die Form wirklich, während sie aus dem Stoffe
nur werden kann. Die Materie ist nur »der Möglichkeit nach seiend« (dynamei on), die Form dagegen der Wirklichkeit nach seiend (energeia on) oder
(entelecheia on).
Aristoteles irrt aber, wenn er die Gestaltung des Stoffes durch die Form für
den objektiven Übergang des Möglichen ins Wirkliche ansieht. Der Stoff,
z.B. das Erz der Bildsäule, war, bevor er in die neue Form gebracht wurde,
auch schon wirklich, auch schon geformt; nur in Bezug auf das Kunstwerk betrachten
wir ihn als formlosen Stoff. Der subjektive Begriff des Möglichen ist also
von Aristoteles fälschlich in die objektive Welt hineingetragen. –
Zu weit ist andererseits die Definition der Möglichkeit, die Chr. Wolf (1679-1754) im Anschluss an Leibniz gegeben hat: »Möglich ist, was
nichts Widersprechendes in sich enthält.«
Sie bestimmt den Begriff der Möglichkeit nur rational ohne Beziehung auf
die Erfahrung. –
Wir unterscheiden auch das psychisch und das moralisch Mögliche. Ich kann manches, was ich nicht darf. Das psychisch Mögliche kann also geschehen,
das moralisch Mögliche darf geschehen; jenes ist das Ausführbare,
dieses das Erlaubte. Vergleiche Form, Modalität, Kategorie.
Vgl. F. A. Lange, Gesch. d. Materialismus I, 162 f.
Monade
(gr. monas)
S. 370f. Siehe auch
bei Eisler
heißt eigtl. Einheit, bezeichnet also den Grund-Zahlbegriff, aus dem alle
anderen Zahlen entstehen, wie denn auch Eukleides sagt (Elem. 7, 1-2):
Monade ist der Begriff, durch den ein jeder Gegenstand, der ist, eins genannt
wird, und: die Zahl ist eine aus Monaden zusammengesetzte Vielheit, Monas
esti kath' hên hekaston tôn ontôn hen legetai. - 'Arithmos
de to ek monadôn synkeimenon plêthos. –
Von vornherein aber verband die Philosophie mit dem arithmetischen Begriff auch
eine metaphysische Bedeutung.
So stellt Pythagoras (ca. 500 v. Chr.) Monas und Dyas (Einheit und Zweiheit) als Prinzipien nicht nur der Zahlen, sondern auch der Dinge auf.
Platon (427 bis 347) verstand unter den Monaden oder Henaden die Ideen, die allgemeinen Begriffe, denen substanzielles Dasein zukommt, und welche die ewigen
Wesenheiten der Dinge sind.
Auch die Atome des Leukippos, Demokritos und Epikuros wurden als Monaden bezeichnet.
Demgemäß nahm Giordano Bruno (1548-1600) als Prinzipien sog. Minima
oder Monaden an, die ihm punktuell, doch nicht schlechthin unausgedehnt, sondern
sphärisch und sowohl psychisch als auch materiell waren.
Diesen Gedanken bildete Leibniz (1646-1716) um. Seine Monaden sind in sich geschlossene,
vollendete, selbständige, punktuelle Einheiten (Entelechien), sich selbst
genügend (mit Autarkie), ohne Wechselverkehr nach außen (sie haben »keine Fenster«), aber mit Vorstellungskraft. Sie sind unräumlich und dem Wesen nach Seelen; Leibniz nennt sie daher auch »âmes«.
Der Form nach kommt also bei Leibniz der metaphysischen Substanz Einheit und
Individualität zu, dem Inhalte nach Vorstellung. Diese hat aber verschiedene
Grade: Sie ist bloße Perzeption, d.h. verworrene, zum Teil unbewusste
Vorstellung, oder Apperzeption, d.h. Vorstellung mit Bewusstsein und Erinnerung,
oder endlich noch mit Reflexion und dem Bewusstsein allgemeiner Wahrheiten verbundene
Vorstellung. Obgleich Leibniz sich die Monaden als unveränderlich und ewig
denkt, nimmt er doch im Widerspruch damit noch theistisch einen Gott als Urmonade an, deren Effulgurationen [Hervorblitzungen], die anderen Monaden sein sollen. Den Zusammenhang zwischen den Monaden findet Leibniz in der prästabilierten Harmonie. (Vgl.
Kirchner, Leibniz' Psychologie. 1875.)
Sein Gedanke ward nach Kant, der die Monadenlehre Leibniz' in der Kr. d. r.
V. bekämpfte (Amphibolie der Reflexionsbegriffe), wieder von Herbart (1776
bis 1841) aufgenommen, der als metaphysische Prinzipien die Realen aufstellt,
d.h. einfache, unräumliche, quantitätslose, an sich unveränderliche Einheiten von einfacher Qualität. Aber diese Realen sind nicht wie bei Leibniz innerlich lebendig und mit Vorstellungskraft, sondern mit der Kraft
der Selbsterhaltung wider Störungen ausgestattet. Obgleich die Realen von
einfacher Qualität sind, so sind sie doch verschieden und bringen durch
ihr »Zusammensein« alle körperlichen und geistigen Vorgänge
hervor.
Lotze (1817-1881) verband Spinozismus und Leibnizische Monadologie und nahm
als das wirksame Reale in der Natur unendlich viele diskrete Ausgangspunkte
der Wirkungen an, ließ aber diese Kraftzentren durch eine Substanz, die
jedoch persönlich gedacht ist, umfasst werden.
Ähnliche Auffassungen der Monaden finden sich bei J. H. Fichte (1796-1879), M. Carriere. Vgl. J. Frohschammer, Monaden und Weltphantasie. 1879.
Die Monaden werden also in der Regel als die letzten Bestandteile des Daseins, als unendlich an Zahl und als metaphysische Einheiten gedacht, während
den entsprechenden physischen Einheiten in der Regel der Name Atom verbleibt. –
Monaden im naturwissenschaftlichen Sinne sind nicht Atome, sondern so viel als
Korpuskeln.
Monismus
(v. gr. monos =
einzig) S. 371f. Siehe
auch bei Eisler
heißt im Gegensatz zum Dualismus jedes metaphysische
System, welches nur ein Prinzip annimmt, mag dies der Stoff (Realismus, Materialismus),
der Geist (Idealismus, Spiritualismus)
oder ein Drittes, das Absolute sein, dessen Erscheinungen
Stoff und Geist sind (Identitätsphilosophie).
In besonderer Bedeutung nimmt in neuerer Zeit das
Wort Monismus die von Haeckel und Noack (der monistische
Gedanke, Leipzig 1875) vertretene Auffassung,
dass den Grundbestandteilen des Wirklichen sowohl Körperlichkeit als auch psychische Tätigkeit (Empfindung)
innewohne, so dass sie zugleich geistig und materiell seien, für sich in Anspruch.
Der Haeckelsche Monismus beruht
auf materialistischer Grundlage, ist dem Hylozoismus der Griechen verwandt und entlehnt Züge aus dem Parallelismus
Spinozas. Vergleiche
Metaphysik.
Die monistischen Systeme unterscheiden sich im Einzelnen dadurch, dass der
Geist, Körper und das Absolute selbst wieder als eine numerische Einheit oder Vielheit gedacht werden,
kann.
Den Geist als Einheit hat z.B. Hegel genommen, als eine Vielheit von Ideen Platon,
von Seelen Leibniz,
den Körper als Einheit die Eleaten,
als eine Vielheit von Homöomerien Anaxagoras,
von Atomen Leukippos und Demokritos.
Im Absoluten sah
eine Einheit Spinoza,
eine Vielheit Schleiermacher.
Monotheismus
(nlt. v. gr.
monos = einzig u. theos
= Gott) S.
373 Siehe auch
bei Eisler
heißt der Glaube,
dass das göttliche Wesen
der Zahl nach nur eins
sei.
Gegensätze sind Dualismus
und Polytheismus.
Zum Wesen des Monotheismus
gehört nicht unbedingt, dass
man Gott sich als
Person vorstelle,
wie es der Theismus
tut. Auch Pantheismus
und Deismus sind
monotheistisch. Doch ist der Theismus
die natürlichste Form
des Monotheismus.
Die Vorstufe des Monotheismus
ist dagegen der Henotheismus,
welcher zwar einen Gott
verehrt, die Existenz anderer jedoch nicht leugnet.
Der Monotheismus ist das Produkt
des theoretischen
und des ethischen
Bedürfnisses.
Die drei großen monotheistischen Religionen
sind Judentum, Christentum und Islam.
Moral
(lat. mores =
Sitten, davon abgeleitet moralis u. franz.
morale) S. 373
bezeichnet sowohl die Sittlichkeit als auch Sittenlehre.
Vergleiche Ethik.
Ein Mensch ohne Moral ist
ein unsittlicher Mensch; moralisch
tot bedeutet ohne Ehre.
Moralische Person ist dasselbe wie juristische
Person, d.h. ein Begriffswesen, welches Rechte erwerben und ausüben
kann.
Moralische Wissenschaften bedeuten
a. a. geistige Wissenschaften, die sich mit der
Erforschung des geistigen Lebens beschäftigen;
moralische Weltordnung ist nach J. G.
Fichte der sittliche Zusammenhang der Welt;
moralische Überzeugung ist
die durch das Gewissen
gebundene Überzeugung.
Moralischer Beweis für Gottes Dasein ist der Beweis
Kants, siehe
Gott.
Moralist
S. 373
bedeutet Sittenlehrer, Moralphilosoph,
im tadelnden Sinne Sittenrichter.
Moralisieren heißt sittliche Betrachtungen anstellen,
den Sittenrichter spielen.
Amerikanische Moralisten sind John Edwards
(1703-1758), Rowland G. Hazard
(Freedom ofmind in willing 1864)
und Ch. G. Shields Final (Philosophy
1879).
Auch Adler und Salter
heißen so, weil sie die Religion
in die Moral gesetzt
und »die Gesellschaft für ethische Kultur«
begründet haben.
Vgl. Stanton, »Die ethische Bewegung in der
Religion«, dtsch. Leipzig 1890.
Moralprinzip
S. 373ff.
heißt ein fundamentaler Satz, welcher als höchste
Norm für den Willen aufgestellt wird.
Man unterscheidet formale und materiale Moralprinzipien;
jene berücksichtigen nicht das Objekt und Ziel des Handelns, sondern nur
die Art der Willensbestimmung (z.B. Kants kategorischer Imperativ);
diese fassen das Objekt der Handlung, Ihren realen Zweck ins Auge (Glück,
Güte, Vollkommenheit u. dgl.).
Gemischte Moralprinzipien berücksichtigen beides.
Die materialen Prinzipien sind stets empirisch, d.h. aus der Erfahrung abgeleitet,
und zwar
1. eudämonistisch, wenn sie das Wohl des einzelnen (Aristoteles) oder der
ganzen Gesellschaft erstreben (Epikur, Bentham);
2. rational oder idealistisch, wenn sie die Quelle der Sittlichkeit in der Vernunft
suchen (Leibniz, Herbart);
3. supernaturalistisch, wenn sie als Quelle Gott bezeichnen (Ulrici, Fichte).
Von den verschiedenen Philosophen sind recht mannigfaltige Moralprinzipien aufgestellt
worden.
Platon (427-347) lehrt: Versuche, so schnell als möglich aus dieser Welt
in jene zu fliehen! Die Flucht macht dich möglichst gottähnlich. Gottähnlichkeit
aber besteht darin, fromm und gerecht mit Einsicht zu sein (Theaet. 176 A peirasthai
chrê enthende ekeise pheugein hoti tachista. phygê de homoiôsis
tô theô kata to dynaton; homoiôsis de dikaion kai hosion meta
phronêseôs genesthai).
Aristoteles (384-422): Strebe nach Eudämonie! (eudaimonia, to eu zên,
to eu prattein).
Die Stoiker: Lebe in Übereinstimmung mit dir und der Natur!
Epikuros (341-270): Erstrebe Lust, d.h. körperliche und geistige Leidenslosigkeit!
Spinoza (1632 bis 1677): Das höchste Ziel ist die intellektuelle Liebe
zu Gott (amor intellectualis dei).
Leibniz (1646-1716): Strebe nach Vollkommenheit!
Pufendorf (1632-1694): Sei gemeinnützig!
Shaftesbury (1671-1713): Richtige Selbstliebe ist der Gipfel der Weisheit.
Smith (1723-1790): Handle deinem sittlichen Gefühle gemäß!
Kant (1724-1804): Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich
als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne!
Fries (1773-1843): Handle nach dem Grundsätze einer absoluten Wertgesetzgebung!
Fichte (1762-1814): Handle frei und selbsttätig!
Schelling (1775-1854): Handle als freies Individuum!
Hegel (1770 bis 1831): Die Sittlichkeit ist der zur vorhandenen Welt und zur
Natur des Selbstbewusstseins gewordene Begriff der Freiheit.
Schleiermacher (1768-1834): Mache die Natur zum Organ und Symbol der Vernunft!
Herbart (1776-1841): Bilde die Eigenart eines Vernunftwesens heraus, vermöge
deren es den praktischen Ideen gemäß Gegenstand des Beifalls wird!
Schopenhauer (1788-1860): Verneine den Willen zum Leben!
v. Hartmann (1842-1906): Sittlichkeit ist die Mitarbeit an der Abkürzung
des Leidens- und Erlösungsweges Gottes.
Beneke (1798-1854) fordert, dass man in jedem Falle dasjenige tue, was nach
objektiv und subjektiv wahrer Wertschätzung sich als das Höchste ergibt.
F. Nietzsche (1844-1900) lehrt: Nichts ist wahr, alles ist erlaubt! Leiden sehen
bereitet Lust, Leiden zufügen noch größere.
Vgl. E. v. Hartmann: Phänomenol. d. sittl. Bewußtseins.
1879. F. Kirchner, Ethik 1881. Mangel eines allgemeinen Moralprinzips 1877.
Mut
S. 377
heißt diejenige Furchtlosigkeit in Gefahren,
welche aus dem Bewusstsein eigener sittlicher Kraft entspringt. Der Mutige begibt
sich ruhig in Gefahren, die er nicht vermeiden kann, und besteht sie besonnen.
Der physische Mut beruht auf Körperkraft,
Temperament und augenblicklicher Stimmung, der moralische dagegen auf der Einsicht
in die sittliche Notwendigkeit einer Handlungsweise. Auch zeigt sich der Mut
nicht nur in der Unverzagtheit in Gefahren, sondern auch im Übernehmen
schwieriger oder unangenehmer Dinge, z.B. jemand die Wahrheit zu sagen, selbst
Unangenehmes zu hören, sich selbst zu prüfen und zu bessern, sein
Unrecht einzugestehen u. a.
Mutation
(lat. mutatio
= Veränderung) S. 377f.
nennt de Vries (geb. 1848)
die sprunghafte Entwicklung von Arten aus Arten
ohne Übergangsformen. Er sieht darin im Gegensatz zu Darwin
die normale Entwicklung. Seit Darwin
(1809-1882) galt bisher die Ansicht, dass neue Arten nur ganz allmählich
durch Häufung zahlreicher kleiner Abweichungen von den bestehenden Arten,
welche in erster Linie durch die Umgebung der Individuen bedingt werden, entstehen.
Auf Grund zahlreicher, umfassender und jahrelanger Züchtungsversuche mit
Oenothera Lamarckiana (Nachtkerze)
hat nun aber de Vries um
1900 die heute allgemein gültige Ansicht ausgesprochen, dass die
Darwinsche Ansicht von der alleinigen Erstehung
der Arten aus allmählicher Variation
falsch sei, dass vielmehr neue Arten aus einer bestehenden auch
ganz plötzlich entstehen und zwar aus Gründen, die noch nicht
erkannt sind, die aber nicht in der Umgebung, sondern im Innern der Pflanze
liegen. Für diese sprunghafte Entstehung der Arten
hat er den Namen Mutation gewählt. Arten, die jahrelang völlig unverändert Nachkommen
erzeugt haben, zeugen plötzlich Nachkommen mit völlig verschiedenen
sie zu neuen Arten stempelnden Merkmalen; und zwar erzeugt ein und dieselbe
Art nicht nur eine, sondern zahlreiche neue Arten, von denen jedoch nur wenige,
die der Umgebung am besten angepasst sind, neue Individuen zu erzeugen vermögen.
Von diesen neu erzeugten fortpflanzungsfähigen Arten bleibt der größere
Teil längere oder kürzere Zeit konstant, geht dann aber ein, während
der kleinere Teil nach einer gewissen Zeit der Konstanz abermals in eine
neue Mutationsperiode eintritt und demnach neue Arten erzeugt.
Mit dem Nachweise, dass eine Mutation stattfindet, ist selbstverständlich
nicht der Nachweis beseitigt, dass daneben allmähliche Änderungen
stattfinden, und das Wort Jean Pauls: »Die
physische Natur macht viele kleinere Schritte, um einen Sprung
zu tun, und fängt dann wieder von vorne an; das Gesetz der Stetigkeit
wird ewig vom Gesetze des Ab- und Aufsprungs beseelt«, klingt fast
wie eine Vorahnung des wahren Naturverhältnisses (Jean
Paul, Levana § 124).
Für die Vorgänge der Mutation will neuerdings
Jaekel den Namen Metakinese
anwenden, indem er nicht nur Abänderungen, bei denen ein physiologischer
Nutzen nicht vorhanden ist, sondern auch wesentliche, die Korrelation der Teile
stark beeinflussende und daher physiologisch sehr wichtige Umformungen ins Auge
fasst.
Mystagog
(gr. mystagôgos v. mystês =
Eingeweihter u. agôgos = Führer),
S. 378
heißt ursprünglich Führer in die Mysterien, dann Geheimniskrämer.
Mysterien
(gr. mystêria)
S. 378
hießen die Geheimlehren und -kulte der alten Ägypter, Griechen und
Römer, in welche man nur nach mancherlei Reinigungen unter Gelobung tiefster
Verschwiegenheit eingeweiht oder aufgenommen wurde. Es gab Mysterien zu Ehren
des Bakchos, des Zeus, der Demeter und der Isis, welche sämtlich die Probleme
vom Werden und Vergehen, vom Ursprung der Kultur, Geburt, Tod und Auferstehung
des Menschen allegorisch und symbolisch behandelten. Sie waren eine Art von
Religion für die Gebildeten, welche am Volksglauben irre geworden und zu
schwach waren, um konsequente Denker zu sein, jedoch religiöse Bedürfnisse
hatten.
Mystik
(von gr. mystika [Neutr.
Plur. von mystikos = geheim, den Geweihten heilig])
S. 379 Siehe
auch bei Eisler
heißt das Streben, Gott unmittelbar zu schauen, die religiöse Erkenntnis
Gottes durch Versenkung in sein Wesen, die innere Erleuchtung im Gegensatze
zum Glauben und zum Wissen.
Im Altertum findet sich die Mystik bei den Neuplatonikern.
Im Mittelalter hieß Mystik eine Richtung der Theologie, welche Gott nicht,
wie die Scholastik, durch den Verstand, sondern durch das Gefühl zu erfassen
suchte. Repräsentanten derselben waren Hugo und Richard v. St. Victor (1096
bis 1141), Bernhard v. Clairvaux (1091-1153), Meister Eckhart († 1329),
Heinrich Suso (1300-1366), Johann Tauler (1290 bis 1361), Jan v. Ruysbroek (1293-1381). Ihr Motto war: Tantum deus intelligitur, quantum diligitur, Gott wird soweit
begriffen, als er geliebt wird. Das Richtige hieran ist, dass die Religion Sache
der inneren Erfahrung ist, falsch aber ist der Satz als der Satz der Theologie,
soweit die Theologie eine Wissenschaft ist. Zuzugeben ist, dass alles gefühlsmäßig
Religiöse etwas Mystisches, d.h. logisch nicht ganz Fassbares an sich hat:
die Liebe, Freundschaft, Kunst u. a. Oft artet aber die Mystik oder der Mystizismus in regellose Phantasterei, wie z.B. bei Jakob Böhme († 1624), Imanuel
Swedenborg († 1772), Franz. v. Baader († 1841) u. a. aus.
Vgl.
Noack, Die christl. Mystik. 1853.
Mythus
(gr. mythos), S. 379
eigtl. Erzählung, heißt die religiös gefärbte Darstellung
von Vorgängen aus Natur- und Weltleben unter dem Bilde menschlichen Tuns
und Leidens. Die Wesen, welche durch Vermenschlichung der Natur- und Weltformen
entstanden sind, heißen Götter.
Der Mythus ist die Philosophie der kindlichen Menschheit. Unfähig, die
von ihr beobachteten Naturvorgänge objektiv zu denken, personifiziert und
idealisiert er dieselben, freilich immer in den Schranken der Menschlichkeit.
Aus den physischen Mythen entwickeln sich die ethischen Mythen. Die personifizierten
Naturkräfte werden als dem Menschen freundlich oder feindlich gedacht;
ihr Charakterbild wird weiter ausgemalt, Erlebnisse, Leiden und Taten ihnen
beigelegt. Zuletzt, bei näherer Berührung der Stämme, werden
die Stammgottheiten in ein genealogisches System gebracht.
Vgl. Creuzer, Symbolik und Mythol. der alten Völker.
2. Aufl. 1829. J. Lippert, der Relig. d. europ. Kulturvölker. 1881. Schultz,
Bibl. Theologie. 1870.
Nächstenliebe
S. 380f.
ist die Menschenliebe,
welche jedem ihrer Hilfe Bedürftigen die Hilfe zuwendet.
Das berühmte Gleichnis
von der Nächstenliebe ist das vom barmherzigen Samariter
(Luk. 10, 30 ff.).
Nativismus
S. 382 f.
ist die Lehre,
dass unserem Geiste
gewisse Anschauungen,
Begriffe,
Ideen
und
Grundsätze angeboren
seien, so dass der Mensch sie fertig auf die Welt bringe.
Der Nativismus hängt eng
mit dem Rationalismus
zusammen. Wer das Wissen
aus einer beschränkten Zahl allgemeiner Begriffe
und Grundsätze ableiten zu können vermeint,
kommt auch leicht dazu, das Allgemeinste
dem Geist als ursprüngliches
Besitztum zuzuschreiben.
Den Nativismus vertrat in der
griechischen Philosophie namentlich Platon
(427-347), für den das Erkennen Erinnerung
(anamnêsis,
vgl. Menon 13-21) war, in neuerer Zeit Descartes
(1596-1650); es bekämpfte ihn
Locke (1632 bis 1704), der alle angeborenen
Ideen und Grundsätze leugnete,
die Seele für ein leeres Blatt ansah, alles Wissen
aus der Erfahrung
ableitete und der rationalistischen Methode
Descartes' die empiristische
(genetische) Methode
entgegensetzte.
Leibniz (1646-1716)
nahm eine vermittelnde Stellung ein, indem er nicht
fertige Vorstellungen
und Grundsätze, wohl aber den Intellekt selbst
als angeboren ansah. -
Der Nativismus wird sodann Kant (1724-1804)
vielfach zugeschrieben auf Grund seiner Lehre von der Apriorität
von Raum, Zeit und
den Kategorien,
und erscheint auf den ersten Blick mit dieser Lehre tatsächlich verwachsen
zu sein. Aber Kant versteht unter a
priori nicht das Angeborene,
sondern das, was zwar aus der Vernunft
stammt, aber in und mit der Erfahrung sich entwickelt.
Kant ist daher kein
Nativist. Er erklärt Raum und Zeit für
erworben, aber nicht
für angeboren.
Der Nativismus ist überhaupt
eine den Tatsachen
widersprechende Theorie.
Alles Bewusste muss erst im Leben
erworben werden. Aber der Nativismus empfängt
seine Berichtigung durch die Entwicklungslehre.
Die von den vorausgegangenen Generationen erworbenen Fähigkeiten
vererben sich als Anlagen und müssen als angeboren
bezeichnet werden. Die einzelnen Vorstellungen
usw. werden dagegen stets erworben.
Natur
(lat. natura v. nasci
= geboren werden) S.
383ff.
bezeichnet allgemein alles, was ohne fremdes Zutun so ist, wie es sich darstellt,
alsosich nach den ihm innewohnenden Kräften und Gesetzen entwickelt. So
spricht man von der Natur der Dinge, der Planeten, der Elemente der Pflanzen,
der Tiere, der Menschen, ja auch des einzelnen Menschen.
Die Natur ist überall
der Gegensatz zum künstlich oder absichtlich Gemachten, mithin das Gegenteil von der Kultur, Kunst und Erziehung, ferner von der Absicht, Freiheit, Sittlichkeit.
Von den älteren Philosophen haben namentlich die Stoiker die Natur als
die Richtschnur des menschlichen Handelns angesehen (naturam sequi),
von den neueren hat vor allem J. J. Rousseau (1712-1778) die Natur im Gegensatz zur Kultur und Erziehung gepriesen. Ihm ist die erste
Regel der Erziehung, die Natur zu beobachten und den Weg zu verfolgen, den sie
vorzeichnet. –
In der Wissenschaft stellt man meist die Gebiete der Naturwissenschaften und
der Geschichtswissenschaften einander gegenüber.
Die Naturwissenschaften umfassen alles, was im Raume gegenwärtig existiert,
die Geschichtswissenschaften alles, was in der Zeit vor uns geschehen ist. Jene
suchen das Allgemeine, diese das Einzelne zu erfassen. Beide Gebiete haben aber
auch viel Gemeinsames; denn alle Gegenstände der Natur waren auch schon
früher, und alle Ereignisse der Geschichte müssen irgendwo geschehen
sein. Auch jedes Naturobjekt hat seine Geschichte, wie umgekehrt alle historischen
Begebenheiten ihre Naturseite haben.
Zwischen Naturgesetzen und geschichtlichen Gesetzen ist aber ein Unterschied.
Die Naturgesetze sind Formeln für die kausale Stetigkeit des Geschehens,
die historischen dagegen, weil sittliche, schließen auch den Begriff der
praktischen Willensfreiheit in sich ein. Vgl. Geschichte.
Fasst man den Begriff der Natur konkret, so heißt alles, was durch die
äußeren Sinne wahrnehmbar ist, Natur.
Je nach seiner Bildung und Weltansicht steht der Mensch der Natur verschieden
gegenüber, entweder praktisch oder ästhetisch oder theoretisch.
Auf dem ersten Standpunkt sucht sie der Mensch seinen Zwecken zu unterwerfen,
sie zum Organ seiner Tätigkeit zu machen, sie auszunutzen und zu beherrschen.
Auf dem zweiten Standpunkt fasst er sie mit seinem Gefühl auf. Seine Phantasie bevölkert sie mit lebenden Wesen, indem er ihre Produkte und Kräfte
personifiziert. So entstand die Naturreligion und Mythologie. Diese halb grauenvolle,
halb anheimelnde Vorstellung von der Natur als der Mutter alles Lebendigen,
der geheimnisvollen Macht ist ebenso religiös als poetisch. Allmählich
aber traten an Stelle jener Phantasien Begriffe, an Stelle der Personifikationen
Naturgesetze, und die theoretische Erforschung der Natur begann, die wieder
die Herrschaft des Menschen über die Naturkräfte steigerte.
Die Griechen setzten mit klarer Naturforschung ein, das Mittelalter mied die
Natur wieder, erst die Neuzeit entwickelte die Naturforschung im vollen Umfange,
und im 19. Jahrhundert hat die Naturforschung große Macht und Ausdehnung
gewonnen; man hat jetzt die Natur als einen festen, unveränderlichen Gesetzen
unterworfenen Mechanismus von unverlierbarer Masse und Energie anzusehen gelernt,
von dem jeder Zufall, jeder Verlust und jede Zutat ausgeschlossen ist. –
Die Stellung der Philosophie und Religion zum Begriffe Natur ist, wie leicht
begreiflich, eine sehr vielfach wechselnde gewesen.
Ein Teil der Philosophen sah in der Natur das Wirkliche, so die Hylozoisten, Herakleitos, Empedokles,
die Atomisten, Epikuros, die französischen Materialisten
des XVIII. und die Naturalisten des XIX. Jahrhunderts.
Die Religion der Griechen schrieb den Göttern nicht die Erschaffung, sondern
nur die Ordnung der Natur zu.
Das Judentum und das Christentum sah in der Natur Gottes Schöpfungswerk
(natura creata, natura naturata), die Stoiker, Spinoza, Goethe, Schelling u. a. betrachteten die Natur und Gott als eins (deus
sive natura, Gott - Natur).
Für die Eleaten, Platon, Fichte u. a. war
die Natur eine Scheinwelt,
ein Nichtseiendes, ein Nicht-Ich.
Aristoteles (384-322)
sah in ihr ein nochnichtseiendes, aber die Möglichkeit des Seins
in sich Schließendes;
Kant (1724-1804), der
sie am strengsten dem Gesetze der Kausalität unterordnete, reduzierte sie auf die Welt der Erscheinungen,
deren. Wesen unbekannt ist;
Hegel (1770 bis 1831) fasste
sie als den Geist in seinem Anderssein.
Platon (427-347) und
das mittelalterliche Christentum standen der Natur mit ethischer Abneigung gegenüber,
J. J. Rousseau (1712-1778) mit der entgegengesetzten Gesinnung.
Im allgemeinen ist die neuere Philosophie naturfreundlich geworden.
An der exakten Durchforschung des einzelnen in der Natur arbeiten, alle Zweige
der Naturwissenschaften.
Die Idee der Natur als, Ganzes auszubilden ist die Sache der Naturphilosophie.
Der ungeheure Nutzen der Naturforschung für die Praxis und für die
Kultur liegt klar zu Tage, aber auch die dichterische und religiöse Erhebung
und die Empfänglichkeit des Menschen für Natureindrücke leidet
nicht darunter.
Im Gegenteil, die Größe und Schönheit der Natur bewundern wir
Neueren mehr als die Alten. Endlich ist der Fortschritt der Naturwissenschaft
auch für die Philosophie wichtig. Denn diese hat die exakten Resultate
jener als Grundlage zur Aufstellung ihrer Weltanschauung zu verwerten. Vgl.
Naturphilosophie.
Naturalismus
(nlat.) S.
385
heißt in der Metaphysik diejenige Richtung, die kein höheres Dasein
als das in, der sichtbaren räumlich-zeitlichen Welt gegebene anerkennt.
Der philosophische Naturalismus übersieht die aus durch unser Innenleben
bekannte Hälfte der Welt. –
In der Kunst heißt Naturalismus die sich auf bloße Nachahmung, der
Natur beschränkende Richtung, welche in jeder Idealisierung eine Unwahrheit
sieht. Sie ist oft nichts weiter als Geschmacksverirrung und führt leicht
zu einer Kunst des Platten, Gemeinen und Widerlichen. Das Haschen nach Originalität
hat in der Gegenwart stellenweise zu diesem Niedergange der Kunst geführt.
Natura
naturans (mlat.)
S. 385f.
ist die scholastische Bezeichnung der Schöpferkraft als des Urgrundes der
Dinge im Gegensatz zur Natura naturata, dem Inbegriff der geschaffenen Dinge;
so besonders bei Scotus Erigena (810-877).
Beide Begriffe kehren bei Spinoza und Schelling
wieder.
Natura
non facit saltus (lat.:
Die Natur macht keine Sprünge)
S. 386
bedeutet: In der Natur entwickelt sich alles stetig, stufenweise.
Es ist dieses ein von Leibniz
(1646-1716) und
Kant (1724-1804) öfter gebrauchter Satz,
der aber älteren Ursprungs ist. Schon in dem Discours
véritable de la vie... du géant Theutobocus (1613)
findet sich der Satz: Natura in operationibus
suis non facit saltum.
Amos Comenius (1592-1671)
hat in seiner Schrift de sermonis Latini studio
(1638) die Worte: Natura
et Ars nusquam saltum faciunt, nusquam fecerunt.
Die Form: Natura non facit saltus rührt von Linné
(1707-1778) (Philosophia
Botanica 1751) her. Vgl. Mutation. Büchmann, Geflügelte Worte, 23.
Aufl. 1907. S. 451.
Naturgesetz,
s. Gesetz. S. 386
natürlich
S. 386
heißt das den Naturgesetzen Gemäße.
Gegensätze dazu sind: übernatürlich, d.h. dasjenige, was höheren
Gesetzen gehorcht, künstlich, d.h. dasjenige, was von dem Menschen geschaffen
ist und die Natur idealisiert, affektiert, d.h. dasjenige, was nicht von Natur
vorhanden ist, sondern wovon nur der Schein erweckt wird. –
Die natürliche Religion und Theologie steht im Gegensatz zur positiven
oder geoffenbarten und umfasst die Lehren von Gottes Dasein, seinem Wesen und
seinen Eigenschaften, welche von der natürlichen Vernunft erkannt werden
können.
Jetzt versteht man unter natürlicher Theologie ungefähr soviel wie
Religionsphilosophie.
–
Die natürliche Zuchtwahl (natural selection) ist
nach Darwin (1809-1882) das notwendige Resultat des Kampfes ums Dasein (struggle
for life), d.h. das Überdauern der jedesmal tüchtigsten und
am günstigsten gestellten Individuen einer Art.
Naturphilosophie
S. 387ff.
ist die Wissenschaft, welche sich mit dem Wesen und Werden der Welt beschäftigt.
Die Alten nannten sie Physik, die Neueren zum Teil Kosmologie; jener Name bezeichnet
jetzt die exakte Naturforschung, dieser nur einen Teil der philosophischen Naturforschung,
die Lehre von der Entstehung und Beschaffenheit der Weltkörper. Der verbreitetste
Name für das Gesamtgebiet der philosophischen Forschung ist jetzt Naturphilosophie.
Sie schließt sich eng an die Metaphysik an.
In England, wo im allgemeinen die Möglichkeit der Metaphysik geleugnet
wird, versteht man dagegen unter Natural Philosophy nur Physik und Chemie. –
Die Naturphilosophie als metaphysische Naturlehre hat die Resultate der Naturforschung
zu prüfen und zu verwenden und sie zu den Tatsachen unseres Bewusstseins
in Beziehung zu setzen; sie hat ferner die Grundbegriffe und Grundsätze,
welche die Naturwissenschaft anwendet, zu kritisieren, auch das Naturwissen
in letzten Hypothesen abzuschließen. Eine ihrer Hauptfragen ist, was als
metaphysisches Grundprinzip des Weltprozesses anzunehmen sei.
Die Alten waren bezüglich dieses Grundprinzips zum Teil Dualisten, d.h.
sie setzten der Materie den Geist entgegen, so Pythagoras, Anaxagoras und Aristoteles
und in neuerer Zeit Cartesius. Die meisten Philosophen dagegen nahmen nur ein
Prinzip an, sind also Monisten.
Das eine Prinzip kann als stoffliche Vielheit (die Atome des Demokritos und
Epikuros) oder als stoffliche Einheit (Hylozoisten und Materialisten) oder als
geistige Vielheit (die Ideen Platons, die Monaden des Leibniz und Realen Herbarts)
oder als geistige Einheit (die Idee Hegels, die Phantasie Frohschammers, der
Wille Schopenhauers) oder endlich als Einheit von Geist und Materie (Spinoza,
Schelling) gedacht werden. Infolge der phantastischen Spekulationen der Schellingschen
Schule ist die Naturphilosophie selbst lange Zeit in Misskredit gekommen; besonders
die exakten Naturforscher haben sie im 19. Jahrhundert ganz fallen lassen. Aber
richtig und in den ihr gesteckten Grenzen betrieben, ist sie zur Begründung
einer Weltanschauung unentbehrlich; ja die Gegner derselben treiben selbst,
sobald sie anfangen, ihre exakten Kenntnisse in Zusammenhang zu setzen, Naturphilosophie.
Die Prozesse des organischen Lebens, die Existenz chemischer und physischer
Kräfte, der Kristallisationsprozess, die räumliche und zeitliche Existenz
der Naturdinge zwingt zur Lösung von Problemen, die über die exakte
Forschung hinausreichen.
Der Einzelforscher kann für sich die Behandlung dieser Probleme abweisen;
aber die Wissenschaft im Ganzen stellt diese Probleme auf und muss auch an ihrer
Lösung arbeiten.
Vg. Schaller, Gesch. d. Naturphilos. von Bacon bis
auf unsere Zeit. 1831-1846. F. A. Lange, Gesch. d. Materialismus. 5. Aufl. 1896.
E. Dubois-Reymond, Über d. Grenzen d. Naturerkennens. 1872. Derselbe, Die
sieben Welträtsel. 1883. A. v. Humboldt, Kosmos. 1845. Helmholtz, Popul.
wissenschaftl. Vorträge. 1855. Haeckel, Natürl. Schöpfungsgesch.
1868. W. Ostwald, Vorlesungen über Naturphilosophie. 3. Aufl. Leipzig 1905.
Negation
(lat. v. negatio, gr.
apophasis), Verneinung, S.
389f.
ist die Aussage, dass einem Subjekt ein Prädikat nicht zukomme.
Die Verneinung ist eine Unterform der Kategorie der Verbindung oder Beziehung.
Sie ist die Ausschließung des Prädikates vom Subjekt, der Eigenschaft
von der Substanz, der Wirkung von der Ursache usw.
Die Verneinung ist die Grundform des Trennens und Unterscheidens. Da alle Verneinung
aus der Beziehung entspringt, ist sie nur am Positiven, als dessen Beziehung
zu einem anderen Positiven vorhanden.
Reine Negation findet sich nirgends bei der Verbindung des Denkens mit dem Sein.
In der Natur ist nichts durch absolute Negation zu begreifen; überall stellt
sie sich dem Forschenden, von anderer Beziehung aus genommen, wieder als Bejahung
dar. Die Verneinung ist also eine sekundäre Beziehung des Denkens.
Die reine Negation ist daher nur eine höchste Abstraktion; es ist unzulässig,
sie zum selbständigen realen Faktor zu erheben, wie Hegel (1770-1831) tut:
es ist dies eine Hypostase, die aus der Verwechslung des Abstrahierten mit dem
Realen hervorgeht.
Auch der Satz Spinozas (1632 - 1677), durch den die Bedeutung der Negation im
menschlichen Denken übermäßig hoch geschraubt wird: Omnis determinatioest
negatio (Jede Bestimmung ist Verneinung) ist nur für den zutreffend, der
der Substanz allein, insofern sie das Allgemeine ist, das Dasein zuspricht,
also nur für den Pantheisten.
Die besonderen Arten der Verneinung sind Gegensatz und Widerspruch.
Der Gegensatz ist die Verbindung zweier einander einschränkender positiver
Größen, der Widerspruch ist die Verbindung einer Größe
mit ihrer Verneinung. Jener findet sich in der realen Welt, dieser nur in der
logischen Abstraktion. Nur in Gedanken existiert der logische Widerspruch; nur
Gedanken widersprechen sich. In den Gegensätzen der Erscheinungen, welche
nur die Endpunkte eines Ganzen, die sich einschränkenden Richtungen der
Naturkräfte darstellen, wird das Ganze bejaht; in dem Widerspruch wird
es verneint, oder es geschieht ihm Abbruch. Die Gegensätze bewegen die
Natur und schaffen das Leben und die Veränderungen.
Der Ausdruck für den Widerspruch ist der Satz des Widerspruchs (A ist nicht
Nicht-A). Ohne diesen Satz existiert weder Verständigung noch Beweis noch
Widerlegung. Denn auf ihm beruht die Bewahrung des Gewordenen, des Bestimmten
als festen Besitzes der Erkenntnis.
Der Gegensatz findet seinen Ausdruck in der Formel A -
B = C. Für den Gegensatz also ist die Operation der Subtraktion
der mathematische Ausdruck. Die Verbindung von A mit Non-A liefert nur das nihil
negativum irrepraesentabile, ein Gedankenunding; die Verbindung von A mit -A
ist dagegen = O, das nihil negativum repraesentabile.
Der erste, der scharf den Unterschied des logischen Widerspruchs und des realen
Gegensatzes beleuchtete und erkannte, dass logische Negation und negative mathematische
Größen etwas ganz Verschiedenes sind, war Kant
(1724-1804). Versuch, den Begriff der negativen
Größen in die Weltweisheit einzuführen. 1763. Vgl.
Kr. der reinen Vern., 1781, S. 260-292, von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe.
Neid
(lat. livor) S. 390f.
heißt die Unlust über die Vorzüge oder
das Wohlergehen anderer. Der Neid
richtet sich auf ein bestimmtes Gut, einen bestimmten Genuss, ein bestimmtes
Glück, welches
ein anderer besitzt und das man ihm missgönnt, selbst wenn man es gar nicht
für sich haben möchte.
Neid wird darum nicht unmittelbar und nicht stets zum Hasse,
weil er zunächst auf die Objekte der einzelnen Begehrungskreise beschränkt
bleibt und auch schwindet, wenn die Vergleichung mit dem andern Menschen nicht
mehr möglich ist. Aber weil er sich mit jedem neuen Anlasse tiefer ins
Herz bohrt, wird er leicht zur Leidenschaft.
Er ist ein Zeichen von Kleinlichkeit, niedriger
Selbstsucht
und beschränktem Verstande; großherzige Seelen und intelligente Naturen
sind des Neides nicht fähig. Die Erziehung hat ihn daher zu bekämpfen,
sobald er sich in einem Kinde regt. Weil der Neid
stets eine gewisse Homogeneïtät voraussetzt, so kehrt er sich, wie
schon Xenophon (um 434 bis
um 353 Memorabil. III, 9, 8) bemerkt, gegen
Freunde, nicht gegen Feinde (oute mentoi tên
epi philôn atychiais, oute tên ep' echthrôn eutychiais gignomenên
[lypên phthonon einai], alla monous - phthonein tous epi tais tôn
philôn eupraxiais aniômenous). –
Kant (1724-1804) unterscheidet
Missgunst (invidentia),
den Neid, der nicht zur Tat ausschlägt, von dem qualifizierten
Neide (livor), der zur Tat, einen
anderen zu schädigen, fortschreitet. (Kant,
Metaph. d. Sitten II, § 36, S. 133.) Vgl. Schadenfreude.
Neugier
(lat. novarum rerum cupiditas) S.
392
d.h. die Begier,
Neues kennen zu lernen, ist ein unschädlicher
Hang des Menschen, der in seinem Wesen begründet ist.
»Lockte die Neugier nicht den Menschen mit heftigen Reizen, sagt, erführ'
er wohl je, wie schön sich die weltlichen Dinge gegeneinander verhalten?
Denn erst verlangt er das Neue, suchet das Nützliche dann mit unermüdetem
Fleiße, endlich begehrt er das Gute, das ihn erhebet und wert macht«(Goethe,
Herrn, und Doroth. I).
Zum Fehler wird die
Neugier, wenn sie entweder auf Eitles gerichtet
ist, oder einem unsittlichen Motive, der Klatschsucht
u. dgl., entspringt.
Der Reiz der Neuheit ist unbestritten groß. Das unbedeutendste Geräusch
kann unsere tiefste Spekulation
und Andacht stören; alles Neue imponiert zuerst, wie die Geschichte der
menschlichen Narrheit beweist.
Neukantianismus
S. 392f.
heißt die philosophische Richtung
der Gegenwart, die von der kantischen
Philosophie ausgeht, diese aber nach allen Richtungen hin kritisch
berichtigt und sachlich durch die Erfahrungswissenschaften ergänzt. Sie
ist weniger eine Wiederherstellung der kantischen Philosophie, als Kantphilologie
und eine philosophische Orientierung
auf dem Boden der neueren Erkenntnistheorie (Liebmann,
Lange usw.).
Die Begründer des Neukantianismus sind
O. Liebmann, (Kant und die
Epigonen, Stuttgart 1866) und
F. A. Lange (Geschichte des Materialismus 1866)
gewesen.
Zu den Neukantianern gehören
H. Cohen und seine Anhänger (P.
Natorp, Stammler, Staudinger u. a). B. Erdmanns, H.
Vaihinger, E. Arnolit, B. Reicke, A.
Riehl, W. Windelband, Th.
Lipps, E. König u. a.
Neuplatoniker
oder Platoniker der alexandrinischen Schule S.
393
heißen die Anhänger
Platons im 1. und 2. Jahrh.
n. Chr., welche die griechische Philosophie mit orientalischen
Ideen verschmolzen. Ihr Ansehen erklärt sich aus dem Hange jener Zeit zur
Mystik, aus der
Verzweiflung am alten Heidentum und dem Wunsche, dem immer mächtiger werdenden
Christentum zu widerstehen.
Das Ziel der Neuplatoniker war
nicht nur die Erkenntnis,
sondern die unmittelbare Anschauung
des Absoluten;
die Welt erklärten sie durch Emanation.
Die Erhebung zu Gott geschah durch
Askese, Theurgie und Ekstase.
Als Stifter dieser Schule gilt Ammonius Sakkas
(ca. 175-242), dessen Schüler Plotinos
(205-270) die Lehre ausführlich gestaltete,
dann folgen Porphyrios (233-304)
und Jamblichos (†333)
als Schulhäupter.
Im 16. Jahrh. erwachten diese Lehren in der
»Platonischen Akademie« wieder. Vgl.
A. Richter, Neuplatonische Studien. 1864-67.
Neupythagoreer
S. 393
hießen die Philosophen vom
1. Jahrh. v. Chr. bis ins 1. u. 2. Jahrh. n. Chr., welche die Lehre
des Pythagoras erneuerten,
sie unter dem Einfluss des Orients mit religiösen Anschauungen verbanden
und sie hierdurch zur Theosophie
umbildeten.
Begründet wurde der Neupythagoreismus
durch Nigidius Figulus (1.
Jahrh. v. Chr.). Anhänger desselben waren dann Sotion
(Zeit des Augustus), Apollonius
von Tyana (Nero), Moderatus
aus Gades (Nero), Nikomachos
von Gerasa (Zeit d. Antonine) und
Secundus von Athen (Hadrian).
Nicht-Ich
S. 393
bedeutet, besonders bei Fichte, die
Außenwelt . Vergleiche
Ich.
Nichts
(lat. nihil) S.
393f. Siehe auch bei Eisler
und den Bonus-Themen
und sein Gegenteil, Etwas, sind die dem Begriffe
des Möglichen und Unmöglichen übergeordneten Begriffe.
Nichts bezeichnet logisch
1. den leeren Begriff
ohne Gegenstand der Anschauung, ein bloßes Gedankending
(ens rationis), wie es die Nooumena
ohne korrespondierende Anschauung sind;
2. den Begriff des fehlenden Gegenstands, wie den Schatten,
die Kälte, die Finsternis (nihil privativum);
3. die leere Anschauung ohne Gegenstand, wie den leeren
Raum, die leere Zeit (ens imaginationis);
4. den unmöglichen Begriff oder den Widerspruch in sich
selbst (nihil negativum), z.B. die geradlinige
Figur mit zwei Seiten, also ein Unding,
von dem man sich überhaupt gar keinen Begriff machen kann.
Im metaphysischen Sinne bedeutet Nichts die Aufhebung
aller Realität
(metaphysisches Nichts). Nach griechischer und indobrahmanischer
Metaphysik wird aus dem metaphysischen Nichts nichts, oder das Sein ist
ewig; also das Entstehen des einen Seins aus dem andern ist nur Schein (Eleaten).
Die jüdisch-christliche und buddhistische Lehre behauptet dagegen, dass
aus dem Nichts das Sein
(durch Schöpfung) geworden sei und dass das Nichts aus dem Sein
(Übergang in das Nirwana) werde.
Leugnung des Seins überhaupt heißt absolute Leugnung, Leugnung eines
vom Denken unterschiedenen Seins relativer Nihilismus, dagegen Leugnung allgemein
gültiger Rechts- und Sittengesetze schlechthin Nihilismus.
Das Nichts mit Hegel
(1770-1831) zu einem Realprinzip der Wirklichkeit
zu machen, ist unzulässig. Vergleiche Negation.
Platon (427-347) bezeichnete
die Materie als
Nichts (non ens, mê
on) was aber in einem mehr relativen als absoluten Sinne zu verstehen
ist; der Stoff für sich, sofern er noch nicht Form trägt, ist für
Platon nichts. Vergleiche
Form, Materie,
möglich.
Nominalismus
(nlt. v. lat. nomen
= Namen) S.
395f.
heißt diejenige philosophische Richtung des Mittelalters, welche die Universalien
(Allgemeinbegriffe) nicht für etwas Wirkliches
(res), sondern nur für Worte (nomina
rerum oder flatus vocis) hielt und das Einzelne für das wahrhaft
Seiende erklärte. Urheber dieser, in der Isagoge
des Porphyrius angedeuteten, später dem Aristoteles
angeschriebenen Ansicht ist Roscellin (11.
Jahrh.), Anhänger derselben Abälard
(1079-1142).
Im Gegensatz zu ihm hielt der im Anschluss an Platon,
Plotinos und Scotus Erigena
von Anselm v. Canterbury
(1033-1109) vertretene Realismus
daran fest, dass die Universalien selbständige Realität hätten
und nicht erst vom Verstande gebildet würden. Die
Formel des Nominalismus war: universalia
post rem, die des Realismus:
universalia ante rem, oder in re.
Ersterer wurde, weil er zum Tritheismus zu führen schien, samt Roscellin
1092 zu Soissons verdammt. Der Streit zwischen
beiden Parteien zog sich aber durch das ganze Mittelalter hin.
Berühmte spätere Nominalisten
sind z.B. Joh. Buridan (†
1358), Gabr. Biel (1495)
gewesen. Sie wurden meist der Ketzerei beschuldigt, weil die Kirchenlehre,
besonders von der Trinität, vom Logos und von der Transsubstantiation,
durch sie bedroht schien. Eine vermittelnde Richtung war der Konzeptualismus
des Wilhelm v. Occam (†
1347) . Der Kampf zwischen Realismus und
Nominalismus setzt sich übrigens nur mit veränderter Terminologie
bis in die neueste Zeit fort –
Hobbes, Locke, Hume,
Berkeley, Mill sind neuere
Vertreter des Nominalismus und Konzeptualismus,
Leibniz, Kant, Fichte,
Hegel dagegen Vertreter des Realismus
-, nur dass die Realisten jetzt
Idealisten, die Nominalisten hingegen Sensualisten
oder auch Realisten genannt werden.
Ebenso finden sich Spuren dieses Gegensatzes bereits im Altertum, bei Platon
und Aristoteles. Siehe
Realismus.
Vgl. F. Exner, Nominalismus und Realismus 1842. H.
Reuter, Gesch. der relig. Aufklärung im Mittelalter. 1875.
Notwendigkeit
(lat. necessitas)
S. 398ff. Siehe
auch bei Eisler
heißt in allgemeinster Bedeutung, als reales Verhältnis gedacht,
die Unmöglichkeit des Gegenteils.
So fasste den Begriff schon Aristoteles
(384 bis 322. Metaphys. IV, 5 p. 1015 a 34),
der das Notwendige als das bezeichnete, was sich nicht anders verhalten könne,
was also durch Widerlegung seines Gegenteils indirekt bewiesen werde (to
mê endechomenon allôs echein anankaion phamen houtôs echein).
Das Notwendige wäre demnach die Verneinung einer Verneinung. Aber eine
solche negative Fassung des Begriffs befriedigt nicht.
Der Versuch, die Erklärung positiver zu gestalten, führt zunächst
zur Unterscheidung verschiedener Arten der Notwendigkeit.
Der Begriff der absoluten Notwendigkeit
würde zunächst die Existenz von etwas fordern, was unabhängig
von allem anderen ist; der bloße Begriff müsste also die Existenz
in sich schließen. Da aber das Dasein kein Merkmal eines Begriffs ist,
ist ein solcher Begriff, der Existenz in sich einschlösse, nicht vorhanden,
und der Begriff einer absoluten Notwendigkeit ist deswegen als unberechtigt
aufzugeben; er ist höchstens so weit als abstrakte Idee zulässig,
als die Existenz dem Gedachtwerden gleichgesetzt wird. Es bleibt also weiterhin
nur der Begriff einer bedingten (relativen) Notwendigkeit.
Hier können wir logische, physische, moralische und
metaphysische Notwendigkeit unterscheiden.
Logisch notwendig ist die Folge,
wenn der Grund gesetzt ist.
Physisch notwendig ist die Wirkung,
wenn die Ursache gegeben.
Moralisch notwendig ist die Handlungsweise,
die aus einem gegebenen allgemeinen Sittengesetz folgt.
Metaphysisch notwendig ist die
Konsequenz, wenn das Grundprinzip feststeht.
Notwendig ist also im Allgemeinen,
was im kausalen Zusammenhang mit einem Gegebenen steht
und darum, sobald dieses gegeben ist, in allen Fällen zutrifft.
Kant (1724-1804) nahm
außerdem eine erkenntnistheoretische Notwendigkeit an. Notwendig und allgemein
gültig sollten nach ihm in dem Erkenntnisprozesse alle diejenigen Anschauungen
(Raum und Zeit) und
Begriffe (Kategorien)
sein, ohne welche Erfahrung überhaupt nicht möglich ist. Aber der
Nachweis der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der uns gegebenen Raum-
und Zeitanschauung und der von Kant aufgestellten Kategorien für alle Erfahrung
misslang. Es ist sehr wohl eine auf anderen Anschauungsformen und Begriffen
beruhende Erfahrung denkbar, und für uns schließen die Gesetze des
Erkennens nur Tatsächlichkeit, nicht Notwendigkeit
in sich ein. Und da alle Notwendigkeit schließlich
auf kausale Bestimmung und Gesetzmäßigkeit hinauskommt, unsere Einsicht
in das Wesen der
Kausalität
aber nur so weit reicht, dass wir den Eintritt der Folge nach dem Grunde, der
Wirkung nach der Ursache kennen lernen, das Wie des Zusammenhangs aber nicht
erkennen, so ist im Grunde alle uns bekannte Notwendigkeit nicht mehr als Tatsächlichkeit;
das gilt von aller logischen, physischen und metaphysischen
Notwendigkeit, und die moralische ist nicht
einmal immer Tatsächlichkeit, sondern bleibt oft nur ein Gefühl der
Verpflichtung ohne Verwirklichung.
Weil alle Notwendigkeit, soweit sie uns in der
Erkenntnis gegeben ist, schließlich nur das Wiederkehrende in der Erfahrung,
die Tatsächlichkeit in ihrem kausalen Zusammenhange ist, ist die rationalistische
Methode in der Philosophie unschöpferisch und unfruchtbar, die empiristische
allein schaffend und fördernd. Das Fördernde in allen mathematischen
Schlüssen ist auch nur das tatsächlich Gegebene
der Raum- und Zeitanschauung und die Möglichkeit der Verbindung
der Elemente derselben in den verschiedensten Formen.
Auch mathematische Gewissheit
und Allgemeingültigkeit schließt keine höhere Notwendigkeit
in sich ein als alles Tatsächliche; wohl aber bleibt das Bedürfnis
nach einer höheren Notwendigkeit als die des
Tatsächlichen in seinem gegebenen Zusammenhange für das menschliche
Gefühl bestehen. Vergleiche
Freiheit, Determinismus,
Prädestination,
Fatalismus,
Gott.
Die rechte Einsicht in den Begriff der Notwendigkeit gibt schließlich
nur die Erkenntnis, dass sie ein Modalbegriff ist und als solcher überhaupt
nicht ein reales Verhältnis (Sein und Nichtsein), sondern nur einen Grad
der Überzeugung, mithin ein subjektives Verhältnis des Menschen zum
Ausdruck bringt. Sie bezeichnet den stärksten Grad der menschlichen Überzeugung
von der Wahrheit eines Satzes oder der Existenz eines Dinges. Wenn wir alle
Bedingungen einer Sache erfüllt sehen, halten wir sie für notwendig,
wo die Erfüllung aller Bedingungen behindert ist, reden wir im Gegensatz
dazu von Unmöglichkeit.
Als modale Kategorie, d.h. als solche, die dem Begriff kein Merkmal hinzufügt,
sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrückt,
hat sie auch Kant erfasst, wenn er definiert:
»Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der
Erfahrung bestimmt ist, ist notwendig« (Kr.
d. r. V. S. 218). Nur dürfte die Notwendigkeit nicht Kategorie zu
nennen sein, sondern sich als abgeleiteter Begriff erweisen.
Nooumenon
(gr. nooumenon
= das Gedachte)
S. 400
heißt ein Verstandesding
(ens merae cognitionis), das von Jeder sinnlichen Anschauung frei
ist.
Kant (1724-1804) versteht
darunter den Gegenstand der reinen Verstandesbegriffe, und da Begriffe ohne
Anschauung leer sind, ist ihm das Nooumenon zunächst ein leerer Begriff,
dem nichts in der Wirklichkeit entspricht. Kant
erweitert aber den Begriff des Nooumenon zu dem
Begriff eines Gegenstandes, der einer Anschauung, obgleich nicht einer sinnlichen,
gegeben werden kann, und nähert damit die Noumena
unmittelbar den Begriffen der Dinge
an sich selbst, die dann als bloße Verstandeswesen gedacht sind. (Kr.
d. r. V., S. 137 ff. u. 235 ff. Prolegg. §§ 32-35.)
Der Gegensatz, zum Nooumenon ist das Phaenomenon, der Begriff der Dinge, welche
die Sinnenwelt ausmachen, also der Erscheinungen (s. d.), sofern sie als Gegenstände
nach der Einheit der Kategorien gedacht werden.
Nous,
Nus (gr. nous =
Verstand) S. 400f.
heißt schon bei Homer das Erkenntnisvermögen; von Parmenides
und Demokritos wird er der Seele (psychê)
gleichgesetzt, von Platon und Aristoteles
als edelster Teil derselben gedacht.
Platon versteht darunter die denkende
Seele (logistikon),
die im Haupte ihren Sitz hat, Aristoteles den Teil
der menschlichen Seele, den sie vor den Tieren voraus hat. Die übrigen
Teile der Seele sind nach ihm vergänglich; der nous ist präexistierend
und unsterblich. –
In der Geschichte der griechischen Metaphysik
spielt der Nous eine wichtige Rolle: Schon
Xenophanes von Kolophon (ca.
500 v. Chr.) nahm eine objektive göttliche
Vernunft als Weltprinzip an.
Ihm folgend, fand Anaxagoras (500-428)
des Sokrates Lehrer,
die bewegende und gestaltende Kraft weder mit den Hylozoisten in der Natur der
Stoffe selbst, noch mit Empedokles in unpersönlichen
psychischen Mächten, sondern in einem weltordnenden Geiste. Der
Nous unterscheidet sich nach ihm von den materiellen Wesen durch Einfachheit,
Selbständigkeit, Wissen und Herrschaft über den Stoff.
Platon (427-347) definiert
die weltbildende Vernunft als die schöpferische
Zweckmäßigkeit in der Welt, während er die Notwendigkeitsursachen,
welche nur mithelfen, als in der Materie
begründet ansetzt. Vergleiche Notwendigkeit.
Aristoteles (384-322)
nennt den stofflosen Geist direkt Gott,
dessen Existenz er aus der Notwendigkeit eines ersten unbewegten Bewegers beweist
(vgl. Beweise für das Dasein Gottes). Als solcher muss er reine Energie
(purus actus), ewig, reine Form, ohne
Materie, daher auch ohne Vielheit und Teile, reines Denken (nous), das sich
selbst denkt, sein. Er ist also Selbstbewusstsein
(noêsis noêseôs). Er bewegt, ohne zu bilden und
zu handeln, selber unbewegt, als das Gute und der Zweck, dem alles zustrebt,
wie der Liebende dem Geliebten. Die Welt als gegliedertes Ganzes hat ewig bestanden
und wird nicht untergehen. Als Aktualität ist Gott nicht Produkt, sondern
Prinzip der Entwicklung (Metaphys.12, 6 u. 7). –
Merkwürdig ist die Richtung der Neuplatoniker,
die das Göttliche weder als Nous noch als Gegenstand der Vernunft
(weder als nous noch als
noêton) ansahen, sondern als Übervernünftiges
(hyperbebêkos tên nou physin). Es verhält sich
zum Nous, wie das Licht zum Auge. Die Einheit ist die Quelle und Kraft, woraus
erst das Seiende stammt.
So hypostasiert Plotinos (206-270)
das Resultat seiner Abstraktion
zu einem gesondert existierenden Wesen, hält es für ein Prinzip dessen,
woraus es abstrahiert ist, und nennt es die Gottheit.
Oberhaupt
des Reichs der Zwecke S. 402
nennt Kant (1724 bis 1804)
(Grundlegung zur Metaph. der Sitten, S. 75) ein
vernünftiges Wesen, das allgemeine Gesetze gibt, ohne selbst denselben
unterworfen zu sein. Ein solches Wesen muss unendlich, frei und unabhängig
von sinnlichen Neigungen, Bedürfnissen und Antrieben und schrankenlos in
seiner Macht sein.
Objekt
(lat. von objicere
= entgegenstellen, vorstellig machen), S.
402 ff.
Gegenstand, eigtl. das Dargebotene,
bedeutet allgemein dasjenige, womit sich ein Subjekt geistig beschäftigt. Das Verhältnis des Subjektes und Objektes ist also zunächst ein rein innerliches, ein Empfinden, Vorstellen, Wahrnehmen, Denken oder Erkennen.
Das Objekt ist eine Kategorie oder Grundform des Erkennens. Von der Existenzweise
des Objektes selbst ist dabei noch ganz abgesehen; Gegenstand der subjektiven
Betätigung ist alles, was dem Bewusstsein gegeben ist, jedes Gedankending.
Ursprünglich von Duns Scotus
(1265-1308) ab bis in das 18. Jahrhundert hieß
es denn auch das, was »im Vorstelligmachen liegt und hiermit auf Rechnung
des Vorstellenden fällt«.
Objekt bedeutet aber jetzt, seit Kant (1724-1804),
im engeren Sinne den dem Bewusstsein durch die Wirklichkeit gegebenen Gegenstand,
mithin das Reale in seinem Verhältnisse zum Subjekte. Ohne das Subjekt ist also auch das Objekt in diesem engeren Sinne nicht vorhanden.
Dies haben J. G. Fichte und Schopenhauer richtig hervorgehoben: Gegenstand der Betrachtung ist ein Ding nur unter Voraussetzung
von einem Betrachtenden. Daher muss von dem Objekte das Reale an sich geschieden
werden, das aber für unser Wissen keine Rolle spielt
(vgl. Ding an sich). Vielfach wird jedoch, was nur Verwirrung hervorrufen
kann, das Reale unabhängig von unserem Bewusstsein auch Objekt genannt.
Es ist empfehlenswert, diesem verwirrenden Sprachgebrauch nicht zu folgen. –
Objekt bezeichnet auch das Ziel unseres Handelns, das, worauf unser Streben
und Tun gerichtet ist.
Eins der schwierigsten Probleme ist die Existenz der objektiven Welt. Es löst
sich durch die Erkenntnis, dass das unserem Bewusstsein in der Empfindung
Gegebene ein Ungewolltes und nicht Abzuweisendes ist. –
Objektivität
S. 403f.
heißt Gegenständlichkeit, und zwar,
gemäß den obig entwickelten Bedeutungen, sachgemäßes Denken
oder Gedachtwerden oder dem Menschen bewusste Realität,
oder auch Sachlichkeit der Darstellung, im Gegensatz zur subjektiven, persönlichen
Auffassung. Das Objektive steht
mithin zwar dem Persönlichen gegenüber, ist deshalb aber keineswegs
immer real oder wirklich, da Gegenstand unserer Betrachtung sowohl ein Ding
als auch eine Vorstellung
sein kann.
In der Kunst heißt Objektivität die
Darstellung, welche den Gegenstand zur Geltung kommen lässt, während
die subjektive
Darstellung ihn sich unterordnet. Plastik, Epos und Drama sind objektive, Lyrik
und Musik subjektive Künste.
Auch die Wissenschaft
soll nach Objektivität (sine
ira et studio) streben.
Objektiv gültig heißt das, was für alle
vernünftigen Wesen Gültigkeit hat, objektiv
gut, was sie alle als solches anerkennen.
Vgl. subjektiv. Eucken, Geistige Strömungen der
Gegenwart. 1905. S. 11 ff.
Od
S. 406
nannte Karl v. Reichenbach (1788-1869)
eine eigentümliche, aus den Fingerspitzen ausströmende und auch auf
andere Körper übergehende, zwischen Wärme, Licht, Elektrizität
und Magnetismus stehende Kraft, welche nur von Sensitiven, d.h. dafür empfänglichen
Menschen, als angenehmer oder widriger Geschmack empfunden wird und auf dem
die Polarität zwischen Metallen, Pflanzen und Menschen beruhen soll.
Vgl. Reichenbach, Odisch-magnetische
Briefe. Stuttgart 1852.
Dagegen L. Büchner,
Das Od. Darmst. 1854. Fechner,
Erinnerungen an die letzten Tage der Odlehre und ihres Urhebers. Leipzig 1876.
Offenbarung
(lat. revelatio,
inspiratio) S. 406f. Siehe
auch bei Eisler
heißt die Gott
oder Gottgesandten zugeschriebene Enthüllung religiöser Wahrheiten
und seines eigenen Wesens.
Gott offenbart sich, wie der Glaube annimmt, teils
äußerlich, teils Innerlich, und zwar jedem Menschen nach Maßgabe
seiner Empfänglichkeit. Die äußere
(objektive) Offenbarung geschieht in der Natur
und in der Geschichte. Der religiöse Mensch sucht Gottes Walten in den
Naturgesetzen und Naturvorgängen, sowie in Ereignissen des Lebens einzelner
und ganzer Völker; Familienerlebnisse, Rettung aus Gefahr, Not, Krankheit
und Tod, wie die Knotenpunkte in der Staaten- und Kulturgeschichte, werden als
Taten Gottes angesehen.
Die innere (subjektive) Offenbarung wird dagegen
in der Vernunft
und in dem moralischen Gefühl gesucht und befasst jeden theoretischen und
praktischen Fortschritt der Menschheit auf dem Gebiete der Erfindungen und Entdeckungen,
der Erkenntnis,
der Darstellung der Kunst und der Sittlichkeit.
Der Glaube betrachtet die ganze Geschichte der Menschheit als die Erziehung
derselben durch Gott, als eine Herausgestaltung seines Reiches.
Die Religionen stützen sich noch auf eine dritte
Art der Offenbarung, nämlich die durch Auserwählte
oder Gottgesandte. Insbesondere nimmt die christliche Lehre die Offenbarung
des Wesens Gottes
durch Moses, die Propheten und vor allem durch
Christus an.
Fichte (1762-1814) sah
eine äußere Offenbarung für den Fall als notwendig an, dass
die Menschheit moralisch so verkommen sei, dass sie die Stimme des Sittengesetzes
nicht mehr höre. (Versuch einer Kritik aller Offenbarung.
Königsberg 1792.)
Kant leugnete die Notwendigkeit
einer Offenbarung gänzlich..
Okkasionalismus
(franz. occasionalisme = Lehre
von den Gelegenheitsursachen v. lat. occasio =
Gelegenheit) S. 404 ff
heißt die Richtung der Philosophie, welche die Wechselwirkung zwischen
Geist und Körper und den Einfluss der Seele auf den Leib und umgekehrt
leugnete und die Übereinstimmung beider in jedem einzelnen Falle auf ein
vermittelndes Drittes, Gott, zurückführte. Sie bildete sich in der
Schule des Descartes (1596-1650)
heraus. Während vorher die Theorie des natürlichen Einflusses
(influxus physicus) von Körper und Geist,
Leib und Seele aufeinander geherrscht hatte, stellte Descartes
die dualistische Lehre von der substantiellen Verschiedenheit von Körper
(Ausdehnung) und Geist (Denken)
auf, die, konsequent durchgeführt, jede gegenseitige Einwirkung beider
ausschließt.
Clauberg, Louis de la Forge und Cordemoy
lehrten dann, dass die scheinbare Wechselwirkung zwischen Körper
und Geist auf Gott
als die wirkliche Ursache zurückzuführen sei.
Am entschiedensten vertrat diese Lehre Arn. Geulincx
(1624-1669). Er behauptete, Gott rufe bei Gelegenheit
des leiblichen Vorganges in der Seele die entsprechende Vorstellung hervor und
bei Gelegenheit des Wollens bewege Gott den Leib. Nicht der Körper sei
also Ursache für die bewusste Empfindung im Geiste, nicht der Wille sei
unmittelbare Ursache der Bewegung, sondern das eine sei nur Gelegenheit für
Gott (causa occasionalis), das andere
hervorzubringen. Geulincx stützte sich dabei
auf den Satz 'quod nescis, quomodo fiat, id non facis'.
Wir wissen nicht, wie unser Wille den Leib, unsere Sinnesreizung
die Empfindung in Bewegung setzt. Also ist Leibesbewegung und Sinnesempfindung
nicht unser Werk.
Abgeschwächt ist das Problem bei Nic. Malebranche
(1638-1716), welcher alles Tun überhaupt Gott
zuschrieb. Gott hat zwei Grundideen, Denken und Ausdehnung, nach denen er alle
Dinge geschaffen hat. Von den Körpern, hat er nur die Ideen in sich, die
Geister aber hat er nicht nur als Ideen, sondern als Geister selbst in sich.
Denn Gott, ist der »Ort der Geister«,
die deshalb sich selbst und die Körper erkennen. In beiden, in der Körper-
und Geisterwelt,
geschieht alles von Gott.
Bei Spinoza (1632-1677) schwächte sich das Problem noch weiter ab. Indem
er nur Gott die Existenz: zuschrieb, Ausdehnung
und Denken aber zu Attributen Gottes herabsetzte,
war nur noch die Idee des vollkommenen Parallelismus
beider Attribute nötig, um die Übereinstimmung zwischen Seelen- und
Körpervorgängen zu erklären. Die Abweichung Malebranches
und Spinozas voneinander liegt also, wie
Malebranche hervorgehoben hat, nur darin, dass
bei ihm selbst das Universum in Gott, bei Spinoza Gott
im Universum zu suchen ist.
Noch weiter sinkt die philosophische Bedeutung des Problems bei Leibniz
(1646-1716), der an Stelle des Okkasionalismus
die Lehre von der prästabilierten Harmonie setzte.
Unter Verwerfung des physischen Einflusses (»die
Monaden haben keine Fenster«) leugnete auch er, dass Leib und Seele
Wirkungen aufeinander ausüben; um aber nicht ein Wunder
ohne Ende anzunehmen, stellte er die Hypothese
auf, Körper und Seele folgten spontan den ihnen von Anfang anerschaffenen
Gesetzen und stünden, kraft göttlicher Prästabilierung,
dabei in steter Harmonie, wie zwei kunstvoll regulierte
Uhren. Jede Monade ist mit Rücksicht auf alle anderen geschaffen. Die Seele
hat also in demselben Momente eine schmerzhafte Empfindung, wo der Körper
geschlagen wird: der Arm streckt sich gemäß den Gesetzen des leiblichen
Mechanismus in dem Augenblicke aus, wo in der Seele ein bestimmtes Begehren
auftaucht.
Erst mit dem Kritizismus Kants (1724-1804),
der die Erkennbarkeit des Dinges an sich leugnete, verschwindet das Problem,
das den Okkasionalismus hervorgerufen hat, und
mit ihm der Okkkasionalismus selbst, aus der Philosophie
gänzlich. Vergleiche
Dualismus, Harmonie,
Monade.
Ontologie
(aus gr.
on das Seiende u. logos) S.
407f.
heißt der Teil der Metaphysik, der es mit dem Sein zu tun hat. Das Forschungsgebiet
der Ontologie begegnet uns schon bei Platon
(427-347), der in seiner Ideenlehre
die Ideen als das wahrhaft Seiende (to ontôs
on) darstellt.
Mit den Prinzipien des Seins (Stoff, bewegende Ursache,
Zweck, Form) beschäftigt sich ebenso Aristoteles'
(384-322) »erste Philosophie«
(philosophia prima); sie ist ihm
die Wissenschaft
vom Sein als Sein.
Während sich Epikuros, die Akademiker und Skeptiker
nicht mit den realen Kategorien beschäftigten, schlossen sie die
Stoiker, Neuplatoniker, ja fast alle Scholastiker
eng an Aristoteles an.
Die Philosophen des 17. und
18. Jahrhunderts sagten sich fast ganz von der Ontologie
los; erst Chr. Wolf (1679-1754),
Leibniz' Schüler, der die Philosophie deutsch
reden gelehrt hat, nahm diese Disziplin wieder auf indem er die Metaphysik
in Ontologie, rationale Psychologie,
Kosmologie und rationale Theologie zerlegte.
Die Ontologie behandelt die Eigenschaften und Arten
des Seienden. Sie spricht vom Wesen, den Bestimmungen und Modis der Dinge, von
Raum und Zeit, Ausgedehntem
und Substanzen, Kräften und Aggregaten.
Hume und Kant (1724 bis 1804)
hingegen verwarfen die Ontologie ganz; an ihre
Stelle hat nach Kant die Erkenntnistheorie oder
Transzendentalphilosophie (s. d.) zu treten, welche den Vorrat unserer reinen
Begriffe a priori einer
Kritik zu unterwerfen hat.
Die nachkantischen Philosophen : Fichte, Schelling,
Hegel, Herbart, Schopenhauer
und v. Hartmann haben jeder in anderer Weise
die Ontologie aufs neue bearbeitet; ebenso
Trendelenburg, Ulrici, Fichte d. J. und Lotze.
Jedoch halten andere, wie Wundt, F.
A. Lange, an der Verwerfung jener Disziplin fest. Vgl.
Metaphysik.
ontologischer
Beweis S. 408
heißt der Beweis,
der Gottes Dasein
aus dem Begriff
Gottes
nachzuweisen versucht.
Er ist zuerst von Anselm von Canterbury
(1033-1109) gebraucht, dann von Cartesius
(1596-1650) und Spinoza
(1632-1677).
Kant (1724-1804) hat dagegen seine Unzulässigkeit
nachgewiesen (Kr. d. r. V. S. 592-602), s.
Gott. Ihm entfließt nach Kant die Ontotheologie,
die er als diejenige transzendentale
Theologie definiert, welche glaubt durch bloße
Begriffe ohne Beihilfe der mindesten Erfahrung das
Dasein des Urwesens zu erkennen.
Optimismus
(nlat., franz. v. lat.
optimus = der beste) S.
409f. Siehe auch
bei Eisler
heißt theoretisch die Lehre, dass diese Welt,
trotz ihrer mancherlei Unvollkommenheiten, die beste,
die erschaffen werden konnte, d.h. möglichst vollkommen und auf die Glückseligkeit
der darin lebenden Wesen berechnet sei.
Diese Lehre findet sich schon bei den Stoikern.
So sagt Kleanthes in seinem »Hymnus
auf Zeus«: »Nichts geschieht ohne dich,
Gottheit, außer was die Bösen tun durch ihre eigene Unvernunft; aber
auch das Schlimme wird wieder durch dich zum Guten gelenkt!«
Nach Chrysippos ordnet die Vorsehung (heimarmenê,
fatum) alles aufs beste, und der Mensch kann sich dieser alles beherrschenden
Logik anvertrauen. Gott ist der Vater aller, ist wohltätig und menschenfreundlich;
zur Rechtfertigung der Übel geben die Stoiker
eine ausführliche Theodizee.
Ebenso lehrt Plotinos den Optimismus,
indem er die ganze Weltentwicklung als Emanation
aus und Rückkehr zu Gott betrachtet.
Nicht minder vertreten Platon (427-347)
und Aristoteles (384-322)
mit ihrer teleologischen Weltbetrachtung den Optimismus
und im Anschluss an Aristoteles die scholastischen
Aristoteliker Albertus Magnus (1193-1280)
und Thomas von Aquino (1225-1274).
Am bekanntesten aber ist Leibniz (1646-1716)
als Optimist, weil er, angeregt durch
Bayles (1647-1705) Zweifel, eine ausführliche
»Theodicee« (1710)
geschrieben hat. Gott hat die Ideen von unendlich vielen möglichen
Welten; da von diesen nur eine existiert, muss es einen hinreichenden Grund
dafür geben, warum er diese allen anderen vorgezogen hat. Diese muss also
die vollkommenste aller möglichen sein, denn
wenn sie es nicht wäre, so hätte Gott eine vollkommenere entweder
nicht gekannt oder nicht schaffen können oder nicht schaffen wollen; das
aber widerspräche entweder seiner Weisheit,
oder seiner Allmacht,
oder seiner Güte. Die
Übel, welche Leibniz keineswegs ableugnet,
sind daher nach seiner Ansicht notwendig mit der Existenz der Welt bedingt.
Denn sollte es eine Welt geben, so musste sie aus endlichen, d.h. sündliche,
beschränkten und leidensfähigen Wesen bestehen. Zwischen dem Reiche
der Natur und dem der Gnade besteht eine durchgängige Harmonie.
Auch die folgenden großen Philosophen sind sämtlich Optimisten.
Erst Schopenhauer (1788-1860)
und v. Hartmann (1842-1906)
haben im neunzehnten Jahrhundert den Pessimismus
herausgebildet, welcher diese Welt für die denkbar schlechteste hält.
Jener leitet den Optimismus mit Hume
aus »heuchelnder Schmeichelei« gegen
Gott ab; er sei eine schreiende Absurdität dieser Welt des Elends und der
Sünde gegenüber, eine Ironie, eine »wahrhaft
ruchlose Denkungsart« (W. a. W. u. V.
I, 385. II, 663).
Aber der Pessimismus beruht auf falschen Ansprüchen
des Individuums, unrichtiger Auffassung des Wesens der Lust und Verkennung der
zweckmäßigen Ordnung der Welt.
Im praktischen Sinne heißt Optimist derjenige,
dessen Gemütsstimmung derart ist, dass er
alle Begebnisse von der besten und heitersten Seite
auffasst, den Menschen das Beste zutraut und überall
Mut und Hoffnung, selbst in schlimmen Lagen des
Lebens, bewahrt.
Organ
(gr. organon =
Werkzeug) S. 410
heißt dasjenige, was durch
alle übrigen Teile
des Ganzen
da ist und auch um der anderen Teile und
des Ganzen willen existierend gedacht wird. –
Organon nannten spätere Herausgeber
die Gesamtheit der logischen Schriften von Aristoteles,
weil ja die Logik gleichsam das
Werkzeug für alle Wissenschaften
ist.
Auch Bacon (1561-1626), der
die Logik im Gegensatz
zu Aristoteles erneuern wollte, nannte einen
Teil seines Hauptwerkes Novum Organon.
Organon der reinen Vernunft heißt
bei Kant (1724-1804) der
Inbegriff derjenigen Prinzipien,
nach denen alle reinen Erkenntnisse
a priori erworben und
wirklich zustande gebracht werden. Kr. d. r. V. 2. Aufl.
Vorrede, S. 24.
Organisation
S. 411
heißt eine zweckmäßige und in ihrer Form
beharrliche Anordnung der
Teile.
Organismus
S. 411f.
heißt ein Naturganzes,
in welchem sämtliche Teile
sich wechselseitig zueinander wie Mittel
und Zweck
verhalten. Im Organismus liegen die Teile des Ganzen nicht nur äußerlich
nebeneinander, wie in Mechanismen und Industrismen, sondern sie hängen
innerlich zusammen und vermitteln einen einheitlichen
Prozess, der sich auf das Ganze
selbst bezieht.
Die Organismen entwickeln sich von innen heraus.
Aus einem Keime (Zelle, Samen oder Ei) entstehend,
wachsen sie und erhalten sich durch den Stoffwechsel, bis sie entweder das ihnen
gesteckte Lebensziel erreicht haben und sterben oder gewaltsam zerstört
werden.
Alle Organismen haben eine gewisse Spontaneität, welche besonders ihrer
Ernährung und Fortpflanzung dient. So stellen sie sich alle als ein System
von Kräften dar, das durch die in der Zelle angelegte Form spontan (d.h.
von innen heraus) und zweckvoll ausgestaltet wird und sich selbst erhält.
Schließlich kann man auch den Kosmos,
wenn man ihn teleologisch
betrachtet, einen Organismus nennen.
Der Begriff des Organismus ist
im Altertum besonders von Aristoteles,
in der Neuzeit von Kant
philosophisch bestimmt worden.
Aristoteles (384-322) geht von der Bedeutung
des Wortes organon aus: organon heißt
Werkzeug. Jedes Werkzeug ist aus ungleichartigen
Teilen zusammengesetzt, hat einen Zweck und ist
um einer bestimmten Tätigkeit willen da. Organische
Wesen
sind daher zusammengesetzte aus ungleichartigen Teilen bestehende Wesen, deren
Teile zweckmäßig zu irgend einer Tätigkeit eingerichtet sind
(De anima II, 1). Zu diesem Begriff fügt Aristoteles
noch den Begriff des Lebens, der Beseeltheit (der Kraft
der Selbstbewegung, der Selbstwirkung und des Wachstums) hinzu. So ergibt
sich die aristotelische Definition, dass ein organisches Wesen ein innerlich
zweckmäßiges, beseeltes oder belebtes Naturwesen ist, ein Mikrokosmos,
dessen ungleichartige Teile dem Zweck des Ganzen als Werkzeuge dienen. Die organischen
Wesen bilden eine Stufenfolge von der Pflanze zum Tiere und von da zum
Menschen.
Für Kant (1724-1804)
ist das organische Wesen
ein seine Gattung fortpflanzendes, sich selbst als Individuum im Wachstum
fortbildendes Naturprodukt, dessen Teile sich gegenseitig erhalten, oder kürzer
zusammengefasst, ein Naturprodukt, das zugleich Naturzweck ist.
Beide Philosophen gründen also den Begriff
des organischen Wesens auf die Merkmale: Naturwesen, Selbsternährung, Wachstum,
gegenseitige Abhängigkeit der Teile, innere Zweckmäßigkeit.
Aber Kant fügt dem Begriff noch das Merkmal
der Erhaltung der Gattung hinzu und verfeinert den Begriff des Wachstums zum
Begriff der beständigen Selbsterzeugung des Individuums,
und für die Bestimmung
des Aristoteles, dass die Teile
des Organismus dem Zweck des Ganzen dienen,
die auch auf ein Kunstprodukt passt, setzt Kant den
Begriff der gegenseitigen Erhaltung der Teile des Organismus. So ist
Kants Definition der des Aristoteles überlegen.
(Kr. d. U. II, §§ 62-68; Vom Gebrauch teleologischer
Prinzipien 1788.)
Nach Kants Zeit ist der Begriff des organischen
Wesens namentlich durch die Entdeckung der Zelle neu begründet, aber philosophisch
noch nicht endgültig formuliert.
Wundt (geb. 1832) erklärt
den Organismus als einen aus einer großen Zahl ineinander greifender Selbstregulierungen
zusammengesetzten Apparat, der, sobald er mit einer Anzahl anderer gleich- und
verschiedenartiger Organismen in Wechselwirkung tritt, nun alsbald auf das so
entstehende Ganze ebenfalls das Prinzip der Selbstregulierung übertragen
muss (Logik).
Ostwald sieht in den Organismen Wesen, deren Betätigung der Energiestrom
ist und die befähigt sind, sich selbst zu erhalten und fortzupflanzen,
oder kurz, sich selbst als Individuen und Familien erhaltende stationäre
Energiegebilde (Vorles. üb. Naturphilos. 3. Aufl.
Leipzig 1905. S. 312-331).
Vergleiche Lebenskraft,
Telelogie.
organisch
S. 412
im bildlichen Sinne heißt jedes Verhältnis
einer Wechselwirkung, weil diese Wechselwirkung
das Hauptmerkmal
des Lebens ist,
so spricht man bildlich auch von organischen Verhältnissen des Staates,
der Schule, der Gesellschaft usw., ja sogar der Wissenschaften.
Denn die Wissenschaften, z.B. Politik und Geschichte,
Mathematik
und Naturwissenschaft stehen in Wechselwirkung,
und der »philosophische Kopf«, wie
Schiller den wahrhaft wissenschaftlichen
Menschen nennt, setzt sie stets in Wechselbeziehung.
Panentheismus
(Neubildung) S.
414 Siehe auch Eisler
heißt die Ansicht, nach der die Welt in Gott existiert,
der sie als höhere Einheit umfasst.
So dachte Malebranche (1638
-1715), der den Sitz der Geister und der Ideen der Körper in Gott
suchte, und so nennt man das System Fr. Krauses
(1781-1832).
Der Grundgedanke des Panentheismus spricht sich
in den Worten Fausts aus:»Der
Allumfasser, der Allerhalter, fasst und erhält er nicht dich, mich, sich
selbst?«
Pansatanismus
S. 414 Siehe
auch Eisler
hat O. Liebmann (Zur
Anal. d. Wirklichkeit, Straßburg 1876, S. 230) Schopenhauers
(1788 bis 1860) Willenslehre
genannt.
Die Fichte-Schelling-Hegelsche Philosophie lief
in Pantheismus
aus. Schopenhauer liefert dazu das Gegenstück
und die Karikatur. Die Benennung trifft nicht völlig zu; statt ihrer braucht
man jetzt die Benennung
Panthelismus.
Panspermie
(aus d. gr. geb. von pan = alles
und sperma = Samen), S.
415
Allsamigkeit, Verbreitung der Samen in der Welt, nennt Svante
Arrhenius (Das
Werden der Welten übersetzt von L. Bamberger, Leipzig 1907, S. 195 ff.) die Annahme, dass Lebenssamen in den Räumen des Weltalls umherirren, die
Planeten treffen und deren Oberfläche mit Leben erfüllen, sobald die
Bedingungen für das Bestehen der Organismen dort erfüllt werden. Durch
diese Theorie soll sowohl die Annahme einer generativ
acquivoca als auch die Rückkehr zur Linnéschen
Lehre von der Konstanz der Arten vermieden werden.
Die Theorie der Panspermie hat Vorläufer in
dem Franzosen Sales-Gayon de Montlivault (1821)
und dem Deutschen H. E. Richter
(1865). Arrhenius
nimmt an, dass es so kleine lebende Organismen gibt
(unter 0,00016 mm Durchmesser), dass der Strahlungsdruck der Sonne sie
in den Raum hinaustreiben könnte, wo sie auf Planeten, die ihrer Entwicklung
günstigen Platz böten, Leben erwecken könnten. Aber er gibt zu,
dass die Richtigkeit dieser Annahme direkt durch Untersuchung der aus der Luft
niederfallenden Samen wohl kaum bewiesen werden wird; und seine Lehre erklärt
in keiner Weise, wie diese im Weltraume befindlichen organischen Lebewesen aus
unorganischem Stoffe entstehen konnten, löst also nicht die Frage nach
der Entstehung der Organismen in ihrem Kern und Wesen, sondern schiebt die Lösung
nur weiter zurück, als die Theorie der generatio
acquivoca es tut.
Pantheismus
(von pan = alles u. theos =
Gott) S. 415ff. Siehe
auch bei Eisler
heißt seit Anfang des 18. Jahrhunderts dasjenige
religionsphilosophische
System,
welches Gott und die Welt nicht
voneinander trennt, sondern im Wesen
für eins erklärt.
Theismus heißt
im Gegensatz dazu das System, das an der Verschiedenheit
von Gott und Welt festhält.
Der Pantheist identifiziert Gott und Welt und verleiht
Gott ein immanentes Dasein in der Welt, während der Theist Gott
und Welt trennt und Gott eine transzendente Existenz zuschreibt. Leicht aber
verflüchtigt sich dem Pantheismus, wenn er
Gott und All gleichsetzt oder auch das eine in das andere setzt, die Bedeutung
des einen der gleichgesetzten Faktoren. Entweder verliert er über dem Begriff
Gott das Bild der Welt oder über dem Bilde der Natur das Bild Gottes.
Der Pantheismus erzeugt daher zwei Hauptrichtungen,
die akosmistische (Brahmaismus, Eleaten),
welche im Grunde die Welt leugnet, und die pankosmistische, atheistische (Spinoza,
Goethe, Strauß),
welche in Gefahr ist, Gott über der Welt völlig zu verlieren. (Siehe
Th. Ziegler, Religion und Religionen. Stuttgart 1893. S. 113 f.)
Bei den einzelnen Vertretern der Einheitslehre gewinnt der
Pantheismus durch Betonung eines besonderen Elementes an dem über
Geist und Körper hinaus gedachten Absoluten eine sehr verschiedene Färbung.
Realistisch erscheint er da, wo die Einheit eines Stoffprinzips wie bei Herakleitos,
oder die Einheit der Naturkraft, wie bei den Stoikern, hervorgehoben ist, idealistisch
da, wo, wie bei Hegel, Gott die sich selbst entwickelnde
Idee oder, wie bei Fichte, Gott die sittliche Weltordnung
ist. Abstrakt erscheint er da, wo eine fast nur mit negativen Prädikaten
ausgestattete Einheit wie bei den Eleaten gesetzt
ist, konkret da, wo Gott als das Allpersönliche in den Geistern gedacht
wird. (Vgl. Weisenborn, Vorlesungen über den
Pantheismus und Theismus. 1859. Frz. Hoffmann, Theismus und Pantheismus. 1861.)
Der Pantheismus, welcher innige Religiosität
keineswegs ausschließt, wie dies z.B. die indische Religion beweist, ist
eine weite und hohe poetische Weltanschauung, die etwas tief Beruhigendes an
sich hat; aber wir befinden uns meist außerhalb der Wissenschaft und im
Reiche der Phantasie, wenn pantheistische Gedanken unser Gemüt erfüllen.
Wir finden ihn in allen Zeiten vor.
Die Eleaten vertraten einen abstrakten
Pantheismus (Xenophanês de prôtos
toutôn henisas eis ton holon ouranon apoblepsas to hen einai phêsi
ton theon. Arist. Met. I, 5, p. 986 b 21), indem sie nur dem einen
Sein Existenz zuschrieben; Herakleitos (um
500 v. Chr.) sah in dem All ein göttliches Urfeuer.
Auch die Stoiker legten dem Göttlichen als Substrat das Feuer unter. Andere
war der neuplatonische Pantheismus beschaffen,
der die bunte Erscheinungswelt aus dem einen Gott durch Emanation
ableitete, sei es, wie bei Plotinos und Proklos,
in der Form spekulativer Entwicklungen, sei es, wie bei Jamblichos,
vermischt mit dämonischen Phantastereien.
Im Mittelalter tritt der Pantheismus
nur vereinzelt auf, entweder im Anschluss an Plotinos,
bei Scotus Erigena, oder an Averroes,
bei David v. Dinanto.
Das erwachende Naturstudium des 16. Jahrhunderts rief eine Art von Schwärmerei für die mit Gott identifizierte Natur
hervor (Vanini, Campanella,
Giordano Bruno).
Mehr panentheistisch
als pantheistisch war die Lehre Malebranches
(1638-1715), dem
Gott als der Sitz der Geister erschien.
Der nüchternste und konsequenteste
Pantheist ist Spinoza (1632-1674),
dem das All »deus sive natura« war; er verschmäht jeden poetischen Reiz, jede bestechende Rhetorik. Nachdem
er lange Zeit mehr verketzert als studiert war, haben sich Herder,
Goethe und die neueren Philosophen nach Kant
mehr oder weniger an ihn angeschlossen, namentlich Fichte,
Schelling, Hegel, Schleiermacher
und Fechner.
Bekannt gemacht hat ihn zuerst durch seine Polemik Fr.
Jacobi (1743 bis 1819).
Die Lehre E. v. Hartmanns (1842-1906)
als Pantheismus zu bezeichnen, ist unzulässig. Pantheismus kann vernünftigerweise nur da
gesucht werden, wo Gott nicht
in das Gegenteil verkehrt wird. Bei v. Hartmann ist aber das Absolute vernunftloser Wille und ohnmächtige logische Idee,
und der Hartmannsche
Pessimismus fordert als Endresultat die Aufhebung des Daseins. Die durch
Verbindung von Christentum und Buddhismus geschaffene Zukunftsreligion Hartmanns,
die er als konkreten Monismus
bezeichnet, hat mit dem Pantheismus nur den Gedanken
der Einheit des (Unbewussten) Absoluten gemeinsam.
Gegen den Pantheismus richtet sich außer
den Bedenken, die jede Identitätsphilosophie erweckt, der Einwand, dass es für ihn fast unmöglich ist, dem Individuum
gerecht zu werden, dass die menschliche Persönlichkeit mit ihrem Selbstbewusstsein
und ihrer Selbstbestimmung unerklärlich wird, und dass ihm die Erklärung des Übels und des
Bösen kaum ohne Gewaltsamkeiten gelingt. Vgl.
Pansatanismus. Jaesche, der Panth. nach seinen Hauptformen. Berlin 1826. Schuler,
der Pantheismus. Würzburg 1884. Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart.
Leipzig 1904. S. 256 ff., 378 ff.
Panthelismus
(v. gr. pan =
all u. thelô = ich will) S.
417
heißt die Lehre Schopenhauers (1788-1860),
nach der der Wille
das Wesen aller
Dinge ist.
Vgl. Pansatanismus,
Voluntarismus.
paradox
(gr. paradoxos) S. 417
heißt seltsam, wider Erwarten. –
Paradoxie oder Parádoxon heißt eine Behauptung, welche dem
gesunden Menschenverstand (common sense) widerspricht.
Die Eleaten und die Stoiker
liebten es, solche Paradoxa aufzustellen.
Cicero (106-43 v. Chr.) überliefert in seinen »Paradoxa« folgende Sätze: 1. Nur was sittlich, ist gut. 2.
Die Tugend genügt zum Glück. 3. Tugenden und Laster sind gleichartig.
4. Jeder Unweise ist ein Wahnsinniger. 5. Der Weise allein ist frei, der Unweise
ein Sklave. 6. Der Weise allein ist reich.
Schopenhauer (1788-1860) hält die Paradoxie für ein günstiges
Symptom der Wahrheit,
und F. Nietzsche (1844
-1900) liebt es, den Leser durch paradoxe Sätze
zu fesseln.
Parallelismus
(gr. parallêlismos
= Gleichlauf, Gleichförmigkeit)
S. 417f.
heißt die Lehre, dass Körper und Geist, Leib und Seele zwei gleichlaufende
Reihen bilden. Einen metaphysischen Parallelismus der Attribute Gottes, des
Denkens und der Ausdehnung, der Ideen und Körper, und damit zusammenhängend
einen psychophysischen (anthropologischen) Parallelismus des Geistes und des
Körpers nimmt Spinoza (1632-1677)
an und ersetzt hierdurch den Okkasionalismus der Cartesianer. Er lehrt, dass nur ein in sich selbst und für sich selbst
bestehendes Wesen,
nur eine Substanz,
Gott oder die Natur,
existiere. Diese besitze unendlich viele Attribute, von denen der menschliche
Intellekt zwei als ihr Wesen ausmachend erkennt,
das Denken
(cogitatio) und die Ausdehnung (extensio).
Alles Einzelne ist demgegenüber nur unselbständig, nur Zustand der Substanz (affectio), nur Modus. Alle Ideen sind Modi des Denkens, alle Körper Modi der Ausdehnung.
Die Ideen haben daher nicht die Körper, und die Körper nicht die Ideen
zur Ursache; die Ideen haben vielmehr Gott als denkendes Wesen und die Körper
Gott als ausgedehntes Wesen zur Ursache. Beide gehen aber in gleicher Weise
aus den Attributen Gottes hervor und drücken das Wesen ein und derselben
Substanz aus, so dass sie zwei nebeneinander parallel laufende Reihen bilden
(Parallelismus der Attribute). Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen
ist daher nach Spinozas Auffassung im Weltall dieselbe
wie die Ordnung und Verknüpfung der Körper (ordo
et connexio idearum idem est ac ordo et connexio renim Eth. II Prop. 7).
Auf den Menschen (anthropologisch) angewandt, besagt diese Lehre, dass die Ordnung
und Verknüpfung des Handelns und Leidens unserer Seele dieselbe ist wie
die Ordnung und Verknüpfung des Handelns und Leidens unseres Körpers.
Hierin besteht der Zusammenhang beider. Auch der Hæckelsche Monismus schließt den Gedanken des Parallelismus
in sich ein.
Leibniz (1646 bis 1716) setzte an Stelle dieser
Lehre Spinozas die Idee der
prästabilierten Harmonie .
Partitio
(lat. partitio = Teilung)
S. 421
hieß im Altertum allgemein die Einteilung
eines Ganzen in seine Teile.
In der neueren Logik
bedeutet es die Einteilung des Inhaltes
eines Begriffs,
während Divisio die
Einteilung des Umfangs
bezeichnet. (Quintil. inst. or. 4, 5. Überweg,
System der Logik § 50.) Vergleiche
Divisio, Einteilung.
patristische
Philosophie (franz.) S.
424
heißt innerhalb der Geschichte der Philosophie die der Scholastik vorausgehende
Philosophie der Kirchenväter
( patres ecclesiae), die
durch strengere Fassung der christlichen Lehre und in Anlehnung an die alte
Philosophie einen ersten Versuch zur Begründung dieser Lehre machte.
So verfolgten die Apologeten im
2. Jahrh. n. Chr. das Ziel, die christliche Religion
den Gebildeten als die wahre Philosophie des Geistes,
der Freiheit und der Sittlichkeit zu empfehlen.
Ebenso versuchten die Alexandriner
(Ende des 2. Jahrh.) Wissenschaft
und Christentum in Einklang zu setzen.
Ähnlich versuchte die jüngere Patristik,
die Dogmen
zu beweisen.
Die katholische Kirche rechnet zur Patristik alle
Kirchenlehrer bis zum 13., die protestantische
Kirche dagegen nur bis zum 8. Jahrhundert,
Vgl. A. Stöckl, Gesch. der christl. Philos. zur
Zeit der Kirchenväter. 1891. J. Huber, Philosophie der Kirchenväter.
1859. Chr. Baur, das Christentum der drei ersten Jahrh. 1860. Vergleiche
Gnosis.
Pelagianismus
S. 424
heißt die von dem britischen Mönche Pelagius
(Anfang des 5. Jahrh. n. Chr.) vertretene Lehre, dass durch
Adams Sündenfall die menschliche Natur nicht
verdorben, der Mensch daher willensfrei und durch die Kraft seines Willens
befähigt sei, auch außerhalb der Kirche der göttlichen Gnade
teilhaftig zu werden. Sie bildet den Gegensatz zur Lehre Augustins
(353-430), der die Erbsünde
und Prädestination annahm. Vergleiche
Prädestination
und Determinismus.
Peripatetiker
(gr. peripatêtikos =
Philosophen von den Spaziergängen) S.
425
heißen die Anhänger des Aristoteles
(384-322), von den schattigen Gängen
(peripatoi) des Lykeions, in denen Aristoteles
lehrte.
Sie haben sich weniger mit der Fortbildung als mit der
populären Auslegung und gelehrten Feststellung seiner Lehre
beschäftigt.
Hervorragend sind Theophrastos, Eudemos, Aristoxenos,
Dikaiarchos, Straton, Lykon, Ariston, Hieronymos, Kritolaos, Diodoros, Staseas,
Kratippos.
Unter den späteren Kommentatoren des Aristoteles
sind am bekanntesten Andronikos von Rhodos, Boëthius
aus Sidon, Nikolaos von Damaskos, Alexander von Aigai, Aspasios und Adrastos
von Aphrodisias, Alexander von Aphrodisias, endlich Porphyrios,
Philoponos und Simplicius.
Seit dem 12. Jahrhundert beherrschte Aristoteles
die Scholastik,
deren größte Vertreter, Albertus
Magnus, Thomas
von Aquino und Duns Scotus, ihm anhingen.
Zur Zeit der Renaissance traten Neu-Aristoteliker
auf, die sich wieder entweder dem Averroes
oder Alexander v. Aphrodisias oder Platon
mehr näherten.
Der neueste Vertreter des Aristotelismus ist Trendelenburg
(1802-1872) gewesen. Vergleiche
Aristotelismus.
Person
(vom lat. persona.
gr. prosôpon = Maske, Rolle, Mensch)
S. 425f.
heißt ein Wesen mit individueller Einheit und kontinuierlicher, im Wechsel
der körperlichen und geistigen Zustände beharrender Identität
des Bewusstseins.
Personen sind oder Persönlichkeit besitzen vernunftbegabte Wesen,
welche Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung haben und daher zurechnungsfähig sind. Sie können im Staate Rechte erwerben und Pflichten übernehmen,
während Sachen und Tiere nur der Gegenstand rechtlicher Verhältnisse
sein können.
Im speziellen bedeutet Person entweder
ein erkenntnistheoretisches Subjekt,
das sich seiner numerischen Einheit bei den Veränderungen bewusst ist oder
ein metaphysisches Subjekt, d.h.
eine beharrliche Substanz mit dem Bewusstsein ihrer Identität, oder
ein moralisches Subjekt, welches,
unabhängig vom Naturmechanismus, sich selbst Zwecke setzen kann und daher
auch der Zurechnung fähig ist, oder
ein juristisches Subjekt, welches
in einem Rechtsverhältnisse berechtigt oder verpflichtet ist.
Die Anlage zur Persönlichkeit bringt der Mensch mit auf die Welt, er kann sie daher weder verlieren noch freiwillig
aufgeben. Sie ist der Grund aller Menschenrechte und Menschenpflichten. Die
Sklaverei ist widersinnig und unberechtigt, weil sie den Menschen
als Sache, nicht als Person behandelt.
Der Begriff der Person und der Persönlichkeit hat seine Ausprägung zunächst
durch die Dogmatik des Christentums gewonnen, nachdem er von Tertullianus
(† 220 n. Chr.) eingeführt und von
Boëthius (480-524) in die Form gebracht
war:
Person ist
ein vernünftiges Einzelwesen (Persona
est rationalis naturae individua substantia).
In der neueren Philosophie hat ihm vor allem Locke und Kant feste Gestalt gegeben.
Locke (1632 bis 1704) versteht unter der Person: »ein
denkendes, vernünftiges Wesen mit Verstand und Überlegung, was sich
als sich selbst und als dasselbe denkendes Wesen zu verschiedenen Zeiten und
Orten auffassen kann, indem dies nur durch das Selbstbewusstsein geschieht,
was vom Denken nicht zu trennen und - wesentlich ist« (Ess.
II, 27 § 9).
Kant (1724 bis 1804) unterscheidet
bezüglich der Person das logische,
reale und vernünftige Subjekt.
Das logische Subjekt ist sich
der numerischen Identität seiner selbst in
verschiedenen Zeiten bewusst. Ich bin in diesem Verstande eine Person.
Das reale Subjekt ist eine beharrliche
Substanz mit Bewusstsein ihrer Identität. Ob ich dieses bin, hält
Kant für unbeweisbar, weil mein Bewusstsein fließen und in
ein anderes Subjekt übergehen könnte.
Ein vernünftiges Objekt ist ein Wesen, das von dem Mechanismus der Natur
unabhängig sich Zwecke vorsetzen kann und daher Zweck an sich selbst ist (Kr. d. r. V. S. 341 ff.).
Personifikation (lat.) heißt Verpersönlichung, Darstellung von Unpersönlichem als Person (gr. Prosopopöia). Vergleiche Ich.
Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipzig 1904. S. 344 ff.
Perzeption
(lat. perceptio =
Aufnahme, Erfassung) S. 426ff.
heißt zunächst die sinnliche Wahrnehmung und dann auch in erweiterter
Bedeutung die bewusste Vorstellung. In der ersten Bedeutung ist der Begriff klar zuerst innerhalb des englischen Empirismus und Sensualismus im 17. und
18. Jahrh. geprägt worden.
Bei Leibniz (1646-1716) verschiebt und trübt sich der Begriff der Rezeption unter dem Einflusse
der Metaphysik. Nach Leibniz besteht die Wirklichkeit aus Monaden (âmes).
Jede Monade, so auch die menschliche Seele, ist ein Spiegel des Universums.
Aber keine Monade erleidet äußere Einwirkungen, und es kann ihr keine Vorstellung von außen zukommen. Die Quelle der Vorstellungen der Seele liegt vielmehr in ihr selbst. Die sinnliche Wahrnehmung ist für Leibniz daher nicht ein Gegensatz zum Denken, sondern nur die unvollkommenere verworrene
Vorstufe des Denkens. Leibniz macht demgemäß die Perzeption zur Vorstellung,
zum inneren Zustand der Monade. Er scheidet dabei zwischen kleineren Perzeptionen (petites perceptions), die die unbewussten (insensiblen) Elemente anderer Vorstellungen sind und den zusammengesetzteren bewussten (remarquables) Perzeptionen, die
aus jenen entstehen. Der Perzeption (der sinnlichen Vorstellung) stellt er die
Apperzeption entgegen. Jene ist der einzelne vorübergehende Zustand der
Monade, diese der Eintritt der Rezeption in das Selbstbewusstsein und das über
den Zustand nachdenkende Bewusstsein der Seele.
Kant (1724-1804) verändert
weiter den Begriff der Perzeption. Sie ist ihm eine Art der Vorstellung (repraesentatio), und zwar ist sie die Vorstellung mit Bewusstsein. Die Perzeption kann sich entweder
auf das Subjekt beziehen und heißt dann Empfindung, oder sie ist eine
objektive Perzeption und heißt dann Erkenntnis (cognitio). Die Erkenntnis ist entweder unmittelbar und einzeln und heißt dann Anschauung (intuitus), oder sie ist allgemein und mittelbar und heißt dann Begriff (conceptus) (Kr. d. r. V. S. 320). Der Perzeption ist bei Kant die Apperzeption, und zwar
die empirische als das Bewusstsein des jedesmaligen Zustandes und die transzendentale
als das Selbstbewusstsein überhaupt (ich denke) entgegengesetzt.
Herbart (1776-1841) schied zwischen der Perzeption, der sinnlichen Aufnahme und der Apperzeption der Aneignung und Verarbeitung der neu aufzunehmenden Vorstellungen durch die älteren untereinander verbundenen und ausgeglichenen Vorstellungsgruppen.
Wundt (geb. 1832) vergleicht
das Bewusstsein einem inneren Sehen und scheidet zwischen Blickfeld und Blickpunkt
des Bewusstseins. Die in einem bestimmten Momente gegenwärtigen Vorstellungen befinden sich im inneren Blickfelde, diejenigen, denen die Aufmerksamkeit zugekehrt
ist, im inneren Blickpunkt des Bewusstseins. Der Eintritt einer Vorstellung in das innere Blickfeld heißt Perzeption, der Eintritt in den Blickpunkt Apperzeption (Wundt, Grundz. d. phys. Psych. II, S.
235 ff.).
Im allgemeinen Sprachgebrauch heißt Perzeption jetzt sinnliche Aufnahme,
sinnliche Wahrnehmung, also das, was Kant als Anschauung (intuitus) bezeichnete.
Pessimismus
(nlt. v. lat. pessimus
= der schlechteste)
S. 428f. Siehe
auch bei Eisler
heißt die durch Schopenhauer
(1788-1860) und von Hartmann (1842-1906) begründete Theorie, nach der unsere Welt die schlechteste unter allen möglichen
Welten sein soll.
Schopenhauer bezeichnet den Optimismus,
die dem Pessimismus entgegengesetzte Weltstimmung,
als eine sinnlose und ruchlose Denkungsart. Von Glückseligkeit könne
hienieden nicht die Rede sein. Das irdische Leben biete höchstens Illusionen.
Unser Dasein trage den Charakter einer Tragödie, einer Verirrung, einer
Schuld. Die Welt ist vernunftloser, zielloser Wille. Seine Hemmung ist Leiden;
aber die Erreichung eines vermeintlichen Zieles bringt nie Befriedigung, sondern
weckt nur neues Streben. So bewegt sich das menschliche Leben zwischen Schmerz
und Langweile. Wahrhafte Güter existieren nicht.
Jugend, Freiheit, Gesundheit gewähren auch nach v.
Hartmann keine positive Lust; was aber sonst an Glück etwa aufgeführt
wird, ist Illusion. Alles ist eitel, die Unlust überwiegt bei weitem die Lust; völlige Vernichtung des Willens durch
die Intelligenz ist daher der höchste Zweck des Daseins. –
Der Pessimismus ist im Wesen nur der leidenschaftliche
Ausdruck für unbefriedigte Ansprüche des Menschen an das Leben. Mit
der ethischen Einsicht in das Unberechtigte dieser Ansprüche und mit der
Beherrschung der Leidenschaften schwindet er von selbst. Die Summe des menschlichen
Glücks kann mit Recht weder, was den einzelnen, noch was die gesamte Menschheit
betrifft, zum Maßstab für das Werturteil über die Welt gemacht
werden. Es wäre dies ein der ganzen Tendenz der Philosophie widersprechendes anthropozentrisches
Urteil. Von einem
allgemeinen »Weltelend« zu sprechen ist unzulässig, wo wir nur von den Ansprüchen der Menschheit
und nicht einmal der ganzen Menschheit ausgeben. Und auch für die Menschheit
ist alle Befriedigung nicht bloß negativ; Arbeit, Erwerb, Streben, Selbstbetätigung,
Gesundheit, Liebe, Ehe, Freundschaft u. dgl. sind nicht nur Illusionen,
sondern geben uns faktisch Glück. Auch Erinnerung, Hoffnung, Ruhm und
Phantasie sind eine Quelle des Genusses selbst für den, der erkannt
hat, dass sie objektiv nichts sind. Kunst, Wissenschaft, Moral und Religion mehren den geistigen Genuss des menschlichen Lebens. Vergeblich beruft sich
auch der Pessimismus auf die unbewiesene Lehre,
dass die Welt blinder, zielloser Wille sei, und mit Unrecht wirft er dem Optimismus
vor, dass er oberflächlich, der Pessimismus dagegen die tiefere Denkweise sei. Man kann vom Pessimismus frei sein, ohne Anhänger eines oberflächlichen, die Mängel des
Daseins übersehenden oder ableugnenden Optimismus zu sein. Vgl. Übel, Eudämonismus, Moralprinzip.
Man kann übrigens praktischen und theoretischen Pessimismus unterscheiden; jener wäre die Maxime,
an sich schlechte Zustände auf die Spitze zu treiben, um dadurch eine Besserung
zu erzielen. Dieser hat mancherlei Formen: Der soziale
Pessimismus findet, mit Malthus, eine Disharmonie
zwischen der Volksvermehrung und der Nahrung; auf die Idee des Kampfes ums Dasein,
wie ihn Darwin annimmt, gründet sich der
zoologische Pessimismus; der dichterische Pessimismus findet sich als Stimmung bei Jünglingen und poetisch veranlagten Menschen;
der oben geschilderte endlich ist der metaphysische Pessimismus.
Vgl. A. Taubert, der Pess. u. s. Gegner. Berlin 1873.
Pfleiderer, d. moderne Pess. Berl. 1875. Plümacher, der Pess. in Vergangenheit
u. Gegenwart. Heidelberg 1888.
petitio
principii (lat.),
Erschleichung des Grundes, S.429
heißt ein Fehler im Beweisen, der darin besteht, dass man einen Satz,
der selbst erst bewiesen werden müsste, als Beweisgrund anführt. So
begeht Kant eine petitio principii, wenn er die Apriorität der Raum- und
Zeitanschauung von der Notwendigkeit und Allgemeinheit mathematischer Lehrsätze
ableitet, die keineswegs feststeht, vielmehr selber erst aus der Apriorität
von Raum und Zeit folgen würde.
Pfeil
S. 429
»Der fliegende Pfeil ruht« ist einer
der Sätze des Eleaten
Zenon (geb. zw. 490 und 485 v. Chr.), mit dem
er die Nichtexistenz der Bewegung zu beweisen suchte
(Arist. Phys. VI, 9, p. 239 b. 30 tritos
d' ho nyn rhêtheis, hoti hê oistos pheromenê hestêken).
Der Fehler in dem Zenonischen Argument liegt, wie schon Aristoteles bemerkte,
darin, dass Zenon annahm, die Zeit bestehe aus den unteilbaren Augenblicken
(Tor ton chronon synkeisthai ek tôn nyn).
Pflicht
(officium),
eigtl. Sorge, Pflege, Dienst (vom
ahd. phlegan), S. 430ff.
heißt allgemein soviel als Obliegenheit. Eine Pflicht setzt ein Subjekt,
welches eine Aufgabe vorschreibt, und ein anderes, welchem die Aufgabe erteilt
wird und das sowohl des Gehorsams wie des Ungehorsams fähig ist, voraus.
In engerer Bedeutung ist Pflicht soviel als sittliches Gebot. Die Notwendigkeit,
welche die Pflicht dem Menschen auferlegt, ist hiernach keine nur äußerliche
oder physische, sondern eine innerliche, moralische ; der Mensch muss nicht
die Pflicht erfüllen, sondern er soll sie erfüllen. Dasjenige, was
ihn verpflichtet, ist im Allgemeinen die Vernunft, das Gewissen, der Charakter
und im Einzelnen das psychologische Motiv seines Willens, die alle natürlich
in Wechselwirkung mit den äußeren Umständen des Lebens stehen.
So erwächst die Pflicht aus Vernunft und Erfahrung, Anlage und Erziehung,
Notwendigkeit und eigenem Willen, Zwang und praktischer Freiheit.
Wir lernen gewisse Dinge als sittlich gut, andere als schlecht ansehen, und
wir begreifen, dass die Nichtbefolgung der Pflicht, sittlich zu handeln zum
physischen und seelischen Verderben führe. Das Sittliche wurzelt mithin
in der menschlichen Natur. Während aber die Ethik des Naturalismus keine
Pflichtenlehre kennt und die pantheistische Ethik der Philosophie des Absoluten
Natur- und Sittengesetz für im Grunde identisch annimmt, baut sich die
Ethik des Idealismus ganz und gar auf dem Pflichtbegriff auf.
Die Pflicht wird von ihr vornehmlich als der Gegensatz zu den natürlichen
Trieben und Neigungen gefasst und teils formalistisch, aber unzulänglich,
von der Art, wie die Bestimmung des Willens erfolgt, abgeleitet, teils, richtiger,
inhaltlich bestimmt, indem Ziel und Zweck der Handlung mit ins Auge gefasst
wird.
Die Pflichtenlehre ist zuerst von den Stoikern geschaffen, dann namentlich durch
das Christentum ausgebildet und als der Kern der Ethik von Kant stark betont,
der folgenden Hymnus auf die Pflicht anstimmt (Kr.
d.pr. Vernunft, S. 154): »Pflicht! du erhabener großer Name,
der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest,
sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche
Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern
bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang
findet, und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenngleich nicht immer
Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich ins geheim
ihm entgegenwirken, welches ist der deiner würdige Ursprung und wo findet
man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen
stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen, die unnachlassliche
Bedingung desjenigen Werts ist, den sich Menschen allein selbst geben können?«
Nüchterner definiert Kant den
Begriff der Pflicht (Metaphysik der Sitten
1, S. XXI):
»Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist (Verbindlichkeit
ist die Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ
der Vernunft).« Eine nicht rein formalistische Ethik des Idealismus kann
allerdings den schroffen Widerspruch zwischen Pflicht und Neigung nicht mit
Kant aufrechterhalten und muss in dem durch Erziehung hergestellten Einklang
von Trieb und Vernunftgebot, wie schon Schiller hervorhob, den höheren
sittlichen Standpunkt anerkennen.
Man unterscheidet die Pflichten nach ihrer Tragweite in absolute und relative,
assertorische und hypothetische, allgemeine und besondere, notwendige und bedingte.
Formal lassen sie sich in positive und negative, präzeptive und prohibitive
sondern.
Inhaltlich unterscheidet man Pflichten der Gerechtigkeit (Tugendpflichten)
und der Güte oder Liebe. Das Christentum macht den Unterschied von Pflichten
gegen uns selbst, gegen andere und gegen Gott, Selbst-, Ander- und Gottespflichten.
Phänomen,
Phänomenon (gr.
Phainomenon = Erscheinung) S.
432f.
heißt ein Objekt oder ein Vorgang, dessen wir uns durch die Sinne bewusst
werden. So spricht man von physikalischen, chemischen
und psychologischen Phänomenen. Das Phänomen ist also nicht
die Sache an sich selbst, sondern die Sache, wie sie uns in den Formen unseres
Bewusstseins, von den Sinnen bestimmt, erscheint.
Kant definiert die Phänomena als
Gegenstände der Sinne, sofern sie nach der Einheit der Kategorien gedacht
werden (Kr. d. r. V., S. 248).
Metaphysisch steht das Phänomenon im Gegensatz
zu dem Nooumenon,
dem Gedanken- oder Verstandesdinge. –
Phänomenologie heißt,
1. die Lehre von den Erscheinungen, also auch von der Wahrnehmung;
2. die Darstellung von verschiedenen Entwicklungsstufen unseres Bewusstseins.
So stellt Hegel (1770-1831)
in seiner »Phänomenologie des Geistes«
den Geist in seiner Erscheinung als Bewusstsein und die Notwendigkeit seiner
Entwicklung bis zum absoluten Standpunkt dar;
3. die Darstellung einer Entwicklung überhaupt. So hat v.
Hartmann eine »Phänomenologie des sittlichen
Bewusstseins« geschrieben und darin alle überhaupt möglichen
Moralprinzipien behandelt; Scheidler u. a. nannten
den speziellen Teil der Psychologie Phänomenologie
der Seele.
Phänomenalismus
(von gr. phainomenon, Erscheinung) S.
433
heißt die Lehre, dass wir nicht die Dinge an sich, sondern nur ihre Erscheinungen
erkennen. Sie beruht auf der Lehre von der transzendentalen Idealität von
Raum und Zeit und ist eine Seite des Kantischen Kritizismus.
Phantasie
(gr. phantasia
= Darstellung, Erscheinung, Vorstellung, Vorstellungskraft)
S. 433ff.
oder Einbildungskraft heißt das Vermögen unseres Geistes, Anschauungen in freier Weise zu reproduzieren, sie apperzeptiv mit Vorstellungen zu verbinden und nach einem bestimmten Plane umzugestalten. Sie wirkt mehr bewusst oder mehr
unbewusst, mehr passiv oder mehr aktiv, ist an die Anschauung von Raum und Zeit wie auch an die wirkliche Welt als an ihre Quelle gebunden und wird sowohl durch
sensible Reize, als auch durch lebhafte Gefühle und fesselnde Gedanken
besonders erregt. Ihr Einfluss lässt sich auf physischem, physiologischem,
logischem, ästhetischem und ethischem Gebiet verfolgen. Ihre Kraft ist
auf allen diesen Gebieten schöpferisch.
Vom logischen Denken ist die Phantasietätigkeit durch ihre sinnliche Lebendigkeit
unterschieden, und Wundt nennt sie daher in » Denken in Bildern «
(Grundz. der phys. Psychol. II, S. 397ff.). –
Zunächst beeinflusst sie unser Leibesleben ; ansteckende Krankheit, Nervosität und Ekstase können vereinzelt durch die Phantasie übertragen werden;
unsere Sinne empfangen oft durch sie täuschende Reize. Der Hungernde schmeckt
die vorgestellte Speise, der Furchtsame sieht und hört den Räuber,
der Verfolgte fühlt die Faust des Verfolgers. Illusion, Vision, Halluzination
sind zum Teil das Werk der Phantasie, ebenso das Traumleben, der Somnambulismus
und die Psychose.
Auch die Wissenschaft steht unter ihrem Einfluss, und die Philosophie, soweit
sie schöpferisch ist und eine Weltanschauung konstruiert, bedarf ihrer.
Es ist kein größeres System ohne die Phantasietätigkeit aufgestellt,
auch keine wichtigere Erfindung ohne sie gemacht worden.
Auf ethischem Gebiete schafft sie die Ideale, welche zum Handeln begeistern,
verstärkt sie die Macht des Beispiels und befördert sie die Freiheit
der Wahl. Die Kunst verdankt ihr fast alles.
Auch die Religion, welcher die Kunst vielfach verwandt ist, bedarf ihrer, wie
die Geschichte der Religion bezeugt.
So erweist sich die Phantasie als eine schöpferische Grundkraft der Seele,
die, passiv, beständig in uns wirksam ist und die logische Tätigkeit
vorbereitet, begleitet und unterstützt, aktiv, die verstecktere und nicht unter Regeln und Gesetze zu bringende Schaffensweise des menschlichen Geistes
bildet.
Aristoteles versetzt die Phantasie zwischen die Wahrnehmung (aisthêsis) und das Denken (dianoia, noêsis) (De an. III, 3, p. 427 b 14) und sieht
in ihr eine psychische Nachwirkung der Empfindung, eine abgeschwächte Empfindung
(aisthêsis tis asthenês), die sich auf Vergangenheit und Zukunft
bezieht (Rhet.1, II, p. 1370 a 28).
Die Stoiker unterscheiden zwischen dem Bewusstsein der Affektion (phantasia
d.h. pathos en tê psychê genomenon) und dem Objekte, der Ursache
derselben, (phantaston, to poioun tên phantasian), der bloßen Einbildung,
der nichts zugrunde liegt (phantastikon) und demjenigen, was solche Einbildung in Träumen veranlasst (phantasma).
Augustinus (353-430) kennt drei Arten der Phantasie: die reproduktive, produktive
und synthetische (Ep. ad Nebrid. 62).
Die Phantasievorstellungen gehören bei Descartes (1596-1650) zu den von
dem Menschen selbst gebildeten (factae).
Die neuere Philosophie hat sich nur wenig mit diesem höchst wichtigen Seelenvermögen
beschäftigt.
Erst Kant (1724-1804) tat es, indem er die Einbildungskraft (Phantasie) zwischen Sinnlichkeit
und Verstand einschob (Kr. d. r. Vernunft, S. 137 ff.); sie hat den Stoff, den
jene herbeischafft, synthetisch zur Einheit zu bringen. Auf ihr beruht der Schematismus
der reinen Vernunft (s. d.).
J. Frohschammer (1821-1893) bezeichnet die Phantasie als das schöpferische
Weltprinzip (Die Phantasie als Grundprinzip des Weltprozesses, München
1877); ähnlich, wenn auch mehr nur auf die organische Welt beschränkt,
fassten sie Krause, J. H. Fichte und Ulrici auf.
Man unterscheidet determinierende, abstrahierende und kombinierende Phantasie;
doch sind diese Unterscheidungen mehr künstliche als natürliche, da
sich bei jedem Vorgange mehr oder weniger alle Seiten der Phantasie zeigen.
Die Einbildungskraft ist auch die Hauptquelle des Irrtums,
Vgl. H. Cohen, Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins.
Berlin 1869.
H. Sibeck, Das Wesen der ästhet. Anschauung. Berlin 1875.
S. Rubinstein, Psychologisch-ästhet. Essays. Heidelberg 1878.
J. Frohschammer,
Bedeutung der Einbildungskraft in der Philosophie Kants und Spinozas. München
1879.
Phantast
(gr. phantastês) S.
435
heißt derjenige, welcher auf die Wirklichkeit gern Bilder der Phantasie überträgt.
Philosophém
(gr. philosophêma) S.435
heißt allgemein eine philosophische Behauptung, bei Aristoteles (Top.
VIII, 11, p. 162 a 15) ein apodiktischer Syllogismus. Siehe Epicherém,
Aporema, Sophisma.
Philosophie
(gr. philosophia von
philos = Freund und sophia =
Weisheit), S. 435ff.
eigtl. Liebe zur Weisheit, heißt diejenige Wissenschaft, welche die Grundlagen
aller Wissenschaften zu untersuchen, ihre Ergebnisse in Einklang zu setzen und
so das Wissen zu einem Gesamtweltbilde zusammenzufassen hat.
Die Philosophie ist Wissenschaft des Ganzen. Alle Einzelwissenschaften haben
es mit besonderen Gebieten des Wissens von der Natur oder von der Geschichte
zu tun; die Philosophie allein untersucht das Wissen überhaupt, seine Prinzipien
und Methoden. Jene arbeiten isoliert für sich, sie brauchen aufeinander
nicht überall Rücksicht zu nehmen; die Philosophie stellt dagegen
den Zusammenhang zwischen ihnen her; sie ist ihr geistiges Band.
Die Philosophie setzt andrerseits die verschiedenen Wissenschaften voraus; diese
müssen ihr die Resultate ihrer Einzelforschung darbieten, damit sie selbst
bei Aufstellung der Weltanschauung nicht in leere Phantasmen gerate. –
Die Philosophie ist griechischen Ursprungs. Ihr Name findet sich nicht bei Homer
und Hesiod, sondern erst bei Herakleitos (philosophousandras), dann bei Herodot
(I, 30: Xeine 'Athênaie, par' hêmeas gar
peri seo logos apikto pollos kai sophiês heineken tês sês
kai planês, hôs philosopheôn gên pollên theôriês
heineken hypelêlythas) und bei Thucydides II, 40 (philokaloumen
gar met' euteleias kai philosophoumen aneu malakias).
Nach Cic. Tusc. V, 3, 8 und Diog. Laert. Prooem. § 12 soll Pythagoras (ca.
500 v. Chr.) sich zuerst einen Philosophen genannt haben.
Für Sokrates (469 bis 399) war die Philosophie begriffliches Wissen. Platon
(427 bis 347), der zuerst ein philosophisches Lehrgebäude schuf, nennt
die Philosophie die Wissenschaft der Ideen, die Kunst, die Seele von der Sinnlichkeit
zu befreien, oder auch die Kunst, sterben zu lernen.
Für Aristoteles (384-322) ist sie die Wissenschaft überhaupt, oder
im engeren Sinne Forschung nach den höchsten Prinzipien (epistêmê
tôn prôtôn archôn kai aitiôn theôrêtikê.Met.
I, 2, p. 982 b 9).
Während die Stoiker die Philosophie als das Streben nach Tugend ansahen,
bezeichneten sie die Epikureer als das rationelle Streben nach Glückseligkeit.
Die Scholastik des Mittelalters erniedrigte die Philosophie zur ancilla theologiae.
Chr. Wolf (1679-1754) bezeichnete sie als Wissenschaft von dem Möglichen,
wiefern es sein kann.
Kant (1724-1804) erklärt sie für die Wissenschaft von den Vernunftprinzipien
der Erkenntnis oder für die reine Vernunfterkenntnis aus Begriffen (andrerseits
auch als Lehre vom höchsten Gut. Vgl. Primat.).
Fichte (1762-1814), Schelling (1776-1854) und Hegel (1770-1831) definieren sie
als die Wissenschaft vom Absoluten,
Herbart (1776-1841) als die Wissenschaft von der Bearbeitung der Begriffe,
Schopenhauer (1788-1860) als die vollständige Wiederholung, gleichsam Abspiegelung
der Welt in abstrakten Begriffen.
Zur Philosophie gehören anerkanntermaßen folgende Gebiete:
1. als Grundlage aller Philosophie die Erkenntnistheorie, welche die Grenzen
und die Tragweite des gesamten Wissens zu untersuchen hat,
2. die Metaphysik, die es mit den letzten Gründen alles Seins, mit dem,
was über der Natur und hinter der Erscheinungswelt liegt, zu tun hat,
3. die Naturphilosophie, die sich mit dem Wesen und Werden der Welt beschäftigt,
4. die Psychologie, die Lehre von den Bewusstseinsvorgängen,
5. die Logik, die Wissenschaft von den Gesetzen des Denkens,
6. die Ethik, die Wissenschaft vom Sittlich-Guten und -Bösen,
7. die Ästhetik, die Lehre von den Empfindungen, die durch das Schöne
und das ihm Verwandte oder Entgegengesetzte hervorgerufen werden.
An die Ethik und Psychologie schließt sich die Pädagogik oder Erziehungslehre,
die Soziologie und Politik oder die Gesellschafts - und Staatslehre, und die
Rechtslehre, an die Metaphysik die Religionsphilosophie an. –
Platon teilte die Philosophie in Dialektik, Physik und Ethik,
Aristoteles in theoretische und praktische Philosophie.
Chr. Wolf (1679-1754) schickte die Ontologie voran; dann ließ er die reine
Philosophie (Kosmologie, Psychologie, Theologie) und die praktische ( Logik
und Erfindungskunst, Ethik, Politik und Ökonomik) folgen.
Kant (1724-1804) teilt die Philosophie in Transzendentalphilosophie und Metaphysik,
die Metaphysik in Metaphysik der Natur und der Sitten.
Herbart (1776-1841) unterschied Logik, Metaphysik (reine und angewandte, d.h.
Psychologie und Naturphilosophie) und Ästhetik (d.h. Ethik, Rechtsphilosophie,
Pädagogik und Soziologie).
Hegel (1770-1831) teilte die Philosophie ein in: Logik, Naturphilosophie und
Geistesphilosophie.
Endlich Schleiermacher (1768-1834) unterscheidet empirische und spekulative
Philosophie; jene schildert, was ist: Natur- und Geschichtskunde; diese, was
sein soll: Psychologie und Ethik. Über die Geschichte der Philosophie s.
o. S. 233.
Gegen die Philosophie sind oft von verschiedenen Seiten mancherlei Beschuldigungen
erhoben worden:
Während Platon sie eine königliche Kunst (basilikê technê,
Euthydemos 18, 291 B) genannt hat, sagt A. v. Humboldt, sie sei die Kunst, einfache
Begriffe in schwerfälliger Weise wiederzugeben, und Goethe behauptet: »Genau
besehen ist alle Philosophie nur der Menschenverstand in amphigurischer Sprache«.
(Sprüche in Prosa 635).
Aber der gesunde Menschenverstand reicht keineswegs aus zur Erforschung der
letzten Wahrheiten, und einfach sind die Grundbegriffe der Philosophie gewiss
nicht. Oft wirft man ihr Penelopearbeit vor, weil ein System das andere auflöst;
aber es ist andrerseits ein Fortschritt in den Systemen erkennbar, und was der
eine Philosoph als ganze Philosophie ansah, findet oft seinen angemessenen Platz
als Teil und Baustein in späteren Systemen.
Der Philosophie wird oft Feindschaft gegen die Religion vorgeworfen. Aber schon
Bacon (1561 - 1626) sagte richtig: die Philosophie, oberflächlich betrieben,
führt von Gott ab, tiefer behandelt, zu ihm hin.
Religion ohne Philosophie bleibt stets oberflächlich und schwankend, und
es ist ein großer Mangel des Protestantismus, dass er es bisher nicht
zu fester Verbindung mit der Philosophie gebracht hat. Der Philosophie wird
ferner Untergrabung der Achtung vor der Autorität zur Last gelegt (Sophisten,
Freidenker, Enzyklopädisten, Rationalisten und Naturalisten); aber die
Irrwege der Philosophie sind nicht die Philosophie selber und die Autorität,
die nicht vor vernünftiger Aufklärung bestehen kann, ist nichtig.
Endlich werfen ihr die Anhänger der exakten Forschung vor, sie sei überhaupt
keine Wissenschaft, da sie sich nicht auf feste Formeln bringen lasse; aber
sie fassen die Aufgabe der Wissenschaft zu eng. Die Philosophie ist zwar kein
abgeschlossener Bau, sondern wandelt sich mit den Fortschritten der Wissenschaften
und des Lebens; aber was ihr an Fertigkeit abgeht, besitzt sie an Lebensfrische.
Physik
(gr. physikê sc. epistêmê),
S. 441f.
eigentlich Naturlehre im
weitesten Sinne des Wortes, heißt heute derjenige Teil der Naturwissenschaft,
welcher von den Gesetzen
der in der unbelebten Natur
vorkommenden Vorgänge handelt, sofern diese Vorgänge nicht
eine wesentliche Veränderung
der stofflichen Eigenschaften
der Körper
in sich einschließe. Sie begründet sich auf Empirie
und Induktion,
ist aber in ihren Einzelproblemen der mathematischen
Behandlung fähig; doch vermag sie nur das Wie,
nicht das Warum der
Erscheinungen
zu erklären; dazu dienen vielmehr die Hypothesen
der Naturphilosophie.
Zur Physik pflegt man die Experimentalphysik
und die theoretische Physik zu
rechnen, als metaphysische
Physik pflegt man aber die Naturphilosophie
zu bezeichnen.
Bei den Griechen schloss die Physik
die metaphysischen Probleme
mit in sich ein und bildete neben Ethik
und Dialektik
einen Hauptteil der Philosophie. Experimentell wurde sie besonders von Archimedes,
Heron, Ptolemäus u. a. behandelt.
Das Mittelalter begnügte sich damit, den Aristoteles
auszulegen; daher sind physikalische Entdeckungen in dieser Zeit ganz vereinzelt.
Als eigentlicher Begründer der modernen Physik
ist Galilei (1564-1641) anzusehen,
während Bacon (1661-1626)
in seinem Novum Organon die Empirie
und Induktion wohl als die
einzig sicheren Quellen der Erkenntnis
pries, die Physik selbst aber nicht
förderte. Vergleiche Natur,
Naturphilosophie.
Platoniker
S. 445
hießen teils die unmittelbaren Schüler
Platons (Akademie),
teils die Neuplatoniker,
teils die Mitglieder der von Cosmo v. Medici ins
Leben gerufenen platonischen Akademie (15.
Jahrh.).
platonische
Liebe S. 445
heißt die Zuneigung zu einer Person des anderen Geschlechts, welche frei
ist von Sinnlichkeit und nur aus geistiger Hinneigung entspringt. Sie
hat ihren Namen davon, dass Platon von der Geschlechtsliebe
eine höhere geistige Liebe,
auf welcher der philosophische Trieb beruht, geschieden
hat.
Vgl. Wiegand, die wissensch. Bedeutung der platonischen
Liebe. Berl. 1877.
Platonismus
S. 445f.
ist die Philosophie
Platons (427-347). Sie
besteht in einem
Idealismus, der dem Einzelnen und der Sinnenwelt die
Existenz abspricht, den allgemeinen Begriffen (Ideen) das substanzielle
Dasein zuspricht und in ihnen die Wirklichkeit
erblickt.
Der Platonismus nimmt die wirkliche
Welt als eine metaphysische Vielheit von Begriffen, nicht als eine Einheit (wie
die Eleaten),
strebt aber außerdem zu einer ethischen Weltanschauung hin und sieht in
der Idee des Guten die höchste aller Ideen
und den Ursprung des ganzen Daseins.
Goethe hat in der Geschichte
der Farbenlehre unter der Überschrift »Überliefertes«
(Hempel XXXVI S. 96) Platon folgendermaßen
charakterisiert:
»Plato verhielt sich zu der Welt wie ein seliger
Geist, dem es beliebt, einige Zeit auf ihr zu herbergen. Es ist ihm nicht sowohl
darum zu tun, sie kennen zu lernen, weil er sie schon voraussetzt, als ihr dasjenige,
was er mitbringt, und was ihr so Not tut, freundlich mitzuteilen. Er dringt
in die Tiefen, mehr, um sie mit seinem Wesen auszufüllen, als um sie zu
erforschen. Er bewegt sich nach der Höhe, mit Sehnsucht, seines Ursprungs
wieder teilhaft zu werden. Alles, was er äußert, bezieht sich auf
ein ewiges Ganzes, Gutes, Wahres, Schönes, dessen Forderung er in jedem
Busen aufzuregen strebt. Was er sich im Einzelnen von irdischem Wissen zueignet,
schmilzt, ja man kann sagen verdampft in seiner Methode, in seinem Vortrag «.
Pluralismus
(nlat.)
S. 446
nennt man die Annahme, dass die Welt aus einer Vielheit
einzelner Wesen bestehe. Dahin gehört der Atomismus, die
Monadologie und die Herbart Lotzesche Metaphysik.
Der Pluralismus kann im Wesen
entweder Dualismus
sein, wenn Geist und Körper als wesentlich geschieden zugleich angenommen
werden, oder Monismus
(Materialismus,
Idealismus,
Identitätslehre),
wenn die Vielheit der Wesen gleichartig entweder nur als materielle oder nur
als geistige oder als absolute Einheiten gedacht werden.
Als Monismus ist er entweder Realismus,
wie im Atomismus, oder Idealismus,
wie im Platonismus
und der Monadenlehre, oder Idealrealismus
wie bei Herbart und Lotze.
Kosmologischer Pluralismus bedeutet
soviel als die Annahme mehrerer von Menschen bewohnten Welten.
Kant (1724-1804) versteht
in seiner Anthropologie § 2 unter Pluralismus
eigenartig die dem Egoismus
entgegengesetzte Denkungsart »sich nicht als die
ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger
zu betrachten und zu verhalten.«
Pneuma
siehe bei
Eisler
Pneumatiker
(v. gr. pneuma = Geist)
S. 446
sind
1. eine
medizinische Schule im 1. Jahrh. n. Chr.,
welche eine Art von Luftgeist als Urheber der Gesundheit
und Krankheit ansahen;
2. nach der
Bezeichnung der Gnostiker
diejenigen Menschen, welche nicht unter der Herrschaft der Hyle
(Materie) oder der Psyche
(des sinnlichen Lebenskeims), sondern
des göttlichen
Pneuma (heiliger Geist) stellen.
Pneumatologie
(gr. pneuma, Geist, logos, Lehre),
S. 447
eigtl. Geisteslehre, hieß früher die metaphysische Psychologie.
Poesie (gr. Poiêsis) S.447
eigtl. Schöpfung, Dichtkunst, heißt diejenige Kunst, welche das Schöne durch die Sprache darstellt. Sie vereinigt die Wirkungen der Musik und der bildenden Künste, da die Worte erstens Töne und als solche wie die Ausdrucksmittel der Musik an die Zeit gebunden sind, zweitens aber, als Zeichen und Träger einer Bedeutung, alles, was die Welt in sich einschließt (Räumliches und Zeitliches), darstellen können. Daher ist sie die reichste und fruchtbarste Kunst. Ihr Vehikel ist das Wort; dieses arbeitet für den inneren Sinn, das Erinnerungsvermögen, die Einbildungskraft, nicht, wie die Farbe und der Stein, für die äußere Anschauung; aber es bleibt nicht wie der bloße Ton, der durch das Gehör zur Phantasie spricht, bei unbestimmter Innerlichkeit stehn, sondern erhebt sich als festes Zeichen zur Klarheit und Deutlichkeit des Inhalts.
Die Poesie ist dahermit der Wissenschaft verwandt; beide empfangen ihre Form von der Sprache, beide bringen das Innere des Menschen zur Darstellung. Aber die Wissenschaft will lehren, und die Poesie will Wohlgefallen hervorrufen. Die Poesie stellt das Schöne dar, die Wissenschaft hingegen das Wahre. Jene ist subjektiv, diese objektiv; dort ist das Gefühl, hier der Verstand die Hauptsache. Einem und demselben Gegenstande gegenüber sind viele Gedichte möglich; die Wissenschaft erstrebt nur eine sachgemäße Darstellung desselben. Der Dichter schafft Werke, deren kleinstes ein Ganzes ist, sofern sich daran die Eigenart des Schöpfers ausspricht; die wissenschaftliche Arbeit dagegen, auch die größte, bleibt im einzelnen Stückwerk. Gegenstand der Dichtung ist das gesamte Innen- und Außenleben. Nach Jakob Grimms (1785-1863) ansprechender Erklärung ist sie »das Leben gefaßt in Reinheit und gehalten im Zauber der Sprache«. Der Dichter selbst muss nach Goethe (Hans Sachsens poetische Sendung) ein kluges, treues Auge und Liebe besitzen, um die Welt klar und rein zu schauen, und eine Zunge haben, die sich leicht und fein in Worte ergießt. Jeder Dichter aber muss mit seiner Nation innerlich zusammenhängen, da sein Mittel nicht ein neutraler Stoff, sondern eine bestimmte, den Geist eines Volkes ausdrückende Sprache ist; der echte Dichter gibt seinem Volke Neues, aber dem Geist des Volkes Entsprechendes. Aus der Nachahmung fremder Poesie ist noch nie wahre Poesie entstanden. -
Die poetischen Stoffe sind entweder objektiv oder subjektiv, d.h. der Dichter empfängt den Anstoß zum Schaffen entweder von außen oder von innen. Aus jenem entspringt die epische, aus diesem die lyrische Poesie; durch Verbindung beider entsteht die dramatische, welche Schicksal und Charakter darstellt.
Die Dichtung kann es in bezug auf äußere Formen den bildenden Künsten nicht gleich tun; sie kann nichts so greifbar bilden wie Architektur und Plastik, nichts so anschaulich vorführen wie die Malerei (vgl. Lessing, Laokoon). Der Dichter muss erst künstlich Vorstellungen anschaulich machen; er bedient sich dazu der Bilder und Gleichnisse (Metaphern, Tropen, Metonymien) und belebt seine Worte durch Personifikationen, durch packende und eindringliche Ausdrücke, durch rhetorische Figuren, durch Rhythmus und Reim. In der Dichtung versuchen sich sehr viele Menschen. Der echte Dichter ist selten und der echte Dramatiker am seltensten. Das Drama ist der Gipfel der Kunst, und nach einem Ausspruch Gottfried Kellers ist es »ein Paradies auf Erden; es ist aber auch verteufelt schwer, hineinzukommen«.
Polarität
S. 448 Siehe
auch bei Eisler
nennt man das Auseinandertreten
einer Kraft
in zwei qualitativ verschiedene, entgegengesetzte und
zur Wiedervereinigung strebende Wirkungsreihen. So spricht man von der
Polarität der magnetischen und elektrischen Erscheinungen,
aber auch von der Polarität der Geschlechter.
Diesen Gegensatz kennt schon die chinesische Spekulation, ferner findet er sich
bei Pythagoras, Herakleitos
und besonders bei Schelling.
Position
(lat. positio v. pono =
setze) S. 449f.
heißt die Setzung oder die Bejahung oder die Daseinsaussage, d.h. 1. die
Annahme von etwas; 2. die Bejahung eines Urteils; 3. die Zusprechung des Daseins
einem Dinge gegenüber.
positiv,
bejahend, S.
450
ist der Gegensatz von negativ. Vergleiche
Negation.
Positivismus
S. 450f. Siehe
auch bei Eisler
nennt der Franzose Aug. Comte (1798
bis 1857) sein System, welches sich, unter Verwerfung jeder Theologie
und Metaphysik, mit der Erkenntnis der die Erscheinungen regelnden Gesetze der
Koexistenz und Aufeinanderfolge begnügt.
Die positive oder exakte Philosophie, die in Hume (1711-1776) ihren Vorläufer
hat, sucht sensualistisch durch Beobachtung die im Bereiche der Erscheinungen
selber liegenden festen Verhältnisse zu erkennen und den Begriff der Ursache
durch den der konstanten Folge zu ersetzen. Ihr Ziel ist: »Sehen, um vorauszusehen,
und forschen, was ist, um zu schließen, was sein wird.« Die Naturwissenschaft
ist nach ihr die Grundlage aller Philosophie, und der Unterschied zwischen physikalischen
und moralischen Wissenschaften ist hinfällig (vgl. dagegen Natur und Geschichte!).
Die Tätigkeit des Menschen ist nur ein Produkt der unendlichen Mannigfaltigkeit
äußerer Eindrücke und der Wechselwirkung zwischen ihnen und
inneren Reaktionen. Dem positiven Stadium der Wissenschaft, welches da anfängt,
wo man die Erscheinungen in Gesetze fasst, geht das theologische, welches die
Ereignisse der Welt von Willensakten übernatürlicher Wesen ableitet,
und das metaphysische voran, das den Erscheinungen abstrakte Begriffe unterschiebt;
und nach dem Maße, wie die einzelnen Wissenschaften sich in dieser dreifachen
Gestaltung entwickelt haben, bestimmt sich selbst ihre Ordnung und Stufenleiter.
Die Hierarchie der Wissenschaften ist hiernach: 1. Mathematik (Arithmetik, Geometrie,
Mechanik), 2. Astronomie, 3. Physik (Lehre von der Schwere, der Wärme,
Akustik, Optik, Elektrizitätslehre), 4. Chemie, 6. Biologie (oder Physiologie),
6. Soziologie.
Besonderen Nachdruck legt Comte auf die Soziologie. Sie zur exakten Wissenschaft
zu erheben, ist sein Ziel. Vgl. Comte, Cours de philosophie
positive (1830-1842). Lewes, Comte's philosophy 1874. G. E. Schneider, Einl.
in d. posit. Philos. 1880.
Auch E. Dühring (Natürliche Dialektik. Berl.
1865; Kursus der Philosophie. 1875) hat eine materialistische »Philosophie
der Wirklichkeit« aufgestellt.
Als deutsche Positivisten bezeichnet man E. Laas (1837-1885) und Al. Riehl (geb.
1844). Nach Laas ist der Positivismus diejenige Philosophie, die keine anderen
Grundlagen als positive Tatsachen (Wahrnehmung und logische Gesetze) anerkennt.
Die Grundlage dieser Philosophie bilden drei Lehren:
1. die korrelative Tatsache, dass Subjekt und Objekt nur miteinander bestehen
und entstehen, 2. die Variabilität der Wahrnehmungsobjekte und
3. der Sensualismus.
Auch Laas verwirft jede Metaphysik und fordert für die Ethik, dass sie
aus menschlichen Verhältnissen begründet werde. –
Riehl stellt die von der Grundlage der Empfindung ausgehende Erkenntnistheorie
als wissenschaftliche Philosophie der Metaphysik der unwissenschaftlichen entgegen
und verweist die Lehre von den praktischen Idealen aus der Wissenschaft in die
Nähe der Kunst und Religion. Vgl. Laas, Idealismus und Positivismus (1879
bis 1884). Riehl, der philosophische Kritizismus (1876-1887). Falckenberg, Geschichte
der neueren Philosophie 1898 S. 515 f.
Possibilität
(lat. possibilitas) S.
451
heißt Möglichkeit.
post
hoc, ergo propter hoc (danach, folglich
dadurch) S.451
lautet einer der häufigsten Fehlschlüsse, der die Aufeinanderfolge
zweier Dinge oder Ereignisse für Kausalität ansieht. Es können
Dinge zeitlich aufeinander folgen, die keineswegs miteinander in Kausalnexus
stehen. So folgt der Tag auf die Nacht, ohne dass die Nacht die Ursache des
Tages wäre. Vgl. Kausalität, Kausalnexus.
Postulat
(postulatum v. lat. postulo = fordere, gr. aitêma), Forderung,
S. 451f.
heißt eine Voraussetzung, die nicht beweisbar ist (Propositio practica
indemonstrabilis. Chr. Wolf).
Kant (1724-1804) nennt Postulat der reinen praktischen Vernunft einen theoretischen,
als solchen aber nicht erweislichen Satz, sofern er einem a priori unbedingt
geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt
(Kr. der prakt. Vernunft, S. 220).
Solche Postulate sind ihm 1. die Unsterblichkeit der Seele, 2. das Dasein Gottes,
3. die Freiheit des Willens.
Unter Postulaten des empirischen Denkens versteht er die drei modalen Grundsätze
des reinen Verstandes:
1. Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung übereinkommt, ist möglich;
2. was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung zusammenhängt, ist wirklich
3. dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen
nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist notwendig (Kr.
d. r. V., S. 218).
Potenz
(lat. potentia, eigtl.
Vermögen) S. 452
heißt in der Arithmetik ein Produkt aus gleichen Faktoren.
In der Philosophie
hat Potenz den
allgemeinen Sinn: Möglichkeit,
Vermögen, Kraft.
Demgemäß schrieb Schelling
(1775-1854) jedem Einzelwesen beide Faktoren des absoluten Wesens, Natur
und Ideelles, in einer eigentümlichen Potenz zu. Er unterschied drei Potenzen:
die erste Potenz in der Natur ist die Schwere, ein Überwiegen des objektiven
Faktors, die zweite das Licht, ein Überwiegen des subjektiven Faktors,
die dritte das organische Leben, das Gleichgewicht der Faktoren.
Prädestination
(lat. praedostinatio),
Vorherbestimmung, S.
452 Siehe
auch bei Eisler
heißt nach Augustinus (353-430)
und Calvin (1509-1564)
die von Gott
nach absoluter
Willkür
getroffene Auswahl der einen zur Seligkeit,
der andern zur Verdammnis (Prädamnation).
Vergleiche Determinismus;
Pelagianismus.
Prädeterminismus
(v. nlat. praedeterminatio) S.
452 Siehe
auch bei Eisler
heißt eine Art des Determinismus,
welche in der Behauptung besteht, dass alle menschlichen Handlungen
durch vorangehende Zeiterscheinungen vollständig
bestimmt seien.
Der naturalistische
oder transzendentale
Prädeterminismus findet die Bestimmungsgründe in der
Natur und im Weltlauf,
der theologische (eines Augustin,
Boëthius, Anselm,
Calvin, Beza) in Gottes
Ratschluss. Vergleiche
Determinismus
, Fatalismus,
Prädestination.
Prädikabilien
(lat. praedicabilia)
S. 452
heißen die reinen abgeleiteten
Verstandesbegriffe. Vergleiche
Kategorie.
Prädikat
(lat. praedicatum,
gr. katêgorêma, katêgoroumenon)
S. 452
heißt dasjenige Glied eines Urteils, welches die Aussage enthält.
Bei natürlicher Gestaltung des Urteils ist das Subjekt der zu bestimmende
Begriff, das Prädikat die Bestimmung, so dass im Prädikat das wichtige
Ergebnis des Urteils liegt.
Präexistenz
(nlat. praeexistentia, franz.
préexistence) S. 452f. Siehe
auch bei Eisler
heißt das Dasein der menschlichen Seele vor dem gegenwärtigen Leben.
Die Annahme einer Präexistenz läuft entweder auf Metempsychose
hinaus, so beim Buddhismus, bei Pythagoras, Empedokles, Platon und Leibniz,
oder auf Kreatianismus (s. d.), wonach Gott die Seelen vor der Welt erschaffen
habe und sie seinerzeit mit ihrem Körper verbinde, oder auf die Idee eines
präexistenten Sündenfalls wie bei Philon, Plotinos, Origenes und Schelling,
durch den die Seelen in den für sie geeigneten Leib gekommen seien. –
Veranlassung zu der Annahme einer Präexistenz gab sowohl die Lehre von
den angeborenen Ideen als auch die Existenz eines angeborenen Hangs zum Bösen;
ferner wirkten mit Idiosynkrasien, Sympathien und Antipathien, beständig
wiederkehrende Traumbilder, welche den Wahn erzeugten, dass man schon einmal
existiert habe, auch die instinktartigen Impulse, die den individuellen Talenten
und Fertigkeiten zugrunde liegen. Aber diese Gründe sind zu subjektiv und
zu dunkel, um darauf eine so gewagte Hypothese zu bauen. Vgl.
Bruch, die Lehre von der Präexistenz der menschlichen Seele. 1859. J. M.
Meyer, die Idee der Seelenwanderung. 1861.
pragmatisch
(gr. pragmatikos =
befähigt v. pragma = Handlung)
S. 453f.
heißt
1. dasjenige, was zum Handeln, zur Praxis notwendig ist;
2. bedeutet es nützlich, gemeinnützlich, klug, erfahren. So ist die
pragmatische Sanktion Karls VI., welche die Erbfolge
im österreichischen Staate regelte (1713 und 1724),
eine für Österreich nützliche, aus der Vorsorge für die
allgemeine Wohlfahrt getroffene Maßregel gewesen; ein pragmatischer Kopf
ist ein tüchtiger, anstelliger Mensch;
3. pragmatisch heißt endlich diejenige Geschichtsschreibung, welche die
Begebenheiten, nach ihrem inneren Zusammenhang entwickelt. Der Pragmatismus
der Geschichte ist der unter dem Gesichtspunkte des Kausalnexus betrachtete
objektive Verlauf der Ereignisse. –
Kant nennt pragmatisch im weiteren Sinne dasjenige,
was dazu dient, unsere Absichten zu erfüllen; also ist ihm jede Klugheitsregel
pragmatisch.(Kant, Grundlegung z. Metaph. d. Sitten.)
praktisch
(gr. praktikos) S.
454
heißt im Unterschiede vom Theoretischen alles, was sich auf das Tun und
Handeln bezieht, was irgendwie den Willen bestimmt.
So sind praktische Wissenschaften die, welche die Zwecke des Handeins und die
Mittel zu ihrer Erreichung zum Gegenstande haben. Die Erkenntnis, welche sie
bieten, bezieht sich auf Handlungen und wird dadurch verwendbar, dass sie das
Handeln des Menschen beeinflussen kann.
Solche Wissenschaften sind: Ethik, Pädagogik, Rechts- und Staatsphilosophie,
Theologie, Medizin und alle technischen Disziplinen.
Ein praktischer Vortrag einer Wissenschaft nimmt auf die Anwendbarkeit ihrer
Lehren für bestimmte Zwecke Rücksicht; ein praktischer Mensch weiß,
unabhängig von systematischer Einsicht und nur durch Erfahrung geleitet,
die richtigen Mittel zum Zwecke zu finden. Vergleiche
Praxis. –
Praktisch gut heißt bei Kant, was vermittelst der Vorstellungen der Vernunft,
mithin nicht aus subjektiven Ursachen, sondern objektiv, d. i. aus Gründen,
die für jedes vernünftige Wesen als ein solches gültig sind,
den Willen bestimmt; daher ist der Wille, der sich ganz durchs Sittengesetz
bestimmen lässt, praktisch gut. Praktische Vernunft heißt unsere
Vernunft, sofern sie unseren Willen bestimmt.
Prämissen
(lat. praemitto =
vorausschicken)
S. 454
heißen die Vordersätze eines Schlusses.
Der vollständige Schluss hat zwei Prämissen (Ober- und Untersatz),
der unvollständige aber nur eine.
Praxis
(gr. praxis) S.
454f.
heißt die aus gewohnter Tätigkeit hervorgehende Übung; sie bildet
den Gegensatz zur Theorie, dem wissenschaftlichen Erkennen und Verständnis.
Praxis und Theorie können sich verbinden, können aber auch im Widerspruch
zueinander stehen. Einsicht und Übung ergänzen sich, und da ein einsichtsloses
Handeln nur zufällig zum Ziele führt, so kann Praxis nicht ohne Theorie
sein, wenn sie zum sicheren Erfolge führen will. So kann die rechte Theorie
und die erprobte Praxis sich nicht widersprechen.
Wo Praxis und Theorie trotzdem im Widerspruch stehen, muss jene blind, diese
einseitig sein; doch hat in diesem Falle die Praxis immer etwas vor der Theorie
voraus, weil alle Erkenntnis mit der Erfahrung beginnt und so trifft Goethes
Wort zu: »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens
goldner Baum«. (Faust.) Beide müssen nach Ausgleich streben.
Nur wo die Theorie
noch nicht genügend geklärt oder die Praxis
noch nicht genügend erprobt ist, wandeln sie zwiespältig nebeneinander.
Jedenfalls ist es in der Moral,
Ästhetik
und Religion
eine Halbheit, dasjenige, was man theoretisch vollständig anerkennt, nicht
auch in die Praxis
umzusetzen. Diese Halbheit ist oft die Signatur der Übergangsepochen in
der Kulturgeschichte. Sie deutet aber die zukünftige Entwicklung an. Vgl.
Kant, Über den Gemeinspruch: »das mag in der Theorie richtig sein,
taugt aber nicht für die Praxis.« 1793,
Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipzig 1904, S. 38 ff.
Prinzip
(lat. principium, gr. archê
= Anfang) S.
456ff.
bedeutet, allgemein genommen, den Anfang, den Ursprung,
die Grundlage, die Voraussetzung
irgend einer Sache. Ein Prinzip ist also ein (relativ
oder absolut)
Erstes, Ursprüngliches, von dem eine Reihe nachfolgender
Dinge abhängig ist. (Quod in se continet rationem
alterius, Chr. Wolf, Ontologie § 866.)
Solche Prinzipien für die gesamte Wirklichkeit
aufzusuchen, ist das Ziel der Metaphysik
von ihren Anfängen bis zur Gegenwart gewesen.
Thales (um 600 v. Chr.)
fand das Prinzip alles Wirklichen im Wasser,
Anaximandros (um 570)
im qualitativ unbestimmten, quantitativ unendlichen
Apeiron,
Anaximenes (um 530)
in der Luft,
Herakleitos (um 600)
im Feuer,
Pythagoras (580 bis um
500) in der Zahl,
Empedokles (484-424) in
den vier Elementen
Erde, Wasser, Luft und Feuer,
Leukippos (5. Jahrh. v. Chr.) und Demokritos
(um 460-360) in den Atomen,
Platon (427-347) in den Ideen,
Aristoteles (384-322)
im Stoff, der Form,
der bewegender Ursache
und dem Zweck, oder
im Stoff und der Form
allein,
die Stoiker im Stoff
und in der Kraft,
die Epikureer
in den Atomen,
die Scholastiker
in Gott,
Descartes (1596-1650) im
Denken und in der
Ausdehnung,
Spinoza (1632-77) in
Gott-Natur,
Leibniz (1646-1716) in
den Monaden,
Fichte (1762-1814) im
Ich,
Schelling (1775-1854)
im Absoluten,
Hegel (1770-1831) in
der logischen
Vernunft,
Schopenhauer (1788-1860) im Willen,
v. Hartmann (1842-1906)
im Unbewussten.
Im engeren Sinne ist ein Prinzip
ein erster Grundsatz,
der eines Beweises
nicht fähig ist und nicht
bedarf und der eine Denknotwendigkeit für
uns bildet.
Sein Gegenstück ist das Axiom,
d.h. ein unbeweisbarer Satz, der auf unmittelbarer
Anschauung
beruht.
Prinzipien in dieser engeren Bedeutung
können dem Range nach entweder komparativ
oder absolut sein.
Komparative Prinzipien sind
allgemeine Sätze,
aus denen sich andere Sätze ableiten lassen,
absolute Prinzipien sind
die schlechthin obersten Sätze oder Regeln,
die einer Ableitung
zugrunde gelegt werden.
Der Beziehung nach zerfallen die Prinzipien
in Realprinzipien, Kausalprinzipien, Erkenntnisprinzipien
und Willenspinzipien.
Realprinzipien sprechen die obersten
Bedingungen
des Daseins, der
Wirklichkeit
aus (principia essendi).
Kausalprinzipien bestimmen die
obersten Ursachen alles Geschehens (principia
fiendi).
Erkenntnisprinzipien (principia cognoscendi)
umfassen die obersten Bedingungen
für alle Erkenntnis,
Willensprinzipien oder praktische
Prinzipien (principia agendi)
geben die obersten Regeln
alles Handelns.
Die Realprinzipien sind so mannigfaltig gestaltet
worden, als es die verschiedenen metaphysischen Standpunkte
verlangen (siehe oben).
Das oberste Kausalprinzip lautet nach Kants Formulierung:
Alles, was geschieht, setzt etwas voraus, worauf
es nach einer Regel folgt.
Die Erkenntnisprinzipien zerfallen in
formale und materiale.
Die Formalprinzipien beziehen
sich auf die Form der Anordnung und der inneren
Verbindung
der Erkenntnisse;
die Materialprinzipien bestimmen
den Inhalt des
Erkennens.
Jene, wie den Satz der Identität,
des Widerspruchs
usw., stellt die Logik
auf; diese hängen von dem jedesmaligen Erkenntnisgebiet ab. Je nachdem
das Einzelne und Besondere, oder das Allgemeine als Ausgangspunkt der Erkenntnis
dient, ist der eingeschlagene Weg der Ableitung
regressiv (analytisch) oder progressiv (synthetisch). Nur im letzteren Falle
können die Erkenntnisprinzipien
mit den Realprinzipien sich decken,
und die so gewählte Methode
des Erkennens ist die eigentlich wissenschaftliche
und konstruktive, während die entgegengesetzte nur heuristisch und propädeutisch
ist.
Die praktischen Prinzipien, die
eine Forderung aussprechen und eine Wertbestimmung
enthalten, sind entweder von allgemeiner und objektiver Geltung, wie der kategorische
Imperativ Kants, oder sie gelten nur für
die Person und
sind subjektiv
; sie heißen dann Maximen.
Was der gewöhnliche Mensch Prinzipien
nennt, sind meist nur Maximen, die keineswegs
als Prinzipien brauchbar sind.
(Vgl. Überweg, System der Logik § 139.
Schopenhauer, über d. vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde.
Rudolstadt 1813.)
Die Lehre von den Prinzipien im
engeren Sinne hat mit der Entwicklung
der Logik Schritt
gehalten.
Platon (427 bis 347)
stellte den Begriff
der archê auf und forschte über
den progressiven
und regressiven Weg (Arist.
Eth. Nicom. I, 2. p. 1095 a 32 eu gar kai Platôn
êporei touto kai ezêtei, poteron apo tôn archôn ê
epi tas archas estin hê hodos hôsper en tô stadiô apo
tôn athlothetôn epi to peras ê anapalin).
Aristoteles (384-322) unterscheidet
die verschiedenen Arten
der Prinzipien, des Seins,
des Werdens und des
Erkennens, und nennt als solche Natur,
Element, Gedanke,
Entschluss, Wesen
und Zweck:
pasôn men oun koinon archôn tôn to prôton einai, hothen
ê estin ê gignetai ê gignôsketai; toutôn de hai
men enyparchousai eisin, hai de ektos. dio hê te physis archê kai
to stoicheion kai hê dianoia kai hê prohairesis kai ousia kai to
hou heneka. (Aristot. Metaph. IV, 1 p.
1013 a 17 ff.)
Kant (1724-1804) verstand
unter Prinzipien synthetische
Erkenntnisse aus Begriffen und schied zwischen theoretischen und praktischen
Prinzipien. Jene geben die Bestimmung
der Natur nach Begriffen,
diese die Bestimmungen unserer freien Handlungen
durch allgemeine Begriffe. (Kant,
Kr. d. r. V. S. 298 ff.) Prinzip aller menschlichen Erkenntnis ist für
Kant die transzendentale
synthetische Einheit
der Apperzeption
einerseits und die sinnliche Empfindung
andrerseits, Prinzip der Natur das Kausalitätsgesetz, Prinzip alles Handelns
der kategorische
Imperativ und Prinzip der Kunst- und Naturbetrachtung im Einzelnen das (nur
regulative, nicht konstitutive) Gesetz der Zweckmäßigkeit.
Problem
(gr. problêma =
der Auftrag, die Streitfrage v. proballein = hinwerfen,
vorschlagen) S. 460
heißt eine wissenschaftliche Frage,
deren Lösung Schwierigkeiten bereitet. Jede Wissenschaft
hat ihre eigentümlichen Probleme, aus deren
Lösung gewöhnlich immer neue, schwierigere hervorgehen.
Ein Muster von Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit in der Untersuchung
philosophischer Probleme ist Immanuel Kant (1724-1804)
gewesen. Er führt die Grundfragen
der Philosophie auf folgende drei zurück, die alles
Interesse der Vernunft vereinigen:
1. Was kann ich wissen?
2. Was soll ich tun?
3. Was darf ich hoffen? (Kr.d.
r. V. S. 805.) –
Die wichtigsten Probleme der neueren Philosophie
sind:
1. Welches sind die Quellen der Erkenntnis?
2. Welches sind die Grenzen der Erkenntnis?
3. Was ist das Wesen
der Dinge?
4. Welches sind die Grundgesetze
der Natur?
5. Was ist das Wesen von Raum,
Zeit und Bewegung?
6. Was ist das Wesen von Stoff
und Kraft?
7. Ist die Natur nur aus Ursachen
verständlich, oder wird sie auch aus Zweckbegriffen erkannt?
8. Wie entsteht die Empfindung?
9. Was ist das Wesen der Seele?
10. Wie bestimmt sich der Wille?
Vgl. Flügel, Die Probleme der Philosophie. Köthen
1876.
problematisch
(gr. problêmatikos) S.
460
heißt das Mögliche oder Ungewisse oder Zweifelhafte.
Ein problematischer Begriff gibt
nur etwas Mögliches zu denken; ein problematisches
Urteil ist ebenso möglich wie sein Gegenteil; dem problematischen
Urteil steht das assertorische
und das apodiktische gegenüber.
–
Problematische Naturen sind nach
Goethe (Sprüche in Prosa
II, 127) solche, »die keiner Lage gewachsen
sind, in der sie sich befinden, und denen keine genug tut; daraus entsteht der
ungeheure Widerstreit, der das Leben ohne Genuss verzehrt«.
Vgl. den gleichnamigen Roman von Spielhagen. 1861.
Produkt
(v. lat. produco = bringe hervor)
S. 461
heißt jedes Erzeugnis der Natur oder der Kunst; produktiv
heißt schöpferisch. Vergleiche
Phantasie.
Progress
(lat. progressus =
Fortschritt v. progredi = fortschreiten)
S. 461
heißt der Fortgang von der
Bedingung zum Bedingten; progressiv
heißt die Methode
welche synthetisch (deduktiv)
von dem Allgemeinen zum Besonderen oder Einzelnen herabführt.
Progressus in infinitum nennt
man das Herabsteigen in einer unendlichen
Reihe, die vom Allgemeinen
zum Besonderen führt.
Progressus in finitum heißt
der entsprechende Gang in einer endlichen
Reihe,
in indefinitum derjenige in einer Reihe,
deren Endlichkeit oder Unendlichkeit
nicht feststeht. Siehe
Deduktion,
Regress
Projektion
(lat. proieotio =
Hinausverlegung, v. proiicio = hinwerfen)
S. 461f.
nennt man in der Mathematik
die Abbildung eines Raumgebildes
auf einer ebenen oder krummen Fläche durch gerade Linien,
die entweder von einem Zentrum aus (Zentralprojektion)
oder, indem dieses Zentrum ins Unendliche
verlegt wird, parallel gezogen werden (Parallelprojektion).
Jedem Punkt des
Gebildes entspricht dann ein Punkt seiner Projektion,
und aus der Projektion lassen sich Lage, Gestalt,
Größe
und gegenseitige Beziehungen
der projizierten Gegenstände rechnerisch bestimmen (deskriptive
Geometrie). –
Projektion der Empfindung
heißt in der Psychologie
die Hinausverlegung derselben in die Außenwelt,
deren Folge ist, dass wir sie nicht für einen
subjektiven
Vorgang, sondern für einen objektiven
Gegenstand und Vorgang halten. So wird zunächst die Druckempfindung nach
außen als Leib,
die Muskel- und Tastempfindung als Außending projiziert. Dies erhellt
z.B. aus der Tatsache, dass ein Glied, das infolge abnormer Einwirkung die Druckempfindung
verliert, uns alsbald als etwas Fremdes, zur Außenwelt
Gehöriges erscheint. Auch die Empfindungen
der anderen Sinne werden projiziert, freilich erst mit Hilfe des Tastsinns,
und so, dass das Gesicht wieder das Gehör leitet. Betonte Empfindungen
werden nach dem Grade ihrer Betonung lokalisiert, unbetonte im Verhältnisse
der Bestimmtheit ihres Inhalts projiziert. Betastet man ein Objekt
mit einem Stabe, so wird die Tastqualität vor das Ende des Stabes projiziert.
Bei Berührung projiziert das nervenreichere Glied seine Empfindung
auf das nervenärmere, das bewegte auf das unbewegte, das frische auf das
ermüdete.
Neugeborene projizieren noch nicht; denn sie schließen weder die Augen
vor dem sich nähernden Gegenstand, noch wenden sie ihm das Ohr zu. Ebenso
wenig projiziert der Erwachsene im Halbbewusstsein. Das Projizieren auch der
Traumbilder nach außen beweist, dass es überhaupt ein rein psychischer
Vorgang ist.
Vgl. W. Volkmann, Psychol.II, 127 f. 3. Aufl. 1885.
Prolegomena
(gr. prolegomena =
das Vorausgesprochene) S. 462
bedeutet Vorrede, Einleitung; berühmt sind Kants
»Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik,
die als Wissenschaft wird auftreten können«.
Riga 1783.
Kant beantwortet darin
vier Fragen:
1. Wie ist reine Mathematik
möglich?
2. Wie ist reine Naturwissenschaft
möglich?
3. Wie ist Metaphysik
überhaupt möglich?
4. Wie ist
Metaphysik als Wissenschaft
möglich?
und führt den Nachweis, dass es bis
dahin überhaupt noch keine Metaphysik gegeben habe, ja dass eine solche
in dem Sinne einer theoretischen Wissenschaft von den letzten Ursachen
und Zwecken alles Seins unmöglich sei.
Diese Schrift Kants ist, trotz ihres negativen
Resultats, sehr lesenswert, besonders als Einleitung zum Studium seines schwierigen
Werkes: »Kritik der reinen Vernunft«.
1781.
Wer in die Metaphysik auf literarischem Wege eindringen
will, lese erst Humes Essays,
dann Kants Prolegomena,
dann dessen drei Kritiken, hiernach
Platons und Aristoteles' Schriften; schließlich
wird er sich an jede metaphysische Abhandlung heranwagen
können.
Protestantismus
und Philosophie S. 463ff.
Die Geschichte des deutschen Geisteslebens zerfällt
im Grunde in zwei große Abschnitte, deren Inhalt ist, wie wir uns in der
Kindheit und Jugend unserer Nation selbst verloren haben und im Fremden untergingen,
um zum Kulturvolke zu werden, und wie wir uns im reiferen Alter wieder fanden
und eigenes deutsches Wesen zurückerwarben.
Im Mittelalter haben alle bahnbrechenden germanischen Persönlichkeiten
dazu beigetragen, uns mit der romanischen Kultur, mit der Kultur des Auslandes
in Verbindung zu setzen und uns so aus einem Barbaren- zu einem Kulturvolk zu
machen; in der Neuzeit haben uns alle deutschen Geistesführer von fremdem
Einfluss befreit und auf unsere Eigenart hingewiesen.
Der Wendepunkt in der Entwicklung ist die Entstehung des Protestantismus im
16. Jahrhundert.
Der Protestantismus ist das von Rom in Lehre und Organisation losgelöste,
auf deutsche Art gegründete und mit deutschem Wesen verwachsene, von dem
Eingriff veralteter Philosophie befreite, auf eigene Prinzipien (Bibelwort und
innere Erfahrung) gestellte Christentum der praktischen Gewissensfreiheit, der
sittlichen Gesinnung und Selbstverantwortung des Individuums, unter dessen Herrschaft
sich die moderne Kultur entfaltet hat. Nur durch bewusste Wahl, nicht durch
Zwang von den Deutschen gewonnen, hat er sie von der Erdrückung durch fremden
Einfluss und von der römischen Hierarchie befreit und ihnen das Recht des
eigenen religiösen Empfindens und Denkens zurückgegeben; er hat die
Religion von der Beimischung einer noch im Altertum steckenden Halbphilosophie
losgemacht und den Glauben auf historisches Zeugnis und Lebenserfahrung gestellt.
Er hat das Leben mit seinen Forderungen anerkannt, den Deutschen zu einer seiner
Natur entsprechenden Lebenshaltung zurückgeführt und intensive geistige
und sittliche Selbsttätigkeit des Individuums geweckt. Er begünstigt
die Fortschritte der Kultur und verinnerlicht den Menschen durch die Anerkennung
der unmittelbaren Beziehung zu Gott und der Selbstverantwortung des einzelnen
Menschen. –
Der Protestantismus zeigt seinem ganzen Wesen nach in seiner Entwicklung eine
Hinneigung zur Philosophie. Luther hat zwar anfangs jede Philosophie zurückgewiesen.
Er hasste den Aristotelismus, »die gottlose Wehr der Papisten«.
Aber die protestantische Theologie bedurfte philosophischer Waffen, und schon
Melanchthon verknüpfte den protestantischen Glauben mit einem gereinigten
Aristotelismus. Als dann später die Systeme der neueren Philosophie entstanden,
hat es der Protestantismus der Reihe nach mit dem Cartesianismus, mit Leibniz
und Wolf, mit Kant, mit Schelling und Hegel versucht; über ein festes Bündnis
mit einem der neueren Systeme ist nicht entstanden.
Das Dienstverhältnis der Philosophie gegenüber der Theologie ist selbstverständlich
in der Neuzeit aufgehoben. Die Wissenschaft geht ihre eigenen Bahnen, und der
Protestantismus hat sich auf Grund der Erfahrung und historischer Kritik ebenfalls
in seinen eigenen Gleisen fortbewegt.
Eine Übereinstimmung zwischen Philosophie und Protestantismus ist darum
viel weniger wahrscheinlich und viel schwieriger erreichbar als dies im Mittelalter
bei Katholizismus und Scholastik der Fall war. Wenn jedoch nicht eine unheilvolle
Kluft zwischen Glauben und Wissen entstehen soll, ist die Verständigung
zwischen dem Protestantismus und der Philosophie eine Notwendigkeit.
Es besteht auch eine Wahlverwandtschaft zwischen den Grundlehren des Protestantismus
und bestimmten Richtungen der Philosophie.
Der Protestantismus, der sich auf äußere und innere Erfahrung und
auf historische Zeugnisse stützt, ist seiner Methode nach Empirismus. Als
theistischer Glaube ist er mit dem erkenntnistheoretischen Standpunkt des Skeptizismus,
Positivismus und Naturalismus unvereinbar, aber ebenso wenig hat er mit dem
rationalistischen Dogmatismus innere Verwandtschaft. Am nächsten steht
er erkenntnistheoretisch dem vom Rationalismus befreiten Kerne des Kantischen
Kritizismus, indem er mit ihm das Sonderrecht des Glaubens und Wissens anerkennt.
Metaphysisch und ethisch ist der Protestantismus Idealismus und berührt
sich auch hier mit der Philosophie Kants, obwohl er mit einem rein formalen
Sittengesetz nicht auskommen kann; aber er ist ethischer Glaube, wie es im Grunde
auch die Kantische Philosophie ist. Paulsen hat deswegen auch Kant den Philosophen
des Protestantismus genannt. Doch ist die Übereinstimmung zwischen Kant
und dem Protestantismus eine zwar bedeutende, aber doch nicht vollständige.
Eine die Gemüter beherrschende, allgemein anerkannte protestantische Philosophie
gibt es also noch nicht. Sie kann nur aus einer Verbindung von Empirismus, Kritizismus
und Idealismus erwachsen, und Männer wie Lotze und Fechner sind diesem
Ziele nicht ferngeblieben. Vgl. Fr. Paulsen,
Kant der Philosoph des Protestantismus. Berlin 1899. J. Kaftan, Das Christentum
und die Philosophie. 2. Aufl. Leipzig 1896.
Prozess
(lat. processus = Fortgang, Verlauf
von procedo = vorwärts schreiten)
S. 460
heißt zunächst das Verfahren
vor Gericht, dann jedes Verfahren nach bestimmten
Regeln, endlich ein gesetzmäßiger
Vorgang überhaupt.
So spricht man von chemischen, logischen, psychologischen
Prozessen.
Psyche
(gr. psychê),
S. 465f.
Hauch, Lebenskraft,
Seele, heißt
die Lebenskraft der einzelnen Person.
Parallel dem Begriff der griechischen Psyche
geht der Begriff der lateinischen anima,
des Lebensprinzips im Menschen und im Tiere, welches zwischen Leib
und Geist die Mitte
hält. Dieselbe Bedeutung hat das hebräische
Nephesch
(Seele) als das den Leib durchdringende Lebensprinzip,
das im Blute wohnt, dem jedoch auch Liebe,
religiöses
Gefühl
und Denken zugeschrieben
wird. Vergleiche Seele,
Psychologie
Psychologie
(gr. psychê =
Seele und logos = Lehre, Seelenlehre) S.
466ff.
heißt die Wissenschaft,
welche darlegt, wie die Erfahrung
ihrem ganzen Umfange
nach aus den Vorgängen im Subjekte entsteht.
»Sie untersucht den gesamten Inhalt
der Erfahrung
in seinen Beziehungen
zum Subjekt und
in den ihm von diesem unmittelbar beigelegten Eigenschaften«
(Wundt, Grundriß d. Psychologie, 7. Auflage,
Leipzig 1905, S. 3).
Sie hat die uns unmittelbar gegebenen Vorgänge unseres Bewusstseins
zu ermitteln und durch Analyse
auf ihre Grundlagen zurückzuführen, ihre Entstehung
und die Verbindung
ihrer Elemente untereinander und ihren Verlauf zu erforschen, und die Gesetze,
nach denen sich die inneren Vorgänge für sich und in ihren Beziehungen
zur Wirklichkeit
abspielen, festzustellen. Sie beruht auf der Erfahrung und muss ihrer Methode
nach zunächst streng empirisch
sein. Sie, wie andere auf der Grundlage der Erfahrung beruhende Wissenschaften
synthetisch zu einer Entwicklungsgeschichte umzugestalten, ist ein Ziel, dem
zugestrebt werden muss, das aber zur Zeit noch nicht
erreicht ist.
Die Psychologie ist kein
Teil der Metaphysik.
Nur in ihren Endhypothesen kann sie in metaphysische Spekulationen über
das Wesen der Seele hinauslaufen, aber sie kann nicht mit metaphysischen Voraussetzungen
beginnen. Wie sie sich von aller Metaphysik unabhängig halten muss, um
fruchtbar zu sein, und nach dem Ausdruck von Lange
(1828-1875) eine Psychologie ohne Seele sein muss,
so kann sie auch nicht einfach die Wege der Naturwissenschaft gehen. Die Naturwissenschaft
abstrahiert nach Möglichkeit von den Beziehungen des gegebenen Erfahrungsinhaltes
zum Subjekt, während diese Beziehungen gerade der Gegenstand der Forschungen
der Psychologie sind.
So ist die Psychologie weder mit Hegel, der die Seelenvorgänge konstruktiv
als Momente der Selbstentwicklung des Geistes bestimmt, nur für einen Teil
der Metaphysik, noch mit Beneke, der von Erfahrungen ausgeht und dieselben rationell
zu verarbeiten sucht, lediglich für Naturwissenschaft zu halten. Sie hat
ihr eigenes Forschungsgebiet und ihre eigene Methode. Sie dient allen Geisteswissenschaften,
wie Philologie, Geschichte, Rechtslehre, Staatslehre usw. zur Grundlage und
erfreut sich, je mehr dies in der Gegenwart erkannt wird, eines steigenden Interesses.
Die Psychologie ist in der Jetztzeit der am höchsten geschätzte Teil
der Philosophie.
Von der Logik, welche, ihren Gesichtspunkt enger wählend, die Gesetze des
richtigen Denkens aufstellt und von der Ethik und Ästhetik, welche nur
Normen für das Handeln und Empfinden des Menschen suchen, unterscheidet
sie sich dadurch, dass sie die Vorgänge in unserm Inneren in ihrem ganzen
Umfange und nach ihrem natürlichen Verlauf betrachtet, ohne sie beeinflussen
zu wollen.
Von der Erkenntnistheorie weicht sie darin ab, dass sie den genetischen Gesichtspunkt
besitzt und die Entstehung der Erfahrung zu ermitteln versucht, während
jene ausschließlich die objektive Beziehung und Gültigkeit unserer
Vorstellungen ins Auge fasst, um ein sicheres Urteil über die Möglichkeit
oder Unmöglichkeit einer Metaphysik zu erlangen.
Das Musterwerk der Erkenntnistheorie, Kants Kritik
der reinen Vernunft, verfolgt keinen psychologischen Gesichtspunkt.
Das Verfahren der Psychologie besteht in experimentell geregelter Beobachtung
an uns selbst und anderen gleichartigen oder verwandten Wesen bis hinab zu den
einfachsten Organismen und darüber hinaus bis zu der unorganisch genannten
Stoffwelt, in physiologischen und in psychophysischen Forschungen.
Die Untersuchungen der Sprachwissenschaft, Ethnographie, Statistik unterstützen
sie, und alle Geisteswissenschaften sowie die Schöpfungen der Kunst geben
der Beobachtung Aufschlüsse.
Der Psychologie des Menschen,
die als Teil der Anthropologie
gefasst wird, gliedert sich die Tierpsychologie an, der Psychologie der reifen
Seele die der Kindesseele (s. Psychogenese), der Psychologie des einzelnen Menschen
(s. Individualpsychologie), die der Gesellschaften und Völker (Sozialpsychologie,
Völkerpsychologie).
So gestaltet, sucht die Psychologie die ersten Elemente des psychischen Lebens
auf, die Triebanlagen und Triebe, welche Empfindung und Bewegung in sich einschließen,
verfolgt die Empfindungen nach Qualität und Intensität, ermittelt
die assoziativen Vorbindungen der Empfindungselemente, die Komplikationen, Assimilationen
und Verschmelzungen derselben und verfolgt den Vorgang der Reproduktion der
aus ihnen hervorgehenden Vorstellungen bis zur Entstehung der aktiven Apperzeption
im aufmerksamen Denken. Ebenso zergliedert sie den die Empfindungen begleitenden
Gefühlston in seine Elemente und zeigt die Entstehung der Gefühle,
der Affekte, der Ausdrucksbewegungen, der Willenshandlungen, des Ichgefühls
und des Selbstbewusstseins. An die Untersuchung der Vorstellungen nach Qualität,
Intensität und Gefühlston schließt sich folgerichtig die Ermittlung
der komplizierten Vorgänge des Denkens, der Beziehung, der Vergleichung,
der Kontrastbildung, der Analyse und Synthese der Vorstellungen an. So werden
die allgemeinsten Gesetze des Seelenlebens, das Gesetz der psychischen Relationen,
das Gesetz des psychischen Kontrastes und das Gesetz der psychischen Resultante
aufstellbar und so wird das Wesen der psychischen Kausalität bestimmbar.
Erst von hier aus führt der Weg der Psychologie in ergänzende und
abschließende metaphysische Hypothesen hinein.
Zu dieser Gestaltung, zu einer klaren Erfassung ihrer Aufgaben und zu einem
erfolgreichen methodischen Verfahren ist aber die Psychologie,
deren Anfänge in die Zeit der Sophisten
(5. Jahrh. v. Chr.) zurückreichen und deren Versuche bis zur Gegenwart
ununterbrochen fortdauern, erst im 18. und namentlich
im 19. Jahrhundert gelangt. Auch erst im 18. Jahrhundert
ist ihr Name, der im 16. Jahrhundert durch
Melanchthon geschaffen ist, durch Wolf
(1679-1754) zur allgemeinen Verbreitung gekommen.
Die Psychologie ist so lange unfruchtbar geblieben, als sie in Verwechslung
mit der Metaphysik von Spekulationen über das Wesen der Seele ausging und
aus dem Begriff der Seele die Tatsachen des Seelenlebens ableiten wollte. Sie
ist überall da fruchtbar geworden, wo sie mit Beiseitesetzung der metaphysischen
Spekulationen von den Seelenvorgängen ausging und von den einfachen Phänomenen
zu den komplizierten aufzusteigen versuchte.
Die Entstehung der englischen deskriptiven Psychologie,
deren Schöpfer Locke (1632-1704),
der Geograph des Bewusstseins, gewesen ist, die Ausbildung der englisch-schottischen
Assoziationspsychologie durch Berkeley
(1685-1753), Hartley
(1704 bis 1757), Hume
(1711-1776), Priestley
(1733-1804), James
Mill (1775-1836), Stuart
Mill (1806-1873), Alexander
Bain (1818-1903),
George Lewes (1817 bis 1878),
Herbert Spencer (1820-1904), H. Münsterberg (geb. 1863), die Begründung
der Psychophysik durch E. H. Weber
(1795-1878) und Fechner
(1817-1881), die Verbindung der Psychologie mit
physiologischen Forschungen durch Hartley, Priestley,
durch Mediziner und Naturforscher und vor allem durch Wundt
(geb. 1832) hat die Psychologie vorwärts gebracht
und allmählich zur methodisch verfahrenden Wissenschaft mit gesicherten
Resultaten emporgehoben.
Wie langsam sie aber hierzu gekommen ist, lehrt der Blick auf den
zwei bis drei Jahrtausende umfassenden Werdegang
der Psychologie. In der Geschichte
der Philosophie treten nach- und nebeneinander hervor:
1. eine metaphysische
Psychologie, die entweder
a) auf dem dualistischen Prinzip
der Scheidung von Seele und Körper oder
b) auf dem monistischen Prinzip
entweder b1)
des Materialismus,
dass der Stoff das Wirkliche sei, oder
b2) des Idealismus
(Spiritualismus),
dass der Geist das Wirkliche ist, oder b3)
der Philosophie
des Absoluten,
dass ein über Geist und Körper stehendes
Göttliches das Wirkliche
sei, beruht;
2. eine
empirische
Psychologie, die
a) als Psychologie des inneren
Sinns sich auf Selbstbeobachtung
zu stützen versuchte, die seelischen Vorgänge beschrieb (deskriptive
Psychologie) und auf Seelenvermögen reduzierte (Vermögenspsychologie)
und eine Neigung in spekulative Betrachtungen einzulenken nie verleugnet hat,
und
b) als Psychologie der unmittelbaren
Erfahrung sich als experimentelle
Psychologie zu entwickeln angefangen und entweder mehr intellektualistisch
dem Verlauf der Vorstellungsprozesse das Interesse
zugewandt oder mehr voluntaristisch auch den Gefühls- und Willensvorgängen
gleiche Beachtung geschenkt hat.
(Vgl. Wundt, Grundriß d. Psychol. § 2,
S. 6-24.)
Ganz metaphysisch war die
Psychologie des Altertums und des
Mittelalters.
Platon und Aristoteles
streben einem idealistischen Monismus
zu, bleiben aber noch im Dualismus
stecken. Denn Platon lässt neben der geistigen
Welt der Ideen auch den Stoff als ein Nichtseiendes, Veränderliches der
Erscheinungswelt bestehen, und Aristoteles hält
zwar die Form (eidos) für die einzige
vollendete Wirklichkeit (energeia, entelecheia),
schreibt aber dem Stoffe (hylê)
die Anlage zur Wirklichkeit, die Möglichkeit
(dynamis) zu.
Platon (427-347) philosophiert
zum Teil in der Form des Mythus
(im Timaios) über die Welt- und Menschenseele,
in der er ein Mittelglied zwischen Idee
und Erscheinung
sieht, über Präexistenz
und Erinnerungsfähigkeit, über Postexistenz und Wanderung
der Seele, über sterbliche und unsterbliche Teile der Seele, über
deren Sitz im Körper
und deren Zusammenhang mit den menschlichen Tugenden
und den Teilen des Staatsorganismus.
Aristoteles (384-322),
der das erste psychologische Werk
peri psychês, de anima, über
die Seele verfasst hat, geht planmäßiger
und weniger phantastisch vor. Er kritisiert die Aufstellungen der älteren
Philosophen, bestimmt den Begriff der Seele als erste Entelechie
des organischen
Körpers,
verfolgt den Seelenbegriff bis in die Tier- und Pflanzenwelt, verfeinert die
Lehre Platons von Seelenteilen zu einer
Vermögenstheorie (threptikon;
aisthêtikon, orektikon, kinêtikon kata topon; nous) und
trennt den nous poiêtikos, das formgebende
Prinzip der Seele, als den unsterblichen Teil von den anderen sterblichen Teilen
ab. –
Über die platonische und aristotelische Psychologie,
auf der auch die stoische Psychologie beruht, kommt das Altertum
und Mittelalter nicht wesentlich hinaus.
Die Psychologie ist in dieser Zeit noch kein klar abgegrenzter Teil der Philosophie,
sondern ein Teil der Physik
gewesen.
Von den monistischen Richtungen der Psychologie hat im Altertum
nur die materialistische (atomistische) in Leukippos
(5. Jahrh. v. Chr.), Demokritos (um
460-360) und den Epikureern
(vom 4. Jahrh. ab) einen kräftigeren Ausdruck empfangen, ohne rechte
Ausbildung zu finden, die auch der moderne Materialismus (Hobbes,
Holbach, Diderot, Helvetius,
vgl. Seele) der
Seelenlehre nicht zu geben verstanden hat.
Über die Hypothese,
dass die Seele, wie das Feuer, aus feinen, glatten
und runden Atomen
bestehe, über die Forschung nach dem Sitz
der Seele, die sie als im ganzen Körper verbreitet annahmen
(sôma leptomeres par' holon to athroisma paresparmenon Diog. Laert. X,
1 § 63), und über eine mangelhafte
Theorie von der
Entstehung der Sinneswahrnehmung ist der antike
Materialismus
nicht hinausgekommen.
Der moderne Materialismus
hat dagegen entschieden das Verdienst, mit dahin gewirkt zu haben, dass
die Psychologie sich auf physiologische Untersuchungen stützt.
Die metaphysische, sich auf die Methode des Rationalismus stützende Richtung
bildet sich in der Psychologie der Neuzeit fort.
Auf dualistischem Standpunkte steht Descartes
(1596-1650). Er scheidet Seele und Körper
als Denken und Ausdehnung, betont die Wichtigkeit des Bewusstseins für
das Seelenleben und erzeugt durch seinen Dualismus die Frage nach dem Zusammenhang
von Seele und Leib, an deren Lösung nach ihm der Okkasionalismus
mit entschiedenem Misserfolge arbeitete.
Den idealistischen Standpunkt vertritt dagegen Leibniz
(1646-1706), der die Seele oder Monade
als das eigentlich Wirkliche hinstellte, intellektualistisch die Entwicklung
der Vorstellungen in den Seelen verfolgte und dem Seelenleben auch in der Stufenfolge
der Wesen nachgeht.
Wolf (1679-1754),
der sich an Leibniz anschloss, formulierte die
Grundlehren der idealistischen Psychologie und
begründete die moderne Vermögenstheorie, indem er Erkennen und Begehren
schied und sowohl das Erkenntnis- wie das Begehrungsvermögen in ein niederes
und höheres einteilte.
Die Vermögenstheorie ist
dann von Tetens (1736-1805),
der Erkennen, Fühlen und Begehren schied, und von Kant
(1724 bis 1804), der sich an
Tetens anschloss, aber die rationale Psychologie verwarf, ausgebildet
worden.
Einen gewissen Übergang zu der empirischen Richtung leitete Wolf
in Deutschland damit ein, dass er neben die rationale Psychologie, die
rein spekulativ sein sollte, auch eine empirische stellte, um jener Stützen
aus der Erfahrung zu geben, ohne aber sie fruchtbar gestalten zu können.
Auch Herbarts Psychologie beruht im Wesen auf der
Leibniz-Wolfschen. Doch hat
Herbart (1776-1841),
der von der inzwischen entstandenen Assoziationspsychologie nicht unberührt
geblieben ist, sich bemüht, die spekulative Psychologie zu einer exakten
Wissenschaft umzugestalten, indem er mit der Vermögenstheorie brach, das
ganze Seelenleben streng intellektualistisch auf Vorstellungen, die er als Kräfte
dachte, und ihre Verbindungen zurückführte und eine mathematisch gestaltete
Statik und Mechanik der psychischen Prozesse zu liefern versuchte. Seine mathematische
Psychologie, die nicht auf Psychophysik
gestützt war, entbehrt aber eines Maßes für psychische Größen
und schwebt daher völlig in der Luft. –
Die Philosophie des Absoluten
ist die Grundlage der Psychologie bei Spinoza
(1632-1677), der eine Substanz
(Gott-Natur) mit den Attributen
Denken und Ausdehnung
annahm, und der Grundgedanke Spinozas ist von Schelling
(1775 bis 1864) wieder aufgenommen worden.
Eine streng empirische Richtung in der Psychologie hat zuerst Locke
(1632-1704) eingeschlagen. Sein Essay concerning
human understanding 1690 ist ein epochemachendes
Ereignis und bedeutet den Übertritt der Psychologie in die induktiven
Wissenschaften.
Locke beobachtete unbefangen und vorurteilsfrei,
zergliederte scharfsinnig und gut, führte die Vorstellungen auf die Doppelquelle
der Sinneswahrnehmung (sensation) und inneren Erfahrung
(reflexion) zurück und ging der Zusammensetzung
des Psychischen aus den einfachen Elementen ohne jede Gewalttätigkeit nach.
Auch Beneke (1798-1854)
folgte der induktiven
Richtung, stand aber auf dem einseitigen Standpunkt des Sensualismus.
Scharf griffen englisch-schottische Forscher wie Berkeley,
Hartley, Hume, Priestley seit dem 18. Jahrhundert
zu und schufen die Lehre von der
Assoziation der Vorstellungen,
die von James Mill, Stuart Mill, Bain, Lewes und
Spencer im 19. Jahrhundert
fortgeführt und von letzterem mit dem Gedanken der Evolution
verbunden wurde.
Weber und Fechner begründeten die Psychophysik.
In der Gegenwart hat die Herbartsche Schule ihr
Fortleben in Zimmermann, Lindner, Volkmann u. a.,
ihre Fortbildung durch Lotze u. a. gefunden.
Steinthal (1823-1899)
und Lazarus (1824-1903)
haben zur Herbartschen Psychologie die Sprachforschung
und Völkerpsychologie hinzugebracht. Die Fäden aller
psychologischen Forschung laufen aber zusammen in Wundt
(geb. 1832), der der Psychologie
eine voluntaristische
Richtung gegeben hat und dessen »Grundzüge
der physiologischen Psychologie« (3.Aufl. Lpz. 1887) und dessen
»Grundriß der Psychologie« (7. Aufl.
Lpz. 1905) als die bedeutendsten Werke auf diesem Gebiete gelten.
Vergleiche
Herbart, Lehrbuch der Psychologie. 2. Aufl. 1834.
Drobisch, Empirische Psychologie. 1842. 2. Aufl. 1898.
Fortlage, System der Psychologie als empirische Wissenschaft. 1855.
Jessen, Versuch einer wissenschaftlichen Begründung der Psychologie. 1855.
Lotze, Medizinische Psychologie. 1852; Mikrokosmus 1856-1864.
Strümpell, Psychologie. 1884. Dessoir, Geschichte der neueren deutschen
Psychologie 1. Bd. 1902.
Th. Ribot, La psychologie anglaise contemporaine. 1875.
Guido Villa, Einleitung in die Psychologie der Gegenwart. 1902.
W. Hellpach, Die Grenzwissenschaften der Psychologie. 1902.
Münsterberg, Aufgabe und Methode der Psychologie. 1891. Psychologische
Gesellschaft zu Breslau, über die Entwicklung der Psychologie (Vortrags-Zyklus)
1903 f.
Psychometrie
(gr.) S.
473
nennt Chr. Wolf (1679-1754)
die mathematische Psychologie,
welche er für ausführbar hält, aber als noch fehlenden
Teil der Wissenschaft bezeichnete, die aber erst Herbart
(1776-1841), freilich ohne Erfolg, auszuführen
versucht hat (1823); Kant
(1724-1804) erklärte die Psychologie
für nicht geeignet, mathematisch durchgeführt
zu werden.
Fechner (1817-1881)
hat diese Idee, wenn auch in beschränkter Form, in seiner
Psychophysik wieder aufgenommen.
Herbarts Gedanke, jene quantitativen Bestimmungen,
zu denen die psychologische Betrachtung führt, auf mathematische Formeln
zu bringen, scheiterte an dem Mangel eines Maßstabes, so gut auch die
Begriffe Vorstellungsstärke, Grad ihrer Helligkeit, Hemmung, Hemmungssumme,
Verschmelzung und Bewegung gewählt waren. Vgl.
Herbart, Über die Möglichkeit und Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie
anzuwenden. 1823. Derselbe, Psychologie als Wissenschaft. 1824.
Psychopannychie
(gr. psychê =
Seele, pan = alles, ganz u. nyx =
Nacht) S. 474
heißt der Seelenschlaf
zwischen Tod und Auferstehung, der wiederholt von der christlichen
Theologie angenommen
wurde, ein Zustand der Bewusstlosigkeit, dessen Ansetzung schon Tertullianus
(de anima 58) bekämpft und das Konzil zu Lyon
1274 verworfen hat.
Die Psychopannychiten, Anabaptisten und Soulsleepers huldigten dieser Lehre.
Vgl. Calvin, de psychopannychia 1534.
Psychophysik
(moderne Bildung aus gr. psychê
= Seele und physikê = Naturwissenschaft)
S. 474
heißt die Lehre von den Beziehungen zwischen Leib
und Seele; sie vereinigt in sich Physiologie und Psychologie und ist die Grundlage
der experimentellen Psychologie.
Sie misst, um. die Empfindungsintensitäten zu bestimmen, psychische Vorgänge
an physischen, weil diese allein Maßstäbe liefern.
Unmittelbare Vergleichung ist nur möglich unter der Voraussetzung, dass
psychische Größen nach ihrem relativen Werte verglichen werden (Webersches
Gesetz); Wundt fügt noch die Fälle hinzu, wo eine Vergleichung nach
absolutem Werte stattfindet. Bei drei Arten von Verhältnissen statuiert
er die »psychische Größenmessung«:
1. bei Gleichheit zweier psychischer Gebilde;
2. bei eben merklichem Unterschied zweier Größen;
3. bei Gleichheit zweier Größenunterschiede (vgl.
Wundt, Grundriß der Psych. S. 309 ff.).
Gefördert wurde die Psychophysik außer durch E. H. Weber (1795-1878)
durch Fechner, G.E. Müller, (Zur Grundlegung der
Psychophysik. 1878.) Delboeuf, W. Wundt und
H. Münsterberg. Vgl.
des letzteren »Neue Grundlegung der Psychophysik«. Freiburg 1889.
Die Psychophysik ist ein wichtiger Teil der objektiven experimentellen Psychologie.
psychophysisches
Gesetz S.474f.
ist das Gesetz,
das von E. H. Weber und Fechner
aufgestellt ist; es lautet:
»Der Zuwachs des Reizes, welcher eine eben merkliche
Empfindung hervorbringt, steht zu der Reizgröße, zu welcher er hinzukommt,
immer in demselben Verhältnis.«
[delta r/r = Konst.; oder (r,-r)/r = (r,,-r,)/r, = (r,,,-r,,)/r,,
usw.]
»Der Unterschied je zweier Reize wird also gleich hoch geschätzt,
wenn das Verhältnis der Reize unverändert bleibt« oder:
»Soll in unserer Auffassung die Intensität
der Empfindung um gleiche absolute Größen zunehmen, so muss der relative
Reizzuwachs konstant bleiben.«
Hieraus folgt:
»Die Stärke des Reizes muss in einem geometrischen
Verhältnisse zunehmen, wenn die Stärke der apperzipierten Empfindung
in einem arithmetischen zunehmen soll.«
»Die Intensitäten der Empfindungen verhalten
sich wie die Logarithmen der Intensitäten der sie hervorrufenden Reize,
wenn als Einheit der Schwellenwert des Reizes angesehen wird, d.h. diejenige
Reizstärke, wobei die Empfindung in der Reihe wachsender Reize zuerst entsteht,
resp. bei abnehmender Reihe zuerst verschwindet
( E = c log(r/e) .«
Das Webersche Gesetz gilt von
Licht- (100 : 101), Druck- (15: 16); und besonders deutlich von Schallempfindungen
(3 : 4) aber es hat eine obere und untere Grenze, bei der es seine Richtigkeit
verliert.
Es lässt eine physiologische (Müller), psychophysische (Fechner) und
psychologische (Wundt) Ausdeutung zu. (Wundt, Grundz. d. phys. Psych. I S. 356
ff.).
Die erste leitet dasselbe aus hypothetischen Verhältnissen der Leitung
der Erregungen im zentralen Nervensystem ab;
die zweite betrachtet es als ein spezifisches Gesetz der Wechselwirkung zwischen
Leib und Seele und beruht auf einer Auffassung dieses Verhältnisses, die
heute nicht mehr gilt.
Nach der dritten, von Wundt vertretenen Auffassung bezieht sich das Gesetz lediglich
auf die relative Maßbeziehung der Empfindungen selbst.
Punkt
(lat.)
S. 475
ist nach Eukleides dasjenige
im Raume,
was keine Teile
und keine Ausdehnung
hat.
Der geometrische Punkt ist daher
ebenso, wie das Atom
der Physik, eine
Abstraktion;
beide kann man nur denken, nicht
vorstellen oder anschauen.
Durch Fortbewegung eines
Punktes entsteht die Linie.
Punkte bilden die Grenzen, aber nicht die Teile
der Linie.
Die Ausdehnungslosigkeit des Punktes rechnet Schopenhauer
zu den Prädikabilien
a priori des Raumes.
Qualität
(lat. qualitas von qualis =
wie beschaffen,gr. poiotês), S.
476
d.h. Beschaffenheit, wird Dingen, Begriffen und Urteilen zugeschrieben. Die
Qualitäten eines Dinges sind seine durch die Sinne in der Empfindung erfassten
Eigenschaften, wie Licht, Farbe, Geruch, Geschmack, Wärme, Kälte,
Härte usw.
Die philosophische Besinnung führt aber zu der Erkenntnis, dass diese Qualitäten
nur in der Empfindung des Subjektes existieren und dem Dinge ohne Beziehung
auf ein erkennendes Bewusstsein abzusprechen sind.
Diese Erkenntnis drang schon im Altertum bei den Atomisten durch.
In der Neuzeit ist sie einer der Grundgedanken der Physik, welche die Qualitäten
auf quantitative Verhältnisse zurückführt.
Ihren philosophischen Ausdruck fand sie durch Locke
(1632-1704), der die Qualitäten sekundäre,
die Quantitäten primäre Eigenschaften nennt.
Bei Kant (1724-1804),
der alle räumlichen und zeitlichen Verhältnisse für subjektiv
hält, hat dieser Unterschied Lockes keinen Platz. Er setzt aber Quantität
und Qualität als extensive und intensive Größe einander gegenüber.
Qualität als Kategorie a priori ist ihm also dasjenige, was sich an jeder
Empfindung, als Empfindung a priori erkennen lässt. (Kr.
d. r. V. S. 166 ff.)
Die Qualitäten eines Begriffs sind seine Merkmale, die seinen Inhalt ausmachen.
Man denkt einen Begriff logisch genau, wenn man sich nach seiner Qualität
richtet. –
Bei Urteilen nennt man gewöhnlich das Verbindungsverhältnis zwischen
Subjekt und Prädikat Qualität. Die Urteile sind demgemäß
der Qualität nach bejahende oder verneinende (auch
limitierende). Dieser Begriff der Qualität ist nur ein Beziehungsbegriff
und hat mit dem sonstigen Begriff der Qualität nichts gemein.
Quantität
(lat. von quantus
= wie groß, gr. posotês), S.
477
Größenbestimmung, Zahlbestimmung, Formbestimmung, wird Dingen, Begriffen
und Urteilen zugeschrieben. Die Quantität eines Dinges ist im Gegensatz
zu den durch die Sinne in der Empfindung erfassten Eigenschaften (Qualitäten)
die Art der Verbindung, in der diese Eigenschaften gegeben sind.
Quantität setzt daher stets Vielheit und Verbindung der Vielheit voraus
und erscheint der Vermehrung und Verminderung fähig.
Im Einzelnen scheidet sich die Quantität in Menge, Zahl, Größe,
Grad, Raum, Ziel, Bewegung, Intensität usw.
Quantität gilt als die Grundeigenschaft des Objektes, und Reduktion der
Qualität auf Quantität ist ein Hauptpunkt der naturwissenschaftlichen
Methode, da die Quantitätsbegriffe die allgemeinsten und sichersten sind;
dass aber der Begriff der Verbindung ebenfalls seine subjektive Grundlage hat
und auch nur den Dingen in Beziehung auf ein Subjekt zukommt, hat Kant richtig
bestimmt. Damit ist freilich über das Wesen und den Ursprung der Quantitätsbegriffe
im Allgemeinen nicht entschieden.
Der höchste und allgemeinste unter ihnen ist der Begriff der Zahl. Dieser
erhebt sich, wenn er auch nur im Zusammenhange mit der Erfahrung gewonnen wird,
am meisten über dieselbe, alle anderen sind in stärkerem Maße
empirischen Ursprungs. –
In der Logik bezeichnet die Quantität eines Begriffs seinen Umfang, d.h.
die Menge von Dingen oder Begriffen, denen er als Merkmal zukommt. –
Die Quantität eines Urteils dagegen richtet sich nach dem Umfang seines
Subjekts, ist also die Bestimmung, ob das Urteil vom ganzen Umfange des Subjekts
ausgesagt wird oder von einem Teile.
Quantitativ unterscheidet man also die universalen und die partikulären
(auch die singulären) Urteile.
Quietismus
(von lat. quies = Ruhe) S.
477
heißt diejenige Lebensauffassung, welche sich durch Versenkung in Gott völlig vom Leben abwenden will. Solche Quietisten oder Hesychasten finden
sich unter den Buddhisten, im Altertum unter den Mystikern, im Mittelalter (Meister
Eckhardt, Tauler) und in der neueren Zeit, im 17. Jahrhundert (Frau v. Guyon,
v. Bourignon, Bunyan, Michael Molinos, Gichtel). Auch Schopenhauer gehört,
wenigstens in der Theorie, hierher.
Quintessenz
(lat. quinta essentia), S. 478
eigtl. fünftes Wesen, bezeichnet ursprünglich den Äther, den
Aristoteles als fünftes Element annahm (außer Feuer, Wasser, Luft
und Erde); da der Äther für das Vorzüglichste, ja für etwas
Göttliches gehalten wurde, so bedeutet die Quintessenz einer Sache ihr
Wesen.
Rationalismus
S. 479ff.
ist der Gegensatz
1. von Empirismus und Sensualismus ;
2. von Skeptizismus und Kritizismus ;
3. von Supranaturalismus.
Im Gegensatz zum Empirismus und Sensualismus ist der Rationalismus diejenige methodische Richtung der Philosophie, die, von dem Vorbilde der Mathematik ausgehend, aus der Philosophie ein System
von Vernunftschlüssen, an deren Spitze ein oberster Grundsatz
steht, machen möchte. Aus dem obersten
Grundsatze versucht sie durch folgerichtige Ableitung
das Ganze des begrifflichen Wissens zu gewinnen. Der Rationalismus
ist die Grundrichtung der griechischen Philosophie gewesen.
In der Neuzeit ist er in Frankreich von Descartes geschaffen, von ihm auf Spinoza übergegangen
und dann für lange Zeit die Methode der deutschen Philosophie geworden: Leibniz,
Wolf, Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Herbart sind seine namhaftesten Vertreter
gewesen. Als oberster Grundsatz galt ihm bis auf Kant
der Satz der Identität oder des Widerspruchs; Kant stellte dagegen den Gedanken der Möglichkeit
der Erfahrung und damit den
Begriff der transzendentalen synthetischen Einheit der Apperzeption an die Spitze seines Vernunftsystems.
Auch der nachkantische Idealismus suchte nach neuen Ausgangspunkten. Es ist
jedoch noch keine rationale Ableitung des Wissens zustande gekommen, ohne dass
irgendwo, bewusst oder unbewusst, die Erfahrung zu Hilfe genommen ist. –
Im Gegensatz zum Skeptizismus und Kritizismus ist der Rationalismus oder Dogmatismus diejenige Ansicht von den Grenzen der menschlichen Erkenntnis,
welche unbedingtes Vertrauen in die Leistungsfälligkeit unserer Vernunft
setzt. Dieser erkenntnistheoretische Rationalismus macht die Vernunft zur Alleinherrscherin
im Reiche der Wahrheit und erklärt ihr Regiment für absolut.
Von Cartesius (1596-1650)
im Aufbau seines Systems geschaffen, hat er sich mehr negierend und die
historisch gegebenen Verhältnisse in Gesellschaft, Staat, Kirche, Wissenschaft,
Kunst auflösend als agitatorische Aufklärungsphilosophie im 18.
Jahrhundert in Frankreich entwickelt und hier den Glauben an die Autoritäten
untergraben.
Mehr positiv sich
haltend und in vornehmerer Wissenschaftlichkeit hat er in Deutschland durch Leibniz und Wolf seine Ausbildung empfangen und im 19. Jahrhundert in Fichtes, Schellings und Hegels Systemen fortgelebt. Auch in Deutschland zeigt er im 18. Jahrhundert
Abneigung gegen das historisch Gegebene, und sein stets von ihm im Auge
behaltener Gegner ist der Aberglaube gewesen. Er hat mit Erfolg dahin gewirkt,
uns von dem Erbe mittelalterlicher Befangenheit zu befreien.
Vor allem hat er den Versuch gemacht, Glauben und Wissen zu einem
einheitlichen System zu vereinigen, bei dem nicht mehr wie im Mittelalter die Theologie der Philosophie übergeordnet ist, sondern umgekehrt sich der Glaube
nach der Vernunft richten muss. –
In dieser dritten Bedeutung ist also der Rationalismus diejenige theologische Richtung, welche in Glaubenssachen
den Gebrauch der Vernunft nicht nur für erlaubt, sondern sogar für
notwendig hält, um die göttliche Offenbarung aufzufassen und
zu prüfen.
Der theologische Rationalismus ist in Deutschland
durch Chr. Wolf begründet. Dieser stellt
in seiner »Natürlichen Theologie« eine Vernunftreligion dem positiven Glauben gegenüber. Hiermit verband
sich die durch Semler eingeleitete, durch Ernesti, Töllner,
Griesbach u. a. fortgesetzte Kritik der Bibel und Kirchengeschichte.
Ferner traten die Popularphilosophen sowie Nicolais
»Allgemeine Deutsche Bibliothek« für
eine bisweilen seichte Aufklärung ein, welche auf religiösem Gebiet
nichts gelten lassen wollte, was sich nicht vor dem »gesunden
Menschenverstande« (common sense) rechtfertigen könnte.
Zwar vertiefte Kant ihre eudämonistische Moral,
aber der Gegensatz zu allen positiven Elementen der Religion (Offenbarung, Wunder,
Weissagung) und zu allem Mystischen war auch sein Standpunkt. Auch er betrachtet
die Vernunft als die einzige Offenbarungsquelle und duldet nichts Mystisches
und Unbegreifliches in der Religion. Um nun aber doch die geschichtliche Wahrheit
der hl. Schrift, deren Autorität die Rationalisten
anerkannten, zu retten, ohne mit der Vernunft in Widerspruch zu geraten,
verirrten sich dieselben in gewaltsame, abenteuerliche, oft lächerliche
Auslegungen, indem sie alles Wunderbare als Akkommodation der heiligen Schriftsteller
deuteten. So ist viel Plattes und Unnatürliches beim Rationalismus herausgekommen,
und der Rationalismus erscheint als das echte Kind
des 18. Jahrhunderts, der Zeit der Ernüchterung,
Verständigkeit und Aufklärung. Gegen ihn erhoben sich Hamann, Herder, Jacobi, Lavater u. a. ferner
die Romantiker und vor allem Schleiermacher und Schelling.
Nicht den Angriffen der Supranaturalisten, wohl aber dem historischen Sinn des
19. Jahrhunderts ist der Rationalismus wehrlos zum Opfer gefallen.
Vgl. Stäudlin, Gesch. d. Rat. u. Supranaturalism.
1816. K. Hagenbach, Kirchengesch. des 18. und 19. Jahrh. 3. Aufl. 1836. K. Hase,
Anti-Röhr. 1834.
Raum
und Zeit S. 481ff.
Alles, was wir wahrnehmen und uns vorstellen, versetzen wir in Raum
und Zeit. Bei jedem Ereignisse fragen wir, wo und wann es geschehen ist.
Der naive Mensch findet dabei nichts Auffallendes, während der Philosoph
damit auf eines der schwierigsten erkenntnistheoretischen und psychologischen
Probleme stößt. –
Zunächst ist klar, dass wir uns die Dinge, wenn wir sie in Raum oder Zeit
versetzen, als Glieder einer Mannigfaltigkeit nebeneinander oder nacheinander
vorstellen. Jenes geschieht bei den sogenannten Außendingen, dieses bei
allen Veränderungen der Außen - und Innenwelt.
Überlegen wir nun, was wir uns eigentlich unter Raum
und Zeit vorstellen, so ergibt sich, wenn wir von allem abstrahieren,
was in Raum und Zeit gedacht wird, dass wir uns
den Raum als eine Form der Gegenstände und die Zeit als eine Form des Geschehens
vorstellen. Für das naive Denken existieren diese Formen als etwas Selbständiges,
vor dem Inhalte Fertiges und auf diesen Wartendes,
der Raum als ein ungeheures Gefäß, welches alles umschließt
(etwa eine Kugel), (vgl. Aristot. Phys. IV, 4 p. 212
A 15 ho topos angeion ametakinêton),
die Zeit als der stetige Übergang von dem, was war, zu dem, was sein wird,
als ein sich selbst bewegender Fluss.
Jenen (Raum) denkt man
sich durch drei rechtwinklige Abmessungen von einem Punkte aus bestimmt,
diese (Zeit) als eine
immer entstehende, aber nie daseiende Linie von einer Dimension.
Nun lehrt aber die Erkenntnistheorie, dass die ganze Außen - und Innenwelt
uns zunächst in unserem Bewusstsein gegeben ist; Raum und Zeit sind trotz
aller Beziehung zum Wirklichen also nicht etwas, was den Dingen unabhängig
von unserem Bewusstsein angehört, sondern wie jede Verbindungsform der
Vorstellungen aus der Tätigkeit des Subjekts entspringt, so sind auch sie
nur unter Voraussetzung eines Subjekts, das zur Wirklichkeit in Beziehung tritt,
vorhanden.
Diese Lehre von der transzendentalen Idealität von
Raum und Zeit, die Kant (1724-1804) in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) und schon vorher (1770) aufgestellt hat, muss jetzt
zu den gesicherten Resultaten der Erkenntnistheorie gerechnet werden. –
Raum und Zeit scheiden sich nun bestimmt und klar von den Qualitäten der
Empfindung; sie sind die extensiven Formen, in denen sich die Elemente der Empfindungen
unmittelbar und in fester Ordnung zueinander, sowie auch in Beziehung zum Subjekte
verbinden. Solche Formen sind aber nicht selbst Empfindungen. Und weil sie nur
Verbindungsformen von Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen sind, können
sie auch nicht unmittelbar als Wahrnehmungen oder Vorstellungen gegeben sein.
Man kann sich den Raum zwar von allem Inhalt getrennt als absoluten oder reinen
unendlichen Raum und die Zeit als leere unendliche Zeit denken, und die Mathematik
stellt die ideale Forderung, sie sich so zu denken; aber jede wirkliche räumliche
und zeitliche Vorstellung und Anschauung eines einzelnen Subjekts schließt
trotzdem einen, wenn auch noch so verblassten Empfindungsinhalt in sich ein.
Der reine Raum und die reine Zeit wird niemals wahrgenommen oder vorgestellt,
sondern nur gedacht. Andererseits besteht gerade das Wesen der Verbindungsformen,
die uns in Raum und Zeit vorliegen, auch darin, dass die Empfindungen sich unmittelbar
und assoziativ ohne unseren Willen und unsere Aktivität mit einem gewissen
Zwang, den wir erleiden, in sie hineinfügen, und dass diese Formen dann
von den Wahrnehmungen aus durch Reproduktion in die Vorstellungen übergehen.
Raum und Zeit haben darum empirische Realität und sind als sinnliche Formen
der Anschauungen zu bezeichnen. Sie sind keine begrifflichen Formen und sind
etwas stets Einzelnes, nie schlechthin Allgemeines. Sie wollen also wahrgenommen
und vorgestellt, aber nicht nur gedacht sein.
Nur gedachte Räume oder Zeiten sind keine Räume und Zeiten mehr. Absolute
unendliche Räume und Zeiten sind also nichts weiter als Abstraktionen,
die in Wahrheit nie vom Subjekte erreicht werden und nur als letzte ideale Forderungen
der Philosophie und der Mathematik vorhanden sind.
Mit Recht hat also Kant Raum und Zeit von den Kategorien (allgemeinen Begriffsformen)
geschieden und als sinnliche Formen der Anschauung bezeichnet und ihnen empirische
Realität zugeschrieben. –
Die Frage ist nun weiter, ob sie als fertige Formen in der Seele liegen oder
sich von Fall zu Fall aus den Empfindungen und Vorstellungen des Subjektes entwickeln.
Jene Ansicht, die nativistische, wird Kant oft fälschlich zugeschrieben.
Das beruht aber nur auf einem hartnäckigen Missverständnis der Lehre
Kants. Kant bezeichnet 1770 Raum und Zeit ausdrücklich als »ursprünglich
erworben«, nicht als angeboren, und in der Kritik der reinen Vernunft
(1781) findet sich nichts, was dieser Annahme widerspricht oder eine Änderung
der Ansicht Kants andeutet. Das Apriori hat bei Kant nicht die Bedeutung: »angeboren«,
oder »fertig im Bewusstsein gegeben«, oder »vor aller Erfahrung
gegeben«, sondern es hat nur die Bedeutung: »aus der Quelle der
Vernunft, nicht von außen her entstehend«. Das Apriori kann sich
somit in der Erfahrung und durch die Tätigkeit des Bewusstseins selbst
erst entwickeln und bilden. Kant ist also bezüglich der Lehre von Raum
und Zeit kein Nativist, wofür er häufig gehalten wird. Er hat zwar
keine genetische Raumtheorie aufgestellt, aber sie lässt sich der Kantschen
Lehre ohne Widerspruch hinzufügen. -
Es kann nun mit Raum und Zeit nicht anders stehen als mit unserem gesamten Bewusstseinsinhalt.
Er entwickelt sich erst im Leben innerhalb der Erfahrung und wird schrittweise
erworben ; und nur die Anlage zur räumlichen und zeitlichen Einordnung
der Empfindung ist ein Besitz, den wir durch Vererbung auf der Stufe des höheren
tierischen und des menschlichen Lebens bereits überliefert erhalten. –
Wenn nun aber alle räumlichen und zeitlichen Vorstellungen sich erst innerhalb
unserer sinnlichen Tätigkeit auf Grund der vorhandenen Anlagen entwickeln,
so kann allerdings die Erkenntnistheorie die Idee einer strengen Allgemeinheit
und Notwendigkeit der uns bekannten Zeit- und Raumgesetze, wie sie Kant aufgestellt
hat, nicht aufrechterhalten.
Raum und Zeit entstehen mit unseren Vorstellungen von in der Wirklichkeit gegebenen
Objekten und haben nur den Wert und die Bedeutung des Tatsächlichen.
Die Mathematik, soweit sie aus diesen Vorstellungen hervorgeht, insbesondere
die Geometrie, beruht auf Tatsachen und ist in ihren Fundamenten ebenso empirisch
wie jede Wissenschaft.
Aus dem Begriffe der Sinnlichkeit, Empfänglichkeit, Rezeptivität oder
Verbindung lässt sich nie Raum und Zeit in der uns gegebenen Form ableiten,
nie zeigen, dass Raum und Zeit so beschaffen sein müssen, wie sie sind;
und der Gedanke der Möglichkeit anderer Räume und Zeiten wie die unsrigen
lässt sich sehr wohl fassen, und wenn auch nie in Anschauung übersetzen,
so doch mathematisch bestimmen und durchführen (s. Metamathematik). Alle
geometrischen Lehrsätze haben also nur eine beschränkte Apodiktizität.
Die spiritistische Phantasterei, einen mehr als dreidimensionalen Raum als wirklich
gegeben anzunehmen, ist natürlich andrerseits durch nichts gerechtfertigt,
und alle experimentellen Versuche ihn nachzuweisen sind Gaukelspiel und Betrug.
Es gilt aber noch heute der Satz, den Gauß am 9. April 1830 an Bessel
schrieb: »Nach meiner innigsten Überzeugung hat die Raumlehre zu
unserem Wissen der selbstverständlichen Wahrheiten eine ganz andere Stellung
als die reine Größenlehre; es geht unserer Kenntnis von jener durchaus
diejenige vollständige Überzeugung von ihrer Notwendigkeit (also auch
von ihrer absoluten Wahrheit) ab, welche der letzteren eigen ist, wir müssen
in Demut zugeben, dass, wenn die Zahl bloß unseres Geistes Produkt ist,
der Raum auch außer unserem Geiste eine Realität hat, der wir apriori
ihre Gesetze nicht vollständig vorschreiben können.«
Die Lehre von der transzendentalen Idealität des Raumes findet also erst
ihre Ergänzung in der recht verstandenen und richtig gewendeten Lehre von
dem empirischen Ursprunge von Zeit und Raum, mit der allerdings das Apriori
im Sinne Kants als das Notwendige, Allgemeine, aus reiner Vernunft Stammende
fällt und nur im Sinne der Entwicklungslehre bleiben kann. Aus den Bedingungen
unserer geistigen und physischen Organisation hervorgehend, entstehen Zeit und
Raum mit der Entwicklung des Empfindungslebens. Als Bewusstseinsformen sind
sie nicht unmittelbar etwas Wirkliches, aber sie gehören zu dem Objektiven
in unseren Vorstellungen, eben weil sie unmittelbar mit den Empfindungen verknüpft
sind und die Einordnung in sie ohne Willkür und unter einem gewissen Zwange
erfolgt.
Im besonderen vollzieht sich die Entstehung der Raum- und Zeitvorstellung im
Subjekte nach Wundts genetischer Verschmelzungstheorie, die an Lotze und v.
Helmholtz anknüpft und der nativistischen Herings (geb. 1834) entgegengesetzt
ist, in folgender Weise: Die Raumvorstellung ist nicht eine ursprüngliche
Eigenschaft der einzelnen Empfindungselemente, wie es die Intensität und
Qualität der Empfindungen sind, sondern sie setzt ein Zusammensein der
Empfindungen als Bedingung voraus und ist die Form fester Ordnung der Sinnesqualitäten.
Sie entsteht aus den Funktionen zweier Sinne, des Tastsinns und des Gesichtssinns,
ist also die Form der Ordnung der Tastempfindungen und Lichtempfindungen. Der
Blindgeborene erwirbt sie nur durch den Tastsinn, der normal sehende Mensch
in ihrer feineren Ausbildung mehr durch den Gesichtssinn als durch den Tastsinn.
Die Vorgänge, die beim Zustandekommen der Raumvorstellung durch den Tastsinn
stattfinden, sind folgende: Ein Gegenstand kommt in Berührung mit dem Tastorgan
und ruft eine Tastempfindung hervor. Hierbei bildet sich eine bestimmte Vorstellung
von dem Orte der Berührung, die darauf beruht, dass jedem Punkte des Tastorgans
eine eigentümliche qualitative Färbung der Tastempfindung zukommt,
die von der Qualität des äußeren Eindrucks unabhängig ist.
Die lokale Färbung der Empfindung wird das Lokalzeichen (s. d.) der Empfindung
genannt. Diese Lokalzeichen oder Ortsempfindungen schließen, jedes für
sich, noch keine Raumvorstellung in sich ein. Mit diesen Ortsempfindungen verbinden
sich nun aber die Bewegungen des Tastorgans, die von inneren Tastempfindungen
begleitet sind. Die einzelne dieser inneren Tastempfindung schließt ebensowenig
wie das Lokalzeichen die Raumvorstellung in sich ein. Aber durch die empirisch
gegebenen Verbindungen der Empfindungen entsteht die räumliche Vorstellung.
Mit je zwei Empfindungen a und b von bestimmter Lokalzeichendifferenz ist stets
eine bestimmte, die Bewegung begleitende innere Tastempfindung b, mit einer
größeren Lokalzeichendifferenz a und c eine intensivere Bewegungsempfindung
g assoziiert. So ist die aus der Funktion des Tastsinns hervorgehende Raumvorstellung
das Produkt einer Verschmelzung äußerer Tastempfindungen und ihrer
qualitativ abgestuften Lokalzeichen mit inneren intensiv abgestuften Tastempfindungen,
und zwar bilden bei dieser Verschmelzung die äußeren Tastempfindungen
die herrschenden Elemente, während die inneren Tastempfindungen hinter
ihnen zurücktreten, wie etwa die Obertöne eines Klanges. Die Verschmelzung
selbst ist eine doppelte, wenn auch gleichzeitige. Durch eine erste Verschmelzung
ordnen sich die Qualitätsstufen des nach zwei Dimensionen geordneten Lokalzeichensystems
in ihrem Verhältnis zueinander nach den Intensitätsstufen der inneren
Tastempfindung ; durch eine zweite verbinden sich die durch die Reize bestimmten
äußeren Tastempfindungen mit jenen ersten Verschmelzungsprodukten.
Die äußere Tastempfindung wechselt mit der Beschaffenheit des objektiven
Reizes; aber die Lokalzeichen bilden zusammen mit den inneren Tastempfindungen
subjektive Elemente, deren wechselseitige Zuordnung bei den verschiedenen äußeren
Eindrücken immer dieselbe bleibt, so dass die psychologische Bedingung
für die dem Raume zugeschriebene Konstanz der Eigenschaften gegeben ist,
die sich in der Lehre von der Verschiebbarkeit und Drehbarkeit der räumlichen
Gebilde ausspricht. Die so erworbene Raumvorstellung ist natürlich reproduzierbar
und kehrt in Erinnerungsbildern wieder.
Die Eigenschaften des Tastsinns wiederholen sich beim Gesichtssinn, freilich
in viel feinerer Ausbildung. Die Netzhautfläche verhält sich analog
einem Tastgebiet, übertrifft es aber an Stärke. Auch bei dem Eintritt
einer Gesichtsempfindung durch Einwirkung eines Lichtreizes auf die Netzhaut
entsteht die Vorstellung eines ihm zukommenden Ortes, mit der aber die räumliche
Vorstellung noch nicht verbunden ist; doch erfolgt hierbei die Lokalisation
nicht wie beim Tastsinn durch die unmittelbare Beziehung auf den entsprechenden
Punkt des Sinnesorganes selbst, sondern wir verlegen, ohne dass wir erklären
können, warum dies geschieht, den Eindruck an das außerhalb des vorstellenden
Subjektes und in irgend einer Entfernung von ihm gelegene Sehfeld. Mit diesen
qualitativen Lokalzeichen des Gesichtssinnes, die mit den einzelnen Zuständen
der Netzhaut zusammenhängen, verbinden sich die die Bewegungen des Auges
begleitenden, ein intensiv abgestuftes System bildenden Empfindungen. Die Bewegungen
des Auges spielen bei der Ausmessung von Strecken des Sehfelds eine ähnliche
Rolle wie die Tastbewegungen bei Ausmessung der Tasteindrücke, jedoch so,
dass die Bewegungen des einen Auges noch durch die des andern unterstützt
werden. Mit der einzelnen Empfindung ist auch hier die räumliche Vorstellung
nicht verbunden. Sie entsteht auf Grund der Verbindung der Empfindungen. Die
räumliche Ordnung der Lichteindrücke ist also eine Einordnung des
nach zwei Dimensionen geordneten Lokalzeichensystems der Netzhaut in ein intensiv
abgestuftes System der die Bewegungen des Auges begleitenden inneren Tastempfindung.
Für je zwei Lokalzeichen, a und b, ist die bei der Durchmessung der Strecke
a b entstehende Spannungsempfindung a ein Maß der linearen Raumgröße,
während einer großem Strecke a c eine intensivere Spannungsempfindung
je entspricht. So vollzieht sich also auch bei der Entstehung der Raumvorstellung
durch die Vorgänge im Gesichtssinne eine Verschmelzung. Verschmolzen werden
die in der Beschaffenheit der äußeren Reize begründeten Empfindungsqualitäten,
die von den Arten der Reizeinwirkung abhängigen qualitativen Lokalzeichen
und die durch die Beziehung der gereizten Punkte zum Netzhautzentrum bestimmten
intensiv abgestuften Spannungsempfindungen. Auch hier ist die Entstehung der
Raumvorstellung an die Vorgänge selbst gebunden, aber die Raumvorstellung
ist ebenso reproduzierbar wie beim Tastsinn. Während aber beim Tastsinn
sich die qualitativen Lokalzeichen mit den inneren, durch die Bewegung des Tastorgans
verbundenen Bewegungen verschmelzen, verbinden sich beim Sehen die qualitativen
Lichteindrücke mit den die Bewegungen der Augen begleitenden inneren Tastempfindungen,
so dass hier von einem System komplexer Lokalzeichen geredet werden kann. Die
räumliche Lokalisation irgend eines Lichteindrucks erscheint demnach als
das Produkt einer vollständigen Verschmelzung der durch den äußeren
Reiz bestimmten Lichtempfindung mit je zwei zusammengehörigen Elementen
jenes komplexen Lokalzeichensystems, und die räumliche Ordnung einer Mehrheit
einfacher Eindrücke besteht in der Verbindung einer großen Anzahl
solcher Verschmelzungen, die qualitativ und intensiv nach Maßgabe der
Elemente des Lokalzeichensystems gegeneinander abgestuft sind. Hierbei sind
die von den äußeren Reizwirkungen bestimmten Empfindungen die herrschenden
Elemente, gegenüber denen die Elemente des Lokalzeichensystems selbst zurücktreten.
Die durch den Tastsinn und die durch den Gesichtssinn erworbenen Raumvorstellungen
und ihre Erinnerungsbilder ordnen sich ineinander ein und ergänzen sich,
und zwar so, dass beim Sehenden die letzteren vorherrschen und uns das Bild
der Außenwelt liefern. Sie werden schließlich auf alle anderen Sinnesempfindungen
übertragen. ( Wundt, Grundriß der Psychologie
§ 10.)
Die Bildung der Zeitvorstellungen erfolgt vornehmlich auf Grund von Tast - und
Gehörsempfindungen ; doch sind die Bedingungen zu ihrer Entstehung auch
bei anderen Empfindungen gegeben.
Bei der Bildung der Zeitvorstellung durch den Tastsinn sind es nicht die äußeren,
sondern nur die inneren Tastempfindungen, welche die Tastbewegungen begleiten,
aus denen die Zeitvorstellung hervorgeht. Bei den Bewegungen, besonders bei
den rhythmischen Bewegungen, z.B. der Beine und Arme beim Gehen findet ein regelmäßiges
Wechseln qualitativ entgegengesetzter, spannender und lösender Gefühle
statt, von denen das lösende sehr rasch verläuft, das spannende langsam
zum Maximum aufsteigt, um dann plötzlich zu sinken, und bei deren Wechsel
die intensivsten Gefühlsvorgänge sich auf die Grenzpunkte der
Perioden zusammendrängen. Die einfachsten zeitlichen Tastvorstellungen,
die so entstehen, bestehen demnach in rhythmisch geordneten Empfindungen, die
sich gleichförmig wiederholen.
Für die Entstehung der Zeitvorstellung durch den Gehörssinn liegen
die Bedingungen besonders günstig, wenn es sich um diskontinuierliche Tastfolgen
handelt, bei denen den Zeitstrecken selbst jeder objektive Empfindungsinhalt
fehlt, und die Gehörseindrücke selbst nur die Begrenzung der Zeitstrecken
gegeneinander vermitteln. Auch hier füllen sich die objektiv leeren Zeitstrecken
mit einem subjektiven Gefühls - und Empfindungsinhalt, der dem bei rhythmisch
verlaufenden Tastbewegungen vollständig entspricht, und es wechseln steigende
und erfüllte Erwartung, die auf Spannungsempfindungen des Trommelfells
oder auf den inneren Tastempfindungen beruht, die sich mit einem unwillkürlichen
Taktieren verbinden.
Verbindet man die Resultate dieser Beobachtung, die sich nur auf die günstigen
Fälle der Entstehung der Zeitvorstellung bezieht, so ergibt sich, dass
auch die Zeitvorstellung nicht an einer einzelnen isoliert gedachten Empfindung
haftet, sondern aus der Verbindung psychischer Elemente hervorgeht. Auch hier
ist der Vorgang der Entstehung eine Verschmelzung. Bei dieser ist der momentan
gegenwärtige Eindruck, der am schärfsten und klarsten wahrgenommen
wird und durch Gefühlselemente charakterisiert ist, immer derjenige, nach
dem alle andern orientiert werden, wodurch die Vorstellung vom Fließen
der Zeit entsteht.
Die zeitliche Ordnung nach diesem Orientierungspunkte geschieht durch Hilfsmittel,
die analog den Lokalzeichen Zeitzeichen genannt werden können und die im
wesentlichen Gefühlselemente sind. Die Erwartungsgefühle sind die
qualitativen, die inneren Tastempfindungen die intensiven Zeitzeichen. Die Zeitvorstellung
ist daher ihrer Entstehung nach ein Verschmelzungsprodukt beider Arten der Zeitzeichen
miteinander und mit den in die zeitliche Form geordneten objektiven Empfindungen.
( Wundt, Grundriß der Psychol. § 11.)
Aus der psychologischen Darlegung der Entstehung unserer Zeit- und Raumvorstellung
ergibt sich, dass Zeit und Raum, soviel Analoges sie enthalten, weder gleichgesetzt,
noch vollständig parallellisiert werden können. Die psychologischen
Grundlagen der Zeitvorstellung sind viel allgemeiner als die der Raumvorstellung.
Die Zeit wird zur Ordnung aller unserer psychischen Elemente, zur Grundform
der inneren Wahrnehmung und ist somit allgemeiner als die Raumform. Die Ordnung,
die im Raume den psychischen Elementen gegeben wird, ist nur fest in Bezug auf
die Elemente selbst, aber veränderlich bezüglich des Subjekts, so
dass wir die Möglichkeit einer Drehung und Verschiebung der räumlichen
Gebilde ohne Änderung derselben zugeben. Die Ordnung, die dagegen in der
Zeit den psychischen Elementen gegeben wird, ist fest auch bezüglich des
Subjekts, so dass jede Veränderung in dieser Beziehung auch eine Veränderung
der Zeitelemente zueinander herbeiführt. Der Raum hat drei Dimensionen,
die Zeit nur eine; aber die Punkte in dieser Dimension sind nie zugleich gegeben.
Auch völlige Parallelisierung von Raum und Zeit ist unmöglich.
Die Ansichten der Philosophen über das Wesen von Raum und Zeit haben sehr
geschwankt.
Die reale Existenz des leeren Raumes nahmen im Altertum die Pythagoreer, die
Atomisten und Epikureer an, während die Eleaten sie leugneten.
Platon (427-347) setzte Materie und Raum einander gleich. Beide sind ihm ein
Nichtreales.
Aristoteles (384-322) erklärte den Raum für die erste unbewegte Grenze
des umschließenden Körpers gegen den umschlossenen und leugnete den
leeren Raum (to tou periechontos peras akinêton
prôton tout estin ho topos. Phys. IV, 4, p. 212
A 20).
Die Stoiker lehrten die Existenz eines außerhalb der stofflichen Welt
befindlichen unendlichen leeren Raumes. –
Von den Neueren nahm Descartes (1596-1650) Raum und Materie für identisch,
indem er als das Wesen des Körperlichen die Ausdehnung ansah.
Für Leibniz (1646-1716) dagegen ist der Raum nur eine verworrene Vorstellung.
In der sinnlichen Auffassung erscheint uns die Ordnung der Monaden als Ordnung
koexistierender Phänomene.
Kant (1724-1804) erfasste den Raum richtig als sinnliche Form und lehrte seine
transzendentale Idealität und empirische Realität. Seine Lehre von
der Reinheit, Unendlichkeit und Apriorität der Raumanschauung und Apodiktizität
der Mathematik entspricht zwar dem rationalistischen Gesichtspunkte seiner Philosophie,
ist aber nicht haltbar. Gegen sie sind von mathematischer Seite triftige Einwendungen
namentlich von Lobatschewsky, Gauß, Riemann, v. Helmholtz u. a. gemacht
worden; die Raumtheorie Kants lebt also nur modifiziert in der Gegenwart fort.
Den physiologisch-psychischen Prozess, durch den die Raum- und Zeitvorstellung
erworben wird, hat in neuerer Zeit im Anschluss an Lotze und v. Helmholtz vor allem Wundt (geb. 1832) festgestellt,
der die Theorie des komplexen Lokalzeichens geschaffen hat. An Wundt sich anlehnend,
gibt Hellpach (Die Grenzwissenschaften
der Psychologie S. 142 ff.) eine ausführliche Theorie der Raumanschauung,
die aber Missverständnisse der Kantischen Lehren in sich einschließt.
Die Zeit ist nach Platon mit dem Bewegung in Himmel
entstanden.
Nach Aristoteles ist sie das Maß der Bezug auf das Früher und Später (hoti men toinyn ho chronos arithmos kinêseôs
kata to proteron kai hysteron - phaneron Arist. Phys.
IV, 11 p. 220 A 24).
Für den Stoiker war die Zeit ein unkörperliches Gedankenhaftes.
Auch Cartesius (1596-1650) sah in ihr nur einen Modus des Denkens (modus
cogitandi) und definierte sie nach Aristoteles als 'numerus motus'.
Ihm folgte Spinoza.
Für Leibniz (1646-1716) war die Zeit
'l'ordre des possibilités inconsistentes'.
Kant (1724-1804) verbindet
die Raum- und Zeittheorie miteinander. Ebenso wie der Raum, ist ihm die Zeit
sinnliche Form, und zwar Form des inneren Sinnes und von transzendentaler Idealität.
Ebenso wie vom Raume, lehrt er die Reinheit, Unendlichkeit und Apriorität
der Zeitvorstellung, ebenso wie in der Raumtheorie, will er die Apodiktizität
der Mathematik mit auf die Apriorität der Zeitvorstellung aufbauen. Aber
von dem Erscheinen der Prolegomena ab begeht er in seiner Zeittheorie den Irrtum,
dass er den Zeitbegriff als Grundlage des Zahlbegriffs ansieht und nun die Arithmetik
ebenso in Verbindung mit seiner Lehre von. der Zeit setzt, wie die Geometrie
mit seiner Raumlehre. Die erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft ist von
diesem Irrtum noch frei.
Dass der Begriff der Zeit seine mathematische Verwendung erst in der Kombinations-
und Reihenlehre findet, die Grundbegriffe der Arithmetik aber nichts damit zu
tunhaben, muss Kant gegenüber betont werden (s. Zahl); aber ebenso wenig
ist seine Parallelisierung von Zeit und Raum als richtig anzuerkennen. Nach
Kant ist die erkenntnistheoretische Frage bezüglich der Zeit wenig behandelt
und nur die psychologische Theorie von der Zeit gefördert worden. Eine
Theorie andersartiger Zeiten, als unsere Erfahrungszeit ist, ist bisher nicht
aufgestellt worden und dürfte ihre besondere Schwierigkeit haben, da mit
Dimensionen bei der Zeit nichts auszurichten ist.
Neuerdings hat M. Palágyi (Neue
Theorie des Raumes und der Zeit. Leipzig 1901) die Zweiheit der Raum-
und Zeitanschauung geleugnet und beide durch den Begriff des »fließenden
Raumes« ersetzen wollen. Aber seine Grunddefinition: »Der
Zeitpunkt ist der Weltraum« und »Der
Raumpunkt ist der Zeitstrom« begründen nicht die Idee der
untrennbaren Zusammengehörigkeit von Raum und Zeit; denn der Zeitpunkt
ist keine Zeit, und der Raumpunkt kein Raum. -
Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 191 ff.
Th. Isenkrahe, Idealismus oder Realismus. 1883. C. Stumpf, Psychol. Urspr. der
Raum-vorstell. 1873. Baumann, die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik. 1869.
B. Erdmann, die Axiome der Geometrie. 1877. Schlesinger, Substantielle Wesenheit
des Raumes und der Kraft. Wien 1885. Wundt, Grundzüge der phys. Psychologie
II. Max Simon, Didaktik und Methodik des Rechen-, Mathematik- und Physik-Unterrichts.
München 1895.
real
(v. lat. res)
S. 492
heißt 1. sachlich oder dinglich; 2. gegenständlich, objektiv und
3. materiell und wirklich.
realisieren
S. 493
bedeutet etwas verwirklichen,
z.B. eine Idee, einen Zweck, Entwurf oder Plan.
Realismus
(lat. res,
Sache) S.
493ff.
heißt in der scholastischen Philosophie des Mittelalters der Gegensatz
zum Nominalismus. Er behauptet in seiner strengsten Form mit Platon, die Universalien,
d.h. die allgemeinen Begriffe, seien vor den Dingen vorhanden
(Universalia sunt ante res), und zwar (als
ewige Ideen) in Gott und (als angeborene Ideen)
in unserem Geiste.
Diesen Standpunkt vertritt Anselm
v. Canterbury (1035 bis
1109); ihm sind die Gattungs- und Artbegriffe nicht bloß subjektive
Abstraktionen, sondern Wesen,
welche vor den Einzeldingen existieren.
Abälard (1079-1142) dagegen lehrte, andern
er einen vermittelnden Standpunkt einnahm, sie seien in denselben (Universalia
sunt in re), das Allgemeine sei zwar nur ein Gedachtes, aber als
solches gehöre es nicht allein dem Bewusstsein an, sondern es habe auch seine objektive
Realität in den Einzeldingen selbst, aus denen man es nicht abstrahieren könnte,
wenn es nicht darin wäre.
Der Gegensatz zum Realismus ist in der Scholastik der Nominalismus, für den das Allgemeine bloße Namen (flatus
vocis) und nichts Wirkliches sind. Der Nominalismus wurde zuerst
vertreten von Roscellin (geb.
um 1050) und von Wilhelm von Occam
(†1347) erneuert. Neuere Vertreter des Nominalismus sind Hobbes, Locke, Berkeley, St.
Mill usw.
Die ganze Streitfrage knüpfte besonders an die Einleitung des Porphyrius
(233-305) zu Aristoteles' logischen Schriften (Isagoge
in Aristotelis Organon) an, in der untersucht wird, ob die fünf Begriffe:
Gattung, Art, Differenz, Eigentümlichkeit und Zufälliges substanzielle
Existenz haben, ob sie ferner Körper oder unkörperliche Wesen seien,
und endlich, ob sie von den sinnlichen Objekten gesondert oder nur in und an
diesen existieren. Während Porphyrius selbst
die Frage nicht entscheidet, beschäftigte sich das Mittelalter eifrig damit,
weil die Theologie darauf fort und fort hinwies. Übrigens findet sich schon
bei jenem selbst der entschiedene Realismus, bei Marcianus Capella der Nominalismus, während Boethius, Macrobius und Chalcidius vermitteln.
Seit dem 16. Jahrhundert ist die Philosophie nominalistisch;
doch erhob sich der alte Streit bei der Frage, ob es »angeborene
Begriffe« gäbe oder nicht.
Descartes (1596-1650) vertrat jene Ansicht, indem er seinen Beweis für
das Dasein Gottes darauf stützte. Gott hat die Idee von sich dem Menschen
schon im Mutterleib eingeprägt; doch sind die angeborenen Begriffe mehr
nur Dispositionen, gleichsam involviert im Geiste, und kommen ihm erst allmählich
zum Bewusstsein.
Cudworth (1617-1688) kehrte
vollständig auf Platons Standpunkt zurück;
gegen ihn erhob sich Locke (1632-1704),
ging aber in seiner Opposition zu weit, so dass Leibniz
(1646-1716) wieder gegen ihn leichtes Spiel hatte,
indem er nur die virtuelle Erkenntnis angeboren sein ließ.
Kant (1724-1804) suchte
den Streit dadurch zu entscheiden, dass er lehrte, der Stoff aller unserer Erkenntnis
entstamme der sinnlichen Empfindung, die Form aber der Vernunft. Diese Form
gehöre derselben a priori an, aber weder als fertige Vorstellung noch als
Disposition, sondern als Funktion der Vernunft. –
Die nachkantischen Philosophen waren zunächst wieder ganz realistisch,
so Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher, Krause und Schopenhauer, während
die neueste Philosophie vielfach dem Nominalismus zuneigt. Vgl. Nominalismus
und Konzeptualismus.
Eine andere Bedeutung hat das Wort Realismus in
dem neueren philosophischen Sprachgebrauche erlangt, wo es den Gegensatz zum
Idealismus bezeichnet. Hier ist der Realismus dasjenige monistische System der
Metaphysik, welches dem Einzelnen, dem Körper, der Materie die Existenz
zuschreibt, und dem Allgemeinen, der Idee, dem Geiste die Existenz abspricht,
oder doch nur eine sekundäre Art der Existenz lässt, wodurch alle
geistigen Vorgänge zu Begleiterscheinungen des Körperlichen herabgesetzt
werden.
Der naive Realismus, die Weltauffassung des nicht
philosophisch denkenden Menschen, stützt sich auf das Zeugnis der Sinne
und glaubt ohne Kritik an die Wirklichkeit des Körperlichen.
Der philosophische Realismus dagegen ist sowohl im Altertum wie in der Neuzeit
ein Kind der sich zur Philosophie entwickelnden Naturwissenschaft. Er tritt
meist im Zusammenhang mit der empiristischen Methode und der sensualistischen
Erkenntnistheorie auf. Bald knüpft er mehr an die Erscheinungsform des
Stoffes an und wird dann zum Materialismus, bald geht er mehr von den Bewegungsgesetzen
des Stoffes und den im Stoffe wirksam erscheinenden Kräften aus und wird
dann zum Mechanismus oder Dynamismus. Bei konsequenter und einseitiger Ausbildung
zeigt er stets Hinneigung zum Atheismus.
Im Altertum ist er als Atomismus von Leukippos
und Demokritos (5. Jahrh.
v. Chr.) und Epikuros
(341-270) ausgebildet; seine klassische Epoche hat er im 18. Jahrhundert
in Frankreich erlebt, wo er als Materialismus sich aus dem englischen Sensualismus,
aus der Naturwissenschaft und aus dem Oppositionsgeist gegen Religion und Konvention
entwickelte und eine lebendige Agitationskraft erlangt hat. Sein Hauptvertreter
ist Lamettrie (1709-1751,
l'homme machine. 1748). Das klassische Buch
des französischen Materialismus ist das Systeme de
la Nature (1770).
Im 19. Jahrhundert hat der materialistische
Realismus eifrige Vertreter in Deutschland gefunden in Feuerbach, C. Vogt, Moleschott, Büchner
u. a. (s. Materialismus). –
Soweit der Realismus als Naturwissenschaft auftritt, ist er eine sich auf die
wahrnehmbare Außenwelt einschränkende folgerichtige und unanfechtbare,
aber auf Abstraktion beruhende Gedankenkette. Aber soweit er Metaphysik sein will, kann er nie erweisen, dass die Welt der Sinneswahrnehmung mehr als
die halbe wirkliche Welt ist, und so wird er durch seine eigenen Schlussfolgerungen über das Sinnenbild der Natur hinaus zu Ergänzungen aus der geistigen
Welt gedrängt. –
In der Ästhetik ist Realismus diejenige Richtung,
welche das Schöne nicht nur in der Form, sondern auch im Inhalt sucht.
Realität
(mlat. realitas v.
lat. res) S. 495f.
heißt Sachlichkeit, Wirklichkeit;
Realität bedeutet in der Metaphysik das Dasein eines von uns Vorgestellten. In der Logik bezeichnet Realität soviel als Bejahung im
Gegensatze zur Negation.
Kant (1724-1804) stellt
der objektiven Realität, d.h. der Beziehung
einer Erkenntnis auf einen Gegenstand, die subjektive gegenüber, d.h. die
Gültigkeit einer Erkenntnis für die menschliche Vernunft. Empirisch
nennt er die Realität eines Gegenstandes,
welcher unseren Sinnen gegeben ist, transzendental die eines solchen, dessen
Begriff an sich selbst ein Sein in der Zeit anzeigt.
Recht
S. 496f.
Der Begriff des Rechtes beruht
auf den Begriffen der Befugnis und der Pflicht und hat einen subjektiven und einen objektiven Sinn. In jenem ist er im Gegensatz
zur Rechtspflicht die Befugnis, etwas zu tun oder zu lassen, in diesem ist er
das Gesetz, welches
die Rechtspflichten und Rechtsbefugnisse der einzelnen zueinander oder zu Gesamtheiten
regelt.
Kant (1724-1804) definiert
das objektive Recht als den »Inbegriff der Bedingungen,
unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach
einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«
(Metaphysik der Sitten 1, S. XXXIII). Eine jede
Handlung ist demnach recht, die mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen
Gesetze zusammen bestehen kann. Dasjenige, was jeder inmitten der übrigen
tun darf, ist die Sphäre seiner rechtlichen Freiheit. Dies ist natürlich
nach Ort, Zeit und Verhältnissen verschieden.
Die Rechtsphilosophie hat die
Frage nach dem Ursprung, dem Inhalt und der Autorität des Rechts zu untersuchen,
sie hat also festzustellen, wie es kommt, dass das Recht jeden auch ohne den
zu erwartenden Zwang verpflichtet, seine Rechtssphäre nicht zu überschreiten,
oder die anderen ermächtigt, den Übertreter zu bestrafen. -
Das Recht unterscheidet sich von der Sitte und der Moral.
Die Sitte ist Grundlage des Rechts, aber ihre Vorschriften lassen sich nicht
erzwingen.
Ein Unterschied des Rechts von der Moral besteht
nach verschiedenen Richtungen; zuerst im Zwecke: dieser ist bei der Moral die Harmonie des
Menschen mit sich selbst, beim Rechte dagegen diejenige mit den anderen; ein
anderer Unterschied liegt in der Quelle: diese ist dort Vernunft oder Religion,
hier ein Vertrag, ein Herkommen, eine Sitte usw.
Ein weiterer Unterschied liegt auch in dem Interesse,
das beide erwecken: auf moralischem Gebiete gibt es nichts Gleichgültiges (adiaphoron), wohl
aber auf rechtlichem und innerhalb seiner Rechtssphäre steht es jedem Menschen
frei, zu tun und zu lassen, was ihm beliebt. Endlich besteht auch darin ein
Unterschied zwischen beiden, dass das Recht, aber nicht die Moral, äußere
Motive, äußere Richter- und Zwangsgewalt zulässt, während
die sittlichen Handlungen auf Selbstbetätigung beruhen und Selbstverantwortung
in sich einschließen.
Kant sagt daher: »mit
dem Rechte ist zugleich eine Befugnis, den, der ihm Abbruch tut, zu zwingen,
nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft.« (Met.
d. Sitten 1, XXXV.)
Doch beweist die Geschichte auch andrerseits, dass der Zwang zur Verwirklichung der Rechtsordnung keineswegs
genügt; vielmehr gehört hierzu auch die sittlich-religiöse Achtung
des Rechts, der Freiheit und Ehre. Und in
der Tat ist jeder bessere Mensch von dem Gefühl durchdrungen, dass Ordnung,
Friede, Sicherheit und Zuverlässigkeit der äußeren Lebensverhältnisse
nicht bloß aus Nützlichkeitsgründen notwendig, sondern die Grundlage
unseres Lebens und unserer Kultur sind, ja dass deren Gegenteil absolut verwerflich
sei. Daher bilden Moral und Recht keinen unaufhebbaren,
sondern nur einen tatsächlichen Gegensatz. Vergleiche
Mensch, Persönlichkeit, Pflicht.
Regress
(lat. regressus, v.
regredi = rückschreiten) S.504
heißt der Rückschritt
vom Besonderen zum Allgemeinen, von dem Bedingten zur Bedingung (regressive oder analytische
Methode).
Regressus in infinitum heißt
das Aufsteigen in einer unendlichen
Reihe zu immer allgemeineren,
immer schwerer zu beweisenden Sätzen, ohne daß eine letzte Grundlage vorhanden ist,
Regressus in finitum dagegen das
gleiche Aufsteigen in einer endlichen
Reihe und Regressus
in indefinitum der gleiche Gang in einer Reihe,
von der es nicht feststeht, ob sie
endlich oder unendlich ist.
Vergleiche Deduktion, Progress
Reich
S. 504
heißt die oberste systematische
Einheit
verschiedener Wesen
durch gemeinschaftliche Gesetze.
So spricht man von dem Naturreich,
wenn die bestimmenden Gesetze Naturgesetze sind;
Reich der Zwecke nennt Kant
(1724-1804) dagegen dasjenige Reich,
dessen Gesetze die Beziehung
der Wesen desselben als Zwecke
und Mittel zur
Absicht haben, also die moralische Welt. Dem Reiche
der Natur
steht auch das Reich der Gnade
oder das Reich Gottes gegenüber;
jenes bezeichnet die Menschen, sofern sie nur durch physische und soziale Gesetze
zusammengehalten werden, dieses sofern sie Gott
als dem höchsten Gesetzgeber gehorchen. Vgl.
höchstes Gut. Kant, über den Gebrauch teleologischer
Prinzipien in der Philosophie. Teutscher Merkur 1788. Januar und Februar.
Reife
S. 504f.
nennt man den Zustand eines
Wesens,
welches das geworden ist, was es seiner Natur
nach werden kann, dessen
Kräfte also allseitig entwickelt sind.
Beim Menschen liegt
sie in der Zeit vom dreißigsten bis fünfzigsten
Lebensjahre. Schopenhauer (1788-1860)
verlegt sie erst ins vierzigste Jahr.
Reihe
(series) S.
505
ist nach Herbart (1776-1841)
eine Folge
von Vorstellungen,
die entweder äußerlich (zeiträumlich)
oder innerlich (logisch)
miteinander verbunden sind und deren Glieder in bestimmter Ordnung reproduziert
werden. Die Reihenbildung hält
Herbart für die Voraussetzung
der Ideenassoziation,
der Reproduktion (Gedächtnis
und Erinnerung)
und der Phantasie.
–
Der Reihenbegriff beruht auf dem
Begriffe des Nacheinander
und somit auf dem Zeitbegriff und ist die
mathematische Gestaltung und Spezialisierung dieses Begriffs,
während der Zahlbegriff nur zu seiner Entstehung
der Reihenbildung bedarf, aber in seiner fertigen
und allgemeinen Form diese nicht in sich einschließt.
Vergleiche Zahl,
Raum und Zeit.
rein
S. 505f.
heißt physisch,
was frei von Schmutz,
moralisch,
was frei von Unsittlichkeit ist; im allgemeinen
bedeutet es das, was ohne fremden Zusatz ist. So spricht man von
reinem Golde, reinem Kunststil u. dgl.
Rein nennt Kant
(1724-1804) im transzendentalen
Sinne alles, was den Gegensatz
zum Empirischen
bildet. So nennt er reine Vernunft
im Gegensatz zur Erfahrung das Vermögen der Erkenntnis
aus Prinzipien
a priori; reine
Anschauung
bedeutet bei ihm die von Empfindung
leere, formale
Anschauung, wie sie Grundlage der Geometrie ist;
sie ist bei Gegenständen des äußeren Sinnes der Raum,
bei denen des inneren die Zeit.
Reine Begriffe
sind bei Kant die zwölf
Kategorien,
ohne die eine Erfahrung unmöglich ist und die aus diesen Kategorien
abgeleiteten
Prädikabilien.
Das reine Ich bedeutet
bei Kant die transzendentale
synthetische
Einheit der Apperzeption.
Kants gesamte Erkenntnistheorie wurzelt
in dem Gedanken, daß reine Erkenntnis möglich
und nachweisbar sei. Ihm trat bei Lebzeiten namentlich, den Standpunkt des Empirikers
verteidigend, C. G. Selle mit seiner Schrift, Grundsätze
der reinen Philosophie, Berlin 1788, entgegen.
Von den späteren Philosophen muß namentlich Comte
(1798-1857) als Gegner
der Lehre von der reinen Erkenntnis gelten. Auch
die Gegenwart verwirft den rationalistischen Standpunkt
Kants. -
Reines Denken ist
bei J. G. Fichte (1762-1814)
und Hegel (1770-1831)
das Denken, welches nur sich selbst, den »immanenten
Inhalt der formbildenden Bestimmungen«, und insofern das Sein
selbst zum Objekt
hat. -
Die schroffe Isolierung der Vernunft
von der Erfahrung, wie sie sich bei Kant
und seinen Nachfolgern in der
Idee der Reinheit findet, ist keine glückliche
Wendung der Philosophie
gewesen. Die Trennung des
Erfahrungswissens von dem Vernunftwissen
ist eine Zerreißung der natürlichen
Tätigkeit des Menschen; die nicht der Wirklichkeit
entspricht und zur einseitigen Überschätzung
der spekulativen Vernunfttätigkeit führt.
Relation
(lat. relatio v. refero =
beziehen) S. 507
heißt Beziehung
oder Verhältnis. Die einfachsten
Relationen gehören zu den Kategorien.
In der physischen Welt
stehen alle Dinge
in Relation, und wir erkennen
an den Dingen nur
ihre Relationen.
Ebenso stehen aber auch psychische Bestandteile des Bewusstseins,
ferner Begriffe
in Verhältnis
zueinander (Relationsbegriffe
oder Korrelate). Dasselbe gilt auch von Urteilen
(z.B. beim Schließen) und Schlüssen.
Der Relation nach unterscheidet
man seit Kant (1724-1804) die
Urteile in kategorische,
hypothetische
und disjunktive.
relativ,
S. 507
der Gegensatz von absolut,
ist das nur beziehungs- oder verhältnisweise Bestimmte und Gültige.
Jede Größe
ist z.B. relativ, d.h. relativ
groß im Vergleich zu diesem, aber relativ
klein zu jenem. Relative Begriffe
sind demnach solche, die erst aus Vergleichung
eines Objekts
mit einem anderen entspringen.
Religion,
(lat. religio) S. 507ff.
aus dem Lateinischen seit dem
16.Jahrhundert entlehnt, abgeleitet
von relegere (Cic.
de nat. deor. 2, 28, 72 Qui - omnia, quae ad cultum deorum pertinerent, diligenter
retractarent et tamquam relegerent, sunt dicti religiosi ex relegendo, ut elegantes
ex eligendo, itemque ex diligendo diligentes, ex intelligendo intelligentes),
nicht von religare
(wie Lactantius, Institut.
IV, 28 annimmt: Vinculo pietatis obstricti
deo et religati sumus), heißt das Verhalten
des Menschen zur Gottheit.
Die Religion besteht weder allein
in einem Fühlen, noch in einem bloßen Wissen,
noch im bloßen Handeln des Menschen; sie beruht vielmehr auf einem Zusammenwirken
aller geistigen Funktionen des Menschen. Der Mensch fühlt sich von
einer höheren Macht
abhängig,
erkennt dieselbe als seinen Lebensgrund und bemüht sich durch sein sittliches
Leben, die Sammlung seines Gemütes und den Kultus, sich mit ihr zu vereinigen.
Wo die Religion dagegen nur als
Wirkung des einen oder des anderen Seelenvermögens angesehen wird, entsteht
eine Einseitigkeit der Auffassung. So legten die Gnosis,
der Dogmatismus
und Hegel mehr oder weniger einseitig den Schwerpunkt
auf die Lehre; das Judentum, der Katholizismus
und der Rationalismus auf
die Werke; der Mystizismus, Quietismus
und Pietismus auf das Gefühl.
Einseitig und darum nicht haltbar sind auch viele der älteren Definitionen
der Religion.
So nennt Platon (427 bis 347)
die Frömmigkeit
hosiotês das Gerechtsein gegen die
Götter,
Locke (1632-1704) definiert die Religion als
Gehorsam gegen Gott,
Spinoza (1632-1677)
als Gehorsam gegen die durch Verheißung und Drohung verpflichtende Autorität,
Kant (1724-1804) als Ehrfurcht
gegen den Urheber der Sittengesetze oder als Anerkennung unserer Pflichten
als göttlicher Gebote.
Fichte (1762-1814) identifizierte ursprünglich
Moral und Religion
(als glaubend-tätiges Ergreifen des Übersinnlichen);
die Religion ist ihm der Glaube
an eine moralische Weltordnung oder der Glaube an das Gelingen der guten Sache.
Später definiert er sie als den konzentrierenden Gesamtbesitz der Gesetze
des Heiligen, Guten
und Schönen
in harmonischer Grundstimmung des Gemüts.
Schopenhauer nannte die Religion die Metaphysik
des Volkes.
Schelling (1775-1864)
dagegen charakterisiert sie als das von einem seligen Gefühle begleitete
Anschauen des Unendlichen in seinen endlichen Erscheinungen oder die Vereinigung
des Endlichen mit dem Unendlichen.
Aber erst Schleiermacher (1768-1834)
hat das Verdienst, ihr Wesen in das Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit
von Gott gesetzt zu haben.
Hegel (1770-1831) dagegen
setzte es einseitig intellektualistisch in die Erhebung des subjektiven Bewusstseins
aus seiner natürlichen Gebundenheit zur Selbstbeziehung auf sein wahres
Wesen als absoluten Geist. Je nach der Individualität wird man jenes Moment
der Abhängigkeit oder dieses der Freiheit betonen.
Nach Pfleiderer (geb. 1839)
ist die Religion das Suchen und Finden einer dem Menschen überlegenen
und ihm zugleich verwandten Geistesmacht in der Welt.
Dass in den Anfängen der Entwicklung der Religion bei den Menschen weder
allgemein der Fetischismus
noch der vollkommene Monotheismus
gestanden habe, ist wahrscheinlich. Der Bildungsstand der früheren Menschen
verbietet jene Annahme, das Gesetz der Entwicklung diese. Vielmehr war wohl
Henotheismus vielfach
die Urreligion. Schwer ist es
überhaupt, ihren Ursprung zu bestimmen. Die Versuche, diesen bloß
aus äußeren Einflüssen abzuleiten, sind misslungen, so
a) der Euhemerismus
(Euhemeros, Philon v. Byblos, Porphyrius), der geschichtliche Vorgänge
und Personen in transzendente
Ideale umgesetzt werden läßt;
b) der soziale Pragmatismus
(Hobbes, Bolingbroke),
der die Religionen aus der egoistischen Berechnung pfiffiger Priester oder Tyrannen
erklärt;
c) der anthropomorphistische
Naturalismus
(Epikur, Hume, v.
Hellwald), welcher annimmt, die Menschen hätten gesetzmäßige
und außerordentliche Naturvorgänge personifiziert;
d) der ethnologische Utilitarismus
(Dühring), der die Religion als die
phantasiemäßige Verkörperung der Institutionen eines Volkes
betrachtet;
e) die linguistisch-mythologische
Theorie (Max
Müller), die die religiösen Vorstellungen aus der Wandelbarkeit
der Sprache ableitet.
(Andere Entstehungstheorien siehe z.B. bei Runze Katechismus
der Dogmatik. 1893. § 16.)
Man muss bei der Untersuchung des Ursprungs
der Religion zunächst ihren subjektiven
Ursprung aufsuchen, und hierbei zeigt sich, dass die Motive, die zur
religiösen Auffassung
der Welt führen,
mannigfaltige sind. Im Gemüt entsteht das Gefühl
der Abhängigkeit von der gewaltigen Natur,
der Eindruck, den die Harmonie
des Weltganzen auf uns macht, die Sehnsucht nach Vollkommenheit,
die Verehrung der Abgeschiedenen und Helden (Seelen- und
Ahnenkult).
Zu diesen Motiven kommen moralische
Motive: Die Liebe
zum Mitmenschen läßt einen alle liebenden
Vater ahnen, das Gewissen
führt zur Annahme einer sittlichen
Weltordnung,
der Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Lebenswandel und Schicksal,
zwischen Streben und Erfolg lassen einen Ausgleich durch ein Göttliches
fordern.
Auch die Phantasie,
durch die Natur
angeregt, betätigt sich symbolisierend und mythenbildend,
sie legt den Naturvorgängen menschliche Eigenschaften
bei und hypostasiert
die Erfahrungen
des eigenen Bewusstseins,
sie betrachtet den Naturverlauf als Abbild eines übernatürlichen
Vorganges, mag derselbe ein übergeschichtlicher oder ein in der Vorzeit
geschehener sein.
Endlich tritt auch der Verstand
in Wirksamkeit, indem er eine letzte Ursache
der Dinge sucht und
hierdurch auf das Göttliche schließt.
Er macht den Schluss
vom Vorhandenen auf einen Urheber, von Glück
und Unglück auf den Geber desselben, von der
Persönlichkeit des Menschen auf diejenige Gottes;
er abstrahiert
von den Einzeldingen die Substanz,
von der Vielheit des
Bedingten das Absolute,
von der eigenen Vernünftigkeit die objektive Vernunft;
er erhebt sich durch die eigene Art nach Zwecken
zu fragen und zu handeln zur realen
Zweckmäßigkeit.
Die so erworbene subjektive Religion
(Religiosität) wird zur objektiven, indem
z.B. die Religiosität des Familienhauptes von seinen Angehörigen angenommen
wurde und sich allmählich zur Stammes- und Volksreligion erweiterte.
Die Verschiedenheit der geschichtlichen Religionen
erklärt sich aus den Einflüssen des Klimas, der Bodenbeschaffenheit
und der Nationalität sowie aus dem Charakter der Religionsstifter und Reformatoren.
Religion bestimmt
sich hiernach zusammenfassend als die Hingabe des Menschen an die Gottheit:
sie entspringt aus dem Gefühl der Abhängigkeit,
stützt sich auf die Erfahrung
und Wissenschaft
und betätigt sich in einem vernunftgemäßen, d.h. sittlichen
Leben und besonderen Formen. Sie beseligt den Menschen
in der Überzeugung, mit Gott im Verkehr zu stehen, demütigt ihn im
Glück, erhebt ihn im Unglück, gibt dem Streben des Menschen ein Ziel
und seiner Arbeit eine Zukunft.
Eingeteilt werden die Religionen
I. nach dem Gegenstande der Gottesverehrung,
und zwar
a) quantitativ
in heno-, poly-
und monotheistische;
b) qualitativ
in natürliche
(Natur- und Geschichtsreligionen) und positive.
II. Nach dem Standpunkte des Subjekts,
und zwar
a) nach dem Gefühl
der Freiheit
oder Abhängigkeit
in fatalistische
und teleologische;
b) nach dem Verhältnis
zu Gottes Sein:
Immanenz- und
Transzendenzreligionen;
c) nach der Selbstbetätigung:
in asketische und soziale,
kontemplative
und praktische,
esoterische
und exoterische.
Vergleiche Offenbarung,
Frömmigkeit,
Gott, Polytheismus
usw. -
C.Schwarz, d. Wesen d. Rel. 1847. Schleiermacher,
Reden ü. d. Rel. 1799. Fichte, Kritik aller Offenbarung 1792. Pfleiderer,
das Wesen d. Rel. 1869. Seydel, d. Rel. und die Religionen 1872.
Religionsphilosophie
S.510ff.
ist die philosophische Wissenschaft von der Religion;
sie hat deren Ursprung, Wesen,
Inhalt und Bedeutung zu untersuchen. Als denkende, wissenschaftliche
Betrachtung der Religion fasst sie dieselbe im Zusammenhang mit allen
übrigen Erscheinungen des Menschengeistes auf. Sie will nicht bloß
eine Phänomenologie des religiösen Bewusstseins, d.h. eine Übersicht
der verschiedenen Religionen sein, sondern sie will begreifen lehren, was und
warum Religion ist,
wie dieselbe mit der Natur des Menschen und seiner Stellung im Weltall zusammenhängt,
wie und weshalb sie bei diesem Volke so, bei jenem anders wurde. Als spekulative
Religionserkenntnis will sie den religiösen Erfahrungsstoff durch logische
Bearbeitung desselben mit der Vernunft
durchdringen und zu einem begriffenen Inhalt unseres Denkens erheben. –
Hieraus ergibt sich ihre Methode:
Sie versucht von der historischen Überlieferung auszugehen und von dort
aus die Entstehung, Fortbildung und Wandlung der religiösen Vorstellungen
und Bräuche zu verfolgen. Da sie aber nicht bloß
Religionsgeschichte ist, sucht sie das allgemeine Wesen, das innere Prinzip
der Religion, den religiösen Geist zu erkennen. Dieser aber stellt sich
sowohl in den objektiven Religionen als auch im religiösen Leben des einzelnen
Subjekts dar. Beider Seiten bedarf der Religionsphilosoph zur gegenseitigen
Vergleichung.
Daher hat die Religionsphilosophie nach möglichst
inniger Durchdringung der psychologischen, spekulativen und historischen Untersuchung
zu streben.
Nachdem sie das religiöse Bewusstsein und
die religiöse Erkenntnisart analysiert
hat, betrachtet sie die geschichtlichen Einzelerscheinungen, aber so, dass sie
das ihnen zugrunde liegende geistige Prinzip aus den Zufälligkeiten herausschält.
So gewinnt sie ohne subjektive Dialektik durch sachgemäßes Vorgehen
allmählich, also auf genetisch-spekulativem Wege den Wahrheitskern
der Religionen. Nichts liegt ihr ferner, als an Stelle der Religion etwa
ein philosophisches System abstrakter metaphysischer Begriffe setzen zu wollen.
Das philosophische Denken kann die
Religion weder erzeugen noch ersetzen; denn beide sind ganz verschiedene
Funktionen. Weder die Fähigkeit noch das Bedürfnis,
religiös zu empfinden, wird durch das philosophische Wissen alteriert,
sondern nur die Art, wie sich die religiöse Empfindung
in der theoretischen Weltansicht reflektiert.
Die Geschichte der Religionsphilosophie geht mit
derjenigen der Philosophie
überhaupt Hand in Hand.
Im engeren Sinne beginnt sie mit Fichtes »Kritik
aller Offenbarung« 1792 und Kants
»Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft«
1793. Dann folgt Schleiermacher
mit seinen »Reden« 1799
und Schellings, »Philosophie
und Religion« 1804, ferner F.
H. Jacobis, »Von den göttlichen Dingen«
1811, Hegels »Philosophie
der Religion« 1831.
Vgl. Biedermann,
»Die freie Theologie« 1844. Pfleiderer,
Religionsphilosophie. 3. Aufl. Berl. 1896.
E. v. Hartmann, »Das religiöse Bewußtsein«
1881; »Die Religion des Geistes« 1882.
Vgl. auch Goethes Gedicht
»Die Geheimnisse« 1784.
Religiosität
S. 512
heißt die subjektive Religion
oder die Frömmigkeit.
Reue
(mhd. riuwe, eigtl.
Schmerz, Kummer) S. 513
nennt man die Unlust, die man über einen
begangenen Fehler empfindet und aus der der Wunsch entspringt,
ihn nicht begangen zu haben, ihn künftig zu meiden und ihn wieder gutzumachen.
Wir bereuen gewöhnlich, was uns Unheil gebracht hat; manches bereuen wir
aber auch, trotzdem es uns keinen Schaden, ja vielleicht Vorteil gebracht hat,
weil wir es als Unrecht erkennen.
Die Reue gehört zu den peinigendsten Gefühlen.
Weder Zerstreuung, noch Vernunftgründe, noch Askese helfen dagegen etwas;
nur die Zeit und die emsige Arbeit lindern sie; doch bricht in tieferen Naturen
die Reue immer wieder hervor. Es besser zu machen ist
jedenfalls die beste Reue.
Schopenhauer (1788 - 1860) lehrt, die Reue
entspringe nie daraus, dass der Wille,
sondern daraus, dass die Erkenntnis
sich geändert habe. Wir bereuten deshalb nie,
was wir gewollt, wohl aber, was wir getan hätten, weil wir, durch
falsche Begriffe
geleitet, etwas taten, das unserem Willen nicht
gemäß war. Die Einsicht in diesen Irrtum
sei die Reue. Immer sei sie die berichtigte Erkenntnis
des Verhältnisses der Tat
zur eigentlichen Absicht. Doch ist diese Auffassung Schopenhauers
kaum haltbar; sie ist nur eine Konsequenz seiner metaphysischen Willenslehre
und fällt zugleich mit dieser. –
Gewissensangst dagegen ist nicht
Reue, sondern Schmerz, welcher aus der Erkenntnis
unser selbst, unserer sittlichen Schwäche fließt. Vgl. Gewissen.
richtig
(korrekt) S. 514f.
heißt eigentlich dasjenige, was nicht von
der Richtung abweicht, was einer
Richtschnur entspricht, dann das Regelmäßige.
Im logischen Sinne ist es das
in sich Widerspruchslose.
Die logische Richtigkeit
ist eine Art der Wahrheit, aber nur die formale;
sie besteht nur in der Übereinstimmung des Denkens
mit sich selbst, während die materiale Wahrheit
auf der Beziehung
desselben zu dem Sein
beruht.-
Mancher Gedanke
kann daher logisch (formal) richtig sein, während
er material
ungültig, d.h. falsch ist;
z.B. der Schluss:
»Alle Vögel fliegen - der Strauß fliegt
nicht - folglich ist er kein Vogel.«
Hier ist der Obersatz des logisch
richtigen Schlusses falsch. Dagegen kann
kein Gedanke (material) wahr sein, der (formal)
unrichtig ist.
Richtig ist daher ein Urteil, in welchem dem Subjekt
dasjenige Prädikat
beigefügt wird, das ihm zukommt. Man kann auch subjektive
und objektive
Richtigkeit unterscheiden. Bei
jener liegt die Norm im urteilenden Subjekt selbst,
bei dieser im Zusammenhang der Dinge.
Die Wissenschaft,
welche die richtigen allgemeinen Denkformen von den unrichtigen unterscheiden
lehrt, ist die Logik.
Vergleiche Wahrheit,
Urteil.
Schein
S.522 Siehe
auch bei Eisler
bedeutet zunächst einen Lichtglanz, z.B. Sonnen-, Mondenschein u. dgl.,
dann das Bild des Wirklichen und endlich den Gegensatz zum Wirklichen, die Täuschung.
Man kann zwischen subjektivem und objektivem, metaphysischem und logischem Schein
unterscheiden. Der subjektive Schein beruht auf einem falschen Schlusse von
der Folge auf den Grund, indem man entweder einen Grund setzt, den eine Erscheinung
überhaupt nicht haben kann, oder indem man behauptet, dass sie ihn überall
und stets habe. Übereilung oder Mangel an Urteil und beschränkte Kenntnis
der Verhältnisse veranlassen diesen Irrtum. –
Oft aber liegt ein objektiver Schein vor, nämlich da, wo man den Irrtum
als solchen erkennt, ihn aber nicht verbessern kann, weil er gleichsam an den
Gegenständen zu haften scheint. Hierher gehören die Sinnestäuschungen,
bei denen der Schein ganz individueller Natur ist. Entweder sind die Sinnesorgane
in eine ungewöhnliche Lage gebracht, oder sie sind krank, oder ihre Energie
wird durch einen ganz ungewöhnlichen Reiz hervorgerufen. Ferner gibt es
einen sinnlichen Schein, der sich ohne krankhafte Affektion der Organe aufdrängt,
z.B. die scheinbare Größe entfernter Gegenstände (optischer
Schein). Auf dem objektiven Schein beruht auch die Wirkung der Künste,
besonders der Malerei, Musik und Poesie. (Vgl. Illusion.) –
Der metaphysische (transzendentale) Schein ist die unserem Wesen notwendige
und doch falsche Vorstellung von der Welt, die entsteht, indem wir Ideen für
Wirklichkeit, Subjektives für Objektives, Vorstellungen für Dinge
nehmen. Ihn zu berichtigen ist die Aufgabe der Philosophie, insbesondere der
Metaphysik. –
Unter logischem Schein endlich versteht man die Ableitung formell richtiger
Folgerungen aus falschen Voraussetzungen oder falscher Folgerungen aus richtigen
Voraussetzungen. Hierauf beruht die Kraft der Trug- und Fehlschlüsse, (s.
d.) Vgl. Erscheinung, Irrtum, Widerlegung, Illusion, Sinnestäuschungen.
schlecht
S. 529
ist das Gegenteil von gut, bezeichnet mithin dasjenige, was nicht so ist, wie
es sein soll, also das Unbrauchbare, Unangenehme oder Schädliche. In Bezug
auf die Handlungsweise des zurechnungsfähigen Menschen nennen wir es böse
(s. d.).
Schluss
S. 529ff.
heißt derjenige Denkprozess, durch welchen ein Urteil aus einem oder mehreren
anderen abgeleitet wird. Die Ableitung eines Urteils aus einem anderen heißt
unmittelbarer Schluss; die Ableitung eines Urteils aus zwei oder mehreren Urteilen
heißt mittelbarer Schluss. Man schließt entweder vom Allgemeinen
auf das Besondere oder umgekehrt vom Besonderen auf das Allgemeine.
Die erste Art des mittelbaren Schlusses heißt Syllogismus (ratiocinatio),
die zweite Induktion. Das Urteilen besteht im Vergleichen und in der Verbindung
zweier Begriffe, das syllogistische Schließen aus demjenigen zweier oder
mehrerer Urteile. Sage ich mit dem trivialsten Beispiel der Schullogik: »Alle
Menschen sind sterblich, Cajus ist ein Mensch, folglich ist Cajus sterblich«
- so habe ich aus zwei Urteilen ein drittes und das Besondere aus dem Allgemeinen
abgeleitet. Subsumiert schon das einzelne Urteil einen Begriff unter einen anderen,
umfassenderen, so führt also der Schluss die Subsumtion weiter fort. Es
lässt sich die Voraussetzung, dass, was vom umschließenden Begriff
gilt, auch vom umschlossenen gelte, so fortsetzen, dass das, was vom umschlossenen
Begriff gilt, auch von dem Begriffe gelte, den dieser umschließt, und
so fort. Sind also alle Menschen sterblich, so gilt es auch von Cajus, wenn
er unter die Menschen zu rechnen ist.
Der Syllogismus heißt einfach, wenn er aus zwei Urteilen, welche zwei
verschiedene und einen gemeinsamen Begriff haben, ein drittes Urteil ableitet,
zusammengesetzt, wenn mehr als drei Begriffe darin vorkommen und mehr als zwei
Urteile zur Begründung des Schlusssatzes dienen. Der gemeinsame Bestandteil
im einfachen Syllogismus heißt Mittelbegriff (terminus medius), er kommt
in den beiden Urteilen, aus denen ein drittes abgeleitet wird, d.h. den Vordersätzen
(Prämissen), aber nicht im Schlusssatz (conclusio) vor.
Von den beiden Prämissen heißt Obersatz (propositio maior) diejenige,
welche das Prädikat, Untersatz (propositio minor) diejenige, welche das
Subjekt des Schlusssatzes enthält. Alle diese Bestandteile nennt man die
Elemente des Syllogismus. Seine Relation richtet sich nach derjenigen der Prämissen,
d.h. er ist kategorisch, hypothetisch, disjunktiv, je nach der Relation jener.
Sind sie von verschiedener Form, so ist der Obersatz maßgebend.
Die Möglichkeit des Schlusses als Erkenntnisform beruht auf der Voraussetzung
einer realen Gesetzmäßigkeit gemäß dem Satze vom Grunde.
Die vollkommenste Erkenntnis entspringt aus dem Zusammenfallen des Real- und
Erkenntnisgrundes, folglich ist auch der Schluss am vollkommensten, in dem der
Mittelbegriff jene beiden enthält. Durch den Schluss erfährt der Schließende
nicht etwa schlechthin Neues, ihm vorher ganz Unbekanntes, sondern etwas, was
er implizite schon wusste, was er nun aber erst explizite kennen lernt. Wir
bringen uns also durch den Schluss nur zum Bewusstsein, was schon latent in
den Prämissen lag.
Diese »Entzifferung unserer eigenen Noten«, wie Mill sagt, ist aber
doch nur die eine Seite der Sache; die andere ist die wirkliche Förderung
unserer Erkenntnis durch den Syllogismus, sobald unser Denken auf dem Grunde
einer erkannten realen Gesetzmäßigkeit ruht.
Darum forderte Aristoteles, dass der Mittelbegriff (M) die reale Ursache ausdrücke.
Die Skeptiker hingegen drehten die Sache um und meinten, dass die Wahrheit der
Prämissen aus derjenigen des Schlusssatzes folge, nicht umgekehrt!
Das Mittelalter hat den technischen Apparat der Aristotelischen Syllogistik
eifrig ausgearbeitet. (Siehe Schlussfiguren und Schlussmodi.)
Bacon (1561-1626) zieht ihr die Induktion vor, Cartesius (1596-1650) verwirft
sie ganz, ebenso Locke (1632-1704), während Leibniz (1646-1716) im Syllogismus
ein bedeutendes Hilfsmittel der Forschung erkennt.
Kant (1724-1804) dagegen hielt nur die erste Schlussfigur für natürlich
und betrachtete sie bloß als ein Mittel, das, was wir schon wüssten,
durch Analyse klar zu machen.
Ähnlich lehren Herbart (1776-1804), Fries (1773-1843) und Beneke (1798-1854),
während Hegel (1770-1831) und Schopenhauer (1788-1860) im Schlusse die
notwendige Form alles Vernünftigen, das eigentliche Geschäft der Vernunft
sehen. Der Wert desselben beruht vor allem in dem Ausbau der Subsumtion, in
der Herstellung der richtigen Verbindungen zwischen Gattungs- und Artbegriffen.
Die Klassifikation der Wissenschaft beruht auf durchgeführter Syllogistik.
Das Material für die Prämissen hat die Induktion (s. d.) herbeizuschaffen,
aber ihre Ordnung erfolgt durch den Syllogismus.
Allgemeine Regeln für das Schließen sind:
1. Im einfachen regelmäßigen kategorischen Schlusse dürfen nur
drei Begriffe vorhanden sein.
2. Aus rein verneinenden Prämissen folgt nichts.
3. Aus rein partikulären Prämissen folgt nichts.
4. Aus einem partikulären Obersatz und einem verneinenden Untersatz folgt
nichts.
5. Die Quantität (s. d.) des Schlusssatzes richtet sich nach dem Untersatz,
hingegen
6. seine Qualität (s. d.) nach dem Obersatze.
7. Ist eine Prämisse problematisch, so ist es auch der Schlusssatz.
Eingeteilt werden die Schlüsse gewöhnlich nach der Relation des Obersatzes
in kategorische, hypothetische und disjunktive; andere unterscheiden sie nach
der Form in vollständige und abgekürzte oder nach dem Inhalt in einfache
und zusammengesetzte.
Die hypothetische Schlussform
richtet sich nach dem Grundsatz: mit dem Bedingenden (Grund) ist das Bedingte
(Folge) gesetzt, und mit dem Bedingten (Folge) ist das Bedingende (Grund) aufgehoben.
Ihre Hauptform, der gemischte hypothetische Schluss, dessen Obersatz ein hypothetisches
und dessen Untersatz ein kategorisches Urteil ist, zerfällt in 2 Modi.
Der modus ponens schließt aus der Setzung der Bedingung des Obersatzes
im Untersatz auf die Setzung des Bedingten des Obersatzes im Schlusssatz. (Wenn
A ist, so ist B; nun ist A - also ist B.) Der modus tollens schließt aus
der Aufhebung des Bedingten des Obersatzes im Untersatz auf die Aufhebung der
Bedingung des Obersatzes im Schlusssatz (wenn A ist, so ist B; nun ist B nicht,
also ist A nicht). –
Bei der disjunktiven Schlussform,
bei der der Obersatz ein disjunktives Urteil ist, gilt die Regel, dass von je
zwei einander vollkommen ausschließenden Gegensätzen jeder durch
die Setzung des anderen ausgeschlossen und durch die Aufhebung des anderen gesetzt
ist.
Auch hier gibt es 2 Modi:
Der modus ponendo tollens
schließt aus der Setzung des einen Gegensatzes im Unter- auf die Aufhebung
des anderen im Schlusssatz (A
ist entweder B oder C;
nun ist es B - also ist es nicht
C).
Der modus tollende ponens schließt
von der Aufhebung des einen im Unter- auf die Setzung des anderen im
Schlusssatz (A
ist entweder B oder C; nun ist es nicht
B - also ist es C).
–
Die Induktion
ist der Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine.
Ihre Grundform ist: A, B, C, D sind
P; A, B, C, D sind S; also
sind alle S: P.
Schmerz
S. 534ff.
heißt die qualitativ bestimmte mit Unlust verbundene Empfindung in welche
jede Empfindung übergeht, sobald sie eine bestimmte Stärke erreicht.
Jeder Schmerz ist zunächst körperlich und kann aus der Gemeinempfindung
oder aus der einzelnen Sinnesempfindung hervorgehen. Es gibt schmerzhafte Tasteindrücke,
Geräusche, Gesichtsreize, Schmerzen der inneren Organe usw. Die einzelnen
Arten derselben werden als stechende, ziehende, bohrende, brennende, reißende
usw. bezeichnet.
Die Entstehung der körperlichen Schmerzen ist physiologisch und psychologisch
ebenso dunkel wie die der körperlichen Lustgefühle. Unzweifelhaft
sind die Empfindungsnerven dabei beteiligt. Da aber alle Schmerzen, von welchem
Teil sie auch ausgehen, einen gewissen gemeinsamen Charakter haben, so scheint
der Schmerz mehr in Erregungsvorgängen der Nerven selbst, als in den Endapparaten
derselben seine Quelle zu haben. Manche Nerven scheinen des Schmerzes weniger
fähig zu sein, z.B. der Geruchs- und Geschmacksnerv; bei den eigentlich
sensitiven Nerven dagegen, die mit dem Lebensprozess enger verknüpft sind,
löst jede starke Reizung sogleich Schmerz aus. Bei anderen wird aus großer,
aber noch nicht gefährlicher Unannehmlichkeit bereits Schmerz, z.B. beim
Druck-, Wärme- und Muskelsinn.
Bei den edlen Sinnen, Gehör und Gesicht, bedeutet Schmerz schon Gefährdung
ihres Seins. –
Der Schmerz kann von dem zentralen Sitz der Erregung in viele Mitempfindungen
ausstrahlen, so dass man sich über den Sitz der Schmerzen vollständig
täuschen kann; körperliche Schmerzen fühlen wir nicht, wenn das
betreffende Glied vom Gehirn getrennt oder dieses selbst chloroformiert ist.
Wenn der Schmerz fehlt, wo er natürlicherweise zu erwarten wäre, liegt
das Symptom bedenklicher zentraler Störungen vor. –
Im übertragenen Sinne kann man auch von seelischen oder geistigen Schmerzen sprechen.
Die Fähigkeit zum seelischen Schmerzempfinden ist bei den verschiedenen
Menschen verschieden. Die höchsten Schmerzen empfindet derjenige Mensch,
der das tiefste Gefühl, die klarste Einsicht und den besten Willen hat.
Schopenhauer (1788-1860) meint, wenn nicht das Leiden der nächste und unmittelbarste Zweck des Lebens
wäre, so wäre unser Dasein das Zweckwidrigste von der Welt. Denn es
sei absurd anzunehmen, dass der endlose, aus der dem Leben wesentlichen Not
entspringende Schmerz zwecklos und rein zufällig sein soll. Das ist nur
richtig, wenn Schopenhauers metaphysische Lehre
vom Willen und sein Pessimismus richtig ist.
Aber dass der Schmerz eine hohe ethische Bedeutung hat, weiß jeder aus
eigener Erfahrung. Geduld, Sanftmut, Mitgefühl, Streben nach Höherem und Enthaltsamkeit werden dadurch befördert. Diese teleologische Deutung,
welche Burdach dahin präzisiert: »Der Schmerz ist der Wächter
des Lebens«, knüpft an die seelischen Schmerzen an, ihr steht die
vom Körperschmerz ausgehende physiologisch-mechanische Deutung gegenüber,
welche ihn nur als zu große Schwingungsweite der Vibrationen der Nervenfaser
betrachtet. Vgl. Hagen, Psychol. Untersuchung. S.
59 f. 1847. Domrich, die psych. Zustände. 1849. S. 173 f.
Wundt, Grundz. d. physiol. Psych
I, S. 409 ff., Grundr. d. Psychol. S. 56 unterscheidet zwischen Schmerz
als Empfindung und Unlust als Gefühlston der Empfindung.
Scholastik
(lat. scholasticus = zur Schule
gehörig, Schüler und Lehrer) S.
536
nennt man die Philosophie des Mittelalters, besonders von Scotus Erigena bis
zur Reformation (9. - 16. Jahrhundert).
Die Scholastik steht im Dienste der Kirche (ancilla theologiae), deren Dogmen
sie zu verteidigen und logisch zu begründen sucht. Sie bedient sich dabei
der Reste der antiken Philosophie. Jede ihrer Untersuchungen verwandelt sich
in eine Kontroverse, welche die notwendige Folge des Widerstreits zwischen Vernunft
und Offenbarung ist.
In der 1. Periode vom 9. bis 13. Jahrhundert verband man die aristotelische Logik
mit neuplatonischen Lehren,
in der 2. Periode vom 13. - 16. Jahrhundert herrschte Aristoteles ganz vor.
In jener ragten Scotus Erigena († um 889), Anselm v. Canterbury (1033-1109),
Abälard (1079-1142) und Petrus Lombardus († 1164) hervor;
in dieser Albertus Magnus (1193-1280), Thomas von Aquino (1225-1274) und Duns
Scotus (1274-1308).
Mit großem Scharfsinn und nicht ohne Tiefe behandelten sie die dogmatischen
und die philosophischen Fragen, soweit sie untereinander zusammenhingen; besonders
interessierte sie das Wesen der Universalien, welche sie entweder realistisch
oder nominalistisch auffassten. (Siehe Nominalismus und Realismus.) Freilich
riefen ihre Armut an Kenntnissen, ihre Unterschätzung der Natur, ihre dialektische
Spitzfindigkeit, ihre rationalistische Methode und die Gebundenheit ihrer Denkungsart
die Opposition von Mystikern, Humanisten und Naturforschern hervor.
Kant (1724-1804) nennt daher Scholastiker Leute, deren Kunst darin besteht,
sich an Scharfsinn zu übertreffen. –
Noch heute übrigens gilt Thomas v. Aquino den Katholiken als der größte
Philosoph. (Siehe Katholizismus und Philosophie.) Vgl. A. Stöckl, Gesch.
d. Philos. des Mittelalters. 1864. H. Reuter, Gesch. der relig. Aufklärung
im Mittelalter. 1875. Hauréau, de la philosophie scolastique. 2 Bde.
Paria 1872 u. 80. v. Eicken, Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung.
1887. Ellinger, Philipp Melanchthon. Berlin 1902. Vgl. Patristik.
schön
S. 536ff.
heißt im weiteren Sinne dasjenige, was unser geistiges Wohlgefallen erregt,
ohne unsere Begierden zu reizen; es gefällt durch die Einheit in der Mannigfaltigkeit,
die Harmonie seiner Teile, durch seine scheinbare Zweckmäßigkeit,
ohne das es selbst für anderes direkt als Mittel diente. In ihm erscheint
den höheren Sinnen erfassbar das eigentümliche innerste Wesen, der
Dinge, befreit von den störenden Zufälligkeiten.
Beim Schönen ist also die sinnliche Form durchaus von der geistigen Idee
bestimmt. Schön im engeren Sinne heißt die völlige Durchdringung
des Geistigen und Sinnlichen; im Komischen dagegen wird das Geistige, vom Sinnlichen
überragt, im Erhabenen das Sinnliche vom Geistigen; das Hässliche
ist die rohe, geistverlassene Sinnlichkeit. Alles Schöne erhebt den Menschen
über sein persönliches Interesse zur Objektivität der Idee; denn
diese tritt ihm im Schönen der Natur und der Kunst derartig entgegen, dass
er zum selbst und willenlosen Betrachter wird.
Der Sinn für das Schöne heißt Geschmack. Der Geschmack findet
das Schöne zunächst in der Natur vor.
Das Schöne der Natur (s. Naturschönheit), ist die erste und vorbildliche
Stufe der Schönheit; die Kunst, die Fähigkeit, das Schöne zu
schaffen, sucht diese in bewusster Tätigkeit zu überbieten. Mit der
Wissenschaft hat die Kunst gemein die Darstellung des Wesens der Dinge, der
Wahrheit, nur dass die Wissenschaft diese begrifflich, die Kunst sie anschaulich
darstellt. Auch idealisiert die Kunst das Natürliche, d.h. sie fasst das
in der Wirklichkeit Zerstreute zusammen und legt andrerseits das Verworrene
übersichtlich auseinander, erhöht, und veredelt sein Wesen.
Die Wissenschaft vom Wesen des Schönen heißt Ästhetik (s. d.).
- Da aber; die Idee des Schönen bei den verschiedenen Völkern und
in den verschiedenen Zeiten gewechselt hat, so wechselt auch die Erscheinung
des Schönen in den verschiedenen Zeiten. Deshalb hat die Ästhetik
(s. d.) auch die Kunstgeschichte zu berücksichtigen und ihre eigene Methode
empirisch zu gestalten, was sie nicht immer getan hat.
Platon (427-347), der nur Ansätze zu einer Ästhetik geschaffen hat,
trennt das Schöne nicht vom Gutenund verlegt es in die Idee;
Aristoteles (384-322) setzt die Schönheit in die Ordnung, Symmetrie, Begrenztheit,
Einheit und Ganzheit, also in die Form des schönen Gegenstandes.
Nach Plotinos (205-270) besteht sie nicht in der bloßen Form, sondern
in der Herrschaft des Höheren über das Niedere, der Ideen über
den Stoff, der Seele über den Leib, der Vernunft und des Guten über
die Seele.
Shaftesbury (1671-1713) identifizierte, an Platon anknüpfend, das Gute
und Schöne und sah in Gott das Urschöne.
Leibniz (1646-1716) sieht in der Harmonie der Gegensätze, in der Einheit
innerhalb der Vielheit die Schönheit;
Baumgarten (1714-1762), der Begründer der Ästhetik - (s. d.) in Deutschland,
verlegt die »sinnlich erkannte Vollkommenheit« oder die Schönheit
in die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in der Erscheinung, und verlangt
für alle Schönheit das Vorbild der Natur.
Wolf (1679 bis 1754) charakterisiert die Schönheit als diejenige Vollkommenheit,
die in uns Wohlgefallen hervorruft,
Sulzer (1720-1779) definiert sie als Vollkommenheit der äußeren Form
oder Gestalt.
Lessing (1729-1781) forscht nach dem Wesen einzelner Kunstformen, der Fabel,
des Epigramms, des Epos, des Dramas und schied zwischen bildender Kunst und
Poesie.
Kant (1724-1804) nennt schön den Gegenstand eines allgemeinen notwendigen
interesselosen Wohlgefallens, welches durch das subjektiv Zweckmäßige
hervorgerufen ist.
Schiller (1759-1805) definiert das Schöne als Freiheit in der Erscheinung
und findet es da, wo Vernunft und Sinnlichkeit übereinstimmen.
Nach Schelling (1775-1854) ist das Kunstwerk die Darstellung des Ewigen oder
Unendlichen im Endlichen, die Harmonie des Bewussten und Bewusstlosen, des Freien
und Notwendigen, von Natur und Geist, Realem und Idealem.
Hegel (1770-1831) definiert es als das Absolute in sinnlicher Existenz, die
Wirklichkeit der Idee in der Form begrenzter Erscheinung.
Auf dem Verhältnis der Idee zum Stoffe - dem Überwiegen der Erscheinung
- dem Gleichgewicht von Idee und Erscheinung – dem Überwiegen der
Idee - beruht der Unterschied der symbolischen, klassischen und romantischen
Kunst.
Nach Schopenhauer (1788-1860) ist schön der deutliche Ausdruck bedeutsamer
Ideen.
Herbart (1776-1841) endlich nennt schön, im Unterschied vom Begehrten und
Angenehmen, das, was an den Objekten unwillkürlich gefällt; die Materie
ist gleichgültig, nur auf die Form, das Verhältnisse der einfachen
Elemente kommt es an. Er kehrt damit, wie fast in seiner ganzen Philosophie,
zu Leibniz zurück, dessen ästhetischen Formalismus er teilt.
In der Neuzeit strebt man nach einer Ästhetik auf empirischer Grundlage,
die von theoretischen Vorurteilen befreit ist, ohne dass eine solche und ein
darauf gegründeter Begriff des Schönen bereits erreicht sei.
Vgl. C. Lemcke, populäre Ästhetik.
schöne
Seele S.
538f.
nennt Schiller den Menschen, in welchem Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und
Neigung harmonieren. Die schöne Seele hat kein anderes Verdienst, als dass
sie ist.
Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung; nicht ihre einzelnen Handlungen,
sondern ihr Charakter ist sittlich.
Die schöne Seele tut das Gute wie aus Instinkt und übt selbst die
peinlichsten Pflichten und die heldenmütigsten Opfer mit der größten.
Leichtigkeit.
Vergleiche Goethes
»Wilhelm Meister« (Bekenntnisse, einer
schönen Seele VI B.). Schiller,
Über Anmut und Würde 1793.
Schöpfung
S. 539f. Siehe
auch bei Eisler
heißt im allgemeinen jede Hervorbringung durch irgend eine Person (z.B. die eines
Kunstwerks), im besonderen diejenige der Welt durch Gott.
Eine der ersten Fragen, welche der Mensch sich vorlegt, ist die:
»Woher ist dies alles?«
Das Gesetz der Kausalität, nötigt ihn, für alle Dinge eine Ursache
zu suchen. Die letzte Ursache findet der gläubige Mensch in Gott.
Weder die griechische Kosmogonie, welche die Welt aus dem Chaos, noch die gnostische,
welche sie durch den Demiurgen entstehen, noch die atomistische, welche sie überhaupt nicht entstanden sein lässt, befriedigt den Glauben.
Derselbe Gedankengang, der zur Annahme Gottes (s. d.) führt, führt
auch zur Anerkennung der göttlichen Schöpfung.
Die Idee der Schöpfung »aus Nichts« bezeichnet nicht das Nichts
als das Material der Welt, sondern will nur ein Chaos als gleichberechtigten
Faktor neben Gott und die absolute Grundlosigkeit der Welt verwerfen. Die religiöse
Bedeutung dieser Lehre beruht in der ethischen Grundlage, die sie dem Gemüte gibt; denn, wenn sie gilt, weiß es alles nach Anfang und Fortgang von Gott bedingt. Für das Menschenherz ist es nicht gleichgültig,
ob es aus dem Urschlamm oder aus dem Ozean der Substanz oder aus Gottes Hand hervorgegangen ist.
Die ethische Weltbetrachtung des Glaubens kann Gottes als des Weltschöpfers nicht entraten, mag sie ihn auch Natur, Urgrund, Unbewusstes oder sonst wie
nennen.
Ähnlich der biblischen Lehre von der Schöpfung lehrt Platon (427-347),
die Welt sei nicht ewig, sondern geworden, weil sinnlich wahrnehmbar und körperlich.
Gottes Güte hat sie zugleich mit der Zeit gebildet. Sie ist das Beste von
allem Entstandenen; denn sie ward vom besten Werkmeister als Nachbild des höchsten
Urbildes geschaffen.
Die neben Gott existierende, an sich unbestimmte Materie (insofern ein Nichts,
mê on) ist nur Nebenursache der Welt.
Nach Aristoteles (384-322) setzt die Welt einen ersten Beweger voraus, den nous
(Verstand); als gegliedertes Ganzes aber hat sie ewig bestanden und
wird ewig sein. Sie hat ihr Prinzip in Gott, welcher nicht etwa bloß so
da ist, wie die Ordnung im Heere als immanente Form, sondern als an und für
sich seiende Substanz, gleich dem Feldherrn im Heere.
Der organische Pantheismus der Stoiker, betrachtet die gestaltende Weltkraft
als Gottheit, deren Existenz durch die Schönheit und Zweckmäßigkeit
des Alls bewiesen wird. Sie durchdringt die Welt als allverbreiteter Hauch,
als künstlerisch nach Zwecken bildendes Feuer, als Vernunft und Weltseele.
Nach einer gewissen Zeit nimmt diese alles wieder in sich zurück durch
einen Weltbrand. So vergehen und entstehen fortwährend neue Welten nach
vernünftiger Notwendigkeit.
Einen mechanischen Materialismus lehren die Atomisten
(Demokritos und Leukippos) und Epikuros. Ihr Prinzip heißt: Aus Nichts
wird Nichts, und: Nichts vergeht in Nichtseiendes. Seit Ewigkeit sind die Atome
und der leere Raum. Aus jenen, die sich nur durch Größe, Gestalt
und Ordnung unterscheiden, entstehen alle Dinge, indem sie (nach Epikuros) sich
infolge zufälliger Abweichung von ihrer Fall-Linie zusammenballen. Die
Welt wird weder durch Gott noch durch Zweckmaeßigkeit geleitet.
Plotinos (205 bis 270) endlich leitet die Welt aus dem Einen durch Emanation oder Ausstrahlung ab,
welche, sich immer mehr von der Sonne entfernend, schwächer wird und Schlechteres
hervorbringt. –
In diesen Systemen treten nacheinander die verschiedenen Möglichkeiten,
die Weltentstehung zu erklären, hervor:
die Theorie der Schöpfung durch
einen persönlichen oder durch einen unpersönlichen
Gott;
der organische Pantheismus,
der atheistische Mechanismus
und
das Emanationssystem.
In der neueren Philosophie werden diese Gedanken
schrittweise vertreten durch Leibniz, Hegel, Spinoza, Holbach, Schelling.
Vgl. Fr. Schultze, Philosophie der Naturwissenschaft 1881. L. Weis, Antimaterialismus
1871.
Seele
(gr. psychê
= Hauch, Lebenskraft, Seele; lat. anima;
hebr. Nephesch) S. 543ff.
Siehe auch bei Eisler
bezeichnet bei Homer das Leben der einzelnen Person
und auch das Lebensprinzip des Menschen. Homer
denkt sich die Psyche als eine
Substanz, die
im Körper wohnt, ihn beim Tode verlässt und nach dem Tode als Schattenbild
im Hades fortbesteht. Dort hat sie kein Bewusstsein (phrenes
und thymos) mehr; doch kann sie dies durch Bluttrinken zurückerlangen.
Nachdem der Begriff der Psyche als des Lebensprinzips im einzelnen Menschen
durch die homerische Dichtung gegeben war, hat sich die Fortentwicklung und
Erweiterung des Begriffs innerhalb der griechischen Gedankenwelt und dann weiter
in der Philosophie des Mittelalters und der Neuzeit vollzogen, und da die Frage
nach dem Wesen der Seele eine metaphysische ist, so spiegelt sich auch in den
Wandlungen dieses Begriffs die Geschichte und das Schicksal der Metaphysik
ab.
Das Problem vom Wesen der Seele ist bis heute noch nicht endgültig gelöst,
aber auch nicht fallen gelassen.
Der Skeptiker und Positivist hat das Problem gemieden, der Kritizist hat die
Schwierigkeiten, die die Lösung des Problems bereitet, gekennzeichnet und
die Grenzen unseres Wissens vom Wesen der Seele beleuchtet, der Metaphysiker
hat die Lösung in Angriff genommen und sich mit dem Glauben und den einzelnen
Religionen auseinandergesetzt.
Der Empirist hat die Einzeltatsachen des Seelenlebens durch Beobachtung und
Experiment zu erfassen, Gesetze des Seelenlebens zu gewinnen und in letzten
Hypothesen die Lehre abzuschließen versucht.
Der Rationalist ist von Dogmen über das Wesen der Seele ausgegangen und
hat sich bemüht, durch Schlüsse und Folgerungen mit den Dogmen die
Einzeltatsachen in Einklang zu setzen.
Der Dualist hat die Seele scharf vom Körper als unkörperliches Wesen
abzuscheiden versucht, der Monist hat Körper und Geist in Einklang bringen
zu können gemeint. Unter den Monisten hat sich der Realist die Seele als
materielle, oder auch als eine der Materie ähnliche feinere Substanz oder
als Funktion einer solchen Substanz gedacht, der Idealist (Spiritualist) sah
in ihr ein die eigentliche Wirklichkeit darstellendes, geistiges Wesen, der
Identitätsphilosoph, Pantheist oder Idealrealist betrachtete sie als eine
Seite des über der Scheidung von Körper und Geist stehenden Göttlichen
und Absoluten.
Der eine Teil der Metaphysiker dachte sie sich als substanziell, der andere
als aktuell, der eine als eine bleibende Einheit, der andere als eine fortschreitende
Entwicklung.
Mehrfach ist auch der Begriff der Einzelseele zum Begriff einer Weltseele erweitert
worden. So ist von einer einheitlichen Erfassung des Begriffs der Seele nicht
zu reden, und eine allgemein anerkannte Definition von der Seele zur Zeit noch
nicht vorhanden; aber resultatlos ist die philosophische Forschung trotzdem
nicht geblieben.
Ausgegangen ist man bei den Versuchen, das Wesen der Seele zu erfassen, von
der Bewegungsfähigkeit und von der Bewusstseinstätigkeit der beseelten
Wesen, im besonderen der Empfindung, der sinnlichen Wahrnehmung, dem Denken
und dem Wollen, oder auch, indem der Begriff weiter gefasst und vom Menschen
und Tiere auch auf die Pflanzen übertragen wurde, von der Ernährungs-
und Erhaltungsfähigkeit organischer Wesen.
Die Seele wurde, weil beseelte Wesen Bewegungsfähigkeit zeigen, als das
Bewegende, oder auch weil, man annahm, dass das Bewegende nur ein Bewegtes sein
könne, zugleich als Bewegtes und Bewegendes, und zwar entweder als ein
sich selbst oder als ein den Körper oder als ein beide zugleich Bewegendes
angesehen.
So scheint schon Thales (um
600 v. Chr.) in der Seele ein
Bewegendes gesehen zu haben (eoike
de kai Thalês, ex hôn apomnêmoneuousi, kinêtikon ti
tên psychên hypolabein Arist, de anima 1 p.
406 a 19).
Nicht anders lehrte Anaxagoras (500-428)
('Anaxagoras psychên einai legei tên kinousan
Arist,de an. 1, 2 p. 405 a 25).
Herakleitos (um 500 v. Chr.)
sah in ihr ein immer Bewegtes. (Arist, de an. I, 2
p. 404a.)
Die Pythagoreer dagegen dachten sie sich als eine
sich selbst bewegende Zahl (Pythagoras
[apephênato tên psychên] arithmon hauton kinounta
Stob. Ecl. I, 41, 794; auch Aristoteles
sagt, ohne die Pythagoreer zu nennen:
epei de kai kinêtikon edokei hê psychê einai kai gnôristikon,
outôs enioi syneplexan ex amphoin, apophênamenoi tên psychên
arithmon kinounth' heauton Arist, de an.
I, 2 p. 404b 27).
Leukippos (5. Jahr. v. Chr.) und Demokritos
(um 460-360) dachten sich die Seele
als ein Bewegtes und anderes Bewegendes
(kinein ta loipa kinoumenon kai auta,
hypolambanontes tên psychên einai to parechon tois zôois tên
kinêsin Aristot. de an. I, 2, p.404a. 7).
Platon (427-347) endlich sieht in der
Seele ein immer Bewegtes und sich selbst
und anderes Bewegendes (psychê
pasa athanatos. to gar aeikinêton athanaton. to de allo kinoun kai hyp'
allou kinoumenon paulan echon kinêseôs, paulan echei zôês.
monon dê to hauto kinoun, hate ouk apoleipôn heauto, oupote lêgei
kinoumenon alla kai tois allois, hosa kineitai, touto pêgê kai archê
kinêseôs. archê de agenêton. Phaedr. 24, p. 245 c. hô
dê psychê tounoma, tis toutou logos; echomen allon plên ton
nyn dê rhêthenta tên dynamenên autên hautên
kinein kinêsin; Platon, de leg. 10,7, p. 896 A.)
Die Vorstellung,
dass die Seele Bewegungsprinzip
sei, schloss nicht die Ansicht aus, dass sie stofflich und körperhaft sei.
Die älteren griechischen Philosophen haben
vielmehr an eine stoffliche Existenzform
der Seele geglaubt, und sie nacheinander bei den
von der Philosophie angenommenen Elementen außer bei der Erde gesucht,
(panta gar ta stoicheia kritên elabe plên
tês gês Arist, de an. I, 2, p. 405 b 8.)
So sah Hippon (5. Jahrhundert)
die Seele für Wasser
an (kai hydôr tines [tên
psychên] apephênanto, kathaper Hippôn. Arist,
de an. I, 2, p. 405 b 2).
Kritias (403 v.Chr.)
identifizierte die Seele mit dem Blute
(heteroi d'haima [tên psychên apephênanto], kathaper Kritias
Arist, de an. I, 2, p. 405 b 5).
Anaximenes (um 530 v.Chr.)
und Diogenes von Apollonia (5.
Jahrhundert) hielten die Seele für
Luft (hoion
hê psychê, phêsin [sc. Anaximenes], hê hêmetera
aêr ousa synkratei hêmas, kai holon ton kosmon pneuma kai aêr
periechei Stob. Ecl. I, 12, 296. - Diogenês
d' hôsper kai heteroi tines aera [eoike tên psychên hypolabein],
touton oiêtheis pantôn leptomerestaton einai kai archên)
Herakleitos (um 500 v. Chr.), der als den Stoff,
an dem sich der Werdeprozess abspielt, das Feuer ansah, hat sich die Seele
als Feuer gedacht (Zeller,
Phil. d. Gr. I, S. 479), auch Leukippos
und Demokritos dachten sich die
Seele als Feuer
(Dêmokritos men pyr ti kai thermon phêsin autên [sc. tên
psychên] einai. - homoiôs de kai Leukippos Arist.
de an. I, 2, p. 403 b 31-404 a 5).
Empedokles (um 490-430)
ließ die Seele aus allen Elementen zusammengesetzt und jedes von
ihnen im Menschen eine besondere Seele sein, die das Gleichartige
außer sich erkennt. ('Empedoklês men ek
tôn stoicheiôn pantôn, einai de hekaston psychên toutôn,
legôn houtô: gaiê men gar gaian opôpamen, hydati d'
hydôr, aitheri d'aithera dian, atar pyri pyr aidêlon. Arist,
de an. I, 2, p. 404 b 11.)
Die Atomisten (Leukippos, Demokritos), die die
Seele für Feuer ansahen, ließen sie zugleich mit dem Feuer aus runden
Atomen bestehen apeirôn gar
ontôn schêmatôn kai atomôn ta sphairoeidê pyr
kai psychên legei [Dêmokritos. homoiôs de kai Leukippos] Arist.
de an. I, 2, p. 404 a 1),
identifizierten sie auch mit den Sonnenstäubchen,
wie schon die Pythagoreer vorher getan hatten (Arist,
de an. I, 3, p. 404 a 5-25).
Die Lehre der Atomisten über die Seele hat
später Epikuros (341-270)
etwas modifiziert wieder aufgenommen.
Gegenüber dieser materialistischen Auffassung taucht bei den Griechen die
Lehre von der Unstofflichkeit der Seele
auf. Diese Lehre tritt jedoch, klar geformt, erst in der nachsokratischen Philosophie
hervor.
Pythagoras (680 bis um
500) hatte wohl schon die Seele als die
Harmonie des Leibes angesehen
(Arist, de an. I, 4, p. 407-430),
Herakleitos sie für das Unkörperlichste
erklärt (kai asômatôtaton dê
kai rheon aei Arist, de an. I, 2 p. 405 a 24),
Anaxagoras (500-428)
sie, wenn auch nicht mit der alles ordnenden göttlichen Vernunft identifiziert,
so doch als dem nous
für wesensgleich angesehen (Anaxagoras d' eoike
men heteron legein psychên te kai noun - chrêtai d'amphoin hôs
mia physei, plên archên ge ton noun tithetai malista pantôn;
monon goun phêsin auton tôn ontôn haploun einai kai amigê
te kai katharon. apodidôsi d'amphô tê autê archê,
to te gignôskein kai to kinein, legôn noun kinêsai to pan
Arist de an. I, 2 p. 405 a 13),
aber erst bei
Platon gewinnt die idealistische Auffassung der Seele eine umfassendere,
wenn auch noch nicht widerspruchslose Formulierung. Platon,
für den die eigentliche Wirklichkeit in den Ideen liegt, der aber der sinnlich
wahrnehmbaren Welt doch noch eine gewisse Existenz lässt, indem er sie
zwar für ein Nichtseiendes, zugleich aber auch für das Einzelne, Veränderliche
und Schlechte ansieht, erweitert den Begriff der Einzelseele zu dem Begriff
der Weltseele. Die Weltseele ist von Gott durch Mischung aus der unteilbaren
und sich selbst gleich bleibenden Substanz der Ideenwelt und aus der teilbaren
und veränderlichen Substanz der körperhaften Welt gebildet und in
die Welt gepflanzt, um die Vernunft in das Weltganze zu bringen und dieses dadurch
vollkommener zu machen. Sie ist die Kraft, die sich selbst und alles andere
bewegt, ist durch das Weltganze verbreitet und wirkt in der Sphäre der
Fixsterne und in der Sphäre der Planeten. Sie ist aber auch die Ursache
aller Erkenntnis. Die Einzelseele des Menschen ist von der Weltseele abgeleitet,
aber abgesehen davon, dass sie in Verbindung mit dem Körper steht, der
Weltseele wesensgleich; auch sie ist das Prinzip der Bewegung und des Erkennens.
Platon schreibt ihr drei
Teile, das Begehrende
(to epithymêtikon), das seinen Sitz im Unterleibe, das Mutartige
(to thymoeides), das seinen Sitz in der
Brust, und das Denkende
(to logistikon),
das seinen Sitz in dem Kopfe hat, zu und vertritt die Lehre von der
Unsterblichkeit der Seele, indem er für sie sowohl eine
Präexistenz,
aus der gefolgert wird, dass das Wissen
Erinnerung
(anamnêsis) ist, als auch eine Postexistenz
mit Wanderung durch verschiedene Leiber und Versetzung
in den Fixsternhimmel annimmt (Platon: Timaeus, Phaedrus,
Phaedon, Republik, Zeller, Philos. d. Gr. II, S. 490 bis 506,524-553). –
Aristoteles (384-322),
der zwischen dem Stoff (hylê),
der die Möglichkeit oder Anlage (dynamis) ist, dem Wesen oder der Form
(eidos, ousia, hê kata ton logon ousia,to ti
ên einai) scheidet, die die Erfüllung, Vollendung, Betätigung
(entelecheia, entelecheia hê prôtê, energeia)
ist und bewegendes Prinzip und Zweck in sich
einschließt, sieht in der Seele die Form des organischen Körpers.
Die Seele ist ihm die erste Entelechie (erste
Entelechie = betätigungsfähige
Kraft, nicht Betätigung) eines natürlichen Körpers, der
die Anlage zum Leben besitzt, oder was dasselbe ist, eines organischen Einzelwesens
(psychê estin entelecheia hê prôtê
sômatos physikou dynamei zôên echontos. toiouto de ho an ê
organikon Arist, de an. II, I, p. 412a 27 ei dê ti koinon epi pasês
psychês dei legein, eiê an entelecheia hê prôtê
sômatos physikou organikou Arist, de an. II, 1,
p. 412 b 4).
Die Seele ist also stets mit einem lebensfähigen organischen Körper
(Pflanze, Tier, Mensch) verbunden, sie ist Erfüllung,
betätigungsfähige Kraft, aber nicht immer Betätigung selbst.
Sie ist das Bewegungsprinzip, der Zweck und die Form des organischen Einzelwesens.
Bei den Pflanzen, die eine Seele besitzen, ist die Seele das Ernährungsvermögen
(to threptikon), die Tiere besitzen außer
diesem noch das Vermögen der Wahrnehmung (to
aisthêtikon), welches Reproduktionsfähigkeit (phantasia),
Gedächtnis (mnêmê) und
Erinnerung (anamnêsis) in sich einschließt,
das Lust und Unlust in sich einschließende Vermögen des Begehrens
(to orektikon) und das der Ortsbewegung (to kinêtikon kata
topon) und hierfür ein Zentralorgan, das Herz.
Die menschliche Seele besitzt alle Vermögen der Pflanze und des Tieres;
hierzu kommt die Vernunft (nous), die präexistent und göttlichen Ursprungs
und insofern unsterblich ist, als sie ihre Kraft auf eine gegebene dynamis als
formgebendes Prinzip (nous poiêtikos)
ausübt. Die menschliche Seele vereinigt also die Kräfte der anderen
Wesen in sich (hê psychê ta onta pôs
esti panta) und ist eine kleine Welt
(mikros kosmos) (Arist. Phys. VIII, 2 p. 252b
26). Aber sie hat auch ihren besonderen Vorzug vor den übrigen
Wesen und schließt etwas Göttliches und Unvergängliches in sich
ein. –
Die Stoiker nahmen wie Platon
eine Weltseele an und dachten sich diese, in der sie die Gottheit sahen, als
einen alles durchdringenden Hauch (to pneuma, diêkon
di' holou tou kosmou), als künstlich bildendes Feuer (to
pyr technikon) und als Weltvernunft (ho
en autê logos).
In der Einzelseele des Menschen erblickten sie eine Abscheidung der Gottheit
(apospasma tou theou) und schrieben ihr eine Fortdauer nach dem
Tode, aber keine Unsterblichkeit zu. Die Seele schließt nach stoischer
Auffassung die fünf Sinne, das Sprachvermögen, die Zeugungskraft und
eine herrschende Kraft (hêgemonikon),
die im Herzen wohnt und die das Vermögen der Vorstellung, Begehrung und
der Vernunft besitzt, in sich ein.
Die christliche Philosophie des Mittelalters neigt zu Anfang einer materialistischen
Auffassung vom Wesen der Seele zu, sieht die Seele aber trotzdem für unsterblich
an; in ihrem weiteren Verlauf stellt sie sich auf idealistischen (spiritualistischen)
Standpunkte, und erneuert im wesentlichen die Lehre des Aristoteles.
Tertullianus († 20
v. Chr.) und Arnobius (†
327) erklärten die Seele für geschaffen, körperlich und
unsterblich.
Schon Augustinus (353-430)
aber sah in ihr eine geistige, unkörperliche, einfache, unzerstörbare,
vernunftbegabte und den Körper regierende Substanz, und seine Auffassung
kehrt im Wesentlichen bei Claudianus, Marestus, Cassiodorus,
Hugo von St. Victor, Bernhard
von Clairvaux u.a. wieder.
Mehr oder weniger eng schlössen sich in der Bestimmung des Wesens der Seele
an Aristoteles an: Averroes
(1162-1198), Albertus
Magnus (1193-1280), Thomas
von Aquino (1225-1274), Duns
Scotus (1265 [od. 74] bis 1308) u.a., die zum
Teil die Definition des Aristoteles
wörtlich übernahmen. Gefordert ist die Erkenntnis der Seele durch
die Scholastik
im Wesentlichen nicht.
Erst in der neueren Philosophie haben sich die Gegensätze in der Auffassung
des Wesens der Seele scharf zugespitzt.
Den Dualismus
vertritt nur Descartes (1596
bis 1650). Er nimmt die Existenz von zwei Substanzen, Körper oder
Ausdehnung und Geist oder Denken, an und scheidet dementsprechend Leib und Seele.
Der menschliche Leib ist nur eine Maschine. Die Wärme des Herzens bewirkt
den Blutumlauf; aus dem Blute scheiden sich als feinste und beweglichste Teile
die Lebensgeister aus, die zur Zirbeldrüse und von dort in die Nerven gelangen
und mit Hilfe der mit den Nerven verbundenen Muskeln die Körperbewegungen
verursachen. Die Seele ist dagegen geistige Substanz, die von Gott geschaffen
und mit dem Körper nur durch eine Einheit der Zusammensetzung
(unio compositionis), nicht durch irgend welche Wesensgleichheit
verbunden ist. Ihr Sitz ist die Zirbeldrüse, ihr einziger Einfluss auf
den Körper besteht darin, eine Änderung in der Bewegung der Lebensgeister
in der Zirbeldrüse
hervorzurufen: Ihr ganzes Wesen ist Denken oder Bewusstseinstätigkeit.
Nur die Menschen haben eine Seele, die Tiere sind nur seelenlose Maschinen.
Dem Dualismus Descartes' ist es nicht gelungen,
die Tatsache der Wechselwirkung zwischen Seele und Leib widerspruchslos und
befriedigend zu lösen. Vergleiche
Okkasionalismus,
Freiheit.
Den Materialismus,
der das Körperliche für das Wirkliche, die Seele für körperlich
oder wenigstens alles Psychische für eine Eigenschaft der körperlichen
oder alle psychischen Vorgänge für körperliche Bewegungsprozesse
oder deren Resultate ansieht, haben in der Neuzeit viele Philosophen und meist
solche, die zugleich Naturforscher, Physiker, Ärzte waren, vertreten.
Für Hobbes (1588-1679)
war die Philosophie Körper- und Bewegungslehre. Alle Substanz erschien
ihm daher als körperlich, alles Seiende als Körper, alles Geschehen
als Körperbewegung. Auch die Seele erklärt er für körperlich;
alle Erkenntnis erwächst aus den Empfindungen, und alle Empfindungen aus
Bewegungen, aber auch alle Materie trägt die Anlage zu Empfindungen in
sich.
Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Diderot
(1713-1784), nach dem die Empfindung eine wesentliche
Eigenschaft der Materie ist.
Noch strenger materialistisch hat Lamettrie
(1709-1751) der Ansicht gehuldigt, dass der Mensch
nur Körper, nur Maschine, dass alle psychischen Funktionen nur Resultate
der körperlichen Organisation seien, dass alles Empfindende materiell sei.
Die Seele hängt ganz und gar von den leiblichen Organen ab, entsteht, wächst,
nimmt ab und stirbt mit ihnen.
Ebenso erklärt Holbach (1723-1789)
den Menschen für ein rein physisches Wesen. Die Seele ist ihm nur das Gehirn,
alle Seelentätigkeiten sind ihm Gehirntätigkeiten und als solche nur
Spezialfälle des Wirkens der allgemeinen Naturkräfte. Denken und Wollen
ist Empfinden, und Empfinden Bewegung.
Auch Priestley (1733-1804)
sieht in dem Denken nur Nerven- und Gehirntätigkeit, in den psychischen
Vorgängen mechanische Vorgänge und erklärt die Entstehung aller
komplizierteren Vorgänge aus den einfacheren durch Assoziation.
Nach Cabanis (1757-1808)
sind ebenfalls alle Gedanken Absonderungen des Gehirns, das Bewusstsein ist
die Eigenschaft der organischen Materie.
Auch die deutschen Materialisten des 19. Jahrhunderts
Vogt (1817-1895),
Moleschott (1822-1893),
Büchner (1824-1899)
halten die Seelentätigkeiten lediglich für Funktionen des Gehirns,
während du Bois-Reymond (1818
bis 1896) die Ohnmacht des Materialismus richtig erkannt und die Möglichkeit
der Ableitung des Bewusstseins aus den physischen Vorgängen geleugnet hat
und Albert Lange (1828-1875),
der kritische Geschichtschreiber des Materialismus, mit Kant
den Ausgangspunkt des Materialismus für verkehrt und die Materie für
bloße Erscheinung erklärt hat. So endet also die materialistische
Lehre vom Wesen der Seele mit ihrer kritischen Selbstaufhebung. Der inneren
Erfahrung, nicht der äußeren kommt die Priorität zu.
Von den auf idealistischem (spiritualistischem) Standpunkte stehenden Philosophen
der Neuzeit, die von dem richtigen Gedanken ausgehen, dass die innere Erfahrung
unmittelbare Gewissheit hat, hat Hegel (1770-1831)
die Auffassung vom Wesen der Seele, wie sie Aristoteles
hatte, erneuert. Ihm ist die Seele die ideelle und immaterielle Einheit des
organischen Leibes, die Entelechie
ihres Körpers. Als solche ist sie den körperlichen Affektionen unterworfen,
ist klimatischen und meteorologischen Einflüssen ausgesetzt, bildet die
Besonderheit der Erdteile als Rassenbestimmtheit in sich nach, hat individuelle
Eigentümlichkeiten des Naturells, Temperaments und Charakters, wird vom
Unterschied der Lebensalter, dem Gegensatz der Geschlechter, dem Wechsel von
Schlaf und Wachen berührt, macht überhaupt Veränderung und Entwicklung
durch. (Vgl. Zeller, Gesch. d. deutschen Philos. S.
651f.)
Eine neue Prägung hat dagegen vom idealistischen Standpunkte aus dem Begriffe
der Seele Leibniz (1646-1716)
gegeben, an den sich fast alle anderen neueren Idealisten angeschlossen haben.
–
Nach Leibniz besteht die Wirklichkeit aus einer
unendlichen Zahl unkörperlicher einfacher Einzelsubstanzen, deren inneres
Wesen die Vorstellungskraft ist. Solche Wesen sind aber Seelen, und Leibniz
nennt sie daher âmes oder, um ihrer
Einheitlichkeit willen, Monaden. Nur Seelen machen daher bei Leibniz die Wirklichkeit
aus. Darum denkt er sich alle Wesen als organisch und nimmt innerhalb der organischen
Welt keinen Wesensunterschied, sondern nur Gradunterschiede in der Vorstellungskraft
an. Die Seelen oder Monaden haben nur innere Zustände und spiegeln mit
ihren mehr oder weniger klaren und deutlichen Vorstellungen das Universum ab.
Fenster haben sie nicht, und von außen sind sie nicht beeinflussbar. Aber
alle Monaden sind von dem Schöpfer durch die Grundunterschiede der Vorstellungskraft
und die darauf beruhende geringere und größere Vollkommenheit in
den Zustand einer ein- für allemal festgesetzten Harmonie (s. praestabilierte
Harmonie) gebracht; jede ist in Rücksicht auf die andere geschaffen. Wenn
in einer Monade so viel Vollkommenheit ist, als in anderen Unvollkommenheit,
so bilden sie ein Aggregat von Monaden, und die erste ist eine Zentralmonas.
Die sinnliche Vorstellung eines solchen Monadenaggregats fasst dieses als Körper.
Die menschliche Seele im besondern ist eine solche Zentralmonas, die durch den
Wechsel ihrer Vorstellungen auch in wechselnden Beziehungen zu ihrem Leibe steht
und durch Abfluss und Zufluss der Teile Entwicklung, Evolution und Involution
in sich einschließt.
An Leibniz schließt sich Christian
Wolf (1679-1764) an, dem die Seele eine einfache
Substanz mit der Kraft, sich die Welt vorzustellen
(vis repraesentativa universi) ist.
Auch Herbart (1776-1841)
folgt Leibniz, führt aber die Vorstellungskraft
auf die Fähigkeit der Selbsterhaltung zurück. Die Seele ist ihm eine
einfache Substanz, deren Selbsterhaltungen gegenüber störenden Einflüssen
Vorstellungen sind.
Ganz eigene Wege hat dagegen Fichte (1762-1814)
mit seinem moralischen Idealismus eingeschlagen. Für ihn besteht
das Wirkliche lediglich im Ich, das er sich anfangs mehr individualistisch als
Einzelobjekt, dann mehr pantheistisch als das All denkt, und in den sittlichen
Tathandlungen dieses Ichs. Da er die Wirklichkeit der Außenwelt ableugnet
und diese nur für eine Setzung des Ichs um eines bestimmte Stufen in sich
einschließenden Systems moralischer Zwecke willen ansieht, so ist für
ihn die Welt das tätige Ich. Eine Seele, in Beziehung auf einen Leib gesetzt,
ist daher ein Begriff, der in seine Philosophie nicht hineinpasst. Das theoretische
wie das praktische Ich, das Selbstbewusstsein im Erkennen und Handeln, die Seele,
bleibt außer Beziehung zu einem Wirklichen, abgesehen von sich selbst,
und lässt nur Selbstbeschränkung zu. Die Seele ist ihm daher ein sich
selbst um moralischer Zwecke willen Schranken im Erkennen und Handeln setzendes,
seiner selbstbewusstes Ich, dessen Funktionen ein System von Handlungen bilden,
deren jede an ihre Stelle von den übrigen gefordert wird und ihrerseits
die übrigen voraussetzt.
In dem neueren Idealismus scheiden sich also die Wege Hegels,
Leibniz' und seiner Nachfolger und Fichte's;
mit einem sicheren Ergebnis schließt die idealistische Philosophie ihre
Lehre vom Wesen der Seele nicht ab, und wie Kant scharfsinnig in der Kritik
des psychologischen Paralogismus gezeigt hat, überschreitet der Idealismus
mit seiner Annahme einer einfachen Seelensubstanz die Erfahrung.
Die vom Standpunkt der Philosophie des Absoluten aufgestellte moderne Seelenlehre
hat zu ihrem Urheber Spinoza (1632-1677),
der nur eine Substanz, Gott oder die Natur (deus sive natura) annimmt und Denken
und Ausdehnung zu Attributen dieser Substanz macht, denen zwei Reihen von einzelnen
Zuständen oder Affektionen der Substanz (Modi) entsprechen. Alles Einzelne
ist nur Modus; der Mensch ist Modus, der menschliche Körper ist Modus,
und die menschliche Seele (mens) ist nichts
anderes als die Idee dieses Körpers. In jedem einzelnen Momente ist die
Seele nur die Idee eines einzelnen Körperzustandes. Hierin besteht die
Verbindung zwischen Seele und Körper. Das Verhältnis der Seele zum
Leibe ist nicht das eines gegenseitigen Einflusses und auch nicht das eines
beständig vermittelnden Eingreifens Gottes (s.
Okkasionalismus); es erklärt sich vielmehr daraus, dass Denken und
Ausdehnung gleichmäßig Attribute Gottes sind, und dass die Reihe
der Modi der Ausdehnung parallel verläuft der Reihe der Modi des Denkens,
dass jedem Modus der Ausdehnung ein Modus des Denkens entspricht und umgekehrt,
zwischen beiden Reihen also ein vollständiger Parallelismus
besteht (Ordo et connexio idearum idem est ac ordo
et connexio rerum. Eth. II, Prop. 7).
Andrerseits ist die Seele und der Körper, wie alle Modi auch in der Substanz,
und sie sind also ein Teil des unendlichen göttlichen Intellekts. In Gott
ist eine Idee, welche das Wesen des einzelnen menschlichen Körpers unter
der Form der Ewigkeit ausdrückt (sub specie aeternitatis).
Die menschliche Seele geht daher nicht zugrunde, sondern es bleibt etwas Ewiges
von ihr zurück.
An Spinozas Ideen hat Schelling (1775-1854)
wieder angeknüpft; er hat aber auch aus der Platonischen Philosophie den
Begriff einer Weltseele aufgenommen, um ein gemeinschaftliches Prinzip für
die anorganische und organische Natur zu finden. Er sieht das Wesen dieser Seele
in der Duplizität und Polarität aller Erscheinungen und findet diese
im Lichte, in der Wärme, der Elektrizität, im Magnetismus, in der
Irritabilität, Sensibilität und der Produktionskraft der tierischen
Organismen usw.
Das starre Sein der Dinge in Gott bei Spinoza löst
sich bei ihm also in Entwicklung und Stufenfolge in Natur und Dasein auf. Die
Einzelseele denkt sich Schelling zugleich als unendliches und endliches Erkennen.
Sofern sie unendliches Erkennen ist, steht sie über dem Leibe, insofern
sie endliches Erkennen ist, ist sie der Leib selbst. Die Einheit beider ist
das Ich. Das endliche Erkennen ist Empfindung, Bewusstsein, Anschauung, das
unendliche Begriff, Urteil, Schluss und zuletzt Vernunfterkenntnis, die alles
in seinem Wesen unter der Form der Absoluten begreift. –
An Leibniz und Spinoza
zugleich haben angeknüpft Fechner (1801-1887)
und Lotze (1817-1881),
indem sie mit einem idealistischen einen pantheistischen Grundzug verbinden.
Nach Fechner steht Gott und Welt
in derselben Beziehung und Zusammengehörigkeit wie Leib und Seele. Die
Seele verknüpft die Mannigfaltigkeit der Tätigkeiten und Zustände
in der Einheit des Bewusstseins und ebenso verknüpft Gott alles einzelne
Sein und Geschehen der Welt. Die Natur ist der Leib des göttlichen Geistes,
der unserem Geiste gleicht, nur weiter und höher ist als der unsrige. Seelen
haben nicht nur die Menschen und die Tiere, sondern auch die Pflanzen und die
Himmelskörper. Im Übrigen hat Fechner ein exaktes Wissen über
das Verhältnis von Leib und Seele in seiner Psychophysik (s. d. und psychophysisches
Gesetz) angestrebt und Maßgrößen für psychische Zustände
zu entdecken gesucht. –
Für Lotze heißt Sein:
in Beziehungen Stehen, und in Beziehungen Stehen: Wirkungen Austauschen. Dieses
Sein ist aber nur erklärlich unter Voraussetzung einer unendlichen Substanz,
deren Zustände oder Modi die Einzeldinge sind; und diese Substanz empfängt
erst
Inhalt aus der Religionsphilosophie durch die Begriffe der unendlichen Persönlichkeit
Gottes und eines höchsten Gutes. Den wirklichen Dingen kommt insgesamt,
indem sie Zustände eines solchen Wesens sind, Bewusstsein zu; alle Wesen
sind also beseelt und geistig.
Auch Wundt (geb.
1832) schließt sich, beide kritisch berichtigend, in seiner metaphysischen
Hypothese über das Wesen der Seele zugleich an Leibniz und Spinoza an.
Und die Wundtsche Hypothese, die der sorgfältigsten empirischen psychologischen
Untersuchung zur Krönung dient, kann als die reifste und ansprechendste
Ansicht der Philosophie über das Wesen der Seele gelten. Er erkennt den
Vorrang der inneren Erfahrung vor der äußeren an. Die innere Erfahrung
besitzt für uns unmittelbare Realität, während die Objekte der
äußeren Erfahrung nur mittelbar gegeben sind. Dies Verhältnis,
das dem Idealismus den Sieg über andere Weltanschauungen verleiht, entbindet
aber nach Wundts Auffassung nicht von der Pflicht, die Realität der Außenwelt
anzuerkennen, sondern nötigt vielmehr zu einer kritischen Sonderung derjenigen
Bestandteile objektiver Erkenntnis, welche in den Erkenntnisfunktionen des Subjekts
ihre Quelle haben, von denen, die als objektiv gegebene vorauszusetzen sind.
Darum ist der allein berechtigte kritische Idealismus der Idealrealismus, der
das Verhältnis der idealen Prinzipien zu der objektiven Realität aufsucht
und nachweist, wie weit die idealen Prinzipien sich in der objektiven Realität
wieder finden. Bei dieser Untersuchung ergibt sich, dass die innere Erfahrung
einen Kausalzusammenhang bildet, der eine Entwicklung in sich einschließt.
Eine nach synthetischer Methode dargestellte psychische Entwicklungsgeschichte
ist das Ziel, auf das die Untersuchung hinweist, und als das Grundphänomen,
das der Entwicklung zugrunde gelegt werden muss, ergibt sich der Trieb, der
Empfindung und Willen in ursprünglicher Verbindung in sich einschließt.
Ferner zeigt sich, dass die physische Entwicklung die Wirkung der psychischen
ist, nicht umgekehrt die psychische die der physischen. Der aus der kritisch
berichtigten äußeren Erfahrung gewonnene Substanzbegriff muss also
zur Erklärung des Seelenlebens so erweitert werden, dass er zugleich die
psychischen Lebensäußerungen der komplizierten Substanzkomplexe der
organischen Welt in sich fasst, und alle organische Entwicklung muss als ein
psycho-physischer Vorgang, die bewegte Substanz zugleich als Trägerin des
psychischen Elementarphänomens angesehen werden. Dies führt schließlich,
indem die Vorbedingungen zu den Lebensäußerungen der organischen
Substanzen in dem einfachen Vorgange der leblosen Natur gesucht werden müssen,
zu einer Weltansicht, die jede Bewegung als eine Triebäußerung betrachtet,
dem Atom Triebanlage zuschreibt und als die allverbreiteten Zustände aller
Substanz, auch der leblosen, bewusstlose unverbundene Triebelemente ansetzt,
während sie für die komplizierteren organischen Verbindungen komplizierte
psychische Verbindungen und Nachwirkungen vorangegangener Zustände, die
sich mit neuen verbinden und durch die eine Kontinuität der inneren Zustände
und der äußeren Bewegung entsteht, annehmen muss.
»Nach seiner physischen wie nach seiner psychischen
Seite ist der lebende Körper eine Einheit. Diese Einheit beruht aber nicht
auf der Einfachheit, sondern im Gegenteil auf der sehr zusammengesetzten Beschaffenheit
seiner Substanz. Das Bewusstsein mit seinen mannigfaltigen und doch in durchgängiger
Verbindung stehenden Zuständen ist für unsere innere Auffassung eine
ähnliche Einheit, wie für die äußere der leibliche Organismus,
und die durchgängige Wechselbeziehung zwischen Physischem und Psychischem
führt zu der Annahme, dass, was wir Seele nennen, das innere Sein der nämlichen
Einheit ist, die wir äußerlich als den zu ihr gehörigen Leib
anschauen. Diese Auffassung des Problems der Wechselbeziehung führt aber
weiterhin unvermeidlich zu der Voraussetzung, dass das geistige Sein die Wirklichkeit
der Dinge, und dass die wesentlichste Eigenschaft derselben die Entwicklung
ist. Das menschliche Bewusstsein ist für uns die Spitze dieser Entwicklung;
es bildet den Knotenpunkt im Naturlauf, in welchem die Welt sich auf sich selber
besinnt. Nicht als einfaches Sein, sondern als das entwickelte Erzeugnis zahlloser
Elemente ist so die menschliche Seele, was Leibniz
sie nannte, ein Spiegel der Welt.« (Grundzüge
d. physiol. Psychol. Leipz. 1887. Bd. II, S. 553f.)
So schließt die Lehre vom Wesen der Seele mit einer keineswegs allgemein
anerkannten, aber für denjenigen besonders ansprechenden Hypothese ab,
der als die Methode der Philosophie die empiristische und als den letzten metaphysischen
Gewinn der Philosophie einen kritisch berichtigten Idealismus fordert.
Kant, der dem Schein einer rationalen Psychologie ein Ende gemacht hat, hat
doch bei seiner Scheu vor allen metaphysischen Hypothesen zur Erklärung
des Wesens der Seele positiv nichts beigetragen, sondern in seiner Anthropologie
nur viele ansprechende Beobachtungen gesammelt und die Arbeit der modernen Psychologie
überlassen.
Sein
(esse) S.
559f.
bedeutet
1. die Beziehung
zwischen zwei Begriffen,
von denen der erste Subjekt,
der zweite Prädikat
eines Gedankenurteils ist. Die Beziehung kann entweder Identität oder Gleichheit,
oder Subsumtion (Verhältnis von Art zu Gattung, Über-
und Unterordnung) sein. Der Begriff des Seins
ist so weit nur der Begriff eines Gedankenverhältnisses und gestattet keinen
Schluss auf Wirklichkeit;
2. das Verhältnis
zwischen Subjekt und Prädikat
in einem Wahrnehmungsurteil, z.B. dieser Mensch ist krank. In diesem Falle involviert
der Begriff des Seins eine Beziehung
auf die Wirklichkeit;
3. direkt
die Wirklichkeit, das Dasein, sofern dieser Begriff nur durch die Erfahrung
gegeben ist;
4.
das Sein im metaphysischen Sinne, welches die philosophische Überlegung
als den Grund der
Welt ansieht. Die Wissenschaft von diesem metaphysischen oder absoluten
Sein nennt man Ontologie.
Das absolute Sein kann auf dreierlei Weise gedacht
werden, entweder mit den Eleaten, Atomisten, Leibniz
und Herbart als das schlechthin
Einfache, Unterschiedslose, oder mit Platon,
Aristoteles, Spinoza,
Schelling und Hegel,
als ein Werdendes, sich
durch das Mannigfaltige hindurch Entwickelndes; oder aber man verzichtet überhaupt
darauf, das »reine« Sein zu erkennen,
erklärt es für ein Unbestimmbares und begnügt sich mit der subjektiven
Auffassung, die unsere Erfahrung von der Welt haben kann. So dachten im Mittelalter
die Nominalisten, in neuerer Zeit Bacon,
Locke, Hume, Kant
u.a.
Die Auffassung des absoluten
Seins ist natürlich eine verschiedene für den
Realismus, Idealismus
und die absolute Philosophie.
–
Das Verhältnis von Sein und Denken
untersucht die Erkenntnistheorie. Vgl. Außenwelt,
Idealismus,
Schein.
Selbstachtung
S. 560f.
ist das von Eitelkeit freie Bewusstsein eines Menschen von seinem eigenen Wert;
sie ist also nicht mit dem Selbstgefühl identisch, welches mit Eitelkeit
gemischt ist. Der Grund der Selbstachtung ist das allgemeine Bewusstsein unserer
Menschenwürde, welche uns über das Tier erhebt, sodann die besondere
Anerkennung unserer individuellen Leistung oder unseres persönlichen Wertes
durch andere. Aber selbst wenn uns diese nicht zuteil werden sollte, so kann
sich die Selbstachtung auch auf das Zeugnis unseres Gewissens stützen.
–
Die Selbstachtung hält uns von Niedrigem und Unedlem, wie Lüge, Betrug,
Hinterlist, Heuchelei u. dgl., ab und treibt uns zum Guten an, selbst wenn man
uns nicht sieht noch lobt.
Auch bietet sie uns den Lohn dar, wenn uns die billige Anerkennung nicht zuteil
wird, und tröstet uns bei unverdienten Beleidigungen und Kränkungen.
A. Döring (Philosophische
Güterlehre. 1888) sieht in dem Eigenwerte
das höchste Gut der Menschheit. -
Die Selbstachtung kann leicht in Selbstgefühl, Selbstüberhebung oder
Stolz ausarten.
Selbstbeherrschung
S. 561
nennt man die Fähigkeit, den Willen und das Gemüt schnell durch die
Vernunft zu bestimmen. Die Selbstbeherrschung wird nur durch andauernde strenge
Selbsterziehung und Einschränkung der Wünsche erworben. Die Triebe,
die Neigungen, die Leidenschaften sind eine elementare Kraft, die immer von
neuem hervorzubrechen droht.
Nur wer sich selbst beherrscht, ist frei: »Von der
Gewalt, die alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet!«
(Goethe, Geheimnisse.)
Vgl. Blackie, Selbsterziehung, deutsch von Kirchner.
Lpz. 2. Aufl. 1886.
Selbstbeobachtung
S. 561
ist die Aufmerksamkeit auf unser eigenes Wesen, unsere Anlagen, unsere Art zu
denken, unsere Neigungen, unsere Handlungsweise.
Sie dient dazu, uns unsere Fehler erkennen zu lehren und uns psychologische
Erkenntnis zu geben.
Die Selbstbeobachtung ist sogar eine Hauptquelle der Psychologie und für
jeden einzelnen der Weg, um andere Menschen verstehen zu können: »Willst
du die andern verstehn, blick' in dein eigenes Herz.« (Schiller.)
Aber sie hat ihre Schwierigkeiten; denn es entziehen sich ihr die Affekte, das
angestrengte Denken, das Aufmerken, die künstlerische Begeisterung, überhaupt
alles Aktuelle. Erst wenn ein Seelenzustand schwindet, können wir ihn beobachten,
und während wir ihn betrachten, entschwindet er uns und hält vor unserem
geistigen Auge nicht stand; auch ist die Selbstbeobachtung nur bei schon vorgeschrittenem
Seelenleben ausführbar. Daher kann man sagen: je ernstlicher wir uns beobachten
wollen, desto weniger finden wir zu beobachten vor. Vgl.
Beneke, Neue Psychologie 1845. S. 20. Wundt, Vorles. ü. d. Menschen- u.
Tierseele. Lpz. 1863. S 21.
Selbstbestimmung
S. 561
heißt die aus inneren, im Subjekt selbst liegenden Gründen entspringende
Fassung eines Entschlusses. Vergleiche Freiheit,
Person.
Selbstbewusstsein
S. 561ff.
könnte
1. im theoretischen Sinne eigentlich nur die unmittelbare Erfassung
des eigenen Ichs durch das Bewusstsein heißen. Wir erfassen uns aber nur
in unseren wechselnden Bewusstseinszuständen und psychischen Vorgängen.
Doch was dahinter steht, erfassen wir nicht. Die Einheit des Ichs ist eine Bedingung
der Erkenntnis überhaupt, aber keine Tatsache, die wir beobachten können.
Alle Selbstbeobachtung liefert uns kein apriorisches Element des Wissens, das
von der Erfahrung unabhängig wäre oder über derselben stände.
(Vgl. Kant, Kr. d. r. V. S. 341-405. Von den Paralogismen
der reinen Vernunft.)
Das Selbstbewusstsein gibt uns also nur immer bruchstückweise unser empirisches
Ich. In diesem empirischen Bewusstsein liegt aber
1. eine Summe von wechselnden Vorstellungen,
2. die Kontinuität der Ichvorstellung und
3. die Identität beider.
Aber es liegt nicht unmittelbar in diesem empirischen
Bewusstsein die Idee einer für sich selbst bestehenden
einfachen und immateriellen, denkenden Substanz.
Platon (427-347) fasst
das Selbstbewusstsein im ethischen Sinne als
Selbsterkenntnis, aber
Aristoteles (384-322)
schreibt dem Verstande die Fähigkeit zu, sich selbst theoretisch
zu erkennen (hauton de noei ho nous kata metalêpsin
tou noêtou. Metaph. XI, 7 p. 1072b, 20; estin
hê noêsis noêseôs noêsis
Metaph. XI, 9, p. 1074 b, 34).
Ähnliches sagt der Stoiker Epiktetos
(2. Hälfte des 1. Jahrh. v. Chr.).
Erst Plotinos (205-270)
spricht, das Wort Selbstwahrnehmung
gebrauchend, vom Selbstbewusstsein (synaisthêsis hautês) und nennt
es die Identität des Erkennens, seines Aktes und seines Objekts (nous,
noêsis, noêton).
Auch Thomas v. Aquino (1225-1274)
nennt dieselben drei Seiten des Selbstbewusstseins.
Die folgende Zeit hat wenig über das Problem nachgedacht.
Kant (1724-1804) hat die
Unmöglichkeit des Selbstbewusstseins, sofern es sich um die Erfassung des
reinen Ichs handelt, nachgewiesen (siehe oben).
J. G. Fichte (1762-1814) dagegen
hält sie für möglich und lässt das Selbstbewusstsein
durch eine Reflexion der absoluten Tätigkeit des Ichs auf das reine Sein
entstehen. Das Reflektierte ist die in einem Punkte angehaltene, fixierte Tätigkeit,
das Reflektierende die aus ihrer Begrenzung in ihrer Unendlichkeit sich wiederholende
Tätigkeit selbst.
Auch Hegel (1770-1831)
hält das Selbstbewusstsein
für möglich und erklärt: »Die Wahrheit
des Bewusstseins ist das Selbstbewusstsein und dieses der Grund von jenem.«
Lotze (1817-1881) dagegen
bezeichnet das Selbstbewusstsein als
bloße theoretische Ausdeutung des Selbstgefühls. Weder die Selbstbezeichnung
mit »Ich«, die aus äußerlicher Nachahmung entspringen
kann, noch die Unterscheidung der eignen Glieder, noch die Wiedererkennung des
eigenen Spiegelbildes ist ein Zeichen des Selbstbewusstseins im Kinde. Es entspringt
vielmehr allmählich teils aus Vorstellungen, teils aus Willenshandlungen
und Gefühlen. Die Spuren davon beginnen wahrscheinlich schon in den ersten
Lebenswochen.
Wundt (geb. 1832) erklärt
das Selbstbewusstsein mit Recht
als das Erzeugnis psychischer Prozesse, nicht als ihre Grundlage, und als eine
Realität, die nicht von den Vorgängen, aus denen es besteht, verschieden
ist, sondern auf den Zusammenhang dieser Vorgänge schlechterdings hinweist.
Das Selbstbewusstsein ist in den Anfängen seiner Entwicklung durchaus sinnlich
und mit der Vorstellung des Leibes verwachsen. Erst durch die Selbstauffassung
des Willens wird es abstrakter; aber »selbst der
spekulative Philosoph vermag sein Selbstbewusstsein nicht loszulösen von
seinen körperlichen Vorstellungen und Gemeingefühlen«.
(Wundt, Grundz. der phys. Psych. II, S. 259f.; Grundriß
d. Psych. S. 269). Vergleiche
Ich. -
Selbstbewusstsein bedeutet
2. im praktischen Sinne soviel
als Selbstgefühl (s. d.).
.
Selbsterhaltungstrieb
S. 563
nennt man die Zusammenfassung
aller derjenigen Triebe,
welche auf die Erhaltung des eignen Seins
des Individuums
gerichtet sind.
Kein tierisches Wesen
wünscht unterzugehen, sondern sich gegenüber
den zahllosen Angriffen von außen zu behaupten und
zu erhalten.
Der Selbsterhaltung dienen vor
allem die Nahrungs- und Schutztriebe.
Das Verlangen nach Nahrung und Schlaf, nach Luft, Licht, Wärme, nach Bewegung
und Ruhe, das Streben, alle feindlichen Eingriffe abzuweisen,
dann auch die Betätigung unseres Denkens
und Wollens, das
Streben nach Macht,
Ehre, Besitz
usw. sind jedem Menschen
eigen. Auch muss unser Geist,
um sich selbst zu erhalten, denken,
sich selbst treu
bleiben und dem Nützlichen und Guten
zustreben.
Dem Selbsterhaltungstrieb ist
der Gattungstrieb entgegengesetzt,
der die Geschlechtstriebe,
die elterlichen und die sozialen
Triebe umfasst.
(Wundt, Grundz. d. phys. Psychol. II S. 419 f.)
Selbsterkenntnis
S. 563f.
kann nach der bekannten Inschrift des Apollotempels
zu Delphi: Erkenne
dich selbst! gnôthi
sauton als der Anfang der
Weisheit und als die
höchste Offenbarung
gelten, die dem Menschen zuteil werden kann. Die Selbsterkenntnis besteht nicht
in der theoretischen Erkenntnis des menschlichen Wesens überhaupt, sondern
in der ethischen Einsicht in das eigene Wesen, die der einzelne Mensch besitzt,
in der Kenntnis, die jeder Mensch von seinen eigenen Mängeln und Schwächen,
Anlagen und Fähigkeiten, Kräften und Kraftgrenzen erwirbt, im richtigen
Urteil über sich selbst.
Das Haupthindernis der Selbsterkenntnis ist die Eitelkeit, welche uns schmeichelt
und alles im günstigsten Lichte erscheinen lässt. Aber selbst wenn
wir gegen sie ankämpfen, so erhebt sich die andere Schwierigkeit, dass
wir uns selbst, ebenso wie andere, nur immer im Einzelfalle durch Erfahrung
kennen lernen.
Jeder erkennt sich zu bestimmter Zeit immer nur stückweise und wird an
sich selbst nacheinander Seiten des Charakters erkennen, die er in sich nicht
vermutet hätte.
Von der Selbsterkenntnis gilt also der Satz: »Wirke,
nur in seinen Werken kann der Mensch sich selbst bemerken.«
Die Selbsterkenntnis setzt aber auch die Kenntnis der anderen Menschen und der
Welt voraus, weil wir nur im Vergleich mit anderen über uns selber gerecht
zu urteilen vermögen. Da alle Menschen Individuen derselben Gattung sind,
ist die Beobachtung anderer unentbehrlich, wie Schiller
sie in dem Worte fordert: »Willst du dich selber erkennen, so sieh', wie
die andern es treiben!«
Es gibt übrigens einige gute Kriterien, an denen man sich selbst beurteilen
lernt: Mit wem man umgeht, was man lächerlich findet, worein man das höchste
Glück setzt, wie man sich benimmt, wenn man allein ist, u. dgl. m. Vgl.
Augustinus, Confessiones, dtsch. v. Rapp. 7. Aufl. 1878. Rousseau, Confessions.
1764. Schleiermacher, Monologe. 1800. Vergleiche Selbstbeobachtung.
Selbstgefühl
S. 564f.
ist das mit Eitelkeit gemischte Gefühl
der Lust, welches
aus dem Bewusstsein unseres Selbsts, unserer Kraft, Bedeutung oder Geltung entspringt.
Es bereitet uns Lust, von uns selbst zu sprechen oder sprechen zu hören,
uns gedruckt oder gemalt zu sehen, auf ein Buch von uns oder ein Zitat aus unseren
Schriften zu stoßen. Meist erweckt schon Schmuck und Kleidung das Selbstgefühl.
Die rauschende Schleppe, die nickende Feder, der bunte Rock, der rasselnde Säbel
erheben die Trägerin und den Träger, und Schnurrbartbewusstsein lässt
manchen geistig öden Jüngling selbstbewusst dreinschauen. Ebenso stärken
Besitz, Macht, Herrschaft, Einfluss das Selbstgefühl. Vor allem vermehrt
jede Leistung, die wir glücklich vollbringen, sei sie physisch, technisch,
intellektuell, künstlerisch oder moralisch, unser Selbstgefühl.
Die Arbeit ist die relativ berechtigtste Quelle des Selbstgefühls. Daher
findet sich beim Mann in Beruf und Stellung ein verhältnismäßig
gesundes, beim Jüngling, der seine Kräfte überschätzt und
in Phantasien schwärmt, oft ein übertriebenes Selbstgefühl.
Der Erwachsene merkt bald, dass er nur ein Glied des Ganzen,
ein Rad im Mechanismus des Lebens, also
auf andere angewiesen ist, und lernt Bescheidenheit.
Der Grad des Selbstgefühls hängt aber
auch zum Teil von körperlichen Einflüssen ab. Vergleiche
Selbstbewusstsein.
Selbstliebe
S. 565
ist die aus dem Selbsterhaltungstriebe
hervorgehende natürliche Neigung des Menschen, sich geltend zu machen und
auszubilden. Sie bedarf der Einschränkung durch die
Rücksicht auf andere, um nicht zur Selbstsucht
(Egoismus s. d.)
zu werden.
Die Selbstliebe ist an sich nicht
verwerflich. Ohne sie gäbe es kein Streben
nach Besitz, Schmuck, Ehre, Macht, kein höheres Bildungsbestreben.
Die Religion
erkennt die Selbstliebe als natürlich in dem
Sittengebote an: Liebe deinen Nächsten, wie
dich selbst.
Die Selbstliebe ausrotten wollen, hieße Heuchler erziehen;aber die Selbstliebe
bedarf der beständigen Zucht und Ergänzung. Vgl.
Th. Fechner, Über das höchste Gut. 1846. H. Lotze, Mikrokosmus II.
1864. Pfleiderer, Eudämonismus und Egoismus. 1880.
Selbstsucht,
s. Egoismus.
S. 568
Selektion
S. 568
heißt Auslese, Zuchtwahl. Sie ist eine künstliche, wenn ein Züchter
sich zur Fortpflanzung bestimmter Rasseneigentümlichkeiten besonders geeignete
Individuen auswählt; sie ist eine natürliche, wenn sie im Kampf des
Daseins von selbst erfolgt, in dem die für den Wettbewerb des Lebens geeigneten
Individuen ihre Konkurrenten überleben und allein zur Fortpflanzung kommen.
Vgl. Darwinismus.
Sensualismus
(nlt. v. sensus =
Sinn) S. 569f.
Siehe auch bei Eisler
heißt derjenige erkenntnistheoretische Standpunkt, welcher alle Erkenntnis
lediglich aus den Sinnen ableitet und eine davon unabhängige innere Erfahrung
(Reflexion) als Erkenntnisquelle ableugnet. Diese verengte Form des Empirismus
hat zwei Seiten, eine theoretische und eine praktische.
Der theoretische Sensualismus ist vorbereitet durch die
Lockesche Formel: Nihil est in intellectu, quod
non fuerit in sensu (Nichts ist im Verstande,
was nicht im Sinne war). Ausgebildet ist er dann durch
Hume (1711-1776), der alle Ideen von sinnlichen
Eindrücken ableitet, durch Condillac (1715-1780)
und durch Bonnet (1720-1793),
welche alle psychischen Vorgänge für umgebildete Sinnesempfindungen
ansehen.
Condillac versucht an dem Beispiel einer allmählich
belebten Statue nachzuweisen, dass die Menschheit den Sinnen alle Erkenntnis
verdanke. Aber der theoretische Sensualismus ist
eine Einseitigkeit, die das Wesen der inneren Erfahrung und der apperzeptiven
Vorgänge verkennt, und schon Leibniz (1646-1716)
hat den Lockeschen Satz berichtigt durch
den Zusatz: nisi intellectus ipse (ausgenommen
der Geist selbst), um anzudeuten, dass die Voraussetzung für die
Sinneserkenntnis selbst das Vorhandensein geistiger Tätigkeit sei. –
Der praktische Sensualismus gründet
sich auf die metaphysische Behauptung, alles, was die Grenzen der sinnlichen
Erfahrung überschreite, sei Täuschung. Durch diesen Standpunkt werden
alle höheren spekulativen, ethischen, ästhetischen und religiösen
Interessen gefährdet und der Weltansicht des Materialismus die Tore geöffnet.
Folgerichtig wird dann die Sinneslust als Zweck des Daseins anerkannt. Dieser
Ansicht huldigten Aristippos, Hobbes und die
französischen Naturalisten des 18. Jahrhunderts.
Eine mildere Form des sensualistischen Materialismus
vertrat dagegen die schottische Philosophie
(Hutcheson, Shaftesbury,
Smith), welche den moralischen Sinn (common
sense) statt der Sinnenlust zur Norm in sittlichen Dingen erhob.
Sitte
S. 577
heißt
1. die zur Gewohnheit gewordene
Art und Weise der Lebensführung von Gemeinschaften. Die
Sitten eines Volkes hängen von seiner Naturumgebung, seiner Geschichte
und seiner psychischen Eigenart ab. Jede Änderung darin deutet auf eine
Umwandlung des Volkscharakters hin.
2. Sitte bedeutet ferner Gesittung,
d.h. feine Lebensart von Gemeinschaften, also die
Form eines zivilisierten Lebens. Die Gesittung hängt vom Handel und Verkehr,
vom Reichtum und Luxus, auch von »zufälligen« Ereignissen und
von der Mode ab. Doch zeigt sich die fortschreitende Gesittung auch in immer
richtigeren Vorstellungen
über Recht,
Religion, Familienleben
usf.
3. Sitte heißt endlich Sittlichkeit.
Die Sitte in der ersten Bedeutung ist ein Produkt
der Natur, die feinen Sitten dagegen sind von der Konvenienz,
die guten vom Sittengesetz abhängig.
Bezüglich der Sitte ist der Mensch unfrei, die Gesittung ist zum Teil willkürlich,
die Sittlichkeit beruht auf praktischer
Willensfreiheit.
Die Sitte ist herkömmlich, die Gesittung umfasst das Schickliche, die Sittlichkeit
die Moral. Alle drei können zusammentreffen; bisweilen ist eine Volkssitte
auch von der feineren Lebensart beibehalten und keine Verletzung des Sittengesetzes;
oft freilich steht sie zu beiden im Gegensatz.
Ebenso sind feine Sitten noch lange nicht gute Sitten.
sittlich
S. 577f.
bedeutet
1. alles, was in der Beurteilung
dem Sittengesetz unterliegt, mag es für gut
oder für böse
befunden werden; so sagt man, der sittliche
Charakter
eines Menschen
sei gut oder schlecht;
2. das, was dem Sittengesetz
gemäß ist, also nach dem Urteil
unseres Gewissens
dem Moralgesetz entspricht. Das Sittliche in dieser Bedeutung ist das in die
praktische Willensfreiheit
aufgenommene Gute.
Um sittlich zu heißen, muss
eine Tat also mit
Selbstbewusstsein
und Selbstbestimmung
des Menschen getan werden und der Vernunft und dem Gewissen entsprechen.
Andere belebte Wesen und alle Dinge nennen wir gut, wenn sie ihrem Zwecke
gemäß sind, den Menschen nur, wenn er aus eigener
Entschließung vernunftgemäß handelt.
Das Sittlichgute ist also das
Gesetzmäßige in der Freiheit.
Nicht sittlich dagegen ist alles,
was gegen unsere Überzeugung
(aus Zwang, Furcht, Selbstsucht) getan ist, noch nicht sittlich das aus
Naturnotwendigkeit Geschehende. Gut kann nur sein,
was vernünftig, mit Rücksicht auf die
Norm, mit guter Absicht und freiem
Willen getan wird. Bei der sittlichen Tat sind Zweck, Motiv, Wille und
Ausführung gut. Vergleiche
Gut, Moralprinzip,
Eudämonismus.
Das Sittliche scheidet sich vom Angenehmen, Nützlichen
und Schönen. Oft ist das Gute weder angenehm, noch bringt es uns Nutzen,
noch ist es schön.
Auch zum Intellektuellen steht das Sittlichgute oft im Gegensatz, zu dem es
Sokrates, Aristoteles,
Spinoza, Fichte und Hegel
in zu enge Vorbindung gesetzt haben.
Man darf das Sittliche auch nicht mit Büchner,
Vogt u.a. in die praktische
Verbesserung des Lebens setzen.
Ebenso ist die Vermischung von Recht
und Moral, Moral
und Religion
unhaltbar. Beide, Recht und Religion, haben zwar viel Gemeinsames mit der Moral,
sie beeinflussen die Moral und empfangen von ihr mancherlei Befruchtung; aber
ein religiöser Mensch ist noch nicht ein moralischer, und ein legales Tun
ist noch kein sittliches. Das klassische Buch
über das Sittlichgute ist Kants
Kritik der praktischen Vernunft.
Riga 1788.
Sittlichkeit
S. 578f.
ist der höchste moralische Zustand einer Persönlichkeit, die Reinheit
ihrer Gesinnung und ihres Handelns. Sie setzt voraus, dass der Mensch das Gute
kennen und schätzen gelernt und sich zu der Übung desselben erzogen
hat. Sie liegt in der Gesinnung des Menschen, kommt aber in jeder seiner Handlungen
zum Ausdruck. Sie ist in vollkommener Weise nur da vorhanden, wo der Mensch
allmählich seinen Willen erzogen, seinen Charakter ausgebildet, sich zum
Pflichtbewusstsein gewöhnt und aus allen Erfahrungen des Lebens richtige
Maximen gewonnen, diese untereinander verbunden gegen sie und unverbrüchliche
Treue erworben hat. Für Kants Leben und Philosophie ist die Sittlichkeit
der höchste Gesichtspunkt gewesen. Vgl. Intellektualismus, Voluntarismus.
Strümpell, Vorschule der Ethik. 1844. Baumann,
Moral. 1879. Paulsen, System der Ethik. Berlin 1894. Wundt, Ethik. Stuttgart
1892. Achelis, Ethik. Leipzig 1900.
Skepsis
oder Skeptizismus (gr. skepsis
= Prüfung, Untersuchung, Bedenken) S.
579ff.
nennt man diejenige philosophische Richtung, welche an der Wahrheit
und dem Werte unseres
Wissens zweifelt.
Der Skeptizismus kann als vorübergehende
Phase in der Entwicklung des einzelnen Philosophen oder als dauernde Ansicht
des einzelnen oder ganzer Generationen auftreten; er kann als Ausgangspunkt
des philosophischen Denkens vorkommen,
oder zum Ergebnis eines Systems
werden. Er setzt sich der unphilosophischen naiven Weltanschauung,
der Wissenschaft, der positiven
Philosophie und dem religiösen Glauben entgegen. Seine Gegensätze
in der Philosophie sind der Dogmatismus, der auf dem Vertrauen zur Leistungsfähigkeit
der menschlichen
Vernunft beruht, und der Kritizismus,
der die Grenzen der menschlichen Vernunft prüft,
aber den korrekten Aufbau der Wissenschaft
zum Ziel hat.
Entstanden ist der Skeptizismus innerhalb der griechischen
Philosophie. Zur Theorie
erhoben, ist er ihre Selbstauflösung geworden.
Anfänge skeptischer Denkweise finden wir schon bei den
älteren griechischen Denkern, bei Herakleitos
und Parmenides, bei Protagoras
und Gorgias und den Megarikern.
Doch erst nach Aristoteles
(384-322) trat der Skeptizismus in bewussten Gegensatz zum Dogmatismus,
und zwar entwickelte er sich in drei Phasen: Es entstand
1. der ältere Skeptizismus des Pyrrhon
v. Elis (zur Zeit Alexanders) und des Timon
v. Phlius (325-235),
2. die mittlere und neuere Akademie, vertreten durch Arkesilaos
(316-241) und Karneades
(zw. 214 u. 129),
3. die jüngere Skepsis des Änesidemus
(um 100 v. Chr.) und Sextus
Empiricus (um 200 v. Chr.).
Das Mittelalter steht auf dem dogmatischen Standpunkte
und schließt die skeptische Richtung aus.
Nach 1000jähriger Pause ist der Skeptizismus
wiederum erneuert durch M. Montaigne
(1533-92), Pierre Charron (1641-1603),
Franz Sanchez (1562-1632),
dann, außer durch einige kirchliche Männer, durch Pierre
Bayle (1647 bis 1706) und endlich durch David
Hume (1711-1776) und G.
E. Schulze (1761-1833).
Vgl. C. F. Stäudlin, Gesch. und Geist d. Skeptizismus. 1795. Tafel, Gesch.
u. Krit. d. Skeptizismus. 1834. Brodhard, Les Sceptiques grecques. Paris 1887.
Raoul Richter, der Skeptizismus in der Philosophie. Leipzig 1904.
Timon v. Phlius stellte die dreifache Frage:
1. Wie sind die Dinge?
2. Wie haben wir uns zu ihnen zu verhalten?
3. Was für Erfolg kann unser Verhalten haben?
Auf diese Fragen gab er die Antworten:
1. Die Dinge sind unbeständig.
2. Wir dürfen unseren Wahrnehmungen und Vorstellungen nicht trauen.
3. Wir gelangen durch dieses Verhalten zur Nichtentscheidung (aphasia) und zur
Gemütsruhe (ataraxia).
So begründete er das Prinzip der Skepsis, die Isosthenie (isostheneia tôn
logôn), d.h. die Idee, dass die Gründe für jede Behauptung und
für ihr kontradiktorisches Gegenteil gleich stark sind (vgl. Isosthenie).
Die mittlere Akademie war in ihrem Skeptizismus weniger radikal als Pyrrhon
und Timon.
Die jüngeren Skeptiker stützten ihre Behauptung auf zehn skeptische
Tropen oder Wendungen, die sie freilich schon den älteren Skeptikern zuschrieben
und die dann auf fünf zusammengezogen, ja auf ein Dilemma gebracht wurden.
Während sich die antike Skepsis vor allem gegen die Gewissheit der sinnlichen
Erkenntnis richtete, d.h. die Frage aufwarf, ob die Dinge in Wahrheit so beschaffen
seien, wie sie sich den Sinnen darstellen, untersuchte die moderne Skepsis den
ganzen Bau unseres Wissens. So wendete sich Hume (1711-1776), Kants Vorgänger,
gegen den Begriff der Ursache und Substanzialität und damit gegen die gesamte
Physik.
Der moderne Skeptizismus hat aber namentlich in Frankreich eine Hinneigung zur
negativen Seite des Rationalismus, der nach seiner positiven Seite dogmatisch
ist, gezeigt, so dass sich Rationalismus und Skeptizismus im Kampfe gegen den
überlieferten Glauben trotz ihres inneren Gegensatzes verbinden konnten.
Skeptisch-rationalistisch hat fast die gesamte vornehme Gesellschaft in Frankreich
im 16., 17. und 18. Jahrhundert gedacht. Die Berechtigung der Skepsis gegenüber
einem blinden Dogmatismus ist anzuerkennen; ja jeder Kritiker huldigt ihr teilweise.
Aber als selbständige Richtung ist sie unfruchtbar und haltlos und muss
durch den Kritizismus ersetzt werden.
Die Behauptung, es gäbe keinen Satz, der nicht bezweifelt werden könne,
nicht einmal diesen Satz selbst ausgenommen, hebt sich selbst auf und führt,
wie bei den alten Skeptikern, zum Indifferentismus, welcher Geistestod ist.
Wendet sich die Skepsis kritisch gegen bestimmte Gedanken und Richtungen, so
ist sie berechtigt; richtet sie' sich aber gegen den Verstand selbst, gegen
seine Fähigkeit, irgend welche Wahrheit überhaupt zu finden, so ist
sie haltlos und zeugt von Erschlaffung des Wissens- und Willenstriebes.
skeptische
Tropen (gr. tropoi
= Weisen, Wendungen)
S. 581f.
heißen die Gründe, welche die antike
Skepsis für den Zweifel anführte (Sext.
Empir. hyp. Pyrrhon. I, 36 ff.). Sie sind entnommen:
1. von der Verschiedenheit der beseelten Wesen überhaupt,
aus welcher eine verschiedene Auffassung der Objekte folge;
2. von der Verschiedenheit der Menschen untereinander;
3. von der verschiedenen Struktur der Sinneswerkzeuge;
4. von der Verschiedenheit unserer geistigen und körperlichen Zustände;
5. von der Verschiedenheit der Lage und Entfernungen und Orte;
6. von dem Vermischtsein des wahrgenommenen Dinges mit anderen;
7. von der Verschiedenheit der Erscheinung je nach Art der Zusammenfügung;
8. von der Relativität überhaupt;
9. von der Verschiedenheit der Auffassung je nach der Zahl der Wahrnehmungen;
10. von der Verschiedenheit der Bildung, der Sitten, der Gesetze, mythischen
Vorstellungen und philosophischen Annahmen.
Übrigens erkannte schon Sextus Empiricus
(c. 200 v. Chr.), dass sich diese 10
Tropen auf 8
reduzieren lassen.
Die jüngeren Skeptiker empfahlen durch 5
Tropen die Epoché (d.h.
die Zurückhaltung des Urteils):
1. durch die Verschiedenheit der Ansichten über die
nämlichen Objekte;
2. durch den Regress ins Unendliche, weil jede beweisende Behauptung immer wieder
bewiesen werden müsse;
3. durch die Relativität;
4. durch die Willkürlichkeit der Prinzipien;
5. durch die Diallele, dass das, worauf der Beweis sich stützen solle,
wieder durch das zu Beweisende gestützt werden müsse. –
Später wurden diese Sätze folgendermaßen zusammengezogen:
Nichts kann durch sich selbst gesichert werden, wie aus der Diskrepanz der Ansichten
über alles Wahrnehmbare und Denkbare hervorgeht, daher auch nichts durch
ein anderes, indem dieses selbst keine Sicherheit aus sich hat und, wenn es
sie wiederum durch ein anderes gewinnen sollte, wir entweder auf einen regressus
in infinitum oder auf eine Diallele geführt werden würden.
Vgl. D. Zimmermann, d. pyrrhon. Philos. 1841. Überweg,
Grundriß d. Geschichte der Philosophie I, § 60.
Sklavenmoral
S. 582
nennt Fr. Nietzsche (1844-1900)
die bisher geltende jüdisch-christliche Sittenlehre, weil sie durch eine
Erhebung der Sklaven gegen die Herren, die Arier, zustande gekommen sei.
Während die »Herrenmoral der blonden
Bestie« lehrt: »Nichts ist
wahr, alles ist erlaubt«, gebietet die Sklavenmoral
Nachsicht gegen Schwache, Nächsten-
und Feindesliebe.
Daher fordert Nietzsche, der die Existenz »seiender
Werte« leugnet, eine »Umwertung aller
Werte«. Was bisher gut hieß, müsse böse heißen
und umgekehrt. Aber diese brutale Herrenmoral, die sich auf den Entwicklungsgedanken
des Darwinismus stützen und den Übermenschen züchten will, ist
nicht eine Umwertung aller Werte, sondern nur eine Aufhebung derselben; denn
sie bietet nichts Positives, nur eine Ersetzung der Moral durch Leben, Lebenssteigerung
und Gewalt.
Der Versuch, sie in die Tat umzusetzen, ist noch nicht gemacht; und sie findet
ihre theoretischen Verteidiger nur bei denen, die das absolut Neue dem Gesunden
vorziehen. Vgl.
Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Lpz. 4. Aufl. 1895. Raoul Richter, Friedrich
Nietzsche. Leipzig 1903.
Sollen
S. 582ff.
bezeichnet die Abhängigkeit des Menschen von der praktischen Vernunft,
also die Nötigung durch moralische Bestimmungsgründe oder die psychische
Determiniertheit (vgl.
Freiheit).
Die Existenz eines solchen Sollens offenbart sich sowohl in dem Vorwärtsstreben
als auch in dem Pflichtgefühl, welches das bewusste Gefühl des Sollens
ist.
Es ist nun eins der schwierigsten Probleme, woher
im Menschen das Gefühl und Bewusstsein des Sollens, welches wir doch in
jedem Menschen finden, stamme.
Das Sollen kommt nicht aus den natürlichen
Trieben. Man kann
wohl aus Furcht, Hoffnung, Selbstsucht
oder Liebe handeln,
aber zum Gehorsam verpflichtet fühlen wir uns dadurch nicht, sondern nur
dadurch, dass sich das Befohlene irgendwie als Seinsollendes kundgibt.
Ein fremder Wille kann uns wohl äußerlich zwingen, aber nicht innerlich
binden. Das Gefühl des Sollens setzt aber gerade die
Gebundenheit in der
Freiheit voraus.
Ohne Selbstbestimmung
gibt es nur ein Müssen, kein Sollen! Die Existenz
des Sollens bekundet sich auch in der Reue, die uns nach einer schlechten
Tat lehrt, dass wir anders hatten handeln sollen, als wir gehandelt haben. Auch
die Kantische Ableitung des Sollens befriedigt den Empiristen nicht.
Kant sieht in dem Sollen einen synthetischen Satz a
priori. Über den durch sinnliche Begierde
affizierten Willen kommt noch die Idee
eben desselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen, reinen, für sich
selbst praktischen Willens
hinzu, welche die oberste Bedingung
des ersteren nach der
Vernunft enthält. Das moralische Sollen
ist ein eigenes notwendiges Wollen als Gliedes
einer intelligiblen
Welt und wird nur
sofern von ihm (dem Menschen) als Sollen gedacht,
als er sich zugleich desselben bewusst ist (Kant, Grundleg,
d. Metaphys. d. Sitten, III. Absch. Wie ist ein kategor. Imp. möglich?)
Wer aber auch Kant nicht beistimmt, muss doch zugeben,
dass das Gefühl des Sollens
existiert und die Grundlage für das sich im Individuum
allmählich ausbildende Gewissen bildet, d.h. für das Bewusstsein und
Wissen von dem,
was wir in jedem Falle zu tun und zu lassen haben.
Das Gefühl des Seinsollenden
begründet sowohl das Recht
als auch die Moral,
indem es uns unmittelbar durch Missfallen, Indignation und Abscheu bezeugt,
was (nach unserer Meinung wenigstens) widerrechtlich
und unsittlich ist, während wir beim Rechten und Guten, mag es an uns oder
anderen erscheinen, Wohlgefallen empfinden. Beides kommt daher, dass Recht
und Sittlichkeit
mit unserem innersten Wesen harmoniert. Natürlich hängt seine besondere
Gestaltung auch von den ethischen und juristischen Vorstellungen ab, die aus
der Zeit hervorgehen. –
Hiernach entspringt das Gefühl des Sollens
in der Menschheit etwa so: Bedürfnisse, Triebe, Begierden,
Neigungen, Gewohnheiten bestimmen zunächst das menschliche Handeln.
Beim Handeln setzt sich der Mensch Zwecke
und strebt mit Bewusstsein
diesen Zwecken zu. Durch Übung, Gewohnheit und Sitte
werden die den Zwecken dienenden Handlungen, die dem Einzelnen und der Gemeinschaft
nützlich sind, als gut,
deren Gegenteil als schlecht
bezeichnet. Die Gesetzgebung, Dichtung und Philosophie
fixieren diese Erfahrungen
als ethische Grundsätze,
und Geschlecht auf Geschlecht lernt sie, wendet sie an, überliefert sie
weiter und bildet sie aus. Dadurch entspringt in der Seele
der zivilisierten Menschen jenes Gefühl des Sollens, welches sich im Allgemeinen
als Gewissen, im speziellen als Pflichtgefühl für den einzelnen Fall
(Beruf oder Tat) bezeichnen lässt.
Das Sollen lässt sich also für den Empiristen nicht aus religiöser
Begründung, auch nicht aus äußerem Zwang, wohl aber aus der
natürlichen Entwicklung der Menschheit ableiten.
Nietzsche (1844-1900) leugnet,
dass ein Sollen überhaupt vorhanden und auf irgend
eine Weise begründbar sei. Es findet aber tatsächlich seine
Begründung aus dem sozialen Leben der Menschen. Aber im Einzelnen ist natürlich
die besondere Ausgestaltung des Sollens und der
Pflichten der
Kritik unterworfen
und keineswegs für alle Zeiten gleich maßgebend. Vergleiche
Gesetz, Moralprinzip.
Somnambulismus
S. 528
Schlafwandeln oder
Schlafhandeln ist ein
traumhafter Zustand, in welchem der Mensch in einseitiger Weise
für Sinneseindrücke empfänglich ist und zu gleich Willenshandlungen
ausführt. Manchmal scheinen einzelne Sinne im Schlafwandeln
seltsam abgeschlossen gegen Reize von außen. Oft aber ist ein Hellsehen
(clairvoyance) vorhanden, indem
der Mensch Dinge bemerkt, die der gewöhnlichen Sinnestätigkeit entgehen.
Die Grade des Somnambulismus sind
verschieden. Am häufigsten kommen motorische Funktionen im Traume in den
Sprechorganen vor und rufen das Sprechen im Schlafe hervor. Manche Somnambulen
gehen umher, andere verrichten mechanische, manche sogar geistige Beschäftigungen
(Schriftstellerei, Komposition). Die Entstehung
des Zustandes ist dunkel.
Früher führte man ihn auf den so genannten tierischen
Magnetismus zurück, der durch den Magnetiseur in seinem Medium erzeugt
werde. Heutzutage glaubt man die Ursache des Schlafwandelns
in einer dauernden Fixierung eines glänzenden Gegenstandes oder im wiederholten
Streichen des Gesichts gefunden zu haben, wodurch der Geist förmlich gelähmt
und in Tiefschlaf (Hypnose)
versenkt werde. Besonders Schelling (1775—1854)
suchte dieses ganze Gebiet für die Philosophie
zu verwerten; nach ihm gehört das Wachen dem idealsolaren, das magnetische
Schlafleben dem real-tellurischen Pol an, deren jedes das gesamte Geistesleben
umschließe. Ja, seine Schüler hielten das Hellsehen
für völlige Entleiblichung und Versetzung
in Gott (so Kerner, Jung-Stilling,
Eschenmayer). Auch Schopenhauer,
J. H. Fichte und Fortlage
legen zu viel Gewicht auf diese Zustände; so nennt der erste z. B. den
Schlafwandel »Wahrtraum«. Im Allgemeinen ist vieles, was vom Schlafwandeln
und Schlafhandeln überliefert ist, übertrieben und
ausgeschmückt; auch läuft Betrug und Selbsttäuschung mitunter,
so dass alle Berichte und Schaustellungen mit Vorsicht aufzunehmen sind. Vgl.
R. Heidenhayn, der sog. tier. Magnetismus. 1888. A. F. Weinhold, Hypnot. Versuche.
1888. G. H. Schneider, die psychol. Ursache der hypnotischen Erscheinungen.
1880. Wundt, Grundz. d. phsiol. Psychol. II. S. 449ff.
Sophist
(gr. sophistês) S.
584f.
hieß ursprünglich bei den Griechen jeder denkende Mensch, der sich
durch seine Beschäftigung mit geistigen Dingen über das praktische
Alltagsleben erhob.
Sophisten waren also geistig
Gebildete, nicht bloß Weise, Philosophen, sondern auch
Dichter, Künstler, Ärzte usw.
Seit Sokrates (469-399) aber
änderte sich der Sprachgebrauch: mit dem Überhandnehmen des Parteihaders
und der Aufklärung
waren Männer willkommen, welche den Einzelnen durch Bildung und Redefertigkeit
befähigten, sich im öffentlichen Leben geltend zu machen. Das taten
die Sophisten. Daher genossen sie hohes Ansehen
und wurden gut bezahlt. Sie trugen vorzüglich dazu bei, ihre Zeitgenossen
gebildet, selbständig und aufgeklärt zu machen. Freilich erregte es
auch Anstoß, dass sie Bezahlung nahmen; der Dünkel einzelner unter
ihnen, die Prahlerei mit Kenntnissen und Beredsamkeit, die dreiste Rechthaberei
und Betonung der Form stieß ernstere Männer ab, zumal manche
Sophisten charakterlose Menschen waren.
Daher wurden sie von Sokrates, Platon
und Aristoteles als verschmitzte Menschenjäger
und feile Mäkler mit Kenntnissen geschildert, die durch Trugschlüsse
den Verstand verwirrten und statt wahrer Wissenschaft
nichtige Scheinweisheit verbreiteten.
Aus der Masse der Sophisten heben sich aber als
wirkliche Philosophen ab: Protagoras
aus Abdera, Gorgias aus Leontini, Hippias aus Elis und Prodikos
aus Keos. Der gemeinsame Zug ihrer Philosophie
liegt in der Ablenkung der Forschung von der Natur
auf das Ich und
in dem Gedanken, dass das einzelne Ich
Richter über das Wahre und Gute sei.
Protagoras (480 bis 410)
lehrte, dass der Mensch
das Maß der Dinge sei, der seienden, dass
sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind (pantôn
chrêmatôn metron anthrôpos, tôn men ontôn hôs
estin, tôn de ouk ontôn hôs ouk estin,
Diog. Laert. IX, § 51),
Gorgias (ca. 483-375) behauptete, dass
überhaupt nichts sei, oder wenn etwas sei, dass es nicht erkannt,
oder wenn es erkannt, dass es nicht mitgeteilt werden könnte
(Sextus Emp. adv. Math. VII, 65 ff.).
Hippias (um 430) sprach
aus, dass das Gesetz
ein Tyrann der Menschen sei und sie zu vielem wider ihre Natur zwinge (ho
de nomos tyrannos ôn tôn anthrôpon polla para tên physin
biazetai Plat. Prot. p. 337 D).
Prodikos (um 430)
betrieb praktische Sittenlehre, indem er Mythen
allegorisch
ausdeutete. Vgl.
Wecklein, die Sophisten. 1865.Schanz, die Sophisten. 1867.
Sophistik
S. 585
ist nach Aristoteles die Philosophie
des Scheines, d.h. die Kunst, durch
falsche Dialektik
das Wahre mit
dem Falschen zu
verwirren und durch Disputieren, Widerspruch
und Schönschwatzen Beifall und Reichtum zu erwerben; sophistisch
heißt demnach trügerisch, Sophisterei
ein verfängliches Räsonnement.
Spekulation
(lat. speculatio)
S. 587f. Siehe
auch bei Eisler
eigentlich Betrachtung oder Anschauung,
bezeichnet die Erforschung eines die gemeine Erfahrung übersteigenden Erkenntnisinhaltes.
Je nach ihrem Standpunkte verstehen die Philosophen unter spekulativem
Wissen und spekulativer Methode
etwas anderes.
Die Neuplatoniker
und Schelling (1775-1831)
denken sich darunter ein von dem reflektierenden Denken
unabhängiges geistiges Schauen überirdischer
Dinge.
Hegel (1770-1854) dagegen
nennt spekulativ oder positiv vernünftig das
Denken, welches durch die dialektische
Methode alle Widersprüche
in immer höhere Einheiten aufhebt.
In dieser Bedeutung nennt Rosenkranz (1805-1879)
die spekulative Methode
die produktive Dialektik der Idee und Michelet
(1801-1893) das Absolute
selbst.
Herbart (1776-1841)
sieht die spekulative Methode in der Bearbeitung
der Begriffe und
Ausscheidung der darin versteckten Widersprüche.
Ulrici (1806-1884)
definiert die Spekulation als das produktive ergänzende
und abrundende Schauen, womit aus den Teilen und Bruchstücken, die uns
vorliegen, das Ganze einerwissenschaftlichen Weltanschauung herausgeschaut und
von dieser erschauten Einheit (der Idee) die gegebenen Glieder geordnet und
die fehlenden ergänzt werden. Diese Definition
hat ihre Berechtigung, insofern die Phantasie ein wesentlicher Faktor des produktiven
Philosophierens ist.
Die Norm des Spekulierens liegt natürlich in den Denkgesetzen und den Resultaten
der Erfahrungswissenschaften.
Sphäre
(gr. sphaira) S. 588
Kugel oder Kreis, bezeichnet logisch
den Umfang eines Begriffs
(Subjekts oder
Prädikats)
oder auch einer Wissenschaft.
Die Darstellung der Verhältnisse zwischen
Begriffen und Urteilen
durch Kreise rührt wahrscheinlich von Chr. Weise,
Rektor in Zittau († 1708), her.
Kant (1724-1804) wendete
Quadrate und Kreise zugleich an.
Sprache S. 591ff.
heißt im weiteren Sinne jede Mitteilung innerer Zustände eines lebenden
Wesens an andere durch Ausdrucksbewegungen oder Zeichen. So gibt es eine Gebärden-,
Mienen-, Augen- und Lautsprache. Insoweit haben nicht nur Menschen, sondern
auch manche höher organisierte Tiere eine Sprache.
Im engeren Sinne ist aber Sprache die Äußerung und Mitteilung von
Gefühlen, Gedanken und Willensregungen durch artikulierte Laute, Wörter
und Wortverbindungen. Eine solche völlig entwickelte Lautsprache besitzt
nur der Mensch, der in der Fähigkeit aktiver Apperzeption das Tier übertrifft,
und bei dem die Verbindung der Stimm- und Gehörsnervenfasern innerhalb
des Zentralorgans eine höher entwickelte als bei den Tieren ist. Die Lautsprache ist dem Menschen nicht angeboren, nicht also ein Geschenk Gottes, auch nicht
von den Menschen erfunden, nicht also ein beabsichtigtes Werk des Menschen,
sondern sie ist ein notwendiges Entwicklungsprodukt seines Geistes, das, einmal
entstanden, zugleich auch das wichtigste Werkzeug der Ausbildung seiner Gedanken geworden ist.
Die Frage nach dem Ursprung der Sprache kann durch historische Forschung nicht
zur Beantwortung gebracht werden. Sie muss vielmehr aus der Wirksamkeit derjenigen
Faktoren gelöst werden, die auch jetzt noch in der lebendigen Sprache tätig
sind.
Die Sprache ist zunächst ein psychophysisches Gebilde. Sie entwickelt sich
nur bei Menschen, die den Gehörsinn besitzen. Der Taubgeborne lernt, trotzdem
ihm die physische Fähigkeit dazu nicht abgeht, nicht auf natürliche
Weise sprechen, weil er nicht hören kann. Das Gehör ist also die psychische
Vorbedingung der Sprachentstehung. Sprache ist die von Menschen produzierte
und zugleich gehörte Summe von Lautvorgängen. Der Zusammenhang zwischen
Gehör und Sprachvermögen ist ein um so wertvolleres Moment der menschlichen
Organisation, als ein gleicher Parallelismus für das Gesicht nicht existiert.
Licht und Farben, die wir sehen, können wir mit unsern Organen nicht hervorbringen.
In der Lautsprache verbinden sich Laut und Bedeutung miteinander. Die Urschöpfung
der Sprache ist also die Verbindung des Lautes mit der Bedeutung; aber zur Sprache
wird diese Verbindung erst dadurch, dass sie von dem Sprechenden festgehalten
und reproduziert und von anderen verstanden und gleichfalls reproduziert und
so zu etwas Bleibendem und Wiederkehrendem wird.
Die ersten Sprachlaute sind Reflexe, Trieb- und Ausdrucksbewegungen, Äußerungen,
bei denen Gefühl und Anschauung noch innerlich verbunden sind. Die Sprache
ist auf dieser Stufe pathognomischer [charakteristischer] Affektausdruck, also wesentlich interjektional [Empfindungslaut] (pathognomische Sprachperiode). Der Laut hat aber ferner in diesem Entwicklungspunkte
eine innere Verwandtschaft zu dem, was ihn hervorgerufen hat. Die Lautbedeutung
ist daher Onomatopöie, Nachahmung eines Schalls oder natürliche Wiedergabe
der Empfindung eines anderen Sinnes durch eine verwandte Klangbildung.
Nachdem für den Sprechenden eine solche Verbindung zwischen dem Laut und
der Bedeutung entstanden ist, ist ihre Reproduktion seitens des Sprechenden
bei Wiederkehr gleichen Anlasses nach dem Gesetze der Assoziation verständlich;
und ebenso ist für den Hörenden, der dieselbe Ursache der Verbindung
des Lautes mit seiner Bedeutung miterlebt, das Verständnis und die Möglichkeit
der Reproduktion gegeben.
So entstehen die ursprünglichsten Bestandteile der Sprache, die Sprachwurzeln,
die zunächst nur Sinneswahrnehmungen bezeichnen können. Aus sinnlicher
Bedeutung werden aber dann allmählich andere verwandte Bedeutungen gebildet,
und es entwickelt sich, wobei sich das ursprüngliche Verhältnis zwischen
Laut und Bedeutung natürlich löst, aus dem Konkreten das Abstrakte,
indem eine Vorstellung durch die andere bereits vorhandene apperzipiert wird.
Diese Stufen der etymologischen Sprachentwicklung und des Sprachgebrauchs, in
denen Bedeutungswandel und Lautwandel die Lebensprozesse der Sprache sind, geben
ihr erst den Reichtum an Worten und Bezeichnungen, dessen sich die entwickelten
Sprachen erfreuen, machen aber das Wort zu einem mehr willkürlichen Zeichen
des Gedankens. Und weiter bilden einzelne Sprachen durch Zusammensetzung, Ableitung
und Flexion, wobei wiederum Laut und Bedeutungswandel innig ineinander greifen,
den Ausdruck syntaktischer Beziehungen heraus, und es entsteht auf der Stufe
des grammatischen Baues aus der Sprache die Möglichkeit, logische Beziehungen
bequem zu denken und darzustellen. So muss die Sprache als Produkt der geistigen
Entwicklung des Menschengeschlechts gelten, und Sprachforschung und Psychologie
stehen in engster Verbindung miteinander.
Die geschichtliche Entwicklung der menschlichen Sprache hat bisher nicht zu
der Herrschaft einer Gemeinsprache geführt. Nur eine Reihe von Einzelsprachen
und Sprachfamilien sind im Laufe der Kulturentwicklung entstanden. Der Form
nach unterscheidet man unter ihnen
isolierende oder einsilbige Sprachen [Sprachen, die die Beziehungen der Wörter im Satz nur durch die Wortstellung ausdrücken] (z.B. das Chinesische), d.h. solche, die
nur Wurzeln besitzen und die Beziehungen derselben nicht zum Ausdruck bringen,
agglutinierende Sprachen [Sprachen, die zur Ableitung und Beugungen (Affixe an den Wortstamm tretende kleinste sprachliche Gestaltungseinheit) an das unverändert bleibende Wort anfügen] (z.B. die finnisch-tatarischen Sprachen), d.h. solche,
die den Ausdruck für Beziehungen durch Anfügung (Nachsetzung, Vorsetzung,
Hineinsetzung) der Beziehungslaute an die Wurzel besitzen, und
flektierende Sprachen [Sprachen, die die Beziehungen der Wörter im Satz zumeist durch Flexion (Beugung) ausdrücken] (z.B. das Indogermanische), d.h. solche, in denen der
Ausdruck der Beziehung sowohl durch Anfügungen als durch innere Veränderungen
der Wurzeln erfolgt.
Die Erforschung der Sprache beginnt mit den Griechen; doch haben diese sich
auf die eigene Sprache beschränkt und, indem sie wesentlich den logischen
Gehalt der Sprache erfassten, nur die Terminologie für die Redeteile geschaffen,
in denen sie fälschlich auch zugleich die Satzteile sahen. Die Anfänge
der griechischen Sprachforschung liegen bei den Sophisten (5. Jahrh. v. Chr.), von Bedeutung war Aristoteles (384 - 322), der Abschluss fällt den Stoikern zu.
Die Römer haben die griechische Terminologie auf die lateinische Sprache
angewandt und, zum Teil mit groben Missverständnissen, ins Lateinische
übersetzt.
In der Neuzeit ist die griechisch-römische Terminologie auf alle europäischen
Sprachen übertragen worden.
Neue Prinzipien in der Sprachforschung tauchen nach den Griechen erst gegen
Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts bei den Deutschen auf. Es entsteht
die philosophisch-historische Sprachwissenschaft. An der Spitze derselben steht
Herders (1744 bis 1803) Abhandlung über den Ursprung der Sprache (verfasst
1770), in der er nachwies, dass der Mensch kraft des Charakters seiner Gattung,
der Merkmale suchenden Besonnenheit, unterstützt von der ihn tönend
umgebenden Natur, sich notwendig Sprache und Poesie habe erschaffen müssen.
Eine umfassende Sprachphilosophie schuf dann Wilhelm von Humboldt (1767-1835) auf der Grundlage historischer Kenntnis der verschiedensten Sprachen und der
Kantischen Philosophie. Ihm ist die Sprache der sich offenbarende und mitteilende
menschliche Geist, der Übergang vom Geist zur Erscheinung, kein Werk, sondern
Energie, in der der ganze Mensch energiert, und ihm dient die Sprachwissenschaft
dazu, eine Charakteristik des Menschen bezüglich seiner idealen Fähigkeit
und realen Leistung zu geben. Sein Hauptwerk ist das Werk über die Kawisprache,
mit seiner Einleitung über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues
und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (erschienen
1836-1839). Die von Humboldt geschaffene Sprachphilosophie hat ihre Fortsetzer
in Steinthal und Lazarus gefunden.
Während W. v. Humboldt die neuere Sprachphilosophie begründete, erforschte Jacob Grimm (1785-1863) die historische Entwicklung der germanischen Sprachen
und gab in seiner Deutschen Grammatik (seit 1819) das erste Beispiel einer geschichtlichen
Behandlung des Sprachstoffes, und um dieselbe Zeit widmete sich Franz Bopp (1791-1867) dem Sprachstudium mit der Absicht, hierdurch in das Geheimnis des menschlichen
Geistes einzudringen. Er wurde der Schöpfer der Sprachvergleichung und
lieferte für den indogermanischen Sprachstamm den Nachweis der Verwandtschaft
der einzelnen Sprachen und zugleich den ersten Nachweis der Entstehung grammatischer
Formen. Was z.B. Deklination und Konjugation ist, hat Bopp zuerst im Wesen aufgehellt.
Sein Hauptwerk, die vergleichende Grammatik (1. Aufl. 1833-1852, 2. Aufl. 1856-1861,
3. Aufl. 1868), hat den tiefsten Einfluss auf die Sprachforschung im 19. Jahrhundert ausgeübt, obwohl anfangs die klassische Philologie sich in grober Kurzsichtigkeit
und Parteilichkeit gegen die Sprachvergleichung feindselig verhielt. Die von
W. v. Humboldt, J. Grimm und Bopp gegebenen Gesichtspunkte der Sprachforschung
sind anfangs gesondert voneinander, dann zusammenwirkend, die Linien geworden,
auf denen sich alle Sprachwissenschaft fortentwickelt hat.
Dominierend ist die historisch-vergleichende Behandlung der Sprachen; aber auch
die philosophische Grundlegung, freilich befreit von den Fesseln einseitiger
Metaphysik, ist nicht zu entbehren und bildet heute kaum noch einen Gegensatz
zur historischen Richtung. Kräftig einwirkend ist in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts zu den neu gewonnenen Gesichtspunkten der Forschung der
phonetische hinzugetreten, der erst der natürlichen Seite der Sprache die
volle Aufmerksamkeit zugewandt hat. Von diesem Standpunkte aus betrachtet man
die Laute darauf hin, wie sie akustisch wirken und wie sie durch die Artikulationsorgane
hervorgebracht werden, und erklärt die Veränderungen in der Sprache
aus den Modifikationen der Stellung der Sprachwerkzeuge.
Man fasst daher die Sprachgesetze als Naturgesetze auf. Die Phonetik hat ihre
wichtigsten Vertreter in Brücke (Grundzüge der Physiologie und Systematik
der Sprachlaute. 1856), Merkel (Physiologie der menschlichen Sprache. 1866), Rumpelt (das nat. System d. Sprachlaute. 1869), G. Michaelis der zuerst an der
Berliner Universität sprachphysiologische Vorlesungen hielt (Zeitschrift
für Stenographie und Orthographie. 1853 ff.), Bell (Sounds and their relations.
1882; Visible Speech. 1867), Scherer, zur Gesch. d. deutschen Sprache, Trautmann
(Sprachlaute. 1884-86), Sievers (Phonetik. 1876, 3. Aufl. 1885), Sweet (Handbook
of Phonetics. Oxford 1877) usw. gefunden.
Aber auch der phonetische Gesichtspunkt ist nur eine Seite, und zwar nicht die
höchste der Sprachbehandlung und hat sich den anderen beizuordnen, nicht
überzuordnen, was ihm in der Gegenwart noch nicht immer gelingen will.
Vgl. Steinthal, Abriß der Sprachwissenschaft. 1872 ff.; Whitney, die Sprachwissenschaft (übersetzt von Jolly. 1874); L. Geiger, Ursprung und Entwicklung der menschlichen
Sprache und Vernunft. 1868; Bleek, über den Ursprung der Sprache. 1868; Marty, über den Ursprung der Sprache. 1876; Noiré, der Ursprung
der Sprache. 1887; H. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, 3. Aufl., 1898; H. Oertel, Lectures on the Study of Language. 1901; K. Bruchmann, die neueste
Sprachphilosophie (Preuß. Jahr., Bd. XLI, S. 409-420); Wundt, Grundriß
d. Psychol. 1905 § 21, 3.S. 367 ff.
Sprung
(lat. saltus) S.
596
nennt man eine Lücke im Beweise (in concludendo vel
demonstrando). Da jeder Beweis auf einer engen Verknüpfung seiner Glieder beruht, ist jeder Sprung
ein Fehler. Auch auf dem naturwissenschaftlichen Gebiete wird der Sprung meist
durch Hinweis auf das Gesetz
der Stetigkeit abgewiesen, wonach es in der Natur nur allmähliche, aber nicht unvermittelte Übergänge gebe (in
mundo non datur saltus). Die Mutationstheorie erkennt diesen Satz
nicht ohne weiteres an. Vgl. Mutation.
Stein
der Weisen (lat. lapis
philosophorum) S. 600f.
hieß nach dem Glauben der Kabbalisten und Alchymisten das Mittel, Gold
zu machen, den Krankheitsstoff aus dem Körper zu beseitigen und das Leben
zu erneuern. Man nannte es auch das allgemeine Auflösungsmittel, das große
Magisterium, die rote Tinktur oder das große Elixir. Nach dem mythischen
Hermes Trismegistos nannte man die Goldmacherkunst auch die hermetische. Dieser
Ausdruck kommt schon in dem Aristoteles untergeschobenen Buche »de practica
lapidis philosophici« vor. Vgl. Schmieder, Geschichte
der Alchymie. Halle 1832. F. Renau, Eau de Jouvence. Paris 1880.
Stetigkeit
(lat. continuitas)
S. 600 Siehe
auch bei Eisler
heißt der ununterbrochene Zusammenhang äußerer oder innerer
Vorgänge oder Größen. Stetige Größen sind solche,
deren Teile nicht voneinander gesondert werden können, weil sie ineinander
fließen. Daher scheinen sie in das Unendliche teilbar. Solche stetigen
Größen sind Raum, Zeit und Bewegung. Obgleich der Begriff
des Stetigen den scheinbaren Widerspruch in sich schließt, dass
eine endliche Größe gedacht werden soll, die aus einer unendlichen
Zahl von Teilen besteht, so kann man ihn doch mathematisch fixieren (Differentialrechnung).
Auch auf die Zahlen ist das Gesetz der Stetigkeit in der Weise übertragen worden, dass gezeigt worden ist, es lasse sich
ein stetiger Übergang von einer ganzen Zahl zur nächstfolgenden herstellen (Dedekind). -
Das Gesetz der Stetigkeit (lex
continui) verbietet sowohl vom logischen als auch vom metaphysischen
Gesichtspunkte jeden
Sprung.
Streben
S. 605f.
heißt jede tierische oder menschliche Tätigkeit,
die auf ein Ziel gerichtet ist, dessen Erreichung
Hindernisse im Wege stehen.
Ein Streben entsteht überall
da, wo ein mehr oder minder bewusster Wille
in seiner Bahn gehemmt wird. Wir finden das
Streben daher durch die ganze Welt
des tierischen und menschlichen Lebens hin verbreitet, in dem überall verschiedene Kräfte
in Wechselwirkung
stehen.
Das Tier wie auch der Mensch strebt instinktiv
nach Befriedigung seiner Triebe;
unsere Sinne streben nach dem, was ihrer spezifischen
Energie
zusagt; so streben wir nach Erkenntnis,
Glückseligkeit,
den verschiedenen Gütern der Erde usf. Vergleiche
Begierde,
Wille, Trieb
Subjekt
S. 606f.
heißt eigentlich der zugrunde liegende Gegenstand
(gr.
to hypokeimenon)
vgl. Substanz. Demgemäß bezeichnet damit die Logik
dasjenige Glied des Urteils
oder Satzes, von dem der Denkprozess seinen Ausgang nimmt und dem eine Bestimmung
gegeben werden soll. Das Subjekt schließt
die Quantität
des Urteils in sich ein, indem es den Umfang von Gegenständen angibt, von welchen das Urteil gilt. –
Sodann versteht man metaphysisch jetzt unter Subjekt
das menschliche Ich,
also ein vorstellendes erkennendes, fühlendes und
handelndes Wesen
im Gegensatz zum Objekt,
d.h. dem Gegenstande des Erkennens, Fühlens und Handelns. Sofern das Subjekt
sich selbst Gegenstand werden kann,
heißt es Subjekt-Objekt.
Vgl. Objekt.
subjektiv
S. 607
heißt im weiteren Sinne alles dasjenige, was nur im Subjekt existiert;
im engeren Sinne heißen so solche Gedanken und Empfindungen, welche bloß
in der besonderen oder individuellen Natur des Vorstellenden und Empfindenden
begründet sind, während die objektive Erkenntnis und Empfindung durch
die Natur der Sache selbst bestimmt ist (vgl. Objekt).
Diese Bedeutung des Wortes ist übrigens erst in neuerer Zeit (innerhalb
der Wolfschen Schule) aufgekommen; im Mittelalter (seit Duns Scotus 1265-1308)
nannte man dasjenige subjektiv, was der Sache, dem Vorgestellten (subjectum)
zukommt, objektiv (von obiicere = vorstellig machen) hingegen die Vorstellung
davon. –
Unsere Subjektivität beweist dadurch ihre Macht, dass wir alle Dinge zunächst
von dem Gesichtspunkt des eigenen Nutzens aus ansehen; niemand kann seine Subjektivität
völlig verleugnen, selbst in wissenschaftlichen Fragen nicht. Nur einzuschränken
vermag man ihren Einfluss durch allgemeine Gedanken, Gefühle und Interessen.
Den theoretischen Subjektivismus vertreten die Sophisten (»der Mensch
ist das Maß aller Dinge«), den praktischen die Egoisten (Stirner,
Nietzsche).
In Geschmacks- und Glaubenssachen ist die Subjektivität am Platze, nicht
aber in der Wissenschaft, die nach objektiver Wahrheit strebt. Vgl. Eucken,
Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipzig 1904, S. 11 ff.
Substanz
(lat. substantia,
gebr. seit Quintilianus [Inst. or. 3, 6, 8], gr.
ousia, hypostasis, to hypokeimenon) S.
608ff.
heißt das Selbständige,
das Fürsichbestehende gegenüber dem Unselbständigen,
Anhaftenden (den Eigenschaften
oder Akzidenzen)
oder das Beharrende
gegenüber dem Wechselnden (den Zuständen).
Der Substanzbegriff
ist einer der schwierigsten und schwankendsten
Grundbegriffe
des Denkens. In
der ältesten griechischen Philosophie
spielt statt seiner der Begriff
der hylê
(des Stoffes) eine wichtige Rolle.
Dieser fängt an sich in der Lehre des Herakleitos
(um 500 v. Chr.) vom Fluss
der Dinge zu verflüchtigen.
Durch die Eleaten
wird dagegen der Begriff des wahrhaft Seienden zuerst unabhängig
von der Erfahrung
logisch und im
Gegensatz zum Begriffe des nur scheinbar Seienden geformt
und damit der Substanzbegriff
eingeleitet.
Platon (427 bis 347)
sucht darauf das Substantielle
(ousia) in den allgemeinen Begriffen oder
Ideen in Absonderung
von der Sinnenwelt.
Aristoteles (384-322),
der die Idee in dem Stoffe,
das Allgemeine
im Einzelnen suchte, bringt es nicht
zu einer festen abschließenden Definition
der Substanz. Aristoteles
nennt Substanz
(ousia, to hypokeimenon) bald das Beharrende,
den Träger der wechselnden Affektionen
(symbebêkota) (Analyt. poster. I, 21
p. 83a 24 ff.), bald das Selbständige (Metaph.
VI, 3 p. 1029a 8), bald die der Materie
innewohnende Form
(Metaph. IV, 8 p. 1017b 25), bald das Wesentliche
(Metaph. VI, 3 p. 1029a 1), bald auch das Einzelding
(Kategor. 5 p. 2a 18). Er unterscheidet
endlich auch drei Substanzen,
die Materie, die Gestalt
und das Produkt beider
(Metaph. VI, 3. p. 1029a 2).
Im Mittelalter schloss man sich in der Bestimmung
des Substanzbegriffes entweder
an Platon (Idee) oder
an Aristoteles (Form) an.
Cartesius (1596-1650)
definierte die Substanz als ein
Ding, welches zu
seiner Existenz
keines anderen
Dinges bedarf (per substantiam nihil aliud
intelligere possumus, quam rem, quae ita existit, ut nulla alia re indigeat
ad existendum), und nahm zwei Arten von Substanzen an, die unerschaffene,
die allein dem Begriffe der Substanz
genau entspricht, und die erschaffenen Substanzen, die nur der unerschaffenen
zu ihrer Existenz bedürfen. Substanz
im ersten Sinne ist nur Gott,
das Wesen, das zu seiner Existenz durchaus
keines anderen Wesens bedarf; Substanzen
im zweiten Sinne sind die ausgedehnte und denkende Substanz,
die zu ihrer Existenz nur der Mitwirkung Gottes bedürfen.
Spinoza (1632-1677),
der dem Begriff der Substanz strengere
Einheit geben
wollte, ließ nur eine unendliche, ewige und notwendige Substanz
gelten, welche in sich sei und durch sich
begriffen werde, nämlich Gott.
Denken und Ausdehnung galten ihm nur als Attribute
Gottes.
Leibniz (1646-1716)
bestimmte das Wesen der Substanz
als tätige Kraft,
als Vorstellung,
und nahm eine unendliche Zahl
von Substanzen (Monaden)
an.
Locke (1632-1704) hat
zuerst in der Neuzeit den Substanzbegriff,
wie er vom Altertum und Mittelalter her überliefert
war, scharf kritisiert und gezeigt, er bezeichne
nichts als den gänzlich unbekannten Träger
gewisser Eigenschaften.
Hume (1711-1776) löste
dann den Substanzbegriff, ebenso
wie den Kausalitätsbegriff
völlig auf. Durch sinnliche Eindrücke werden nur Zustände und
Möglichkeiten, nicht Substanzen
wahrgenommen. Ebenso wenig gewinnen wir die Substanz durch
innere Erfahrung. Das unbekannte Etwas,
an dem die Eigenschaften haften sollen, ist nur
eine Erdichtung der Einbildungskraft. Die beharrliche
Gleichheit der Attribute rechtfertigt nicht die
Annahme eines beharrenden Trägers derselben. Die Substanz
ist nichts weiter als das Zusammensein
der Eigenschaften.
Kant (1724-1804) bestimmt
den Substanzbegriff als Kategorie
der Relation
in Korrelation mit dem Begriff
der Akzidenzen.
Die Substanz ist für ihn das Beharrliche,
der Träger der wechselnden
Akzidenzen.
J. G. Fichte (1762-1814)
leugnet die Realität
der Substanz überhaupt, indem
er behauptet, sie sei nur die Totalität der Glieder eines Verhältnisses.
Während Schelling (1775-1854)
auf Spinozas pantheistischen
Standpunkt bezüglich der Substanz zurückkehrt,
ist für
Hegel (1770-1831) die
Substanz oder das Absolute
das Subjekt, welches
in Wahrheit wirklich
ist.
Herbart (1776 bis 1841)
sah wieder, wie Locke, in der
Inhärenz der Eigenschaften ein Problem;
aber ersuchte dies Problem positiv zu lösen; die Substanz ist ihm das unbekannte
Eine, dessen Setzung die verschiedenen Setzungen der Merkmale repräsentiere;
sie ist das vermisste Subjekt, welches unserer Kenntnis fehlt, in der Natur
aber nicht fehlen kann. So verschwindet bei näherer Betrachtung der Begriff
der Sache, und der der Substanz tritt an ihre Stelle. Ähnlich wie Leibniz
nimmt er dann als letzte Substanzen eine
unendliche Vielheit von
Realen an.
Schopenhauer (1788-1860)
sieht in der Substanz nur eine
Abstraktion
der Materie, die jedoch zwecklos, ja fehlerhaft
sei, weil dabei die heimliche Nebenabsicht unterlaufe, durch Erschleichung
(subreptio) den Begriff der Seele als
einer immateriellen Substanz zu gewinnen.
Wundt (geb. 1832) sieht
in der Substanz den Begriff
eines vom Subjekte
unabhängigen Gegenstandes, dessen sich die Naturwissenschaft, welche
die Dinge mittelbar in Abstraktion vom Subjekte betrachtet,
als Hilfsbegriffs bedient.
Der Begriff Substanz hat also
bisher keine allgemein anerkannte Bestimmung
gefunden, sondern man versteht darunter entweder den
Stoff, oder das
seiende Ding, oder die Kraft,
oder die Form,
oder das Absolute, oder das Sein
der Natur, oder
das Sein des Geistes,
oder man leugnet ihre Existenz
ganz ab usw.
Trotzdem kann das Denken des Substanzbegriffs
nur schwer entbehren und fasst ihn formal
entweder als das Selbständige gegenüber dem
Anhaftenden, oder als das Beharrliche gegenüber
dem Wechselnden, also als den festen Ausgangspunkt in aller räumlichen
Zerstreuung und in allem zeitlichen Wandel des Daseins. Der Mensch anthropomorphosiert,
indem er begreift, und indem er sein ihm durch Erfahrung
innerlich bekanntes eigenes Ich in die Welt hineinträgt, schafft
er den Substanzbegriff, ohne den er nicht im
Denken vorwärts kommt (vgl. Julius
Schultz, die Bilder von der Materie 1905).
Durch bloße Wahrnehmung
ist die Substanz nicht aufzufinden, sie ist vielmehr
eine Begriffsform, durch die das
Sein gedacht,
nicht angeschaut wird.
Ob ihr metaphysisch
etwas entspricht und was ihr metaphysisch
entspricht, ob ein Materielles,
oder ein Geistiges, oder ein Absolutes,
oder ein uns völlig Unbekanntes,
oder ein Nichts, ist die Grundfrage der Metaphysik und eines der schwersten
Probleme (vgl.
Metaphysik).
Die Anhänger der Aktualitätstheorie glauben
ohne die Substanz
auskommen zu können.
Substrat
(v. lat. substernere
= unterbreiten gr. to hypokeimenon),
S. 610
eigtl. Unterlage, Träger,
heißt die Substanz
in Bezug auf ihre Akzidenzen.
Subsumption
(nlt. v. lat. sub
= unter und sumere = nehmen),
Unterordnung, S. 610
nennt man die Beziehung des Artbegriffs auf den
Gattungsbegriff;
subsumieren heißt etwas
unterordnen, einbegreifen. Vergleiche
Begriff, Urteil,
Schluss.
Sünde
(eigtl. ahd. sunta, suntea =
Verneinung, Verweigerung) S. 611
heißt jede unsittliche Handlung,
insofern man sie als Übertretung eines göttlichen
Gebotes ansieht, mag sie in Gedanken,
Worten oder Werken, Mienen oder Gebärden,
Taten oder Unterlassungen bestehen.
Sünde ist mithin dasselbe
wie Unsittlichkeit, nur dass man dabei an
Gott als den Urheber und Hüter
des Sittengesetzes denkt. Man unterscheidet
vorsätzliche und unvorsätzliche,
wissentliche und unwissentliche, erbliche und
erworbene, allgemeine und besondere,
positive und negative Sünden
(Begehung und Unterlassung), ferner
Sünden aus Unwissenheit, Übereilung,
Nachlässigkeit, Schwachheit, Vorsatz und Bosheit.
J. Müller, d. christl. Lehre v. d. Sünde. 5. Ausg. 1867. Martensen,
Ethik. 1880.
Syllogismus
(gr. syllogismos v. syllogizesthai) S.
612
heißt der Schluss vom Allgemeinen auf das
Besondere (s.
Schluss). Syllogistik ist
die Lehre von solchen Schlüssen; das syllogistische
Verfahren oder die Deduktion
steht der Induktion
gegenüber.
Synthesis
oder Synthese (gr. synthesis),
S. 613f.
eigentlich Zusammenstellung, Verknüpfung,
Verbindung, ist das Gegenteil von Analysis.
Die Synthesis besteht in der unwillkürlichen
oder willkürlichen Verknüpfung, die bei der Auffassung und Verarbeitung
der sinnlichen Erscheinungen und unserer eigenen Seelenvorgänge stattfindet,
wenn wir die Empfindungen zur Einheit der Anschauung und die Mannigfaltigkeit
der einzelnen Merkmale zur Einheit des Begriffs
verbinden.
Darum hat Kant das Ich
die transzendentale
synthetische Einheit der Apperzeption
genannt; denn in ihm verschmelzen sich alle Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle
und Bestrebungen des einzelnen Menschen zur Bewusstseinseinheit.
Das Maß der Aktivität bei den einzelnen
Synthesen (ob Assoziation
oder Apperzeption) zu bestimmen, ist Aufgabe der Psychologie.
Eine Synthesis findet bei der Wahrnehmung,
bei der Reproduktion, bei der Betätigung des Gedächtnisses und der
Phantasie statt.
Am meisten entwickelt sie sich aber beim wissenschaftlichen Denken, d.h. bei
der Bildung von Begriffen, Urteilen und Schlüssen. –
Eine synthetische Erklärung ist dann möglich,
wenn die Merkmale vor dem Begriffe, zu welchem sie verknüpft werden, bekannt
sind und die Art ihrer Verknüpfung unzweifelhaft ist. Hier wird also der
Begriff durch das zusammenfassende, konstruktive Denken (z.B. in der Mathematik)
erst geschaffen, während die fertig und verbunden gegebenen empirischen
Begriffe nur der analytischen Verdeutlichung, d.h. der Zerlegung in ihre Merkmale,
unterliegen. –
Ein Urteil heißt synthetisch, wenn sein Prädikat nicht schon, wie
beim analytischen, im Subjekt liegt.
So ist (nach Kant) z.B. ein analytisches
Urteil: »Alle Körper sind schwer«,
ein synthetisches: »Jede
Veränderung hat eine Ursache.«
Analytische Urteile erläutern, synthetische erweitern unsere Erkenntnis.
Hängt das synthetische Urteil von der Erfahrung ab, so ist es ein synthetisches
a posteriori; geht es aus der Vernunft hervor, so ist es ein synthetisches a
priori.
Kant knüpft seine gesamte Vernunftkritik an die
Frage an: »Wie sind synthetische Urteile a
priori möglich?« -
Die synthetische Schlussreihe entwickelt, von Prinzipien
fortschreitend, Folgerungen, während die analytische rückwärts
von den Folgerungen zu den letzten Gründen emporsteigt.
Jenes nennt man auch die synthetische (progressive),
dieses die analytische (regressive)
Methode.
Jene geht vom Prinzip aus, diese vom Einzelfall; jene empfiehlt sich mehr bei
einfacheren, diese bei komplizierteren Phänomenen; jene wird besonders
von der Mathematik und der spekulativen Philosophie, diese von der Naturwissenschaft
angewandt.
Eine besondere Bedeutung hat die Synthesis noch
innerhalb der Methode bei den absoluten Idealisten (Fichte
u. Hegel): Hier ist Synthesis die Vermittlung des
Gegensatzes von Thesis und Antithesis, durch welche sich das Denken zu höheren
Begriffen fortentwickelt.
Synthetismus
S. 614f.
heißt diejenige Philosophie, welche Sein und Wissen, Reales und Ideales
als ein ursprünglich Gesetztes und miteinander Verbundenes
betrachtet und keins von beiden aus dem anderen ableiten
will, weil beides zu trennen wegen der Einheit unseres geistleiblichen
Wesens unmöglich sei. Dieser Standpunkt steht mithin sowohl dem Realismus,
welcher alles Ideale aus dem Realen, als auch dem Idealismus, der alles Reale
aus dem Idealen ableitet, gegenüber.
Zu den Synthetisten gehören die
Identitätsphilosophen, und auch die Philosophie
v. Hartmanns und Krugs ist Synthetismus.
Vgl. Identitätsphilosophie.
System
(gr. systêma) S.
615f.
heißt die geordnete
Verknüpfung zusammengehöriger Dinge zu einem relativ
in sich abgeschlossenen Ganzen. Die Möglichkeit solcher Verknüpfung
beruht darauf, dass allem Einzelnen eines Gebietes gewisse Übereinstimmungen,
Prinzipien oder
Regeln zugrunde liegen. So spricht man vom Planeten-, Pflanzen-, Nervensystem
usw.
Besonders ist jede reife Wissenschaft
ein Ganzes von Erkenntnissen
in Form des Systems.
Wissenschaftliche Lehren und Systeme verhalten sich wie Inhalt
und Form. Dabei
ist die Form keineswegs etwas Gleichgültiges oder nur didaktisch Wertvolles,
sondern das feste Gerüst für die Wissenschaft, ohne welche diese nicht
bestehen kann.
Das wissenschaftliche System repräsentiert
die objektive Wirklichkeit, ihre Gliederung in seiner Gliederung widerspiegelnd.
Systematik ist
überall da, wo ein Mannigfaltiges verwandter Gestaltungen oder Betätigungen
bewusst auf die Einheit eines Begriffes bezogen wird.
Das systematische Verfahren (die Methode!) steht mithin im Gegensatz zum fragmentarischen,
rhapsodischen und willkürlichen.
Die niedrigste Form des Systems ist die Klassifikation, die sich nur nach der
logischen Über- und Unterordnung richtet. Höher steht die Systematik
nach Grund und Folge; denn sie leitet das Mannigfaltige aus Prinzipien ab und
begründet es so. Das Wesen des Systems besteht übrigens nicht darin,
dass alle Lehrsätze aus einem Prinzip, sondern dass sie überhaupt
aus Prinzipien abgeleitet werden. Alle Glieder müssen in logischem Zusammenhange
miteinander stehen, so dass man von einem zum andern mit Notwendigkeit fortgetrieben
wird. Es widerspricht auch nicht dem Wesen der Wahrheit oder der Wahheitsforschung,
dass in derselben Wissenschaft verschiedene Systeme der Reihe nach aufgestellt
werden. –
Die Systeme sind entweder künstliche oder natürliche.
Ein künstliches System ist die Anordnung eines wissenschaftlichen Gebiets
nach mehr oder minder willkürlich herausgegriffenen Unterschieden äußerer
Merkmale, wobei nicht sowohl der natürliche Zusammenhang der Einteilungsglieder
als vielmehr der logische Aufbau der Einteilung nach den vom Menschen gewählten
Einteilungsprinzipien die Hauptsache ist. Ein künstliches System kann daher
scharfe Grenzen ziehen, ist aber nicht mehr verwendbar sobald das Einteilungsprinzip
durch Beibringung neuer Tatsachen eine Abänderung oder Entwertung erfährt
(z.B. Linnésches System).
Ein natürliches System ist dagegen eine Anordnung eines wissenschaftlichen
Gebietes, die nicht Einzelheiten herausgreift, sondern sich auf sorgfältige
Untersuchung und Berücksichtigung aller von der Natur gegebenen Verhältnisse
des Zusammenhangs gründet, soweit sie nach dem jeweiligen Stand des Wissens
bekannt sind. Ein solches System schafft nur selten so scharfe Grenzen wie ein
künstliches. Dafür kann es sich aber den Fortschritten
der Wissenschaft viel leichter anpassen und Verbesserungen erleiden, ohne dass
doch sein Bestand gefährdet ist. –
Systematisch heißt eine Erkenntnis, die durch Grundsätze gestützt,
klar und vollständig ist.
Systematisch heißt
der Beweis, welcher
auf Grundsätze
zurückgeht und mit ihnen folgerichtig in Zusammenhang steht.
Die Systematik
oder Methodenlehre ist ein Teil der
Logik.
Tat
oder Handlung S. 618f.
ist ein Vorgang in der Außenwelt,
welcher von einem sittlich
vernünftigen Wesen ausgeht. Der Kausalzusammenhang zwischen
der Tat und dem Ich des Täters wird durch die Vermittlung des Wollens
hergestellt. Tätigkeit
bezeichnet jede Art von Wirksamkeit, die von Menschen
ihren Ausgang nimmt.
Tatsache
(lat. res facti) S. 619
heißt alles Vorhandene oder Geschehende,
das durch äußere oder innere Wahrnehmungen
erfasst wird.
Tatsachen können nur anerkannt oder verworfen
werden; dem Streit unterliegen sie selbst nicht;
nur darüber kann Zweifel
entstehen, ob sie geschehen seien oder nicht.
Daher der Satz: Tatsachen beweisen
(facta loquuntur).
Bewusste Auffassung
von Tatsachen heißt Empirie
(Erfahrung).
Der Empirismus
erkennt nichts an, was sich nicht
mit Tatsachen belegen lässt. Die Erfahrung
ist entweder eigene (Autopsie) oder fremde (Zeugnis).
Auf fremder Erfahrung beruht der so genannte Zeugenbeweis, auf welchen sich
alles historische Wissen
zu stützen hat. Vergleiche
Kritik, Prinzip,
Empirie.
Tat
tvam asi (sanskr. [...]
= das bist du) S.
619 Siehe auch bei
Eisler
ist ein Satz der Brahmalehre, der den Gedanken
von der Subjektivität
der Außenwelt
ausdrückt.
Schopenhauer (1788-1860)
sieht ihn für den Ausdruck des Kantischen
Phänomenalismus
an und zitiert ihn oft in »Welt
als Wille und Vorstellung«.
Teil
S. 619 Siehe
auch bei Eisler
ist dasjenige, was mit anderem zusammen ein Ganzes
bildet. Die Teile können entweder
gleichartig (homogen) oder ungleichartig
(heterogen) sein; jene sind nur nach ihrer Größe
(quantitativ),
diese auch nach ihren Merkmalen
(qualitativ)
verschieden. Jene heißen Aggregats-, diese Elementarteile. Vergleiche
Zahl.
Teilbarkeit
S. 619 Siehe
auch bei Eisler
nennt man die allgemeine
Eigenschaft
der Körper, sich in Teile
zerlegen zu lassen. Man unterscheidet
mathematische und physische Teilbarkeit.
Jene kann ins Unendliche
fortgesetzt werden, da sie nur in Gedanken
vorgenommen wird; die physische dagegen hat in
Wirklichkeit ihre Grenze.
Die Atomisten behaupten, fortgesetzte Teilung
führe schließlich auf kleinste Teilchen
(Atome, Korpuskeln, Elektrone), die zwar nicht bloß Raumpunkte seien,
sondern noch gegebene und miteinander vergleichbare Massen hätten, zu deren
fernerer Teilung aber keine Kräfte vorhanden seien. Die Atome usw. sind
aber nicht Grundbestandteile der wirklichen Welt, sondern nur Hilfsbegriffe
der physikalischen und chemischen Forschung. Vergleiche
Stetigkeit.
Grenzwert
Teleologie
(franz. téléologie
v. gr. teleios = zweckmäßig
und logos = Lehre)
S. 620ff. Siehe
auch bei Eisler
heißt die Lehre von der Zweckmäßigkeit
der Dinge. Von Zweckmäßigkeit redet man da, wo man
Zwecke erstrebt und verwirklicht sieht.
Eine jede Zweckreihe umfasst aber drei Glieder:
1. eine von irgendeiner Intelligenz vorgestellte und begehrte Wirkung einer
Ursache,
2. eine tatsächlich in Aktion tretende Ursache, die, weil sie nicht den
Anfang bildet, sondern in der Mitte zwischen zwei anderen steht, Mittel heißt,
und
3. eine tatsächlich eintretende Wirkung dieser Ursache.
Nur da kann also von Zweckmäßigkeit geredet werden, wo erstens eine Intelligenz und eine Idee dieser Intelligenz, zweitens eine Ursache und drittens eine Wirkung nachweisbar ist.
Auf dem ethischen Gebiete des menschlichen Handelns sind alle diese Bedingungen erfüllt, und wir gewinnen den Begriff der Zweckmäßigkeit zuerst
auf diesem Gebiete. Aber wir versuchen diesen Begriff auch auf die Natur zu übertragen und ihn sowohl für die Erfassung des Einzelnen in der Natur,
namentlich innerhalb der Welt der Organismen, als auch für das Weltall
als Ganzes zu verwerten.
An die unleugbare Zweckerkenntnis beim menschlichen Handeln knüpft sich
also der Gedanke einer zweckmäßigen Einrichtung der Natur im Großen
und Kleinen, im Einzelnen und Ganzen, und einer Übereinstimmung der physischen
und moralischen Welt, welche ohne eine alles beherrschende Intelligenz nicht möglich wäre.
Hierin besteht die Teleologie, die sich also entweder zu der Lehre von der inneren
Zweckmäßigkeit der einzelnen natürlichen Wesen, vor allem der
Organismen, oder zu der Lehre von einem letzten Endzweck der Natur gestaltet
und ihren Abschluss entweder in der Physikotheologie, dem Versuch, aus Zwecken
der Natur auf die oberste Ursache der Natur zu schließen, oder in der Ethikotheologie (Moraltheologie), dem Versuch, aus den moralischen Zwecken vernünftiger
Wesen in der Natur auf die letzte Ursache der Natur und ihrer Eigenschaften
zu schließen, findet. (Vgl. Kant, Kr. d. U.
§ 85, S. 395.)
Der Teleologie entgegengesetzt ist der Mechanismus, der in der Natur nur das
Verhältnis von Ursache und Wirkung sucht. Der Mechanismus lehrt: »Alle
Erzeugung materieller Dinge und ihrer Formen muss als nach bloß mechanischen
Gesetzen möglich beurteilt werden.«
Die Teleologie lehrt: »Einige Produkte der materiellen Natur können
nicht als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurteilt werden (ihre Beurteilung erfordert ein ganz anders Gesetz der Kausalität, nämlich
das der Endursachen).« (Kant, Kr. d. U. §
70, S. 310.)
Die teleologische Betrachtung der Dinge ist alt.
Der Gegensatz der mechanistischen und der teleologischen Naturbetrachtung ist
im Altertum durch die Systeme des Demokritos (um 460-360) und des Aristoteles (384-322) gegeben. Von Aristoteles ist die teleologische Weltauffassung auf
die Kirchenväter und Scholastiker übergegangen, und dem Christentum
des Mittelalters gilt die Welt als ein lebendiges Ganzes, in das sich alles
Einzelne als Glied zweckmäßig einfügt.
Die Renaissance stürzt diese Idee und macht der mechanistischen Weltauffassung wieder Platz.
Aber Descartes (1596-1650) lässt zwar den Mechanismus innerhalb der Naturwissenschaft gelten, verwirft ihn jedoch als metaphysische Lehre.
Auch Berkeley (1685-1753) erhebt Einwendungen gegen den Mechanismus, und Leibniz
(1646-1716) ordnet die gesamte Natur mit ihrem Mechanismus als eine inadäquate
Auffassung der Dinge einer begrifflich erkannten geistigen Welt von Seelenmonaden
unter.
Kant (1724-1804) erklärte den Zweckbegriff für ein Prinzip der Urteilskraft,
sah aber in der teleologischen Naturbetrachtung nur ein regulatives, nicht ein
konstitutives Prinzip der Forschung und bestritt auch die Berechtigung des teleologischen
Gottesbeweises, stellte aber neben die Physikotheologie die Ethikotheologie.
Schelling (1775 bis 1854) und Ulrici (1806-1884) haben die Teleologie von neuem
aufgenommen, und Lotze (1817-1881) schließt sie wiederum von der Naturbetrachtung aus, lässt sie aber für die Metaphysik zu.
So ist die Stellungnahme der Philosophie zur Teleologie eine verschiedene.
Der Realismus lehnt sie im Allgemeinen ab; der Pantheismus schwankt in seiner
Haltung.
Der Idealismus steht meist auf dem Standpunkt der Teleologie. Er kann sie kaum
neben der kausalen Auffassung der Dinge ganz entbehren. Wenn neben vielem Zweckmäßigen sich auch Unzweckmäßiges in der Natur darbietet und vieles, was man
zunächst nur aus Zwecken erklären zu können meinte, später
mechanistisch erklärt worden ist, so ist es doch unzweifelhaft das Wesen
unserer Vernunft, nach Zwecken zu handeln. So wenig wir nun wissen, ob es eine
objektive Zweckmäßigkeit in der Natur gebe, so wenig lässt sich
auch ihre Nichtexistenz nachweisen. Die Welt der Organismen aber und besonders
der Menschen begreift sich leichter bei Zweckbetrachtung. So verschmäht
der Idealismus, der die Welt als geistig ansieht, meist das Prinzip der Teleologie nicht.
Die Philosophie im Allgemeinen wird sich begnügen müssen, die Welt
der Zwecke innerhalb des Menschentums anzuerkennen. Aber der Idealist wird geneigt
sein, indem er die Welt von seinem eigenen geistigen Inneren aus erfasst, auch
in der Zweckmäßigkeit der Natur mindestens mit Kant ein regulatives
Prinzip der Forschung, wenn nicht eine konstitutive Hypothese der Naturwissenschaft
zu sehen. (Vgl. Zweck.) Vgl. Trendelenburg, Log. Untersuch.
II, 1. E. v. Hartmann, Philos. des Unbewußten 3. Aufl. S. 51 f. Ulrici,
Gott u. d. Mensch. 2. Aufl. 1866 S. 165. Kirchner, der Zweck des Daseins 1882.
Fiske, Bestimmung des Menschen, a. d. Engl. V. F. Kirchner. Lpz. 1890. Eucken,
Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipzig 1904, S. 123-150.
Tetraktys
(gr.) S. 627
nannten die Pythagoreer die 4
ersten Zahlen,
aus deren Addition die Zahl
10 entsteht, die sie für die vollkommenste hielten, weil auch das Weltall 10
Sphären habe.
Auch ihre Tafel fundamentaler Gegensätze zeigt 10 Paare. Vgl.
A. Heinze, die metaphys. Grundlehren d. alt. Pythagoreer. 1871.
Theismus
(Neubildung v. gr. theos
= Gott)
S. 627 Siehe
auch bei Eisler
heißt diejenige philosophische Richtung,
welche das Dasein
eines außerweltlichen, intelligenten,
persönlichen
Schöpfers und Leiters der Welt behauptet. Ursprünglich bezeichnete Theismus
allgemein nur
die Lehre, dass es einen Gott gibt, und bildete den Gegensatz zum Atheismus;
jetzt aber setzt man den Theismus in engerer Bedeutung
dem Deismus und Pantheismus entgegen.
Theismus ist also diejenige Weltanschauung,
welche auf dem Glauben
an einen persönlichen, selbstbewussten
und selbsttätigen Gott beruht, dessen Wesen,
um wirklich zu sein, einer Welt nicht bedarf, von
dem aber alles Vorhandene nach Entstehen und Bestehen abhängig ist.
Der Realismus innerhalb der Fragen der Teleologie,
der die Zweckmäßigkeit in der organischen Welt als absichtlich anerkennt,
führt nach Kant, wenn er die Zweckmäßigkeit
von einem hyperphysischen Grunde ableitet,
zum Theismus
(Kr. d. U. II, § 72, S. 318-319).
Nachdem die Kantsche Philosophie durch den Pantheismus Fichtes, Schellings und Hegels verdrängt worden war, wurde die theistische Weltansicht durch die Schule
von Ulrici und durch den jüngeren
Fichte vertreten. Vergleiche
Deismus, Pantheismus , Theologie. Fichte, Ü. d. Bedingungen d. spekul. Theism.
1835. Ulrici, Gott u. d. Natur. 1861. Wirth, d. spekul. Idee Gottes. 1845. H.
Schwarz, Gott, Natur u. Mensch. 1857. C. H. Weisse, Idee d. Gottheit. 1845.
Chalybäus, Wissenschaftslehre. 1846. R. Rothe, Ethik I. 1867. Frz. Hoffmann,
Theism. u. Pantheism. 1861.
Theodizee
(franz. théodicée v. gr.
theos = Gott und dikaioun =
rechtfertigen) S. 628ff.
Siehe auch bei Eisler
heißt die Rechtfertigung
Gottes gegen die Anklage,
dass er am Übel
und der Sünde
in der Welt
schuld sei. Der bewegende Gedanke
der Theodizee
ist, den Zweifel
an der Existenz
Gottes
oder an der Gerechtigkeit und Güte Gottes zu beseitigen, den Übel
und Sünde im Menschen erwecken. Daher ist der Kern
der Theodizee so alt als das Denken
der Menschen und
kehrt in mythischer,
poetischer und philosophischer
Form bei allen Völkern wieder.
Im Alten Testament gehören dahin das Buch
Hiob und die Psalmen (37. 49.), im Neuen
Testament das 9. Kapitel des Römerbriefes.
Den Gnostikern und Manichäern gegenüber machten Origenes
und Augustinus (de civitate
dei) theodizeische Versuche.
Auch die Philosophie
hat sich mit dieser Frage beschäftigt.
Zuerst tat dies Platon (427-347),
der die Ideen
und vor allem die Idee des Guten,
Gott, als das
wahrhaft Reale
ansah und lehrte, dass um des Guten willen jedes Ding seine Existenz habe. Die
Welt sei das Schönste
von allem Entstandenen; sie sei von dem besten Werkmeister als Nachbild des
höchsten Urbildes geschaffen. Gott sei
nicht am Übel
schuld (Tim. 42 D tês
epeita - kakias hekastôn anaitios), er sei neidlos.
Die Verähnlichung mit ihm, nicht die Lust,
erklärte Platon für das höchste
Gut. Niemand sei freiwillig böse;
denn alles Wollen
gehe seinem Wesen gemäß
auf das Gute. –
Dieselbe Ansicht finden wir bei Aristoteles
(384-322), dessen Standpunkt durchaus teleologisch
ist. Er betrachtet Gott als die stofflose ewige Form, das erste selbst unbewegte
Bewegende, die reine Aktualität,
die sich selbst denkende Vernunft, die von allen geliebt wird und der sich alles
zu verähnlichen strebt. Alle naturgemäße Bewegung ist zweckmäßig,
doch stuft sich die Vollkommenheit je nach der näheren oder entfernteren
Einwirkung Gottes ab. Die Organismen findet Aristoteles
bewundernswert, schön und göttlich. Das Ziel menschlicher Tätigkeit,
die Glückseligkeit,
beruht auf vernünftigem oder tugendhaftem Verhalten, an das sich als Blüte
naturgemäßer Vollendung die Lust
knüpft. –
Die Stoiker untersuchten zuerst das Verhältnis Gottes zum Bösen. Alles
geschieht gemäß der Heimarménê, welche die Vernunft
im All, das strenge Kausalgesetz ist.
Kleanthes nimmt nur die bösen Taten aus, sie geschehen durch die Unvernunft
der Schlechten, werden aber doch auch von Gott zum Guten gelenkt.
Chrysippos unterschied zwischen Haupt- und Nebenursachen. Die Vorsehung (d.h.
die Notwendigkeit) ordnet alles; ihrer Logik kann man sich getrost anvertrauen.
Gott ist der Vater aller, wohltätig und menschenfreundlich. Die Welt muss
als im Ganzen tadellos und vollkommen bezeichnet werden. Dies gehe aus ihrer
Gestalt hervor - sie ist kugelförmig! - und aus der Farbe, Größe
und Mannigfaltigkeit der sie umgebenden Gestirne. Sie ist ferner durchaus zweckmäßig
eingerichtet, nichts ist umsonst und nutzlos da, sondern jedes Ding ist für
ein anderes geschaffen. Ein eigentliches Übel gibt es nicht in der Welt;
denn alles rührt von Gott her; was im Einzelnen weniger gut erscheint,
muss zur Mannigfaltigkeit und folglich zur Vollkommenheit des Ganzen beitragen.
–
Die klassische Darstellung der Theodizee hat Leibniz (1646 bis 1716) 1710 gegeben;
er widmete sie der Königin Sophie Charlotte und führte in ihr folgende
Gedanken durch: Mit der moralischen Weltregierung Gottes scheinen die Übel
in Widerspruch zu stehen; diese sind dreifacher Art:
1. das metaphysische, welches in der Unvollkommenheit der Kreaturen als solcher
besteht;
2. das moralische Übel oder die Sünde;
3. das physische oder das Leiden der Kreaturen.
Die Kreaturen sind nach Leibniz' Auffassung idealer Natur und kraft dieser Natur
in den ewigen Wahrheiten eingeschlossen. Dennoch ist das Übel nicht nur
möglich, sondern, da die beste der Welten es in sich schließt, auch
notwendig.
Das metaphysische Übel ist unvermeidlich, da es in der Endlichkeit der
Schöpfung begründet liegt.
Das moralische Übel will Gott zwar nicht, aber es ist vorhanden; das physische
will er nurbedingungsweise, nämlich als Strafe oder als Mittel, um größere
Übel zu verhindern; auch zur Besserung und zur Vervollkommnung soll das
physische Übel dienen. Das moralische Übel kann also nur als Bedingung,
ohne welche das Gute nicht erreicht werden könnte, angesehen werden.
Gottes Tätigkeit geht nur auf Positives, das Böse aber ist etwas Negatives.
Gott ist die Ursache der Vollkommenheit in der Natur und in den Wirkungen der
Kreatur; aber ihre Beschränktheit ist die Ursache des Mangels ihrer Handlungen.
Denn Gott konnte der Kreatur nicht alles mitteilen, ohne sie selbst zu Gott
zu machen. –
Ein Zeitgenosse Leibnizens, Will. King, hat 1702 ebenfalls eine Theodizee (de
origine mali) versucht. Die Welt, meint er, ist so vollkommen gemacht, als es
der höchsten Macht, Weisheit und Güte möglich war. Gut und Übel
sind relative Begriffe; gut ist, was sich selbst oder was anderem angemessen
ist, übel dagegen, was irgend einen von Gott dem Wesen eingepflanzten Trieb
täuscht und es zwingt, zu tun oder zu leiden, was es nicht will. Dieses
Übel ist dreifach: Das Übel der Unvollkommenheit, das natürliche
und das moralische Übel. Da vollkommene Kreaturen ein Widerspruch in sich
sind, so wollte Gott lieber unvollkommene als keine. Über die Unvollkommenheit
des Einzelnen können wir nicht urteilen, weil wir das Ganze nicht kennen.
Nichts in der Welt ist überflüssig, aber jedes bedarf des ändern.
In der Natur kann nichts anders geschehen, als es geschieht; es geschieht auch
nichts anders, als es geschehen sollte; denn was nicht anders geschehen konnte,
geschieht so, wie es geschehen sollte. Das Böse löst sich also in
das Schädliche auf. Übeltäter werden gestraft, nicht weil sie
es verdient haben, sondern um andere dadurch zu bessern.
Diese Theorie des Determinismus ist zwar hart, aber logischer als der Indeterminismus.
Sie zieht einen Begriff der Freiheit vor, wonach diese die Dinge nicht wählt,
weil sie gut sind, sondern die Dinge gut sind, weil die Freiheit sie wählt.
Diese Freiheit besitzt Gott und hat sie den Menschen mitgeteilt. Wäre es
aber nicht vorteilhafter gewesen, wenn Gott den Gebrauch der Freiheit lieber
ganz verhindert hätte? Dies hätte er tun können, wenn er entweder
kein freies Wesen geschaffen oder den freien Willen an der Wahl des Bösen
gehindert oder den Menschen gegen alle Versuchung gesichert hätte. Alle
drei Möglichkeiten waren aber Gottes unwürdig.
Vgl. Hegel, Phänomenologie. 1832. Blasche, das
Böse im Einklang mit der Weltordnung. 1827. Schopenhauer, die Welt als
Wille und Vorstellung. 1819. M. Carriere, die sittl. Weltordnung. 1877. H. Lotze,
Mikrokosmus. 4. Aufl. 1884 ff.
Theologie
(gr. theologia von theos = Gott
und logos; = Lehre) S.
630f. Siehe auch
bei Eisler
hieß bei den Griechen die Lehre
von den Göttern und den göttlichen Dingen, und Theologe
derjenige, der eine Theogonie
dichtete, wie Hesiodos, oder über den Ursprung
der Dinge durch die
Götter spekulierte, wie
Empedokles.
In der alten christlichen Kirche nannte man einen
Theologen den, der die Gottheit
des Logos verfocht, z.B.
Johannes, Athanasius,
Gregor von Nazianz.
Seit Abälard (†
1142) bedeutet Theologie die
gelehrte Darstellung der gesamten Religionswissenschaft.
Die Scholastik
unterschied zwischen natürlicher und
geoffenbarter Theologie.
Die Fakultätswissenschaft der Theologie,
welche, wie besonders Schleiermacher (1768-1834)
dargetan hat, eine Vereinigung von historischen, philologischen und philosophischen
Kenntnissen ist und ihre dogmatische und ethische Seite hat, steht mit der Philosophie
und ihrer Geschichte im Zusammenhang.
Vergleiche Katholizismus
und Philosophie, Protestantismus
und Philosophie.
Kant (1724-1804) teilt
die Theologie, die Erkenntnis
des Urwesens,
in die aus Offenbarung
(revelata) und aus bloßer Vernunft
(rationalis) (Kr. d. r. V. S. 631). Die
letztere ist entweder transzendental
(Deismus), wenn Gott
nach reinen Anschauungsbegriffen als Urwesen
und Weltursache gedacht wird (Proleg.
S. 171), oder natürlich (Theismus),
wenn Gott analogisch-anthropomorphistisch
nach Erfahrungsbegriffen als Welturheber erkannt
wird (Proleg. S.173).
Der Deismus ist
entweder Ontotheologie, d.h.
Erkenntnis Gottes aus bloßen Begriffen
(Kr. d. r. V. S. 592 ff.) oder Kosmotheologie,
wenn Gott aus dem Dasein
einer Welt überhaupt
und ihrer Zufälligkeit erschlossen
wird (Kr. d. r. V. S. 603ff.).
Der Theismus
ist entweder Physikotheologie, d.h.
die Erkenntnis Gottes als Urhebers
der in der natürlichen Sinnenwelt vorhandenen Ordnung und Vollkommenheit
(Kr. d. r. V. S. 620 ff.), oder Moraltheologie,
d.h. die Erkenntnis Gottes aus der praktisch
notwendigen
sittlichen Ordnung
der Welt (Kr.
d. pr. V. S. 5, S. 223 ff.)
Vgl. R. Hagenbach, Encyklopädie d. theol. Wissenschaft. 9. Aufl. 1874.
Theophanie
(gr. theophaneia = Erscheinung eines Gottes)
S. 631 Siehe
auch bei Eisler
heißt in der christlichen Lehre die Selbstoffenbarung
Gottes in der Natur
und in der menschlichen Vernunft.
Theorie
(gr. theôria)
S. 632f.
eigentlich Betrachtung, Beschauung, bezeichnet ursprünglich das Anschauen
dessen, was nicht Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung ist, sodann allgemein die
wissenschaftliche Erkenntnis und das Verständnis überhaupt.
Die Theorie steht also im Gegensatz einerseits zu der Erfahrung (Empirie), andrerseits
zu der Praxis. Sie strebt zunächst im Gegensatz zur Erfahrung danach, die
einzelnen Beobachtungen des Empirikers unter allgemeine Gesetze zu bringen,
welche nicht erfahren werden können, sondern durch Nachdenken gefunden
werden müssen. So spricht man von einer Theorie desEmpfindens, Denkens
usw., von einer Theorie des Lichtes, der Bewegung, des Blutumlaufs, um anzudeuten,
dass in gewisse Tatsachen der Psychologie, Physik, Physiologie usf. durch Aufstellung
von Gesetzen Einheit, Zusammenhang und Klarheit gebracht werden kann.
Jede Theorie beruht auf einem Grundgedanken (Prinzip), den aufzustellen selten
dem Studium, meist der glücklichen Kombination gelingt.
Fortwährend bedarf jede Theorie der Kontrolle durch die Erfahrung; solange
sie mit dieser nicht vollständig stimmt, darf sie nur auf den Namen einer
Hypothese Anspruch machen.
Eine Theorie ist mehr oder weniger tief, je nachdem sie sich mit näheren
Erklärungsgründen beruhigt oder bis zu den letzten Prinzipien emporsteigt;
immerhin ist sie mehr oder weniger philosophisch. –
Im Gegensatz zur Praxis (s. d.) bezeichnet Theorie die Erkenntnis an sich, ohne
die Absicht, sie zu gewissen Zwecken zu verwenden.
Weil diese Anwendung oft recht schwierig ist und nicht gelingen will, sagt man
wohl, es sei etwas in der Theorie (in thesi) richtig, aber in der Praxis (in
praxi) falsch.
Kant (1724-1804) hat hierüber 1793 eine Abhandlung geschrieben, in der
er die Verderblichkeit der Maxime, Theorie und Praxis zu trennen für Moral,
Staats- und Völkerrecht nachweist. Und in der Tat, was theoretisch richtig
ist, muss auch praktisch durchgeführt werden. Wo sich dies als unmöglich
herausstellt, liegt es entweder an der Unvollständigkeit der Theorie, oder
an der Ungesundheit der praktischen Verhältnisse, oder auch (und zwar meistens)
an der Feigheit und Gleichgültigkeit der Menschen. –
In der Philosophie hat das Begriffspaar theoretisch und praktisch aber noch
den besonderen Sinn, dass jenes als ein Prädikat der Erkenntnis an sich
gilt, die kein anderes Interesse, als das wissenschaftliche hat, praktisch dagegen
diejenige Beurteilung der Dinge heißt, welche den Wert oder Unwert der
Dinge ins Auge fasst, ohne ihr Wesen und ihre Ursachen zu untersuchen.
Die praktische Philosophie hat diejenigen Begriffe aufzustellen, welche den
Maßstab für unser Wollen und Handeln abgeben, besonders auf juristischem,
ethischem, religiösem und ästhetischem Gebiet. Die zwei Hauptwerke
Kants würden daher mit ihrem vollen Titel lauten: Kritik der reinen theoretischen
Vernunft und Kritik der reinen praktischen Vernunft, während die von Kant
gewählten Titel einen schiefen Gegensatz bilden. –
Die Ausdrücke theoretisch und praktisch erscheinen zuerst bei Aristoteles
(384-322) als Gegensätze. Er unterscheidet
die theoretische und praktische Vernunft (dianoia
theôrêtikê - dianoia praktikê). Jene hat
es mit der Erkenntnis der großen Welt und ihren ewigen Ordnungen, diese
mit dem Wechsel und Wandel der menschlichen Dinge zu tun (Metaph,
V, 1 p. 1025, b 25).
In der neueren Philosophie hat Ch. Wolf (1679-1754)
die Unterscheidung theoretischer und praktischer Philosophie durchgeführt
und wie Aristoteles der Theorie den Vorzug gegeben
(Logica § 92).
Auch Kant (1724-1804) hält
an dem Gegensatz fest, stellt aber die Lehre vom Primate der praktischen Vernunft
über die theoretische auf und räumt damit den Intellektualismus des
Altertums hinweg.
Ihm folgt J. G. Fichte (1762-1814),
dem die praktische Vernunft die Wurzel aller Vernunft ist. In der Geschichte
der Ausdrücke liegt die Geschichte des tieferen Problems, »ob der
Welterkenntnis oder dem sittlichen Handeln die Führung unseres Lebens und
die Beherrschung unserer Überzeugungen gebühre«
(Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipzig 1904. S. 39 ff.)
Vergleiche Praxis, Voluntarismus.
Theosophie
(gr. theosophia von theos
= Gott und sophia = Weisheit)
S. 633f. Siehe
auch bei Eisler
eigentlich Gottes-Weisheit, heißt
diejenige religiöse Richtung, welche durch die Innigkeit ihrer religiösen
Gefühle zur mystischen Vereinigung mit Gott
und zu einer unmittelbaren Erkenntnis seines
Wesens
gelangen zu können meint.
Von der Theologie
unterscheidet sie sich dadurch, dass sie die Erkenntnis
Gottes nicht
auf dem Wege des vermittelten Erkennens, sondern durch die Intuition,
d.h. durch die Phantasie
und das Gefühl,
anstrebt. Sie ist eine Art der Mystik.
Ihre Erzeugnisse, wenn auch voll tiefsinniger Ideen, sind mehr Bilder als Begriffe,
mehr Ahnungen als Erkenntnisse; vieles in ihr muss als
krause Phantastik bezeichnet werden.
Theosophisch war der Neuplatonismus
und die Gnosis;
Theosophen waren Kaspar
Schwenckfeld († 1561), Valentin
Weigel (†1588), Jakob
Böhme († 1624), St.
Martin (†1804) und Franz
v. Bader († 1841).
These
(gr. thesis) S.
634
oder Thesis heißt ein Satz,
der des Beweises
bedarf, also eine Behauptung; in thesi heißt:
im Satz, in der Regel, im Allgemeinen.
Nach Hegels (1770-1831)
dialektischer Methode
erhebt sich der fortschreitende Begriff
aus Thesis und Antithesis zur Synthesis.
Thetik nennt Kant
(1724-1804) einen Inbegriff dogmatischer Lehren;
thetisch heißt dogmatisch.
Vergleiche Antinomie.
total
(lat. totus =
ganz) S. 642f.
völlig, ist der Gegensatz
von partial [anteilig].
Totalität des Urteils
bezeichnet die Universalität oder Allheit
seines Subjektes.
Einem Kunstwerk schreibt man Totalität
zu, wenn es alle Beziehungen
der Idee, welche
es darstellt, zur Anschauung
bringt. Um jene zu beurteilen, muss man daher diese ordentlich kennen.
Trägheit
S. 643
heißt in der Mechanik und Physik
die Eigenschaft
der Materie, kraft
deren sie im Zustande der Ruhe oder Bewegung, in welchem sie sich befindet,
beharrt, wenn keine entgegenwirkende Kraft
auf sie einwirkt. Das Gesetz der Trägheit
(lex inertiae) lautet:
»Ein ruhender Körper fährt fort zu ruhen, wenn nicht eine Ursache
ihn bewegt, und ein bewegter Körper fährt fort, sich in gleicher Richtung
und Geschwindigkeit zu bewegen, wenn nicht eine Ursache diese Richtung oder
Geschwindigkeit ändert oder aufhebt.«
Da nun die einwirkende Kraft eine Rückwirkung
von dem anderen Körper erleidet, so hat man diesen Widerstand als Kraft
der Trägheit (vis inertiae)
bezeichnet.
Erst die neuere Naturwissenschaft hat dieses Gesetz aufgestellt; dem Aristoteles
war es unbekannt. –
Im moralischen Sinne ist Trägheit die Unlust zur Arbeit und die Neigung,
sich nicht anzustrengen.
Nach J. G. Fichte (1762 bis
1814) ist die Trägheit das Radikalböse
im Menschen.
Transzendent,
transzendental, Transzendenz S. 646ff.
sind die Bezeichnungen für zwei verwandte, aber doch sehr verschiedene
Begriffe. Beide
kommen von lat. transscendo,
überschreite, her. Das Transzendente
ist dasjenige, was unsere Erfahrung
überhaupt überschreitet, eine
transzendente Erkenntnis
sucht also das Wesen
der Dinge, die Dinge
an sich zu erfassen, was uns immer nur hypothetisch
möglich
ist.
Kant (1724-1804) bezeichnet
als transzendent daher dasjenige, von dem wir auch
nicht einmal den Begriff
hinreichend bestimmen können, weil ungewiss sei, ob ihm irgend ein
Gegenstand in der Welt entspreche. Dazu rechnet er Aussagen über das Wesen
der Seele, der Welt,
Gottes usf.
Hierher würden also alle metaphysischen
und spekulativen
Lehren zu rechnen sein. Vgl.
Kr. d. r. V., S. 296; 643. Proleg. S. 105-106. -
Ganz etwas anderes bedeutet transzendental.
Kant bezeichnet als transzendental
alle Erkenntnis
a priori, die sich nicht
mit den Dingen selbst, sondern mit der Erkenntnis
derselben, sofern sie a
priori möglich sein soll, beschäftigt.
So ist Transzendentalphilosophie dasselbe
wie Erkenntnistheorie innerhalb der Grenzen der
reinen Vernunft (vgl. Kr. d. r. V., Einleitung S.
1-16); transzendentale Ästhetik
und Logik ist
die Untersuchung unserer sinnlichen und begriffsmäßigen Erkenntnis,
soweit sie unabhängig von der Erfahrung ist;
transzendentaler Idealismus
(der Gegensatz zum empirischen) ist die Lehre, nach welcher wir alle
Erscheinungen
insgesamt als bloße Vorstellungen
und nicht als Dinge an sich
anzusehen und demgemäß Raum
und Zeit nur für sinnliche Formen
unserer Anschauung,
nicht aber für gegebene
Bestimmungen
oder Bedingungen
der Objekte, für
Dinge an sich zu betrachten haben.
Der transzendentale Realismus sieht dagegen Raum
und Zeit als etwas unabhängig von unserer Sinnlichkeit Gegebenes
an, stellt mithin die äußeren Erscheinungen
als unabhängige Dinge an sich
vor.
Der transzendentale Idealist ist also ein empirischer
Realist, während der transzendentale Realist
empirischer Idealist sein muss. Denn wenn die äußeren Dinge
unabhängig von ihm existieren, so kann er nie wissen, ob irgend einer Vorstellung
von ihm ein wirkliches Ding entspreche. Das
Wirkliche, welches den Erscheinungen zugrunde
liegt, bleibt mithin für Kant ein
X. –
Der Gegensatz
zum Transzendentalen ist das Empirische,
der Gegensatz zum Transzendentalen
ist das Immanente.
Es gibt transzendentale Begriffe und empirische
Begriffe.
Ein transzendenter Gott
ist erhaben, gesondert
von der Welt, außer
und über ihr; ein immanenter
Gott befindet sich
in ihr. –
Durch seinen Begriff der
transzendentalen Freiheit sucht Kant
Determinismus
und Indeterminismus zu. versöhnen. Die sittliche
Freiheit soll
mit ihrem Ursprung
außer, mit ihren Wirkungen aber innerhalb der Reihe empirischer
Bedingungen stehen. Die Wirkung
wäre ihrer Ursache nach frei,
als Erscheinung aber dem Kausalnexus und der Notwendigkeit
unterworfen. Der Mensch hätte die Fähigkeit, eine Kette von neuen
Wirkungen hervorzurufen, ohne dass sein Wille
kausal bestimmt
wäre. Diese Auffassung ist jedoch künstlich und darum unhaltbar.
–
In der Mathematik
versteht man unter transzendenten Zahlen im Gegensatz
zu den algebraischen Zahlen (die Wurzeln einer Gleichung
von der Form a[n]zn a[n-1]z n-1 + ... + a[1]z1 + a[0] = 0 sind) seit
Leibniz (1686) solche
irrationale Zahlen, »die durch keinerlei Gleichungen
bestimmten Grades erklärt werden, vielmehr über jede algebraische
Gleichung hinausgehen«. Vgl. Job. Tropfke,
Geschichte der Elementarmathematik. Leipzig 1902. Bd. II, S. 161-163.
Vergleiche: Freiheit,
Determinismus,
intelligibel.
Transzendenz
der Gegensatz von Immanenz,
bedeutet logisch
das Hinausgehen über die Erfahrung,
theologisch Gottes
Erhabenheit über die Welt.
Traum/Träumen
S. 647ff.
Träumen
heißt die Tätigkeit der Seele im Schlafen.
Vielleicht träumen wir während des ganzen Schlafes, jedenfalls aber
oft gegen Morgen, kurz vor dem Erwachen. Das Eigentümliche des Traumes
ist: Die Sinne funktionieren, aber die Sinnenreize
sind mehr zentrale und entstammen
weniger der Außenwelt,
so daß man nicht wirkliche Wahrnehmungen
hat, sondern phantastische Illusionen
und Halluzinationen.
Die Vorstellungen
treten bunt und regellos auf, unkontrolliert durch
die Wirklichkeit
und die Arbeit der Apperzeption,
und nur durch die assioziativen
Gesetze der Reproduktion
bestimmt. Die Schranken von Raum
und Zeit verschwinden, unsere Kräfte scheinen zu wachsen, wir glauben
z.B. fliegen zu können, hören uns beredt sprechen, wissen viel mehr
als sonst, versetzen uns in die entferntesten Gegenden, unterhalten uns mit
Abgeschiedenen, hören wunderbare Musik, schauen
herrliche Landschaften usw.; oder wir haben schwere Beängstigungen,
sind im heftigen Streit mit Nahestehenden, begehen Verbrechen, deren wir uns
selbst anklagen, sind Gefahren ausgesetzt, können
zu einem bestimmten Ziel nicht gelangen, sind mitten
in der Gesellschaft mangelhaft bekleidet usw.; aber alles dies ist Illusion
und sensorische Funktion; unsere äußeren
Willenshandlungen fehlen dagegen meist ganz.
Der Traum als Ganzes hat stets
etwas Seltsames, Barockes an sich; denn die Einheit
des Bewußtseins
ist locker; er wirft Personen und Sachen, Zeiten und Örter durcheinander,
läßt sie plötzlich eintreten und wieder verschwinden, zerlegt
unser Ich in zwei
oder mehrere Teile, verschiebt, ja verzerrt unsere Vorstellungen;
er befreit uns von den Rücksichten des Wachens und
kombiniert oft merkwürdig treffend. Daher fällt uns im Traum
manchmal eine Lösung einer schwierigen Aufgabe
ein; im Traum kommt auch unsere
Innerste Psyche zu Worte;
uralte Erinnerungen
und Wünsche, Hoffnungen und Gewissensbisse, Neigungen und Leidenschaften
werden darin laut. Daher kann er eine erschütternde
und mahnende Bedeutung für den haben, den er heimsucht. –
So ist der Traum ein eigenes, illusionäres
Leben, das sich neben das Leben im Wachen stellt und diesem
gelegentlich den Rang streitig macht. Daher das poetische Doppelmotiv, das Leben
als einen Traum, den Traum als ein Leben darzustellen
(Calderon, Grillparzer).
Die Grundlagen, auf denen die
Träume beruhen, sind: Körperliche
Reize (Druck, Wärme, Kälte, Magenbeschwerden,
Atembeschwerden u. dergl.), Nervenreize,
sowohl äußere wie innere (Gerüche, Geräusche),
wobei die Phantasie
die kühnsten Deutungen vornimmt, Empfindungs- und Vorstellungsreste vom
vorhergehenden Tage, unsere ganze Stimmung in physiologischer, psychischer und
ethischer Hinsicht. –
Ein besonderes Traumorgan mit
Schopenhauer anzunehmen, ist überflüssig.
Vergleiche: Somnambulismus,
Hypnose
Strümpell, Nat. n. Entstehung d. Träume,
Lpz. 1874. Spitta, Schlaf- und Traumzustände d. Seele, Tübingen 1878.
Wundt, Grundriß d. Psychol., Leipzig 1905, § 18, 7, S. 335 ff.
Treue
S. 649
ist die feste Gesinnung und Zuverlässigkeit
eines Menschen im Verkehr mit anderen. Sie findet ihren Platz überall,
wo der Mensch Pflichten
unterworfen ist, ein gegebenes Wort zu halten hat, und vor allem im Verkehr
der Ehe und der Freundschaft. Ein treuer Mensch erfüllt seine Pflichten
unaufgefordert, rechtfertigt das in ihn gesetzte Vertrauen und bemüht sich,
die Erwartungen, die andere von ihm haben, zu erfüllen. Ein treuer Mensch
bricht nie sein Wort, die Ehe ist ihm heilig, und an dem einmal gewählten
Freunde hält er unverbrüchlich fest.
Treue ist ohne Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit,
ohne Gewissenhaftigkeit
und Selbstzucht nicht möglich.
Auf die Treue, die »jedem
Menschen wie der nächste Blutsfreund« ist (Schiller,
»Wallensteins Tod« I, 6), sind wir alle angewiesen im Staat,
im Verkehr, in der Ehe, in der Freundschaft usf.
Demgemäß sagt die Bibel: ginou pistos achri
thanatou, kai dôsô soi ton stephanon tês zôês
(Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir
die Krone des Lebens geben, Apokal. 2, 10), und das einfache herzliche
Wort Höltys bleibt ebenso berechtigte Mahnung: »Üb'
immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab!« wie Walthers
Wort wahr bleibt: er saelic man, si saelic wîp,
der herzen einander sint mit triuwen bî. Berühmte Vorbilder
der Treue sind die dreihundert Lakedaimonier in
den Thennopylen.
Trieb
S. 649f.
heißt das der Art nach bestimmte, dem Objekt nach
unbestimmte Streben, welches ein Individuum vom ersten Moment seines
Daseins an nötigt, das ihm Unentbehrliche
aufzusuchen. Durch Triebe unterscheiden
sich das Tier und der Mensch von der Pflanze; sie haben eine Empfindung ihres
Bedürfnisses und die freie Beweglichkeit, das, wodurch jenes befriedigt
wird, aufzusuchen und zu ergreifen. Unbewusst, aber zweckmäßig leitet
der Trieb das Tier und den Naturmenschen; klar
ist dabei nur die Unlust und der Drang sie zu beseitigen, unklar, auf welche
Weise es zu geschehen habe. Doch liegt im Organismus der Weg im Allgemeinen
vorgezeichnet. Denn die durch Unlust gereizten Empfindungsnerven lösen
in den motorischen Nerven gewisse Reflexbewegungen aus, welche zur Befriedigung
des Bedürfnisses führen. Die Triebe gehören
zu dem, was der Anlage nach vererbt wird.
Sämtliche Triebe lassen sich zusammenfassen
als Selbsterhaltungstrieb und als
Gattungstrieb.
Der Selbsterhaltungstrieb schließt den
Nahrungs- und Schutztrieb, der Gattungstrieb
den Geschlechtstrieb, die
elterlichen und sozialen Triebe in sich ein.
Zu den sozialen Trieben gehören unter anderen
die sittlichen Triebe und der
Nachahmungstrieb. (Wundt, Grundz. d. phys.
Psych. II S. 410 ff.)
Trugschluss
(gr. sophisma)
S. 651f.
heißt ein formal unrichtiger Schluss,
der mit der Absicht, einen anderen zu täuschen, gemacht wird, während
Fehlschluss
(Paralogismus) einen falschen
Schluss bezeichnet, bei dem wir uns wider Willen
selbst täuschen.
Beide beruhen auf Fehlern in der Begriffsvergleichung (vgl. Schluss) oder auf
Mehrdeutigkeit ein und desselben Begriffs, besonders des Mittelbegriffs. Zu
jenen gehören: der Schluss mit negativem Untersatz in der ersten Figur,
mit affirmativen Prämissen in der zweiten, mit allgemeinem Schlusssätze
in der dritten Figur und der Schluss vom Folgesatz auf den vorhergehenden bei
kategorischer und hypothetischer Schlussform.
Die Fehler der zweiten Art teilte schon Aristoteles
ein in solche secundum dictionem
(para tên lexin)
und extra dictionem (exô
tês lexeôs).
Zu jenen rechnet man die, welche beruhen
a) auf Homonymie
(Verwechslung verschiedener Bedeutungen
desselben Wortes),
b) auf
Prosodie (Verwechslung
ähnlich klingender, aber anders akzentuierter Worte),
c) auf Amphibolie
(Missdeutung doppelsinniger syntaktischer
Formen),
d) auf Verwechslung
verschiedener Flexionsformen und Redeteile.
Beispiele sind zu
a) Ein Arzt erklärt, einen Erschlagenen habe
der Schlag getroffen,
b) Ein Weib nur zu besitzen ist seiner Leidenschaft
Ziel.
c) 5 ist 2 und 3, also zugleich gerade und ungerade,
d) In Platons »Gorgias«
steht: »Hast du einen Hund? - Ja. Hat er Junge? Ja. - Ist er der Vater
der Jungen? Ja. Also dein Hund ein Vater und dein Vater ein Hund!«
Außerdem zählt Aristoteles noch. sieben
Arten von Begriffsverwechslungen (extra dictionem)
auf:
1. Fallacia
ex accidente (para to symbebêkos),
Verwechslung des Merkmals, z.B.:
Nicht wahr, Phädon ist nicht Sokrates? Nein. - Aber Phädon ist doch
ein Mensch? Ja. - Und Sokrates doch auch? Ja. - So ist also Phädon doch
Sokrates.
2. Fallacia
a dicto secundum quid ad dictum. simpliciter (to
hapolôs ê mê haplôs), wenn
Nebenbestimmungen übersehen oder verwechselt werden.
Vgl. z.B. den »Verhüllten«
des Eubulides und den Sorites.
3. Ignoratio
elenchi (hê tou elenchou agnoia),
d.h. die Nichtbeachtung des Widerspruches.
4. Fallacia
consequentis (para to epomenon),
der bejahende Schluss von der Folge auf den Grund.
5. Petitio
principii (para to en archê lambanein),
bei welcher der Schlusssatz schon in
den Prämissen vorausgesetzt wird.
6. Fallacia
de non causa ut causa (to
mê aition hôs aition tithenai), d.h.
Annahme eines falschen Erklärungsgrundes, wie bei
falschen Hypothesen.
7. Fallacia
plurium interrogationum (to ta pleiô
erôtêmata hen poiein), die
verfängliche Verbindung mehrerer Fragen, z.B. : Sind die
Planeten näher an der Erde oder weiter von ihr als die Sonne?
Alle Trugschlüsse der zweiten Art enthalten
eine mehr oder minder versteckte Quaternio
terminorum (Vierzahl von Hauptbegriffen)
oder einen Sprung
im Schließen (saltus
in concludendo).
Merkwürdigerweise sind manche Sophismen dieser Art von den Alten für
unauflöslich gehalten worden, z.B. der Krokodilschluss und der Lügner,
über den der Stoiker Chrysippos sechs verschiedene
Bücher geschrieben und Philetas sich zu Tode
studiert haben soll. Dieses Sophisma des Eubulides
lautet: Wenn jemand sagt, er lüge eben jetzt, lügt
ein solcher, oder sagt er die Wahrheit? Oder: Alle Kreter sind Lügner.
Du, der du das sagst, bist aber selbst ein Kreter, also hast du gelogen, also
sind nicht alle Kreter Lügner usw.
Ähnlich ist der Satz: Keine Regel ohne Ausnahme -
dieser ist selbst eine Regel, folglich hat auch er Ausnahmen, folglich gibt
es eine Regel ohne Ausnahme. -
Vgl. Aristoteles' Schrift peri
tôn sophistikôn elenchôn. . Cajus,
Antibarbarus Logicus. 1851.
Tugend
(lat. virtus, gr.
aretê), S. 652ff.
eigentlich Tauglichkeit, Tüchtigkeit, ist die sittliche Beschaffenheit
des menschlichen Wollens und Handelns. Während das Ziel des sittlichen
Handelns das sittliche Gut, die Verbindlichkeit hingegen danach zu streben die
Pflicht ist, bezeichnet die Tugend die Kraft des Menschen, sich und sein Handeln
den sittlichen Pflichten und Zielen gemäß zu gestalten.
Nach Sokrates (469-399), welcher meinte, die Tugend sei lehrbar und niemand
tue freiwillig das Böse, gibt es im Wesentlichen nur eine Tugend, die Weisheit
(Intellektualismus).
Ähnlich lehrte Platon (427-347), der im Anschluss an seine Seelenlehre
vier Kardinaltugenden aufstellte, die Tugend sei die Tauglichkeit der
Seele zu dem ihr zukommenden Werke.
Aristoteles (384-322) betrachtete die aus der natürlichen Anlage durch
wirkliches Handeln herausgebildete Fertigkeit zu vernunftmäßiger
Tätigkeit des Menschen als Tugend; die Tugenden teilte er in ethische und
dianoëtische.
Die ethische Tugend definierte er als diejenige dauernde Willensrichtung, welche
die uns entsprechende Mitte einhält, d. i. die Unterwerfung der Begierde
unter die Vernunft. So ist Tapferkeit die Mitte zwischen Feigheit und Verwegenheit,
Mäßigkeit die Mitte zwischen Genusssucht und Stumpfsinn, Freigebigkeit
die Mitte zwischen Verschwendung und Kargheit.
Die höchste der ethischen Tugenden ist die Gerechtigkeit, welche im weiteren
Sinne jene alle umfasst, im engeren auf das Angemessene in Hinsicht auf Gewinn
und Nachteil geht. Letztere ist entweder distributiv, sofern sie Besitztümer
und Ehren zu verteilen hat, oder kommutativ, sofern sie es mit Verträgen
und mit dem Ausgleich zugefügten Unrechts zu tun hat.
Die dianoëtische Tugend dagegen ist das richtige Verhalten der theoretischen
Vernunft teils an sich, teils in Bezug auf die niederen psychischen Funktionen;
diese Tugenden sind: Vernunft, Wissenschaft, Kunst und praktische Einsicht.
Nach den Stoikern ist die Tugend und das höchste Gut dasselbe; beides besteht
im natur- und vernunftmäßigen Leben. Daher trägt auch die Tugend
ihren Lohn in sich selbst. Da somit ihre Grundlage die Vernunft ist, scheint sie den Stoikern unverlierbar; auch gibt
es nach ihrer Auffassung zwischen Tugend und Laster kein Mittleres. Doch ist
die Tugend stets zugleich theoretisch und praktisch.
Demgemäß stellte die Stoa die vier Kardinaltugenden auf: Einsicht,
Tapferkeit, Gerechtigkeit und Besonnenheit, die sie wieder in Unterarten schied,
z.B. die Tapferkeit in: Ausharren, Unverzagtheit, Seelengröße, Mut
und Arbeitsliebe. (Diog. Laert. VII, § 81 ff.)
Nach Epikuros (341-270) ist die Haupttugend die richtige Einsicht bei der Abwägung
von Lust und Unlust, die sich an eine Handlung knüpfen kann. Die Tugend ist also der einzig mögliche, aber auch ganz sichere Weg zur Glückseligkeit. (Diog. Laert. X, § 138.)
Plotinos (205-270), der die Tugend mit Platon als Verähnlichung mit Gott bezeichnet, unterscheidet bürgerliche, reinigende und vergöttlichende
Tugenden. –
Augustinus (353-430) definiert die Tugend als Gehorsam und Liebe gegen Gott, die dieser in uns ohne unser Zutun hervorbringt; sie entfalte sich zu den vier
heidnischen Kardinaltugenden, zu denen aber beim Christen noch drei theologische:
Glaube, Liebe und Hoffnung träten.
Petr. Lombardus († 1160) lehrte ebenso, nur bestimmt er die Tugend als
die richtige Beschaffenheit des auf das Gute gerichteten Willens.
Abälard (1079-1142), sein Zeitgenosse, nennt die Tugend den zur bleibenden
Eigenschaft gefestigten guten Willen.
Thomas von Aquino (1225-1274) kombiniert die Ideen des Aristoteles, Augustinus und Plotinos, indem er im ganzen zehn Tugenden aufstellt:
a) intellektuelle oder dianoëtische Tugenden, nämlich Weisheit, Wissenschaft
und Erkenntnis;
b) moralische, nämlich die vier antiken Kardinaltugenden,
die als rein moralische, politische, reinigende, erhebende und vorbildliche
erscheinen;
c) die drei theologischen. –
Melanchthon (1497-1660), der Verfasser der ersten protestantischen Ethik, fasst
die Tugend als die Neigung, der richtigen Vernunft zu gehorchen.
Ähnliches lehrt Cartesius = Descartes (1596 bis 1650) da, wo er einmal Ethisches
berührt.
Spinoza (1632-1677) kommt durch eine eigentümliche Ableitung auf einen
der stoischen Lehre verwandten Standpunkt. Da nach ihm alles das gut ist, was
uns nützt, so ist Tugend die Fähigkeit, das unserer Natur Entsprechende
zu tun.
Dies aber ist die Erkenntnis Gottes; diese lehrt mich nicht nur mit meiner eigenen
Natur, sondern auch mit derjenigen anderer in Übereinstimmung zu sein.
Ähnliche Lehren finden sich bei Leibniz (1646-1716): Da die Weisheit die
Wissenschaft der Glückseligkeit ist, diese aber nur in dauernder Lust beruht,
welche aus unserer oder fremder Vollkommenheit entspringt, so ist die Tugend
eine gewisse Kraft des Geistes, welche uns zur Ausführung des als recht
Erkannten treibt.
Chr. Wolf (1679 bis 1754) zog diese Sätze dahin zusammen, dass er sagte,
die Tugend sei die Fertigkeit, seinen Zustand immer vollkommener zu machen.
Kant (1724-1804) definierte: »Tugend ist die moralische Stärke des
Menschen in Befolgung seiner Pflicht, die niemals zur Gewohnheit werden, sondern
immer ganz neu und ursprünglich aus der Denkungsart hervorgehen soll«
(Anthrop. § 10 S. 35), und: »Tugend ist die Stärke der Maxime
des Menschen in Befolgung seiner Pflicht« (Metaph. d. Sitten II, S. 28).
Ähnlich fasst J. G. Fichte (1762-1814) die Tugend als den ein für
allemal sittlichen Charakter.
Hegel (1770 bis 1831) definiert sie als sittliche Virtuosität; sie ist
Einsicht und Charakter.
Herbart (1776-1841) sagt, Tugend bedeute den inneren Wert derjenigen Person,
welche die sämtlichen Regeln des Handelns kenne und beobachte.
Nach Schopenhauer (1788-1860), welcher die Tugend nicht für lehrbar ansieht,
geht sie zwar von der Erkenntnis aus, aber nicht von der abstrakten, sondern
der intuitiven, so dass sie gewissermaßen wie das Genie angeboren ist.
Formal lässt sich die Tugend definieren als die Kraft der sittlichen Gesinnung
und Betätigung des Menschen. Inhaltlich empfängt sie im einzelnen
ihre Bestimmung aus den Beziehungen des Menschen zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen
und zu Gott aus der Erfahrung heraus. Über die Einteilung der Tugenden
s. Kardinaltugenden.
Vgl. Pflicht, höchstes Gut.
Tugendlehre
S. 655
heißt derjenige Teil der Ethik,
welcher von den Tugenden handelt, oder, wie Kant (1724-1804) sagt, die Wissenschaft von den notwendigen sittlichen Gesetzen eines freien Willens
unter den subjektiven
empirischen Hindernissen.
Tugendpflichten
(lat. officia honestatis) S.
655
sind nach der älteren
Ethik solche Pflichten,
die bloß dem freien Selbstzwange, nicht dem
anderer Menschen entstammen. Vergleiche
Pflicht.
Tuismus
(nlt., abgeleitet
von tu = du) S.
655
heißt soviel als Altruismus.
Übermensch
S. 657 Siehe
auch bei Eisler
nennt in Goethes Faust (I)
der Erdgeist Faust.
Nietzsche (1844-1900) sieht
in der Züchtung des Übermenschen das
Endziel der menschlichen Entwicklung.
Mit dem Begriff Übermensch wird in der Gegenwart in Ernst und Scherz viel
Unfug getrieben. Es ist eins der Modewörter des Modernen geworden.
übernatürlich
(lat. supernaturalis) oder hyperphysisch (gr.)
S. 657
bezeichnet den Gegensatz von
natürlich, mithin
1. das Ungewöhnliche,
welches von dem Alltäglichen abweicht, z.B.
eine besondere Steigerung und Vereinigung physischer oder
geistiger Kräfte, wie in Goethe u.
a.;
2. das von den bisher bekannten Naturgesetzen Abweichende;
3. das Geistige,
Übersinnliche, Göttliche. Vgl. Natur, Gesetz, Wunder.
übersinnlich
S. 657
bedeutet
1. dasjenige, was mit den Sinnen
nicht erfasst werden kann;
2. was über die Sinnenwelt
überhaupt hinausgeht, also das Geistige, die
Welt der Ideen.
Überzeugung
(lat. persuasio) S.
658
heißt die durch eigenes Urteilen gewonnene Einsicht oder das auf Gründe
gestützte Fürwahrhalten. Das Fürwahrhalten hat verschiedene Grade,
welche man als Wähnen, Meinen, Glauben und Wissen bezeichnet. Nur von dem,
was durch subjektiv und objektiv zureichende Gründe gestützt wird,
können wir fest überzeugt sein; und nur was wir uns durch eigenes
Nachdenken erarbeitet haben, wird als unumstößliche Überzeugung allen Einwürfen trotzen. Denn die Überzeugung ist nicht bloß
Sache der Einsicht oder gar des Gefühls, sondern zum großen Teil
auch des Willens. Kommt schon keine Erkenntnis zustande ohne Anwendung des Willens,
so ist erst recht eine Überzeugung vor allem das Werk der sittlichen Persönlichkeit,
welche im allgemeinen den Wert der Wahrheit zu schätzen weiß und
insbesondere diese oder jene Wahrheit als für sie wertvoll ergreift. Darum
ist jede Weltanschauung der Ausdruck des betreffenden Charakters,
der sie verteidigt. –
Der Plural Überzeugungen bedeutet Wahrheiten
oder Grundsätze.
Umfang
(lat. ambitus, gr. sphaira) S.
658f.
eines Begriffs heißt die Gesamtheit derjenigen Gegenstände, die in sein Gebiet fallen, von denen er also als Prädikat gebraucht werden kann.
Die Einteilung des Umfangs eines
Begriffs nennt man Divisio. Ein
Begriff hat Umfang, sofern er andere Begriffe unter sich befasst, z.B. der Begriff
des Tieres den des Affen, Löwen, Hundes usw. Je mehr Begriffe ein Begriff
unter sich befasst, desto weiteren Umfang hat er. Jene stehen zu ihm im Verhältnis
der Unterordnung (subordinatio); Begriffe,
welche demselben höheren untergeordnet sind, heißen nebengeordnet
(koordiniert).
Der höhere Begriff ist abstrakter und hat weniger Inhalt als der untergeordnete und konkretere.
Umfang und Inhalt eines Begriffs stehen daher im umgekehrten Verhältnis zueinander. Einzelbegriffe haben den kleinsten Umfang, weil sie sich nur auf ein Individuum beziehen, aber den größten Inhalt, weil ein Individuum stets mehr
Merkmale hat als eine Art oder Gattung.
Wechselbegriffe (notiones aequipollentes
oder reciprocae) nennt man die, deren Umfänge miteinander identisch sind; identische dagegen solche,
deren Umfang und Inhalt zusammenfällt. Vergleiche
Begriffe, Merkmal, konträr, disjunkt. –
Auch Urteilen schreibt
man einen Umfang zu, sofern sie sich auf mehr oder
weniger Objekte beziehen. Doch ist der Umfang des Urteils in Wirklichkeit
nur der Umfang seines Subjektes.
Den größten Umfang hat das allgemeine, geringeren
das partikuläre, den geringsten das singuläre Urteil. Vergleiche
Begriff, Urteil.
unbegreiflich
S. 660
nennt man das, was die Schranken des menschlichen
Erkenntnisvermögens überschreitet. Gerade je weiter jemand in der Erkenntnis der Dinge fortschreitet, desto mehr
wird er bereit sein, zuzugestehen, dass es Unbegreifliches gibt.
So behauptet Sokrates zu wissen,
dass er nichts wisse.
Nikolaus v. Cues (1401-1464) rühmte die docta ignorantia, d.h. die Erkenntnis
der Unwissenheit, und der Physiologe E. Dubois-Reymond
(1818-1896) hat in bezug auf die
sieben Welträtsel ausgesprochen: Ignorabimus
(wir werden es nicht wissen). Vgl.
Ignorabimus.
unbewusste
Vorstellungen S. 660f.
(d.h. in der Seele
vorhandene, aber nicht
zum Bewusstsein
kommende) Vorstellungen
werden von Descartes (1596-1650),
der das Denken zum Wesen der Seele erhob, abgewiesen.
Locke (1632-1704) verneinte sie ebenfalls in seiner Bekämpfung der angeborenen
Begriffe. In der
Seele oder im Verstande sein heißt nach ihm soviel als verstanden oder gewusst werden. Niemand kann daher nach seiner Auffassung eine Vorstellung haben, ohne von ihr zu wissen.
Leibniz (1646-1716) dagegen weist den unbewussten Vorstellungen in seinem System einen wichtigen Platz zu; jedem Vorgang im Leibe,
auch dem ganz unbewussten, entspricht ein solcher
in der Seele. Die Seele kann überhaupt nicht untätig sein; sie muss daher unbewusste Vorstellungen haben; an sie grenzen die »kleinen«
Vorstellungen, die den Grund der scheinbar willkürlichen Tätigkeit bilden, an diese erst die bewussten
Vorstellungen. Vergleiche
Okkasionalismus, angeboren, a
priori).
Kant (1724-1804) spricht
von dunklen Vorstellungen,
deren wir uns unmittelbar nicht bewusst sind (Anthrop.
§ 5 S. 16).
J. G. Fichte (1762-1814) nimmt
eine produktive Einbildungskraft an, durch deren unbewusste
Tätigkeit Widerstände und Hemmungen im Ich entstehen, so dass
dadurch der Schein einer selbständigen
Natur außerhalb
des Ichs hervorgerufen
wird.
Herbart (1776-1841) steht auf ähnlichem Standpunkte wie Leibniz.
Auch die neuere Psychologie hat die unbewussten
Vorstellungen eifrig verteidigt als die Form, in der sich die
organisch - vitalen Funktionen der Seele vollziehen.
Am weitesten geht hierin E. v. Hartmann; er sieht
in dem Unbewussten das in allen
Dingen wirksame Absolute und leitet das Bewusstsein aus der »Stupefaktion« des unbewussten
Willens über
die von ihm nicht gewollte und doch vorhandene
Existenz von Vorstellungen ab. Auch fasst er die unbewusste
Vorstellung anthropologisch so allgemein,
dass er solche nicht nur im Hirne,
sondern auch im Rückenmark und den
Ganglien annimmt. -
Vergleiche Vorstellung, Bewusstsein. –
Unbewusst werden tatsächlich fortwährend bewusste
psychische Inhalte im Flusse des psychischen Geschehens, sowohl Gebilde
von Vorstellungen und Gefühlen,
als auch ihre einzelnen Elemente. Sie können verschwinden und sukzessiv
wieder hervortreten. Mit der Bezeichnung »unbewusst« wird eben die Möglichkeit ihres Wiederauftretens, also eine Existenz-Anlage
(Disposition) bezeichnet.
Unding
S. 661
ist ein Begriff
einer Sache, die entweder nicht als existierend (non
ens) oder überhaupt nicht
gedacht werden kann (nonsens). Vergleiche
Nichts.
unendlich
(infinitus)
S. 661ff. Siehe
auch bei Eisler
nennt man dasjenige, was nach Zahl, Raum, Zeit,
Bewegung oder Masse ohne Schranken ist.
Es ist, wie Kant (1724-1804)
sagt, ein Quantum, dessen Größe sich durch keine vollendete Synthesis
seiner Teile messen lässt, oder eine Größe, deren Verhältnis
zu einer jeden beliebig anzunehmenden Einheit sich durch keine Zahl adäquat
bestimmen und ausdrücken lässt.
Unendlich sind Dinge nicht an sich, sondern nur dem Begriffe nach, sofern sie
in einer abgeschlossenen und fertigen Konstruktion nicht zusammengefasst werden
können. Kann zu einer Größe immer noch etwas hinzugedacht werden,
so entsteht das unendlich Große (das Zeichen ¥
rührt von dem englischen Mathematiker Wallis
[1616-1703] her, der es
1655 einführte),
kann stets noch etwas fortgedacht werden, das unendlich Kleine (e).
Das Unendliche ist nie in der Anschauung fertig, sondern nur im Begriff als
Aufgabe gegeben und besteht in der Idee der Möglichkeit einer unbeschränkten
Wiederholung eines Vorganges.
Der Begriff des Unendlichen wurzelt zunächst in der Zahlenreihe, bei der
ein Abschluss nicht zu finden ist. Es ergibt sich sodann, bei der Entwicklung
der Zeitvorstellung. Unsere Phantasie bildet z.B. vor- und rückwärts,
in die Zukunft wie in die Vergangenheit eine unendliche Zeitreihe, aus welcher
sich die Ewigkeit als ein Schema, welches das Nacheinander in eine Anschauung
zu bringen sucht, entwickelt. Auf drei Arten pflegt man sich die Ewigkeit vorzustellen:
als stetige Gegenwart (als nunc stans), als leere unendliche Zeitfolge oder
als endlich volle, aber unendlich rekurrente Zeitreihe.
Die erste Vorstellung finden wir bei den Neuplatonikern und Scholastikern, bei
Descartes (1596-1650) und Spinoza (1632-1677), ja selbst Kant (1724-1804) bezeichnet
die Ewigkeit als das Ende aller Zeit.
Die letzte Art der Vorstellung finden wir bei den meisten alten Völkern,
während die zweite z.B. von Leibniz (1646
bis 1716) vertreten wird, der die Ewigkeit als etwas Objektives, die
endliche Zeit hingegen als eine subjektive Vorstellung ansieht. An die Vorstellung
der unendlichen Zeitreihe schließt sich leicht die des unendlichen Raumes,
obgleich diese noch unvollziehbarer ist als jene, weil wir nach drei Dimensionen
zu gehen haben und selber dadurch den Eindruck des Grenzenlosen zerstören.
Daher greift die Phantasie gern zur unendlichen Zeitreihe zurück und hält
denjenigen Raum für unendlich, den auszumessen eine unendliche Zeit nötig
sein würde.
Schon Hobbes und Locke haben darauf hingewiesen, dass wir eigentlich gar keine
Vorstellung des unendlichen Raumes, sondern nur einen Begriff der Unendlichkeit
des Raumes besitzen. Vergleiche
Raum.
Übrigens ist ein Regress ins Unendliche (in infinitum) (s. d.) wohl zu
unterscheiden von einem solchen ins Unbestimmte (in indefinitum).
In der Philosophie ist oft Unendliches und Absolutes verwechselt worden.
So stellt Hegel (1770-1831)
der gewöhnlichen »schlechten Unendlichkeit«
die wahre gegenüber, wonach der Begriff als das allein Reale in sich selbst
seine eigene Negation erzeuge, in sein Gegenteil umschlage und somit seine Endlichkeit
aufhebe.
Aristoteles (384-322)
definiert das Unendliche (Unbegrenzte,
apeiron) als dasjenige, was der Größe nach nicht bestimmt
werden kann, was nie fertig und ganz ist, was sich nicht, so begrenzen lässt,
dass nicht immer ein Teil davon außerhalb läge (Phys.
III, 6 p. 207a 1: hou aei ti exô
esti, tout' apeiron estin). Das Unbegrenzte ist nach Aristoteles
nur ein Mögliches, aber nicht ein Wirkliches; Körper und Zahl
sind nicht unendlich; die Welt ist ein Vollendetes und Ganzes. Aber die Zeit
und Bewegung ist ohne Anfang und Ende, und die Zahl lässt sich ins Unendliche
vermehren; das Unendliche ist also kein Fertiges, sondern
nur ein Werdendes, ein Mögliches. -
Descartes (1596-1650)
unterschied zwischen dem Unbestimmten (indefinitum) und dem Unendlichen (infinitum).
Unbestimmt nannte er dasjenige, an dem man in gewisser Beziehung keine Grenze
erkennt (in quibus sub aliqua ratione finem non agnosco), unendlich dasjenige,
an dem überhaupt keine Grenzen existieren (in quo nulla ex parte limites
inveniuntur).
Locke (1632-1704) erklärt:
Endlich und unendlich werden von der Seele als Besonderungen der Größe
genommen und zunächst in ihrer ersten Bedeutung nur den Dingen beigelegt,
welche aus Teilen bestehen und durch Abnahme oder Hinzufügung selbst des
kleinsten Teiles der Verminderung oder Vergrößerung fähig sind.
Wundt (geb. 1832) erklärt, dass der absolute
Unendlichkeitsbegriff überhaupt nur in der Form eines von den erzeugenden
Operationen völlig abstrahierenden Postulates gedacht werden kann. Vgl.
Kurt Geißler, Die Grundzüge und das Wesen des Unendlichen. Leipzig
1902.
unterscheiden
S. 666
bildet eine der Grundtätigkeiten des Denkens.
Das Subjekt unterscheidet
sich selbst vom Objekt,
es unterscheidet sich von seinen Vorstellungen,
sondert diese wieder in räumliche
und zeitliche, unterscheidet Empfindung,
Anschauung
und Wahrnehmung,
Vorstellung, Gedanken;
das Bilden von Begriffen
usw. beruht hauptsächlich auf dem Unterscheiden.
Unterscheidung führt zur Klarheit.
Dies hebt besonders H. Ulrici (1806-84),
System der Logik, 1862, hervor. Vergleiche
Synthesis.
Untugend
S. 666
nennt man die einer Tugend
widerstreitende Gewöhnung. Untugend ist also nicht bloß Mangel an
Tugend, sondern positive Schlechtigkeit.
Dem Laster gegenüber ist Untugend
der geringere Grad der Schlechtigkeit
Ursache
und Wirkung (causa)
S. 667ff.
heißt diejenige Sache, deren Dasein das
Dasein einer anderen, oder derjenige Vorgang, dessen Eintritt den Eintritt eines
anderen, der Wirkung, notwendig macht (causa essendi seu fiendi).
Beide, Ursache und Wirkung,
stehen miteinander in fester Verbindung (Kausalnexus);
die Wirkung steht zur Ursache im Verhältnis der Abhängigkeit, die
Ursache zur Wirkung im Verhältnis der Herrschaft.
Wir schließen, dass B die Ursache für die Veränderung an A sei,
sobald wir bemerken, dass aus abc (=A) abd geworden ist, nachdem B zu A hinzugetreten
war, und dies in jedem Falle. Der Grund für diese Veränderung, schließen
wir, kann nicht in A enthalten sein; denn von selbst wird abc nie zu abd, sondern
nur durch B. Nicht dass die eine Wahrnehmung der andern folgt, macht diese zur
Ursache jener, sondern, dass, wenn B mit A zusammenkommt, an A das c dem d weicht,
macht B zur Ursache des d.
So betrachten wir auch nicht die Nacht als Ursache des Tages, sondern die Stellung
der Sonne zur Erde. B wird zur Ursache vielmehr erst, sobald es zu A so hinzukommt,
dass wir ihm eine Kraft zuschreiben, welche von ihm ausgelöst wird und
das d hervorruft. Aber dieses Eingeschlossensein des d, das doch gar nicht an
B, sondern an A zur Erscheinung kommt, hat etwas Unbegreifliches.
Vergleiche Möglichkeit,
Kraft.
Weil nun aber die Erfahrung das gleiche Kausalitätsverhältnis zweier
Dinge stets wiederkehren sieht, ergibt sich als ein Grundgesetz unseres Denkens
der Satz: »Kein Ding ohne Ursache«,
oder »Alles, was geschieht (anhebt
zu sein), setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt«
(Kant, Kr. d. r. V. S. 189).
Stehen doch schon die Begriffe, welche im Satze der Identität und des Widerspruchs
verwendet werden, in gegenseitiger Beziehung und Verknüpfung. Sie rufen
einander hervor, wie die Ideenassoziation beweist.
Ferner glauben wir unser Ich
als die schöpferische Ursache
für alle seine Vorstellungen erkennen zu können. In der Außenwelt
freilich nehmen wir die Ursachen selbst nie wahr, sondern nur die Wirkungen;
aus ihnen erschließen wir jene. Aber an uns selbst meinen wir fort und
fort den Kausalzusammenhang zwischen Reiz und Empfindung, Unlust und Trieb,
Vorstellen und Fühlen, Wollen und Handeln beobachten zu können.
Diese Anschauung einer sich äußernden psychischen Kraft übertragen
wir dann auf die Außenwelt: Im Bernstein, sagen wir, schlummert die Kraft,
Papierstückchen anzuziehen, im Gifte der Tod, im Pulver die Expansivkraft
usw. Dieselben Erscheinungen, meinen wir, müssen auch dieselben Ursachen
haben: deshalb reden wir von gewissen Naturkräften und Gesetzen, denen
wir Allgemeinheit und Notwendigkeit zuschreiben, ohne meist zu beachten, dass
diese »ewigen« Naturgesetze oft genug
von Erscheinungen durchbrochen oder durch uns selbst erweitert und geändert
werden. –
Es bleiben aber überhaupt im Begriffe der Ursache unlösbare Schwierigkeiten:
Wie kann ein Ding in einem anderen Veränderungen hervorrufen, d.h. ihm
eine Qualität aufdrängen, die in ihm selbst gar nicht ist? Verwirft
man diesen äußeren Einfluss (influxus physicus)
und fasst die Ursachen als innere auf, so erscheint das Ding als seine eigene
Ursache und Wirkung. Daher haben manche Philosophen alle Veränderung überhaupt
zu leugnen gesucht, andere haben sie auf die jedesmalige Einwirkung Gottes
(Okkasionalismus) oder wie Leibniz auf eine
von Gott prästabilierte Harmonie zurückgeführt, wonach Gott ein
für allemal die Veränderungen in den Dingen so geordnet habe, dass
sie durcheinander hervorgebracht zu sein scheinen. Im Grunde hat auch die Identitätsphilosophie
die Kausalität geleugnet. So kommt die Philosophie mit dem Begriff der
Ursache nicht recht zu Rande. Wir stehen vielmehr mit dem Kausalitätsbegriff
an einer Grenze unserer Erkenntnis.
Wir bedürfen des Begriffs Ursache und Wirkung zum Aufbau unseres Wissens
und können ihn doch nicht ableiten und rechtfertigen. Er erscheint wie
eine Anthropomorphosierung der Welt durch den Menschen.
Auch das psychisch Geschehene in uns gibt uns keine volle Aufklärung über
das Wesen der Kraft
und Ursache.
Verursachung und Begründung
(vgl. Grund) sind voneinander zu scheiden und nicht miteinander zu verwechseln;
Verursachung ist ein Verhältnis in der Wirklichkeit, Begründung ein
Verhältnis der menschlichen Gedanken. Nur wer der Theorie huldigt, dass
aus reiner Vernunft Erkenntnis der Tatsachen zu schöpfen sei, also der
Rationalist, wird beide einander gleichsehen, wie dies Spinoza
(1632-1677) getan hat, für den die Formel
sequi = causari gilt.
Schon Platon und Aristoteles
stellten es als ein Postulat
unserer Vernunft auf, dass man nichts ohne Grund
annehme.
Aristoteles (384-322)
zählt vier Prinzipien auf: Stoff,
Form, Ursache
und Zweck.
Dass nichts ohne Ursache geschehe
(nihil fieri sine causa), lehrten auch
Epikuros und Lucretius.
Doch erst Cartesius (1596-1650)
nimmt das Kausalitätsgesetz (nihil ex nihilo
fit) in den Zusammenhang der rationalistischen Weltanschauung auf
(vgl. Cartesianismus)
und erst Leibniz (1646-1716)
formuliert den logischen Grundsatz, dass wir keinen Satz als wahr, kein
Faktum als wirklich annehmen ohne einen zureichenden Grund (principe
de la raison déterminante ou suffisante).
Doch schon Wolf (1679
bis 1754), sein Schüler, identifiziert Grund und Ursache, wie vor
ihm Spinoza.
Kant (1724-1804) ringt
wieder nach Scheidung beider und erreicht sie zum Teil in seinem Kritizismus.
Schopenhauer (1788-1860)
handelt zwar von einem vierfachen Grunde, dem des Werdens, des Erkennens, des
Seins und des Handelns (Ȇber die vierfache
Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde« 1813),
gibt aber zu, dass diese vier Gestalten auf die üblichen zwei hinauslaufen.
–
Hume (1711-1776) hat zuerst
behauptet, der Begriff der Kausalität sei ganz subjektiv und unberechtigt,
da er infolge der Beobachtung einer gleichen Aufeinanderfolge von Ereignissen
in uns nur durch Gewohnheit entstehe (post hoc, ergo
propter hoc); er habe also für die Erkenntnis und das Verhältnis
der Dinge selbst keine Bedeutung. Doch widerspricht sich Hume
insofern, als er die Sukzession der Ereignisse für die Ursache erklärt,
dass die Erwartung in uns erzeugt werde und durch Gewohnheit der Begriff der
Ursache in uns entstehe.
Ganz im Gegensatz dazu behauptet Kant (1724-1804),
dass der Begriff Kausalität unserem Geiste ursprünglich und unabhängig
von dem Inhalte der Erfahrung (a priori) als Stammbegriff, Kategorie, angehöre;
doch handelt es sich für ihn bei dem a priori nur um den allgemeinen Denkbegriff.
In jedem einzelnen Falle entscheidet nach Kants Auffassung über die Ursächlichkeit
allein die Erfahrung.
Ihm ist Kausalität, allgemein genommen, ein Begriff, eine Denkform. Trotzdem
hat er die Dinge an sich für die Ursache des Stoffes der Erfahrung, d.h.
der sinnlichen Empfindung, erklärt und somit Ursache in doppelter Bedeutung
bezüglich der Dinge an sich und bezüglich der Dinge für uns genommen,
ein verborgener Widerspruch, auf den Jacobi (1743-1819) hinwies, und der Fichte
(1762-1814) veranlasste, über Kant zum konsequenteren Idealismus hinauszugehen.
Hume's negierende Auffassung des Kausalitätsbegriffs hat vor allem St.
Mill (1706 bis 1873) erneuert und ausführlich
zu begründen versucht. –
Vgl. Cornelius, über die Bedeutung des Kausalprinzips.
1867. A. Fick; die Welt als Vorstellung. 1870. W. Schuppe, das menschliche Denken.
1870. Strümpell, der Kausalitätsbegriff. 1871.
Vergleiche Kausalität,
Kategorien.
Ursprung
(lat, origo,
gr. archê) S.670
Siehe auch bei Eisler
heißt das erste in einer Reihe auseinander entstandener Dinge oder die
erste Erscheinung,
womit eine Sache angefangen hat.
Mit dem Ursprunge der verschiedenen Einzeldinge
sowie des Kosmos
beschäftigt sich die Metaphysik.
Ursprünglich
bedeutet bald den Ursprung einer Sache
betreffend, bald anfänglich, bald wesentlich.
Urtatsache S.670 Siehe
auch bei Eisler
heißt im Allgemeinen
jede Tatsache,
mit welcher eine Reihe von Begebenheiten beginnt; im engeren Sinne gibt es deren
zwei: das Bewusstsein,
von welchem alles Denken
und Sein (in subjektiver
Auffassung)
ausgeht, und das Dasein,
die Wirklichkeit.
J. G. Fichte (1762-1814),
der die zweite dieser Urtatsachen
leugnet, sieht in der Urtatsache
des Bewusstseins eine Urtathandlung
und bestimmt sie so: »Das Ich
setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein.«
Daraus leitet er die Antithesis des
empirischen Bewusstseins ab: »Dem Ich wird schlechthin
entgegengesetzt ein Nicht-Ich,«
und folgert aus beiden die Synthesis:
»Das Ich setzt im Ich dem
teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen.«
Urteil
(lat. iudicium, gr. apophansis, als
Glied des Schlusses, propositio, protasis genannt) S.
670ff.
heißt die sich im Denken
vollziehende Verbindung
zweier Begriffe,
bei welcher der eine Begriff
durch den anderen bestimmt
wird. Alles Denken ist Urteilen,
sowohl das Unterscheiden
der Merkmale,
wie das Bilden der Begriffe
und Schlüsse,
mag man seinen Gedanken
in einem Satze aussprechen oder nicht. Jedes Urteil besteht
aus 3 Stücken:
dem Subjekt
(S), dem zu
bestimmenden Begriff,
dem Prädikat
(P), dem Begriff,
durch welchen das Subjekt
bestimmt wird, und
der Kopula, d.h. der Verbindung
zwischen beiden.
Beilegen, Unterscheiden, Zusammenfassen, Unterordnen und Gleichsetzen sind die
wesentlichen Akte des Urteilens.
Platon (427-347) definierte das Urteil (logos) als diejenige Verbindung von
Substantiven und Verben, die der Verbindung von Ding und Handlung entspräche,
Aristoteles (384 bis 322) als eine Vorstellungsverbindung (apophansis), in welcher
Wahrheit oder Nichtwahrheit sei, oder als einen bejahenden oder verneinenden
Satz, der eins auf das andere bezieht.
Ähnliche Definitionen finden wir bei Leibniz (1645-1716) und Wolf (1679
bis 1764).
Kant (1724-1804) sagt, ein Urteil sei die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven
Einheit der Apperzeption zu bringen.
Herbart (1776-1841) sieht das Urteil als die Entscheidung darüber an, ob
zwei Begriffe zueinander passen oder nicht.
Nach Hegel (1770-1831) soll es die Urteilung, d.h. Selbstdiremption des Begriffs
selbst, d.h. ein objektiver Vorgang der Dinge sein.
Schleiermacher (1768-1834) betonte die Beziehung des subjektiven Elements im
Urteil auf das Objektiv-Reale. Dem Urteil soll das System der gegenseitigen
Einwirkung der Dinge entsprechen.
Ähnliches lehren Ritter, Trendelenburg, Lotze und Überweg.
Das Urteil als formal-logische Funktion braucht allerdings mit dem Inhalt, d.h.
der Wahrheit der Aussage, nichts zu tun zu haben, es bleibt formell richtig,
auch wenn es dem realen Sein widerspricht. Eine Logik, die aber nicht rein formal
ist, fordert eine solche bestimmtere Urteilsdefinition.
Eingeteilt werden die Urteile meist nach den Gesichtspunkten der Quantität,
d.h. nach dem Umfange des Subjekts, der Relation, d.h. nach der Beziehung von
Subjekt und Prädikat, der Qualität, wonach dem Subjekt etwas zu- oder
abgesprochen wird, und nach der Modalität, d.h. nach der Beziehung des
Inhalts des Urteils zur Wirklichkeit.
Kant unterscheidet
nach der Quantität: einzelne, besondere und allgemeine,
nach der Qualität: bejahende, verneinende und unendliche,
nach der Relation: kategorische, hypothetische und disjunktive,
nach der Modalität: problematische, assertorische und apodiktische Urteile.
Nach der hergebrachten Logik unterscheidet man durch Kombination von Quantität
und Qualität
1. allgemein bejahende Urteile (alle S sind P),
2. allgemein verneinende (kein S ist P),
3. partikulär bejahende (einige S sind P),
4. partikulär verneinende (einige S sind nicht P).
Indem dann von affirmo die Vokale a und i als Bezeichnungen für allgemeine
und partikuläre Bejahung, von nego e und o als solche für allgemeine
und partikuläre Verneinung genommen wurden, machte Mich. Psellus um 1050
folgende Gedächtnisverse:
Asserit a, negat e, sed universaliter ambo,
Asserit i, negat o, sed particulariter ambo.
Diese übersetzte Gottsched († 1766) herzlich schlecht so:
Das a bejahet allgemein, das e
sagt zu allem Nein,
Das i bejahet, doch nicht
von allen, so lässt auch o das
Nein erschallen.
Kant unterschied ferner
analytische Urteile (d.h. Urteile, in denen das Prädikat durch Zergliederung
der Merkmale des Subjekts gefunden werden kann) und
synthetische Urteile (d.h. Urteile, in denen das Prädikat zu dem Subjektsbegriffe
etwas noch nicht darin Liegendes hinzufügt) sowie
Urteile a priori (d.h. reine Vernunfturteile) und
Urteile a posteriori (d.h. Erfahrungsurteile).
Eine Logik, die auf den Erkenntniswert der Urteile eingeht, hat mindestens Wahrnehmungsurteile,
Subsumptionsurteile, Definitionen, Kausalitätsurteile und mathematische
Urteile zu unterscheiden. Die ersten bringen das Tatsächliche zum Ausdruck,
die zweiten dienen der Ordnung der Begriffe untereinander, die dritten dienen
der Begriffsbestimmung, die vierten verbinden die Tatsachen untereinander, die
fünften schaffen die Zahlen- und die Größenbestimmungen. Demgegenüber
hat die Einteilung der Urteile in der formalen Logik nur sehr geringen Erkenntniswert.
–
Der Umfang eines Urteils ist nach der Schullogik gleich demjenigen seines Subjektbegriffs,
da hier jedes Urteil in der Subsumption von S unter P besteht.
Wo S und P reziproke Begriffe sind, kann ein Urteil umgekehrt werden; solche
Urteile heißen reziprokabel oder äquipollent.
Zwei Urteile, von denen das eine allgemein, das andere partikulär ist und
das eine verneint, das andere bejaht, heißen einander kontradiktorisch
entgegengesetzt.
Konträr oder diametral entgegengesetzt heißen das allgemein bejahende
und allgemein verneinende,
subkonträr das partikulär bejahende und das partikulär verneinende;
subalternierend heißt das Urteil, welches ein Prädikat auf die ganze
Sphäre des Subjektbegriffs bejahend oder verneinend bezieht, und
subalterniert das dazu gehörige, welches das Prädikat nur auf einen
unbestimmten Teil derselben Sphäre bezieht.
Zusammengesetzte Urteile bestehen aus mehreren koordinierten oder subordinierten
Urteilen.
Kopulative Urteile haben nur ein Prädikat, aber mehrere voneinander verschiedene
Subjekte; ihre negative Form bilden die remotiven Urteile.
Konjunktive Urteile haben bei gleichen Subjekten disparate Prädikate.
Divisive Urteile zerlegen den Umfang eines Gattungsbegriffs in mehrere Arten.
Disjunktive Urteile stellen entgegengesetzte Aussagen gegenüber. -
Vgl. Herbart, Einl. i. d. Phil. 1813. Ulrici, Logik.
1852. Schleiermacher, Dialektik. 1839. Lotze, Log. 1874. Sigwart, Log. 1881,
2. Aufl. 1889-93. Drobisch, Neue Darstell, d. Log. 1863. W. Wundt, Log. 1880,
2. Aufl. 1893-95. Überweg, System d. Log. 6. Aufl. Bonn 1882.
Urteilskraft S.
673
heißt das Vermögen, Urteile zu bilden, oder, wie Kant (1724-1804)
sagt, das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, oder sich das Besondere
als unter dem Allgemeinen enthalten vorzustellen. Kant unterscheidet eine bestimmende
(logische) und eine reflektierende Urteilskraft; der ersteren ist das Allgemeine,
unter welches das Besondere gefasst wird, gegeben die letztere schafft sich
das allgemeine Prinzip (die Zweckmäßigkeit) selbst. Die reflektierende
Urteilskraft ist entweder ästhetisch, wenn die Zweckmäßigkeit
subjektiv gefasst wird, oder teleologisch, wenn sie objektiv als Naturzweckmäßigkeit
gefasst wird. Die subjektive Zweckmäßigkeit ist entweder Zweckmäßigkeit
des Objektes für das Subjekt (Schönheit) oder Zweckmäßigkeit
des Subjektes für das Objekt (Erhabenheit). (Kant,
Kritik der Urteilskraft, Einleitung S. XI - LVI.)
Utilitarismus
(von lat. utilis = nützlich)
S. 673f.
nennt man die von Jeremy Bentham (1748-1832) begründete
ethische Nützlichkeitstheorie. Der Zweck der gesellschaftlichen
Einrichtungen, meint Bentham, könne nur sein die »Maximation«
des Wohlseins und die »Minimation« des Übels. Auf den Grundsatz
des Nutzens, welcher jeden leite, gründet er seine Moral (Deontology).
Nutzen bedeute die Eigenschaft einer Sache, wodurch sie uns vor einem Übel
bewahrt oder uns ein Gut verschafft. Ein Übel ist Schmerz, ein Gut Lust.
Man hat danach ein moralisches Budget aufzustellen, um bei allen Lustregungen
Gewinn und Nachteil abwägen zu können. Dabei erweist sich der Egoismus
als nachteilig; denn es ist vor der Welt jedenfalls vorteilhafter, uneigennützig
als eigennützig zu erscheinen: da aber stetes Heucheln sowohl unerträglich
als auch gefährlich ist, so empfiehlt es sich, uneigennützig zu werden.
Die erste Tugend ist daher die Klugheit, aus der dann Mäßigung und
Selbstbeherrschung entspringen. Die reinsten Freuden verschaffen wir uns durch
möglichst intensive Beförderung des Wohls aller. –
Anhänger Benthams waren Dumont, Beneke, Bowring, J. Stuart Mill. Vgl. Bentham,
Deontology. 1834. Sidgwick, the Methods of Ethics 1878. Beneke, Grundsätze
der Zivil- und Kriminalgesetzgebung nach Bentham. 1830.
Utopien
(gr. s. a.
Nirgendheime) S. 674
oder Staatsromane nennt man
phantastische Ausmalungen einer idealen
gesellschaftlichen Zukunft.
Platon (427-347) will
in seinem »Staate« Privateigentum und
Privathäuslichkeit beseitigen.
Freie Nachbildungen sind Thomas Morus' »Utopia«
(1516) und Campanellas »Sonnenstaat«
(1623).
Bacons »Atlantis«
(1625) schließt sich an Platons
»Kritias oder Athen und Atlantis 9000 Jahre vor
Solon« an.
Dann folgt Fénélon mit seinen
»Aventures de Télémaque«
(1700) und J. J. Rousseau (1754)
mit seiner Schrift »Ursprung und Gründe
für die Ungleichheit der Menschen«.
Morelly beschrieb 1768 »la
République des Philosophes« und verwarf in
»L'homme flottant« das Eigentum, Mercier
schwärmt 1770 vom Jahre 2440, und schon Brisson
erklärt 1780, also 60
Jahre vor Proudhon, dass Eigentum Diebstahl
sei (la propriété c'est le vol).
-
Cabet beschrieb 1842 in
»Voyage en Icarie« sein Paradies der
Gütergemeinschaft. –
Phantastische Schriften sind noch:
Bellamy 1883 »A
Looking backward from the year 2000«, Hertzka,
»Freiland«.
1890, derselbe »Entrückt in die Zukunft«.
1895, Donelly, »Caesar's
Column, sensational story of the 20th century«1892
u.a.m.
Veränderung
(lat. mutatio, gr.
alloiôsis) S. 675f.
nennt man den Wandel der Qualität
oder der Form eines
Dinges bei dem Beharren
seiner Substanz.
Die Veränderung kommt darin
zum Ausdruck, dass an demselben Ort im Raum, an demselben
Objekte
jetzt ein Zustand und darauf ein
anderer, und zu einer und derselben bestimmten Zeit hier dieser
Zustand und dort jener ist.
Jede wahrnehmbare Veränderung hat
eine Menge kleiner, unscheinbarer Veränderungen zur
Voraussetzung, bevor sie in Erscheinung
tritt.
Die Eleaten
leugneten die Veränderung
überhaupt; das wahrhaft Seiende
könne nicht werden,
sei ohne Bewegung und Veränderung, den ganzen
Raum erfüllend.
Herakleitos (um 600 v. Chr.)
dagegen behauptete, dass alles Wirkliche
sich in beständigem Flusse
befände (panta rhei).
Platon (427-347) verband
die Lehre der Eleaten und des Herakleitos,
indem er die Ideen
für ewig
und unveränderlich ansah, der Natur
aber fortwährende Veränderung
zuschrieb.
Aristoteles (384-322)
sah in der Veränderung eine Art der Bewegung,
eine Art der Verwirklichung des Möglichen,
und zwar war ihm die Veränderung die qualitative Bewegung (kinêsis
kata to poion De cael. I, 3, p.270a 27. Phys. VIII, 7,
p. 260a 27 kinêsis kata pathos).
Jede Veränderung entsteht
durch das Zusammentreffen eines Wirkenden und Leidenden
(Phys.III, 3, p. 202b 25), setzt aber eine
Ortsbewegung voraus (Phys. VIII, 7, p. 260b 1 ff.).
Nach Kants (1724-1804)
Erklärung bringt das Zugleichsein des Stehenden
in der Zeit mit dem Wechselnden
den Begriff der Veränderung hervor
(Kr. d. r. V., II. Aufl., Vorrede, S. XLI). »Veränderung
ist eine Art zu existieren, welche auf eine andere Art zu existieren ebendesselben
Gegenstandes erfolgt. Daher ist alles, was sich verändert, bleibend und
nur sein Zustand wechselt. Da dieser Wechsel also nur die Bestimmungen trifft,
die aufhören oder auch anheben können, so können wir, in einem
etwas paradox scheinenden Ausdruck sagen: nur das Beharrliche
(die Substanz) wird verändert, das Wandelbare erleidet keine Veränderung,
sondern einen Wechsel, da einige Bestimmungen aufhören und andere anheben.
Veränderung kann daher nur an Substanzen wahrgenommen werden, und das Entstehen
oder Vergehen schlechthin, ohne dass es bloß eine Bestimmung des Beharrlichen
betreffe, kann gar keine mögliche Wahrnehmung sein, weil eben dieses Beharrliche
die Vorstellung von dem Übergänge aus einem Zustande in den ändern,
und von Nichtsein zum Sein möglich macht, die also nur als wechselnde Bestimmungen
dessen, was bleibt, empirisch werden können« (Kr.
d. r. V., S. 187-188).
Herbart (1776 bis 1841) versuchte
im Anschluss an die eleatische Lehre aus den Widersprüchen im Begriff der
Veränderung (einzelne Merkmale beharren, andere wechseln)
nachzuweisen, dass es im Seienden keinen inneren Wechsel gebe, weil ursprüngliche
Selbstbestimmung und absolutes Werden unmöglich sei, dass es aber auch
keinen abgeleiteten Wechsel geben würde, insofern die Einwirkung von Ursachen
nur unter der Voraussetzung einer ursprünglich nach außen gerichteten
Tätigkeit erfolgen könnte. Dann aber würde es gar keinen Wechsel
geben, was der Erfahrung widerspricht. Daher sucht Herbart
ihn ohne eine ursprünglich nach außen gerichtete und ohne eine ursprünglich
innere Tätigkeit zu erklären, nämlich durch die Theorie der Selbsterhaltungen,
welche zwischen den Realen stattfinden und das einzige wirkliche Geschehen ausmachen
sollen. Vgl. Herbart, Allg. Metaphys. 1828.
Verantwortlichkeit
S. 676
Siehe Zurechnung
Vernunft
und Verstand S.
678f.
nennt man allgemein
die geistige
Anlage des Menschen.
Beide Ausdrücke werden oft in gleicher Bedeutung gebraucht. Wo man sie
scheidet, bedeutet Vernunft gewöhnlich
die höhere geistige Anlage des Menschen
überhaupt, Verstand
die Fähigkeit des logischen
Denkens oder der
Bildung der apperzeptiven
Verbindungen.
Seit Aristoteles (384-322)
unterscheidet
die Philosophie
in unserem Geiste ein mehr aktives (Vernunft)
und ein mehr passives Vermögen (Verstand).
Die schärfste Gegenüberstellung von Vernunft und Verstand rührt
aber erst von Kant (1724-1804)
her. Verstand ist nach ihm das Vermögen der Begriffe,
deren oberste die Kategorien sind, Vernunft das der Ideen oder des Unbedingten. Auch scheidet
Kant theoretische, praktische Vernunft und Urteilskraft. Doch gebraucht
auch Kant, wie schon der Titel seiner Hauptwerke
beweist, den Begriff Vernunft in der allgemeinen Bedeutung des geistigen Vermögens a priori des Menschen,
so dass der Verstand dann nur als eine Seite der Vernunft erscheint. Aus der
Scheidung Kants entwickelte sich die Ansicht, dass
die Vernunft es mit dem Übersinnlichen, Ewigen und Absoluten,
der Verstand dagegen nur mit der
Zusammenfassung des empirisch Gegebenen zu tun habe.
Die Vernunft galt also als Quelle und Bürgschaft übernatürlicher Erkenntnisse, so bei Jacobi (1743-1819)
und den Identitätsphilosophen.
Schelling (1776-1864) bezeichnet sie als das Vermögen, die absolute Einheit der endlichen Dinge
in dem Unendlichen und Absoluten anzuschauen (intellektuelle Anschauung!).
Hegel (1770-1831) lässt
sie sich über den abstrakten Verstand durch das dialektische oder negativ-vernünftige
Moment zum spekulativen Vermögen erheben, das die Einheit der endlichen
Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auffasst.
Ähnliches, wenn auch nüchterner, lehrten J.
H. Fichte, Ulrici und Frohschammer; nach
ihnen hat der Verstand es bloß mit der sinnlichen Erscheinungswelt, die Vernunft mit dem Übersinnlichen zu tun. –
Die Scheidung ist aber kaum aufrecht zu erhalten. Unsere Erkenntnis des Sinnlichen
ist methodisch dieselbe wie die des Übersinnlichen. In beiden zeigen sich
dieselben Grundgesetze unseres Geistes. Die Ideen sind nicht im Wesen von den
Begriffen verschieden, sondern sind nur weitere umfassende Gedanken zur Ordnung
und Grundlegung des Wissens.
Ein über die Anlage zur apperzeptiven Gedankenbildung hinausgehendes geistiges
Vermögen ist nicht nachzuweisen. Vergleiche
Nous, Denken, Idee, Verstand.
Vernunftglaube
S. 679
heißt der Gegensatz zum Offenbarungsglauben. Der Vernunftglaube versucht alle religiöse
Überzeugung lediglich aus der Vernunft
abzuleiten.
Kant (1724-1804) glaubte
einen solchen Glauben mit den Ideen von Gott, sittlicher
Freiheit des Menschen und Unsterblichkeit der Seele aus Postulaten der praktischen
Vernunft und zwar im besonderen aus der Idee des höchsten Gutes gewinnen
zu können. Kant, Religion innerhalb der Grenzen
der bloßen Vernunft. 1793. Fichte,
Kritik aller Offenbarung. Königsberg 1792.
Verstand
(intelligentia)
S. 680
heißt bei Kant (1724-1804) das Vermögen der Spontaneität oder
das Vermögen der Begriffe
und Vorstellungen,
der Urteile und
Erkenntnisse,
das Vermögen, das Mannigfaltige einer
Empfindung
zusammenfassen, das Vermögen
der diskursiven Erkenntnis. Vergleiche
Vernunft.
Verworren
S. 680
ist der Gegensatz zu deutlich.
Verworren heißt eine Vorstellung,
wenn der Vorstellende sie nicht genügend in
ihren einzelnen Merkmale erfasst hat . Von der Verworrenheit zur Deutlichkeit führt also die Entwicklung
und Zergliederung.
Vision
(lat. visio, gr. horama)
S. 680 Siehe
auch bei Eisler
heißt eine Art der Halluzination, bei der der Mensch Gestalten sieht oder Stimmen hört, welche objektiv
nicht vorhanden sind. Die Vision entspringt meist aus psychischen, bisweilen aus körperlichen Ursachen. Zu den letzteren gehört: Blutandrang nach dem Gehirn oder Blutmangel in
demselben, Vergiftung, Krankheit des Hirns, des Herzens,
Hypochondrie, Hysterie, Epilepsie u. dgl.
Die psychischen Ursachen sind Affekt, Phantasie und Interesse. Daher
stellen sich die Visionen, welche man Träume
im Wachen nennen kann meist bei aufgeregtem Zustande ein. Manche
Menschen können sogar willkürlich Visionen herbeiführen. Ihr Wesen besteht darin, daß Phantasmen nach außen
projiziert und für wirkliche Wahrnehmungen eines Sinnes gehalten werden. Am meisten sind Gesicht und Gehör der Vision
ausgesetzt, und Visionen kommen selbst bei
völlig erblindeten und tauben Menschen vor. Wie ansteckend solche Affektionen
sind, zeigen die Hexenvisionen des
Mittelalters, die Visionen der Puritaner, Jansenisten und Spiritisten.
Selbst ganz gesunde Naturen, wie Cellini, Goethe,
J. Moser, Nicolai, J. Paul, W. Scott, haben
Visionen erlebt. Vgl.
Halluzination.
Vollkommenheit
S. 684 Siehe
auch bei Eisler
heißt die äußere Vollständigkeit oder die innere Vollendung eines Dinges,
das dasjenige geworden ist, was es nach seinem Wesen werden konnte. Man kann
die quantitative Vollkommenheit von der qualitativen sondern: jene ist die äußere
Vollständigkeit, d.h. die Allheit der Teile, welche
zusammen ein Ding aufmachen; diese ist die innere Vollendung und das Zusammenstimmen
aller Teile in einem Ganzen.
Auch kann man formale und materiale
Vollkommenheit scheiden, je nachdem
mehr die Form oder
der Stoff des Dinges ins Auge gefasst wird; ebenso stehen einander
die physische, geistige und moralische Vollkommenheit gegenüber. Vgl. F. Kirchner, Über d. Zweck
d. Daseins. Berlin 1882.
Siehe auch bei Eisler
Voluntarismus
(Lehre von der Bedeutung des Willens) S.
684ff.
nennt man seit kurzer Zeit die Ansicht, dass die Willensvorgänge eine typische,
für die Auffassung aller psychischen Vorgänge maßgebende Bedeutung
haben. Das Wort ist von Tönnies
(1883) gebildet, von Fr. Paulsen
(geb. 1846) in dem Sinne ausgeprägt, dass
es die Auffassung bezeichnet, der Wille sei der ursprüngliche und in gewissem
Sinne konstante Faktor des Seelenlebens, und von Wundt
(geb. 1832) in die psychologische Forschung aufgenommen
und weiter verbreitet.
Die voluntaristische Psychologie behauptet, dass das Wollen mit den ihm eng
verbundenen Gefühlen und Affekten einen ebenso unveräußerlichen
Bestandteil der psychologischen Erfahrung ausmache wie die Empfindungen und
Vorstellungen, und dass nach Analogie des Willensvorganges alle anderen psychischen
Prozesse aufzufassen seien als ein fortwährend wechselndes Geschehen in
der Zeit, nicht als eine Summe beharrender Objekte.
Die voluntaristische Psychologie steht also im Gegensatz zu der intellektualistischen,
die den Versuch macht, alle psychischen Vorgänge aus den Vorstellungen
oder intellektuellen Vorgängen abzuleiten (Wundt,
Grundr. d. Psych., Einleitung § 2 S. 14-18).
Allgemein (metaphysisch) gefasst, ist der Voluntarismus der Gegensatz zum Intellektualismus.
Der letztere gibt dem Intellekte den Vorzug vor dem Willen, der erstere dem
Willen den Vorrang vor dem Intellekte und sieht in dem Weltprozess eine dynamische
Entwicklung, oder, tiefer gefasst, eine Folge von Willensvorgängen.
Er setzt philosophisch ein mit Kants (1724-1804) Lehre vom Primate der praktischen Vernunft über die theoretische Vernunft
und vom absoluten Werte des guten Willens und ist von Fichte
(1762-1814) konsequent durchgebildet; er ist auch
durch Schopenhauer (1788-1860) vertreten, der den Willen als das Ansich der Welt gedacht hat.
Aber der Voluntarismus hat sich nach der Auffassung des Wesens des Willens in
zwei Richtungen gespalten. Insofern er unter dem Wollen ein dunkles, triebartiges,
unbewusstes Vorgehen sieht, wie dies bei Schopenhauer der Fall ist, führt
er zu einer Hingebung an starke Eindrücke der Dinge, zu möglichst
unreflektiertem Empfinden und Anschauen; insofern er im Wollen, wie das der
Auffassung Kants und Fichtes entspricht, ein tätiges, zweckvoll vordringendes,
schöpferisches Wirken sieht, betrachtet er das ethische Handeln und den
Aufbau einer neuen Wirklichkeit als seine Aufgabe.
Überwunden hat der Voluntarismus den Intellektualismus bisher keineswegs,
sondern höchstens eingeschränkt. Kants moralischer Glaube, als Frucht
des Voluntarismus, hat keine allgemeine Bedeutung erlangt, und der Voluntarismus
birgt die nicht zu unterschätzende Gefahr in sich, der Unwissenheit und
der Feindschaft gegen die Bildungsbestrebungen zum Deckmantel dienen zu können.
Der Ausdruck Voluntarismus ist übrigens nicht gerade glücklich gewählt,
da voluntas (lat.) mehr Neigung und Wunsch als charaktervolles Wollen bezeichnet.
Es sind darum auch andere Bezeichnungen für denselben Begriff, wie Ethelismus,
Thelismus, Theletismus, Thelematismus usw. vorgeschlagen.
Vgl. R. Eucken Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipz. 1904. S. 38 ff.
Vorstellung
(repraesentatio) S.
686
heißt das aus den Empfindungen
und Wahrnehmungen
durch Assoziation
und Reproduktion des Gleichartigen und Verwandten gewonnene
allgemeine psychische Gebilde. Die Wahrnehmungen setzen die Anwesenheit des Objektes voraus;
die Vorstellungen kommen und gehen, ohne dass die
Objekte derselben gegenwärtig sind. Sie bilden die Grundlage
der Begriffe, die aus ihnen durch logische und apperzeptive
Gestaltung hervorgehen. Die Vorstellungen
sind entweder gleich oder ungleich, letztere wieder vergleichbar oder disparat.-
Leibniz (1646-1716) und Herbart haben allerdings den
Begriff Vorstellung
in viel weiterer Bedeutung genommen und ordnen ihm alle psychischen
Vorgänge unter. Doch geschah dies kaum mit Recht.
Nach Herbart (1776-1841) sind die Vorstellungen sogar Kräfte und hemmen und fördern einander, sie steigen und sinken, verschmelzen sich
oder widerstreben einander, drängen sich in der Enge des Bewusstseins,
bis die schwächere unter die »Schwelle
des Bewusstseins« sinkt und die stärkere steigt. Jede strebt wieder zur früheren Klarheit
zu gelangen, wodurch ein stetes Schwanken und Schweben der Vorstellungen erzeugt
werde. Diese ganze »Statik und Mechanik« der
Vorstellungen ist aber unhaltbar. Herbart betrachtet in ihr das Bewusstsein wie einen ideellen
Raum, in welchem sich die Vorstellungen durch eigene Kräfte selbständig
bewegen. Das ist jedoch eine falsche Übertragung mechanischer Vorgänge auf das Seelenleben, die durch nichts
gerechtfertigt ist. Den Wechsel der Vorstellungen
veranlassen ganz andere Einflüsse: Reize,
Empfindungen und Interessen. Über die Gesetze der Reproduktion, über Gedächtnis und Phantasie.
Vorurteil
S. 686f.
nennt man ein Urteil, das jemand über eine Sache fällt, bevor er sie
geprüft hat. Vorurteile sind unzulässig; aber nicht jedes Vorurteil
ist falsch; nur kann man von seiner Wahrheit nicht eher überzeugt sein,
als bis man es gründlich untersucht hat.
Die Vorurteile sind oft die schlimmsten Quellen und Bollwerke des Irrtums. Die
Philosophie darf sie nicht dulden, und ein philosophischer Kopf sollte keine
Behauptung annehmen oder nachsprechen, die er nicht selbst durchdacht hat.
Die Vorurteile haben mancherlei Ursprung: Erziehung, Gewöhnung, Familie,
Stand, Sprache, Geschäft, Volk, Landesbrauch, Mangel der menschlichen Natur
usw., mit einem Worte die Achtung vor fremden Autoritäten. Dazu kommt Egoismus,
Trägheit und Faulheit, Oberflächlichkeit, Parteiwut usw. Vgl. Irrtum.
Die erste philosophische Darstellung der Vorurteile (Idole) hat
Bacon (1661-1626) gegeben (vgl. Idol).
Neuerdings hat Reinhold Hoppe (Die Elementarfragen der Philosophie nach Widerlegung
eingewurzelter Vorurteile. 1897. S. 13-24) die Lehre von den Vorurteilen systematisch
behandelt. Er nennt neun Vorurteile:
1. dass das höchste Kriterium der Gewissheit sei, dass man nicht anders
denken könne;
2. dass das anerkannte Wissen verbürgt sei;
3. dass Sein und Denken ursprünglich voneinander getrennt beständen
und einen Gegensatz bildeten;
4. dass das Ziel der Erkenntnis sei, die Wirklichkeit im Geiste zu reproduzieren;
5. dass, wenn alles Sein nur ein gedachtes wäre, die ganze Welt nicht wirklich
sein würde;
6. dass alles, was ist und geschieht, eine Ursache hat;
7. dass, wenn auf eine Frage die Antwort gesucht und nicht gefunden worden sei,
sie ein Problem bilde;
8. dass die Formulierung in Worten unser Denkvermögen begrenze und repräsentiere;
9. dass die Sicherheit der Erkenntnis auf ihrem Anfang beruhe und nur auf absolut
sicheres Wissen ein höchstens ebenso sicheres Wissen gebaut werden könne.
Wahrhaftigkeit
S. 688
ist der Trieb, die Wahrheit zur Geltung zu bringen in Wort und Werk, in Miene
und Gebärde. Das Streben nach Wahrhaftigkeit darf als natürlich gelten,
wird aber durch Feigheit, Eitelkeit und Selbstsucht sehr oft verdrängt.
Poetische Vorbilder der Wahrhaftigkeit sind Neoptolemos in Sophokles'
Philoktetes und Iphigenie bei Goethe.
Wahrheit
S. 688f.
wird theoretisch in doppeltem Sinne gebraucht, im logischen
oder formalen und im materiellen oder inhaltlichen
Sinne.
Die (formale) logische Wahrheit ist die Übereinstimmung
unserer Gedanken mit sich selbst und mit den allgemeinen Denkgesetzen(vgl. Richtigkeit).
Sie liegt nur in der Form, nicht in dem Inhalt der Erkenntnis.
Die materielle (inhaltliche) Wahrheit hingegen
besteht in der Angemessenheit unserer Gedanken für die Gegenstände.
Dass diese von selbst beim natürlichen Denken vorhanden sei, ist die Ansicht
des »gesunden Menschenverstandes«. Das tiefere Nachdenken kommt
aber bald auf die Frage nach der Bürgschaft für die Wahrheit, nach
ihren Kriterien. Hierbei kann man den skeptischen, kritischen, dogmatischen
und den Standpunkt der absoluten Philosophie unterscheiden.
Die Skepsis stellt die Möglichkeit eines wahren Wissens überhaupt
in Abrede.
Der Kritizismus leugnet die Gültigkeit unserer Erkenntnis vor ihrer Prüfung
und über die Grenzen der Erfahrung hinaus; die Dinge an sich bleiben uns
unbekannt.
Der Dogmatismus dagegen setzt ohne weiteres voraus, dass unsere Begriffe dem
Wesen der Dinge entsprechen. Noch weiter in der Richtung geht die absolute Philosophie,
indem sie, unter Voraussetzung der absoluten Einheit von Denken und Sein, behauptet,
der Begriff sei selbst das wahrhaft Reale. -
Eine ganz andere Art von Wahrheit tritt uns bei der Gültigkeit der praktischen
Ideen entgegen. Hier handelt es sich nicht um die Angemessenheit des Gedankens
für das Sein, sondern im Gegenteil um Übereinstimmung des Seins mit
der Idee. Das sittliche, ästhetische, religiöse Tun hat sich nach
der Idee zu richten. Diese Wahrheit kann man die ideale Wahrheit nennen.
Wahrnehmung
(perceptio) S.
689
nennt man die unmittelbare Bewusstseinserfassung eines Gegebenen durch die Sinne.
Die Wahrnehmung entsteht nur bei Gegenwart eines wirklichen Objekts. Man unterscheidet
äußere und innere Wahrnehmung. Jene ist die unmittelbare Erkenntnis
des neben- und nacheinander Existierenden, welche auf Grund objektiver Verhältnisse
durch unsere Sinne zustande kommt, diese fasst unsere psychischen Erlebnisse
vom Standpunkt des Selbstbewusstseins mit materieller Richtigkeit auf. Auf der
Verbindung der äußeren und inneren, der sinnlichen und der psychischen
Wahrnehmung beruht ein großer Teil aller Erkenntnis. Im Wesentlichen deckt
sich also der Begriff der Wahrnehmung mit dem der Anschauung (s. d.). Will man
beide unterscheiden, so kann dies mit Wundt (geb. 1832) so geschehen, dass man
bei dem Ausdruck Wahrnehmung mehr die Auffassung des Gegenstandes nach seiner
wirklichen Beschaffenheit, bei dem Ausdruck Anschauung dagegen vorzugsweise
die dabei vorhandene Tätigkeit unseres Bewusstseins im Auge hat.
Vgl. Wundt, Grundz. der phys. Psych. II, S. 1.
Wahrscheinlichkeit
(probabilitas) S.
689f.
heißt der mittlere Grad der Gewissheit. Die Wahrscheinlichkeit liegt zwischen
der Wirklichkeit und Möglichkeit und schließt den Eintritt des Gegenteils
nicht aus. Sie hat selbst verschiedene Grade der Gewissheit, je nach dem Gewicht
der Gründe, auf denen sie beruht.
Man unterscheidet mathematische und philosophische Wahrscheinlichkeit; jene
nennt man auch die reale, diese die logische Wahrscheinlichkeit. Jene bezieht
sich auf Verhältnisse des gewöhnlichen Lebens und wird bestimmt durch
das Verhältnis der Anzahl der einer Erwartung günstigen Fälle
zur Anzahl aller möglichen Fälle, wenn alle Fälle gleich möglich
sind.
Die einfachsten Fälle der Wahrscheinlichkeit kommen z.B. beim Spiel (Karten,
Lotto u. dgl.) vor. So fragt man, wie wahrscheinlich es ist, in einem Zahlenlotto
eine Ambe zu erraten. In den 90 Nummern liegen 4005 Amben; 5 Nummern werden
jedes Mal gezogen, in denen 10 Amben liegen. Hier habe ich also von 4005 Fällen
10 Fälle für und 3995 gegen mich. Die Wahrscheinlichkeit verhält-
sich also zur Gewissheit wie 10:4005 oder sie ist, die volle Gewissheit = 1
gesetzt, = 10/4005. Die Wahrscheinlichkeit, mit zwei Würfeln einen Pasch
zu werfen, ist = 1/6 der Gewissheit; für einen bestimmten Pasch aber =
1/36.
Voraussetzung der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist, dass alle Fälle ganz
gleichartig sind und dass man sie übersehen und ihr Größenverhältnis
bestimmen kann. Daher wird im Allgemeinen nur der Unternehmer eines Geschäfts
(für Leibrenten, Witwenkassen, Lotterien) gewinnen, der Einzelne aber stets
aufs unsichere hin wagen.
Mit der einfachen mathematischen Berechnung kann sich in anderen Fällen
auch die Erfahrung zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit verbinden.
So lehrt z.B. die Erfahrung, dass sich die Geburten von Knaben zu der von Mädchen
wie 22 zu 21 verhalten, folglich wird die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mutter
bei der Geburt einen Knaben zur Welt bringen werde, sich ebenso verhalten. –
Bei der philosophischen Wahrscheinlichkeit schließt
man entweder geradezu von der Vielheit der Fälle auf die Einheit der Regel
und sucht also die Regel selbst zu begründen, oder man setzt doch voraus,
wiewohl nicht mit voller Gewissheit, dass die Regel allgemein gelte. Hier hat
man das Bewusstsein, es gebe feste Regeln der Entscheidung, wenn man sie auch
noch nicht kennt, und hier schließt man nicht auf Grund der Größe,
sondern durch Induktion,
Analogie und
Hypothese.
Weisheit
S. 691 Siehe
auch bei Eisler
ist die Anwendung der besten Mittel zur Erreichung
guter Absichten. Sie besteht in einem Wissen
des Wahren, welches
aber nicht in der Theorie
bleibt, sondern praktisch
wird und die Gesinnung und Handlungsweise veredelt. Nicht Gelehrsamkeit und
Bildung gehört dazu, aber praktische Lebensklugheit,
Einsicht in das wahrhaft
Gute und guter Wille.
In ihrem letzten praktischen Ziele
will die Philosophie
Weisheitslehre sein.
Welt
(v. mhd. werlt,
ahd. weralt, eigentlich das Zeitalter,
s. a. saeculum) S. 691 Siehe
auch bei Eisler
bezeichnet die Gesamtheit dessen,
was ist (Universum).
Mit den Fortschritten
der Astronomie haben sich die Vorstellungen von der Größe
und Einrichtung des Weltgebäudes (Kosmos
= Schmuck, Ordnung, mundus) geändert.
Die Lehre von dem Ursprung,
dem Wesen, der Dauer
und dem Ende der Welt entwickelt
die Kosmologie.
Früher schied man die sichtbare
(mundus sensibilis) von der
übersinnlichen (mundus intelligibilis);
die Naturphilosophen des 16. Jahrhunderts stellten
dem Makrokosmos
(der Welt) den Menschen
als Mikrokosmos
gegenüber.
Schopenhauer (1788-1860) sieht in der Welt
einerseits Willen
(Ding an sich),
andrerseits ist ihm die Welt unsere
Vorstellung
(Welt der Erkenntnis).
Vergleiche Metaphysik,
Weltanschauung S.
692
heißt die Gesamtansicht,
die jemand von Gott,
Welt und Menschen
hat.
Das theoretische
Ziel der Philosophie
ist, uns eine Weltanschauung zu
geben.
Weltordnung
S. 692
heißt die physische und sittliche Gesetzlichkeit
des Weltalls, welche J. G. Fichte
(1762-1814) gleich Gott
setzte.
Weltseele
S. 692 Siehe
auch bei Eisler
nannte Platon (Tim. p. 34)
und nach ihm die Stoa, Schelling
u. a. das belebende Prinzip
der Welt.
Wesen
(lat. essentia, gr.
ousia, ahd. wesan, mhd. wesen)
S. 692
bedeutet zunächst das Sein
im Gegensatz
zum Dasein
(existentia). Jedes Vorhandene muss irgend
welche Bestimmtheit haben, um zu existieren. Jede
Existenz setzt eine Essenz oder ein Wesen voraus. Damit hängt
die zweite Bedeutung des Wortes zusammen, wonach unter Wesen das Bleibende,
Beharrliche, das Ding
an sich verstanden wird im Gegensatz zu den wechselnden
Eigenschaften
und zur Erscheinung.
Das Wesentliche an einer Sache ist in dieser Bedeutung das Notwendige. Endlich
bedeutet Wesen ein einzelnes
Ding, und
man spricht von mehreren Wesen derselben Art. Vergleiche
Begriff.
Widerlegung
(lat. refutatio)
S. 692
heißt der Nachweis von der Unrichtigkeit
einer Behauptung. Man widerlegt, indem man entweder den logischen
Widerspruch
oder die materiale Unwahrheit aufzeigt. Dies kann
durch direkten oder indirekten Beweis,
durch Deduktion
oder Induktion,
durch absolute
Beweise oder Wahrscheinlichkeitsschlüsse geschehen.
Um sachlich zu widerlegen, hat man den Streitpunkt fest im Auge zu behalten,
die Behauptungen des Gegners klar aufzufassen, sich über die Prinzipien
mit ihm auseinanderzusetzen, sich vor Verdrehung und Konsequenzmacherei zu hüten
und nicht bloß die Gründe des Gegners aufzuheben, sondern den Gegenbeweis
zu geben. Vergleiche Irrtum,
Kritik.
Widerspruch
(lat. contradictio) S.
126 Siehe auch
bei Eisler
Principium contradictionis
heißt der Satz des Widerspruchs.
Er lautet:
»Ein und derselbe Begriff kann nicht das nämliche zugleich sein und
nicht sein.« Er ist also
die Umkehrung des Identitätsgesetzes.
Der Satz des Widerspruchs hat
nicht bloß subjektive,
sondern auch objektive
Gültigkeit: Widersprechendes
kann nicht zusammen sein,
ohne sich zu beschränken und aufzuheben.
Hegel (1770-1831)
hatte Unrecht, wenn er sagte, alles Existierende
sei der daseiende Widerspruch.
Aus dem Satze des Widerspruchs folgt der Satz vom
»ausgeschlossenen Dritten« -
Contradictio in adjecto, der Widerspruch
im Beigelegten, entsteht, wenn von einem Subjekt
ein Prädikat
ausgesagt wird, das ihm direkt widerspricht, z.B.
der
eckige Kreis, das hölzerne Eisen.
Wille/Wollen
S. 693
heißt allgemein
das mit Einsicht verbundene
Streben. Während
der Trieb blind,
die Begierde
nur zielbewusst ist, gesellt sich beim Wollen
noch die Einsicht in die Erreichbarkeit
des Begehrten hinzu. Erreichbar aber ist etwas, wenn es den Endpunkt
einer Kausalreihe bildet, deren Anfang von uns selbst in Bewegung gesetzt
und zur Ursache
aller folgenden Glieder gemacht werden kann. Vom Begehren
unterscheidet
das Wollen sich also durch die Stetigkeit
seiner Akte, durch
die Überlegung und die Zuversicht, dass es Erfolg
haben werde. Ohne die Vorstellung
des Begehrten, die Erfahrung
und die Einsicht in die Mittel
kommt kein Wollen
zustande. Das Wollen entspringt also aus dem Wissen
und Können. Man
kann, was man will, wenn man will, was man kann. Kein Verständiger
wird wollen, was er sich bewusst
ist, schlechterdings nicht zu können oder
zu dürfen. Die Gegenstände des Wollens aber sind unendlich verschieden,
gut und schlecht;
daher gibt es einen sittlichen
und einen unsittlichen Willen;
und je nach dem Gebrauch und der Überzeugung
von der eigenen Kraft
gibt es ein verständiges und törichtes,
ein festes und schwankendes
Wollen.
Immer aber bleibt der Wille des Menschen
innerstes Eigentum,
so dass Schopenhauers Idee (1788-1860.
Die Welt als Wille und Vorstellung. 1819),
ihn als das Ding
an sich, als das Wesen
der Welt überhaupt,
zu bezeichnen, nur mit vollständiger Verschiebung
des Begriffes
des Willens zu einem unvernünftigen
blinden Streben möglich
war.
Vom Willen kann auch weder beim Tiere noch beim Säugling die Rede sein,
sondern nur beim Menschen,
der soweit gereift ist, dass er Selbstbewusstsein
und Selbstbestimmung
erworben hat; bei ihm treten immer mehr an die Stelle der Begierde nach Lust
alle die mannigfachen Interessen,
die ihm das Leben
eingepflanzt hat, und die vielseitige Überlegung
der Mittel nebst einer gewissen Mechanik des Wollens. -
Das Wollen betätigt
sich nach außen durch Handlungen, nach innen durch Impulse. In jener Hinsicht
zeigt sich sein Einfluss auf das Leben, in dieser sein Einfluss auf das Nachdenken,
Wahrnehmen, Aufmerken, Sichbesinnen und auf das künstlerische Schaffen.
Auf der Möglichkeit, verschiedene Interessen
zugleich zu erwägen
und durch die wichtigste bestimmt zu werden, beruht die praktische
Freiheit des Willens, die Möglichkeit
der Willensbildung und Erziehung, ja des Fortschrittes
der ganzen Menschheit. Vergleiche Freiheit,
Determinismus,
Voluntarismus.
Willkür
(liberum arbitrium) S. 694
heißt die niedrigste Stufe der Freiheit, nämlich die Fähigkeit,
zwischen verschiedenen Möglichkeiten beliebig und ohne sittliche Gründe
zu wählen. Dass der Mensch dabei ganz indeterminiert sei, ist nur ein Schein,
welcher aus dem Zugleichsein mehrerer Bestimmungsgründe in unserm Innern
entspringt. Wer die Freiheit des Willens und des Wesens der Willkür in
der Indeterminiertheit sieht, verwechselt das Unvermögen des Beobachters,
das Resultat der Überlegung vorherzubestimmen, mit einem jede Vorherbestimmung
ausschließenden Vermögen im Wählenden. Wählen aber heißt
das einem besser Scheinende vorziehen; da dies nur auf Grund einer Überlegung
geschehen kann, setzt die Wahl gerade die Motivation durch äußere
Gründe oder die innere Entscheidung voraus; wer aber unter willkürlich
handeln grundlos handeln versteht, der hat kein Recht, noch von sittlichem,
freiem Tun überhaupt zu sprechen. Vgl. Indeterminismus, Äquilibrismus.
Wirklichkeit
S. 694
heißt nach der gewöhnlichen Auffassung
das in der Außenwelt
Daseiende,
in Raum und Zeit Vorhandene.
Aber die Philosophie
hat frühzeitig erkannt, dass die Gegenstände der äußeren
Wahrnehmung
durch ihre Eigenschaften
(Farben, Töne usf.) nicht
das metaphysisch Wirkliche darstellen.
Daher hat der Kritizismus
den Dingen an sich
allein die Wirklichkeit beigelegt,
und der konsequente
Idealismus hat schließlich die Wirklichkeit
der Außenwelt überhaupt geleugnet,
so dass Hegel den Satz aussprechen konnte: »Was
vernünftig ist, ist wirklich, und was wirklich, ist vernünftig«,
womit dem Gedanken,
dem Begriff die
wahre Wirklichkeit zugesprochen
wurde. Vergleiche Realität,
Objekt.
Man wird die Schwierigkeiten im Begriffe des Wirklichen
lösen, wenn man das Wirkliche zwar nur in
den Vorstellungen
des Bewusstseins,
aber in dem an unseren Vorstellungen sucht, was
unseren Sinnen und dadurch unserem Bewusstsein
ohne unseren Willen
gegeben ist.
Wirkung (effectus),
s. Ursache.
Wissen
S. 694
nennt man die auf subjektiv und objektiv zureichende Gründe
gestützte Überzeugung. Diese Gründe können entweder
aus der Sinnesanschauung (Empirie)
oder aus Zeugnissen (historisches Wissen) oder aus dem Zusammenhang von Zahl,
Größe und Gestalt (mathematisches Wissen)
oder aus Schlüssen (philosophisches Wissen)
geschöpft sein. Vgl. Glauben,
Meinen, Überzeugung.
Wissenschaft
S.695
bedeutet material
in subjektivem
Sinne das Wissen
des Einzelnen, in objektivem
den durch Schrift und Lehre überlieferten Schatz
des Wissens der Menschheit, formal
den nach logischen
Regeln geordneten Inbegriff von Lehrsätzen.
In material-objektivem und formalem
Sinne zugleich ist sie das vollständige Ganze gleichartiger, nach Prinzipien
geordneter Erkenntnisse.
Vollständigkeit, Einheit,
Systematik und Klarheit
sind die Hauptseiten der Wissenschaft.
Das bloße gedächtnismäßige
Wissen heißt dagegen Gelehrsamkeit und ist nicht
echte Wissenschaft; man kann ein ganz gelehrter,
dabei aber doch ein unwissenschaftlicher Mensch sein.
Jede Wissenschaft dagegen hat
irgend ein Problem
als ihren Stoff und ein Prinzip,
wonach sie alles Einzelne beurteilt.
Die letzten Grundsätze
aber, aus denen die Einzelwissenschaft
ihren Stoff
ableitet, untersucht
die Philosophie;
sie liefert ihr auch die Methoden.
Der Versuch, alle Wissenschaften
als ein System
darzustellen, führt zur Enzyklopädie.
Wissenschaftslehre
S. 695
nannte J. G. Fichte (1762-1814)
die Philosophie,
indem er sie als die Lehre von demjenigen Wissen
betrachtete, welches die notwendigen Tathandlungen des Geistes umfasst und dadurch
den Grund für alle besonderen Wissenschaften legt, die ihrerseits die freien
oder willkürlichen Handlungen des Geistes zum Inhalt haben. Vgl.
J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. 1794.
Wunder
(miraculum) S. 696
bedeutet zunächst alles, worüber man sich wundert; derartiges gibt
es für die naive, unwissende Menschheit schon unendlich vieles; aber darüber
hinaus wird gerade derjenige, welcher Natur
und Geschichte am meisten kennt, viel Wunderbares
finden, und der Philosoph wundert sich über Dinge, die dem gewöhnlichen
Menschenverstande keinen Anstoß bereiten.
Andrerseits setzt es die höchste Weisheit
voraus, sich über nichts mehr zu wundern, wie es das Horazische
»nil admirari« fordert. –
Im kirchlichen Sprachgebrauch bezeichnet Wunder ein Ereignis,
welches den Naturgesetzen zuwiderläuft und
mit dem Gott durch unmittelbare Fügung die Ordnung des Weltalls durchbricht.
–
Von Wundern wird auch noch im gewöhnlichen
Sprachgebrauch in dem Sinne geredet, dass bisweilen eine ungewöhnliche
Steigerung von Naturkräften hervortritt, so z.B. wenn ein Genie wie Goethe
erscheint.
Vergeiche Natur,
übernatürlich,
Offenbarung
Zahl
S. 697ff. Siehe
auch bei Eisler
heißt die durch die synthetische Tätigkeit des Bewusstseins hergestellte
Zusammenfassung gleichartiger Gegenstände (Einheiten) zu einer die Teile
und das Ganze ausdrückenden Verbindung.
Die Zahl ist nicht die Anschauung oder die Vorstellung oder der Begriff eines
empirischen Objektes, und sie enthält auch keine Bestimmung der Substanz
oder der Beschaffenheit eines Objektes.
Im Zahlbegriff fehlt aber auch ferner jede Beziehung auf ein Nach- und Nebeneinander,
auf Raum und Zeit oder auf ein kausales Verhältnis. In ihm liegt nur die
begriffliche Zusammensetzung des Ganzen aus seinen gleichartigen Teilen.
Das Zählen als psychischer Akt ist zwar eine sukzessive Verbindung unterschiedener
gleichartiger Teile, und die Zahlenreihe ist ohne ein Nacheinander unmöglich;
aber in der fertigen Zahl liegt die Sukzession nicht. So wenig die Nadel, die
das Kleid genäht hat, ein Teil des fertigen Gewandes ist, ebenso wenig
ist die Zeit, die zum Zählen gehört, ein Teil des fertigen Zahlbegriffs.
Die Zahl ist vielmehr abstrakter als alle Zeit- und Raumbegriffe.
Kant (1724-1804) hat daher
eine falsche Lehre aufgestellt, wenn er behauptet hat, dass die Zahl Zeitanschauung
in sich einschließe und dass die Arithmetik die Wissenschaft der reinen
Zeit sei, wie die Geometrie die Wissenschaft des reinen Raumes ist. Gerade auf
der Unabhängigkeit der Zahl von Zeit und Raum beruht die allgemeine Verwendbarkeit
der Zahl.
Arithmetik ist
die relativ reinste mathematische Vernunftwissenschaft.
Nur bei der Erwerbung des Zahlbegriffes bedarf das Kind der Erfahrung und Anschauung.
Der erworbene Zahlbegriff entwickelt sich dann aber nach seinen eigenen Gesetzen
auf das reichste weiter. –
Die Zahl ist entweder bestimmt
(1, 2, 3 usw.) oder allgemein
(a, b, c usw.).
Durch die Rechnungsarten entwickelt sich eine Fülle von Zahlarten: positive,
negative, ganze, gebrochene, rationale, irrationale, reelle, imaginäre,
algebraische, transzendente usw., und es gipfelt der Zahlbegriff jetzt in dem
Begriff der komplexen Zahl a ± ib.
Um die Klärung über das Wesen der Zahl haben sich in neuerer Zeit
besonders verdient gemacht: Weierstraß, Dedekind, Cantor und Kronecker.
Die Wissenschaft von der Zahl ist die Arithmetik. Sie ist ihrem Wesen nach nicht
analytisch wie die Logik, sondern synthetisch und beruht auf einer Art schöpferischer
Kraft des Bewusstseins, die Kant nicht ganz richtig mit den Namen »Konstruktion
in der Anschauung« bezeichnete. Ihr Verfahren besteht in einer rekurrierenden
Schlussweise, die in eine einzige Formel eine unendliche Anzahl von Syllogismen
zusammendrängt und auf eine Geisteskraft hinweist, welche der unendlichen
Wiederholung ein und desselben Schrittes fähig ist, wenn dieser Schritt
einmal als möglich erkannt ist. Die Arithmetik kommt also durch Konstruktionen,
nicht aber durch Konstruktionen in der Anschauung, vorwärts und konstruiert
schrittweise immer verwickeltere Kombinationen, um alle möglichen Formen
der Zusammensetzung eines Ganzen aus einen Teilen zu entwickeln.
An das Zählen schließt sich die Addition, an diese die Multiplikation
und an diese die Potenzierung an. Rückwärtszählen, Subtrahieren,
Dividieren (Teilen und Messen), Radizieren und Logarithmieren bilden die inversen
Operationen. Aus diesen Operationen erwächst alle Gestaltung des Zahlbegriffs.
Die Arithmetik ist unter allen mathematischen Wissenschaften die unentbehrlichste,
allgemeinste und grundlegendste.
Pythagoras hat der Zahl sogar metaphysische Bedeutung zu geben versucht und
in ihr das Wesen der Dinge gesehen. Doch geschah dies zu Unrecht; denn die Zahl
ist ein Begriffsgebilde aber nicht das Ding an sich. Vgl.
C. Michaëlis, Über Kants Zahlbegriff. Berlin 1884. Über Stuart
Mills Zahlbegriff. Berlin 1888. Max Simon, Didaktik und Methodik des Rechnen-,
Mathematik- und Physik-Unterrichts. München 1895. H. Graßmann, Lehrbuch
der Arithmetik. 1861. Dedekind, Was sind und was sollen die Zahlen? Braunschweig
1888. v. Helmholtz, Zählen und Messen, erkenntnistheoretisch bearbeitet.
1887. (Wiss. Abhandl. Bd. 3, S. 356 ff.). Kronecker, Über den Zahlbegriff
(Crelles Journal Bd. 101). Tannery, Leçons d'arithmétique thèorique
et pratique. Paris 1894. H. Poincaré, Science et hypothèse, deutsch
von F. und L. Lindemann. Leipzig 1904 (I. Zahl und Größe).
Zeit
S. 699
Siehe Raum,
Ewigkeit, unendlich.
Zirbeldrüse
(glanspinealis, glandula,
conarium) S. 699
einen ovalen rötlichgrauen weichen Körper
von der Größe eines Kirschkerns, der auf dem vorderen
Hügelpaar der Vierhügel im Gehirn ruht und der im Inneren den so genannten
Hirnsand enthält. (vgl. acervulus cerebri), betrachtete
Descartes (1596-1650) als den Sitz
der Seele, weil
sie keines der paarigen Organe sei (Passions de l'âme
I, 31). Die jetzige Forschung hat in der Zirbeldrüse
ein rudimentäres Auge nachgewiesen.
Zorn
S. 699
ist die zum heftigsten Affekt gesteigerte Unlust
über ein empfundenes Unrecht. Der Zorn gehört zu den
sthenischen Affekten und hat großen Einfluss auf das Leibesleben. Das
arterielle Gefäßsystem- wird im Zorne aufgeregt, der Puls wird hart,
voll und groß, das Gesicht rot und aufgetrieben, die Stirn gerunzelt,
die Augen treten hervor, der Körper gerät in heftige Bewegung, die
Galle wird stärker abgesondert. Sobald der Paroxysmus der Leidenschaft
zu Ende ist, tritt Abspannung ein.
Je nach Temperament und Erziehung ist die Neigung
zum Zorn verschieden; das Heilsame wäre, nie in Zorn zu
geraten; denn der Zorn hat für den ganzen Organismus die nachteiligsten
Wirkungen: Gallenfieber, Entzündung der Leber, des Herzens, des
Gehirns, ja Manie ist oft die Folge. Bekämpft
wird der Zorn durch Einsicht
und Selbstbeherrschung.
Zufall
(casus) S.
699f. Siehe auch
bei Eisler
nennt man alles, was durch keine Gründe und Ursachen bedingt zu sein scheint,
also das Unbeabsichtigte und das Unerklärliche. Der Begriff des Zufalls
ist jedoch ein bloß subjektiver; denn tatsächlich ist alles Wirkliche
durch Ursachen bedingt. Aber ein Kausalzusammenhang kann für uns unter
Umständen dunkel und unbekannt oder auch unbeabsichtigt sein.
Zufällig heißt demnach dasjenige Ereignis, welches aus einem System
von Ursachen entspringt, das nicht in der Macht des Wollenden oder der Kenntnis
des Auffassenden liegt, z.B. eine Folge, die weder von uns beabsichtigt noch
auch vorhergesehen ist. Der Zufall, so aufgefasst, spricht sowohl im Leben des
einzelnen als auch in der Geschichte der Völker seine Rolle. Vergleiche
Geschichte.
Zurechnung
(imputatio)
S. 700
besteht in einem Urteil, durch welches ausgesprochen wird, dass eine bestimmte
Tat eine bestimmte Person zum Urheber habe. Der Kausalnexus zwischen Urheber
und Tat wird aber durch das Wollen hergestellt, das aus dem Ich hervorgeht.
Daher hat man bei der Abwägung, ob eine Tat jemandem zuzurechnen sei, die
doppelte Frage aufzuwerten: ist die Tat aus dem Wollen des betreffenden Menschen
und ist das Wollen aus dem Bewusstsein desselben hervorgegangen? Die Bejahung
der ersten Frage ergibt die Zurechenbarkeit der Tat, die der zweiten die Zurechnungsfähigkeit
des Subjekts. Jene Zurechnung ist die faktische, diese die rechtlich-moralische
Zurechnung.
Hat z.B. jemand im Wahnsinn oder auf Befehl eines Vorgesetzten etwas getan,
so muss ihm zwar der Erfolg als seine Tat zugeschrieben, aber er kann keine
Schuld dafür beigemessen werden.
Die Zurechnung hat verschiedene Stufen.
Sie ist unmittelbar, wenn jemand eine Tat selbst getan hat (physische Urheberschaft);
sie ist mittelbar, wenn er einen anderen dazu angestiftet hat (intellektuelle
Urheberschaft). Sie ist vollständig oder unvollständig, je nachdem
die Handlung die allein hinreichende Ursache des Erfolges war oder nicht. Demgemäß
bemisst sich auch die Schuld der Teilnehmer. Vor allem kommt es darauf an, ob
der Mensch Einsicht und Vorsatz hatte. Alles, was der Täter als direkte
oder indirekte Folge seiner äußeren oder inneren Handlung voraussehen
musste, ist zurechenbar, was er nicht voraussehen konnte, ist unzurechenbar;
was er voraussehen konnte und nicht vorausgesehen hat, wird strafbar, wenn er
es hätte voraussehen sollen.
Die Zurechnungsfähigkeit hängt ab vom Kennen und Wollen, vom Wissen
des Sollens und vom Begehren des Gewussten.
Unzurechnungsfähig sind also Kinder, Wahnsinnige, Kranke, Taubstumme (z.B.
betreffs des Eides), Hypnotisierte usw. Alles Gesagte gilt natürlich nicht
nur für Taten, sondern auch für sträfliche Unterlassungen.
Vgl. J. Hoppe, d. Zurechnungsfähigk. 1877. G. Rümelin, Reden und Aufsätze.
1881.
Zweck
(lat. finis,
gr. telos; im Deutschen bedeutet das
mhd. zwec soviel als
Nagel aus Holz oder Eisen, dann Nagel im Mittelpunkt der Zielscheibe und schließlich
Zielpunkt, Ziel) S. 700f.
nennt man eine vorgestellte und begehrte Wirkung
(vgl.
Ursache). Der Begriff
des Zweckes ist also aus dem Kausalitätsbegriffe
abgeleitet,
ist also nicht eine Kategorie
des Denkens.
Man unterscheidet
Zwecksetzung und Zweckverwirklichung.
Zur Zwecksetzung gehört dreierlei:
a) die Vorstellung
einer Wirkung,
b) der Wunsch, dieselbe aus dem Reiche der Idee
in das der Wirklichkeit
zu setzen,
c) die Vorstellung der Ursache
(Mittel), welche dazu führt.
Zur Zweckverwirklichung gehört:
a) die Idee einer Wirkung,
b) die Auslösung einer Ursache
(Mittel), c)
der Eintritt einer Wirkung (verwirklichter
Zweck).
Der Zweckbegriff ist also nur unter Voraussetzung einer die Kausalitätsverhältnisse
kennenden und ins Werk setzenden Intelligenz
möglich.
Der Zweck heißt Finalursache
(causa finalis), weil er die Ursache
ist, dass man die Mittel wolle.
Der Finalnexus ist die durch Mitwirkung
des Denkens und
Wollens vollzogene Erweiterung des Kausalnexus
um ein Glied; in der objektiven
Kausalreihe von zwei Gliedern ist
die Ursache das erste, die Wirkung das zweite, in der subjektiven und objektiven
Zweckreihe von drei Gliedern
ist die Idee der Wirkung das erste, die wirkliche Herbeiführung der Ursache
das zweite und die reale Wirkung erst das dritte.
Zweck ist daher nach Kant (1724
bis 1804) »der Begriff
von einem Objekt,
sofern er zugleich den Grund
der Wirklichkeit
dieses Objektes enthält« (Kritik der
Urteilskraft. Einleitung S. XXVI).
Wer also den Zweck begehrt, muss auch die Ursache, die weil sie zwischen Zweck
und Wirkung liegt, Mittel
heißt, wollen; doch geht der Zweck der Auswahl der Mittel voran, und erst
das Begehren des Zweckes verursacht das Begehren des Mittels; dieses verursacht
das begehrte Objekt; dieses endlich verursacht die Empfindung der Befriedigung.
Manches begehrt man freilich auch als Zweck, während man die Mittel nicht
will. So lebt mancher Mensch, obwohl er die Gesundheit liebt, so, dass er krank
werden muss. Oft setzt sich auch andrerseits, was man nur als Mittel begehrte,
als Zweck fest. Dies tritt besonders beim Gelde hervor.
Vergleiche Teleologie,
Mittel.
Zweckmäßigkeit
S. 701
Siehe Teleologie.
Zweifel
S. 701f.
heißt derjenige Gemütszustand,
in dem man durch einander entgegenstehende Gründe
an der Entscheidung einer Frage gehindert
wird.
Der Zweifel ist entweder ein Zustand intellektueller
oder ein Zustand ethischer
Art. Sein Gegenteil ist demgemäß entweder die Gewissheit
oder die Entschlossenheit oder das Vertrauen.
Der Zweifel ist unbequem in der Praxis
des Lebens und lahmt die Kräfte des Geistes; aber in der Wissenschaft
ist der Zweifel der Vater der Forschung. Denn nur wer verschiedene Möglichkeiten
erkennt und sich dadurch hin und her getrieben fühlt, sucht nach Instanzen
der Entscheidung.
Daher empfahl schon Epicharmos (5.
Jahrhundert) den Zweifel:
naphe kai memnas' apistein; arthra tyta tôn
phrenôn, und auch
Aristoteles (384-322)
betrachtete ihn als Quelle der Weisheit;
Cartesius (1596-1660)
empfiehlt dem Philosophen bei Beginn seiner Arbeit den methodologischen Zweifel
an allem. Verschieden von dem von ihm geforderten Zweifel ist der
skeptische Zweifel, welcher das Endresultat
der sich selbst aufgebenden Philosophie
ist und auf das Streben nach Erkenntnis verzichtet. Vergleiche
Skepsis, Wahrscheinlichkeit,
Wahrheit.