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Friedrich Kirchner (1848 – 1900) - Seite 2


Mathematik (gr. mathêmatikê sc. epistêmê), S. 350 ff.
eigtl. Wissenschaft überhaupt, heißt die Quantitätslehre.

Alle Bestimmung von Quantitäten erfolgt aber durch Zahlen und anschaulich gegebene Größen. Die Mathematik ist also die Wissenschaft von den Zahlen und den Größen.

Die Größen können Raum-, Zeit-, Bewegungs- oder Kraftgrößen sein.

Das allgemeinste grundlegende Gebiet der Mathematik ist die Lehre von den Zahlen (Arithmetik und Algebra).

Zahlen sind diejenigen Verbindungen gleichartiger Vorstellungen oder Objekte (Einheiten) im Bewusstsein, in denen jedes dieser Objekte als niedere Einheit getrennt für sich bestehend und zugleich doch alle Objekte im Bewusstsein auf einmal zu einer Einheit verbunden gedacht werden.

In der Zahl liegt also ein Bewusstsein zugleich stattfindender Trennung und Verbindung, der Begriff des Ganzen und seiner Teile.

Zahlen sind die abstraktesten Formen, in denen das Gesetz des diskursiven Denkens (Trennen und Verbinden) zum Ausdruck kommt und für die Anwendung auf Größen geformt wird.

Die Arithmetik ist daher der Teil der Mathematik, auf den sich alle anderen stützen. Ohne Zahlenbestimmungen und Rechnungsoperationen lässt sich im Gebiete der Größen nicht arbeiten.

Einen Hauptteil der Mathematik bildet dann zweitens die Lehre vom Räume (Geometrie).

Aber Arithmetik und Geometrie machen nicht die Gesamtmathematik aus und stehen nicht im Verhältnis der Beiordnung. Vielmehr wendet die Geometrie überall die Gesetze der Zahlenlehre an, und mit der Kombinations- und Reihenlehre tritt der Begriff der Sukzession und der Zeit, mit der Differential- und Integralrechnung der Begriff der Veränderungs-, der Bewegungsgrößen in die Mathematik ein. Werden Zahl, Raum-, Zeit-, Bewegungsgrößen zusammengefasst, so dienen sie zur Bestimmung der Kraftgrößen (siehe das über das CGS-System unter Maß Gesagte).

So bildet die Mathematik eine Fülle von Einzelgebieten aus und lässt Anwendungen in allen Wissenszweigen zu, wo Größenbestimmungen nötig sind, namentlich im Gebiete der Astronomie, Geodäsie, Physik usw. –

Die Methode der Mathematik ist im Wesentlichen deduktiv. Sind die Grundbegriffe eines ihrer Gebiete gegeben, so lässt sich aus diesen schrittweise die ganze Wissenschaft folgern; von der Idee der Zahl z. B. kommen wir schrittweise zum Aufbau der Zahlenreihe, zu der Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division, Potenzierung, Radizierung, Logarithmierung und könnten von da aus weiter noch höhere Rechnungsarten entwickeln. Aber die Grundbegriffe der Mathematik beruhen ebenso auf der Erfahrung wie die Begriffe anderer Wissenschaften.

Die Mathematik ist wohl im Aufbau und in der Methode rational, nicht aber in ihrem Ursprunge. Zahlen bauen sich nur auf Empfindungsgrößen, Raumgebilde nur auf Anschauungen der Erfahrung auf. Der deduktive Charakter der mathematischen Methode hat vielfach über ihr Wesen getäuscht, sie als reine Vernunftwissenschaft erscheinen lassen, für die sie
Kant nahm, und die Philosophie hat andrerseits vergeblich versucht, sich mit mathematischer Methode aufzuhelfen.

Mathematik und Philosophie berühren sich nur wenig. Die Aufgaben der Philosophie sind viel reicher als die der Mathematik. Sie will ein Weltbild liefern und nicht nur Quantitätsverhältnisse bestimmen; aber es gibt ein Grenzgebiet beider Wissenschaften, die Klarlegung des Wesens von Zahl, Raum, Zeit, Bewegung, Kraft usw. Hier greifen sie ineinander.

Pythagoras
(580 bis um 500) wollte allerdings das Wesen aller Dinge in der Zahl finden und so Mathematik und Philosophie auf ein Prinzip zurückführen,
Platon
(427-347), der keinen Nichtmathematiker (ageômetrêtos) als Schüler aufnehmen wollte, fasste ebenfalls gelegentlich die Ideen als Zahlen auf, und die Neuplatoniker schlossen sich noch enger an die pythagoreische Lehre an.

Descartes
, Spinoza, Leibniz, Wolf strebten danach, der Philosophie durch mathematische Methode, die ersteren beiden durch geometrische Methode, die letzteren durch einen
calculus universalis, mehr Evidenz zu geben, und

Herbart
(1776-1841) hat die Mathematik besonders auf die Psychologie angewandt, ohne überhaupt eine Maßeinheit für psychologische Größen zu besitzen. Aber gerade die Geschichte der Philosophie zeigt, dass die Verirrung in mathematische Spekulationen und die Anwendung der mathematischen Methode dem Philosophieren eher hinderlich als förderlich ist.

Kant hat demgemäß in der
Kritik der reinen Vernunft im II. Teile in der Methodenlehre (I. Abschn. v. d. Disziplin d. r. V.) scharf die Methode der Mathematik und Philosophie geschieden. Mathematik ist ihm Wissenschaft aus der Konstruktion der Vernunftbegriffe in der Anschauung, Philosophie Wissenschaft aus reinen Vernunftbegriffen. Vgl. Zahl. G. Michaëlis, über Kants Zahlbegriff. 1884. Über Stuart Mills Zahlbegriff. 1888.

Maxime (lat. maxima scil. propositio) S. 352
heißt eine Art der Grundsätze des menschlichen Handelns. Im Unterschied von den Gesetzen und Imperativen sind die Maximen subjektive Regeln. Jene sind für jedes vernünftige Wesen, diese nur für den Willen des einzelnen gültig. (Siehe Kant, Kr. d. pr. V., S. 36.)

Mechanismus (nlt., franz. v. gr. mêchanê = Maschine) S. 352f.
nennt man, im Unterschied vom Organismus, ein Wesen, das nur durch äußere Kräfte, also Druck und Stoß, in Bewegung gesetzt wird.

Mechanismus heißt ferner die Weltansicht, welche das Geschehen in der Natur nur auf Ursachen und Kräfte zurückführt und alle Zweckerklärungen ausschließt. Ihr Gegensatz ist die Teleologie. Vgl. Lamettrie, L'homme machine. 1748.

Mensch (ahd. mannisco, substantiviertes Adj. [menschlich], abgel. von mann, dessen Grundbedeutung nicht feststeht) S. 354f.
ist das leiblich und geistig vollkommenste aller organischen Wesen auf der Erde.

Der Mensch hat das ausgebildetste Nervensystem und Gehirn; seine Glieder, welche symmetrisch geordnet sind, und die Richtung seiner Wirbelsäule bedingen den aufrechten Gang, er übertrifft alle Tiere durch seine Sprachfähigkeit und seinen Verstand. An Körperstärke wird er von manchem Tiere weit überholt; auch haben diese vor ihm vielfach die Ausstattung mit natürlichen Waffen voraus. Aber gerade durch seine Hilflosigkeit, Nacktheit und physische Schwäche wird der Mensch zur Ausbildung seines Verstandes genötigt. Er entwickelt sich langsamer als alle Tiere; aber um so höher reift sein inneres Wesen, und er allein kommt unter allen Klimaten fort und nährt sich durch die mannigfaltigste Nahrung.

Vor allem aber unterscheidet sich der Mensch von den Tieren dadurch, dass er sich zur Person herausbildet, d.h. zu einem selbstbewussten freien Wesen, das sein eigner letzter Zweck ist. Während jene in die ihnen angeborenen Instinkte und Vorstellungskreise gebannt bleiben, entwickelt er seinen Geist zu größerer Feinheit, Fülle und Tiefe. Sein Denken verwandelt die Empfindungen und Anschauungen durch Reproduktion und Verallgemeinerung in Vorstellungen, Begriffe und Ideen; es verbindet sie zu Urteilen und Schlüssen; es macht Versuche, stellt Hypothesen auf und konstruiert Systeme.

Alles das geschieht mit Hilfe des Verstandes und der Sprache, welche sich von Geschlecht zu Geschlecht vererben, fortentwickeln und vervollkommnen.

Durch Vernunft erhebt sich sein Wille über das dunkle, blinde Triebleben, durch jene erhält er Motive, welche ihn von diesem frei machen, und Wissenschaft und Sittlichkeit führen ihn zum religiösen Glauben hin. –

Der Mensch ist aber nicht bloß ein leiblich-geistiges, sondern auch ein soziales Wesen (politikon zôon Aristot. Pol. I, 2 p. 1253 a 7). Durch Geschlecht und Sympathie wird er zur Ehe, zur gesellschaftlichen Verbindung, zur Staatengründung geführt. Das soziale Leben des Menschen in seinem Fortschreiten bildet die Geschichte der Menschheit.

Eine Charakteristik des Menschen gab Herder (1744-1803) in seinen »Ideen zur Geschichte der Menschheit« (1784-1791), ferner

Kant (1724-1804) in seiner »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abgefasst«. Königsberg 1798.

Eine Charakteristik des Menschen zu geben, welche die ideale Fähigkeit desselben philosophisch bestimmen und empirisch ermitteln sollte, um in die praktische Spitze einer Theorie der Menschenbildung auszulaufen, war vor allem auch das Ziel W. v. Humboldts (1767-1835), und er hat diese Idee teilweise durch seine Sprachphilosophie verwirklicht. Vgl. Anthropologie, Humanität, Makrokosmos. Huxley, Stellung des Menschen, dtsch. v. Carus. Braunschweig 1863. Joh. Ranke, Der Mensch. Leipzig 1886.

Merkmal (nota) S. 355f.
oder Prädikat ist eine Vorstellung, die zur Bestimmung einer anderen dient. Jeder Begriff (notio) wird durch eine Reihe von Merkmalen bestimmt; man analysiert (zergliedert) ihn also, indem man diese aufsucht. Durch diese Zergliederung wird er deutlich. –

Widerstreitend
heißen zwei Merkmale, wenn sie sich aufheben, wie gut und böse, einstimmig, wenn sie, wie gut und schön, miteinander bestehen können.

Konstitutiv, absolut, primitiv oder wesentlich heißt ein Merkmal, ohne welches ein Begriff überhaupt nicht denkbar ist.

Korrelativ heißen diejenigen Merkmale, die sich gegenseitig erfordern.

metamathematisch S. 356f.
heißen die Spekulationen, welche sich mit der Untersuchung nicht-euklidischer Räume, wie z.B. des pseudosphärischen, hyperbolischen und der mehrdimensionalen beschäftigen.

Unser dreidimensionaler Raum, in dem ein Punkt durch drei voneinander unabhängige Variable (oder durch Abstände von drei aufeinander senkrechten Koordinaten) bestimmt ist und in dem das Parallelenaxiom gilt, ist nicht der einzig denkbare, obwohl der einzig vorstellbare, sondern nur eine Spezies des allgemeinen analytischen Begriffs, einer n-fach bestimmten Mannigfaltigkeit.

In einem Raume von n Dimensionen würde jeder Punkt durch n voneinander unabhängige Variable bestimmt.

Ein Raum von vier Dimensionen z.B. ist logisch denkbar, wenn auch nicht vorstellbar.

Zu einer wirklichen Definition des Raumes führen die metamathematischen Spekulationen nicht, und die Theorie n-dimensionaler Räume oder solcher Räume, in denen die Summe der Dreieckswinkel nicht 180° groß ist, hat keinen wirklichen Erkenntniswert; aber sie haben die Bedeutung, dass sie zeigen, dass unser Raum uns nicht unabhängig von der Erfahrung gegeben ist, und dass die geometrischen Axiome nicht absolute Notwendigkeit in sich schließen, sondern auch nur Hypothesen sind, wenn auch solche, die sich überall durch die Erfahrung bestätigt haben.

Übrigens stammt die Idee andersartiger Räume, als der euklidische ist, nicht erst, wie gewöhnlich behauptet wird, von Gauß, Riemann, Lobatschewsky usw. her, sondern von Kant (1724-1804), der sie in seinen vorkritischen Schriften hinwirft. Vgl. Kant, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1747) §9 ff. v. Helmholtz, Ursprung und Bedeutung d. geom. Axiome. Braunschw. 1876. Liebmann, Zur Analysis d. Wirklichkeit. 2. Aufl. 1880. B. Erdmann, Die Axiome der Geometrie. Leipzig 1877.

Metapher (gr. metaphora), S. 357
eigtl. Übertragung, dann Bild, heißt die Vertauschung des gewöhnlichen Ausdrucks mit dem bildlichen, z.B. Balsam statt Trost, Klemme statt Verlegenheit. Die Sprache, selbst die philosophische, ist reich an Metaphern. Es gibt verschiedene Arten der Metapher. Man setzt z.B. einen sinnlichen Ausdruck für den anderen (ein Wald von Masten); oder man vergeistigt das Sinnliche durch Personifikation (das Meer tobt); oder man versinnlicht das Geistige (die Säule des Staates); oder man vertauscht ein geistiges Bild mit einem andern (Kraft ist dein Wort). Metaphorisch bedeutet bildlich, uneigentlich.

Metaphysik (gr. ta meta ta physika = die Bücher des Aristoteles hinter der »Physik«) S. 357 ff.
heißt die Wissenschaft, die es mit den letzten Gründen alles Daseins zu tun hat, also mit dem, was über der Natur, was hinter der Erscheinungswelt liegt, was die eigentliche Wirklichkeit ausmacht.

Aristoteles
(384-322) nannte sie »Weisheit« oder »erste Philosophie« (sophia, prôtê philosophia). Diese Wissenschaft ist der älteste Teil der Philosophie.

Solange Menschen sind, haben sie nach dem Wesen, Grunde oder Zwecke der Dinge gefragt, nach dem, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Sie ist auch der schwierigste, immer neue Lösungsversuche herausfordernde und der wichtigste Teil der Philosophie; denn sie behandelt die Fundamentalbegriffe, welche von allen anderen Wissenschaften vorausgesetzt werden: Wirklichkeit, Sein, Werden, Raum, Zeit, Bewegung, Ding, Veränderung, Ursache, Wirkung, Grund, Folge, Zweck, Kraft, Stoff usf. und somit alle die großen Rätsel- und Grundfragen des Daseins.

Dass über die letzten Begriffe des Daseins die Ansichten sehr auseinander gehen müssen, ist natürlich; daher ist die Geschichte der Metaphysik die der theoretischen Spekulation überhaupt. Viele Philosophen, so zum Beispiel die Skeptiker, die Naturalisten und Positivisten, lehnen die Metaphysik gänzlich ab, aber die meisten Denker haben doch nach Metaphysischem Abschluss ihrer Weltansicht gestrebt.

Nachdem die Hylozoisten (5. Jahrh. v. Chr.) einen einzelnen mit Kraft belebten Stoff als Prinzip angenommen hatten,

Pythagoras (580 bis um 500) die Zahl als das Wesen der Welt betrachtet,

Herakleitos (um 500 v. Chr) die Welt in einen ewigen Werdeprozess,

die Eleaten (6. u. 5.Jahrh.) in ein starres unveränderliches Dasein umgewandelt,

Empedokles (484-424) Mischung und Entmischung der Stoffe durch Liebe und Hass,

Anaxagoras (500 bis 428) Stoff und ordnenden Geist angesetzt hatte,

bemühten sich Platon (427-347) und Aristoteles (384-322) um die Feststellung des Verhältnisses von Materie und Geist, Stoff und Form, Einzelnem und Allgemeinem.

Platon schrieb den allgemeinen Begriffen Dasein zu und nannte sie Ideen.

Aristoteles gab den allgemeinen Begriffen nicht Sonderexistenz, sondern verlegte sie in das Einzelne. Den Stoff aber dachte er sich als ein Mögliches, noch nicht Wirkliches, in beständiger Fortentwicklung zur Form, dem eigentlich Wirklichen. Die Anschauungen dieser zwei Denker haben dann das Mittelalter beherrscht.

Durch Hinzunahme christlicher Dogmen und empirischer Naturerkenntnisse wurden die metaphysischen Fragen noch komplizierter. In der neueren Philosophie waren die Lösungsversuche entweder

monistisch (Spinoza, Leibniz, Fichte, Schelling, Hegel, Herbart, Schopenhauer, v. Hartmann, Lotze, Fechner), oder

dualistisch (Cartesius, Malebranche).

Daneben traten Philosophen wie Locke, Hume hervor, welche im Grunde der Metaphysik alle Berechtigung absprachen und, dem Skeptizismus huldigend, dasjenige, was die Metaphysik bisher gelehrt, für subjektive Aussagen unserer Vernunft ansahen.

Kant (1724-1804) nahm eine eigentümliche Stellung zur Metaphysik ein, die ein Gemisch von Hinneigung und Scheu war. Er kam zu dem kritischen Resultat, dass wir die Dinge nicht erkennen, wie sie sind, sondern nur, wie sie uns erscheinen. Er schränkte also das Wissen auf das Erfahrungswissen ein und verstand unter wissenschaftlicher Metaphysik zunächst nur Vernunftkritik, aber er hatte ein darüber hinausweisendes metaphysisches Bedürfnis, neigte zum Idealismus und hielt an der Idee einer übersinnlichen intelligiblen Welt fest. So baute er die Metaphysik auf praktische Postulate auf und schuf eine Art Ethiko-Metaphysik (Ethikotheologie), eine Lehre vom höchsten Gute mit den Ideen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit.

Nach Kant haben Fichte, Hegel, Schelling, Schopenhauer usw. die Metaphysik wieder zum Kern der Philosophie zumachen gesucht.

Nachdem aber A. Comte (1798-1857) verkündet hat, das metaphysische Zeitalter sei vorüber, haben sich viele der »exakten« oder »wissenschaftlichen« Philosophie gewidmet und die Metaphysik gemieden. Aber die Metaphysik ist weder überflüssig noch aussichtslos, wenn sie nur auf kritisch-exaktem Grunde ruht und sich bewusst ist, dass alle ihre Aussagen sich in den Formen unseres Bewusstseins bewegen müssen, und wenn sie die Resultate, welche die exakte Forschung erzielt, zu ausprechenden Hypothesen benutzt. Unter den Richtungen der Metaphysik ist die dualistische, die zwei Prinzipien, Körper und Geist annimmt, am wenigsten befriedigend.

Sie ist auch in der neueren Philosophie eigentlich nur bei Cartesius und seinen Nachfolgern vorhanden gewesen, und soweit in der Kantischen Philosophie Dualismus lag, ist er sofort durch die deutschen Idealisten umgebildet worden. Im Monismus sind drei Zweigrichtungen denkbar, der Realismus, der Idealismus und die Identitätsphilosophie, die Metaphysik der körperlichen, geistigen und absoluten Wirklichkeit. In der Ausbildung der idealistischen Richtung, zu der auch die Resultate der Naturwissenschaft und der Erkenntnistheorie hinleiten, hat die deutsche Philosophie am meisten getan, und der deutsche Geist dürfte auch dauernd in dieser Richtung seine Befriedigung finden.
Vgl. Kant, Prolegomena z. e. jed. künft. Metaphys. 1783. Schwab, Welches sind die Fortschritte, die die Met. seit Leibniz gemacht hat? 1796. Herbart, Einl. in die Philos. 1813. Beneke, Syst. d. Metaph. 1840. Ulrici, Glauben und Wissen. 1858. Lotze, Metaph. 1879. Frohschammer, die Phantasie als Grundprinzip. 1877.

Metempsychose (franz. métempsychose, vom gr. metempsychôsis, das von meta = um und empsychoô = beseelen abgeleitet ist), S. 359
Umseelung, Seelenwanderung, heißt die Wanderung der menschlichen Seele durch verschiedene tierische und menschliche Körper.

Die Annahme einer solchen Seelenwanderung beruht sowohl auf dem Pantheismus, der alles für beseelt hält, als auch auf dem Dualismus, wenn er die Erde als einen Straf- und Läuterungsort annimmt.

Wir finden die Lehre von der Metempsychose oder Metensomatose (Körperwechsel) beim Brahmaismus und Buddhismus, bei der ägyptischen Geheimlehre, bei Pherekydes und Pythagoras, Empedokles, Platon, Plotinos, Pindaros, Cicero und Vergilius, auch in der Kabbâla, bei den Manichäern, amerikanischen Wilden und afrikanischen Negern.

Schon Aristoteles hat dagegen das schlagende Argument geltend gemacht, dass sich die Seele nicht gleichgültig gegen ihren Körper verhalte.
Vergleiche Unsterblichkeit.

Methode (gr. methodos v. meta = nach u. hodos = Weg) S. 360f.
heißt das planvolle und zusammenhängende Verfahren zur Erreichung eines bestimmten Zweckes auf wissenschaftlichem oder auf praktischem Gebiete.
Der Gegensatz dazu ist das planlose, unzusammenhängende Vorgehen, das von subjektiven Einfällen Willkürlichkeiten und Zufällen geleitet wird. Unentbehrlich ist die Methode für den Aufbau der Wissenschaft, so dass methodisch und wissenschaftlich dasselbe ist. Jede Wissenschaft bedarf aber einer eigenen Methode und muss sie für sich ausbilden. Die allgemein wissenschaftliche Methodenlehre ist dagegen ein Teil der Logik (s. d.). Sie unterscheidet im Wesentlichen zwei Arten der Methode. Die Ableitung allgemeiner Gesetze aus einer Vielheit beobachteter Fälle ist die induktive Methode (s. Induktion). Sie ist die Methode mehrerer Gebiete der Naturwissenschaften. Die Ableitung dagegen von Folgerungen aus Prinzipien und Hypothesen durch Schlüsse ist die deduktive Methode (s. Deduktion). Sie ist die Methode der Mathematik. In vielen Wissensgebieten, wie z.B. der Physik, finden beide Methoden ihren Platz. Jene heißt auch regressiv oder analytisch, diese progressiv oder synthetisch oder konstruktiv. Je nachdem ferner das Ganze der Wissenschaft vorausgesetzt oder entwickelt, gegeben oder gesucht wird, unterscheidet man die systematische Methode von der heuristischen oder genetischen Methode. Die Anwendung einer falschen Methode führt die Wissenschaft auf Abwege oder hindert ihren Fortschritt (s. Mathematik). So war es z.B. ein Irrweg des Spinoza und Wolf, wenn sie die mathematische Methode, die von Erklärungen und Axiomen zu Lehrsätzen fortschreitet, für die einzig wissenschaftliche hielten und auf die Philosophie übertrugen. In dieser gilt ebenso der Weg von den Erfahrungen zu den Gesetzen wie das Entwickeln und Ausdenken der Ideen.

Als kritische Methode bezeichnen wir die Methode Kants, die Funktionen der reinen Vernunft als die Formen von dem aus der Erfahrung herrührenden Bestandteile unserer Erkenntnis, dem Inhalte, abzusondern und ihren Bestand im einzelnen durch Analyse nachzuweisen; dialektisch nannte Hegel die von ihm angewandte Methode, die von einem Begriff zu dessen Gegenteil und von da zu einer höheren Synthese der Gegensätze, also von einer Position zu einer Negation und von da zu einer affirmativen Totalität emporsteigt (s. Dialektik).

Was den mündlichen Vortrag einer Wissenschaft, den Unterricht, betrifft, so unterscheidet man die akroamatische Methode (zum Anhören nötigende Vortragsmethode), (vgl. akroamatisch) von der erotematischen (dialogischen, katechetischen, Sokratischen, Fragemethode, Vgl. erotematisch). Nach der ersteren trägt der Lehrende im Zusammenhange vor, dem Hörer das Verständnis überlassend, nach der letzteren sucht er durch Frage und Antwort den Stoff dem Schüler schrittweise zu übermitteln. Innerhalb der schriftlichen Darstellung einer Wissenschaft unterscheidet man die darstellende und entwickelnde Methode. Darstellend heißt die Methode, welche das System einer Disziplin vorführt und der Regel das Beispiel folgen lässt, entwickelnd die, welche zur eignen Erzeugung der Gedanken anleitet und vom Beispiel zur Regel führt. Jene deckt sich im Allgemeinen mit der systematischen, diese mit der heuristischen Methode. Die entwickelnde Methode ist besonders für die Darstellung der Philosophie geeignet. Endlich unterscheidet man noch die gelehrte M. von der populären, von denen sich jene an die Fachleute, diese an die Gebildeten überhaupt wendet. Den wissenschaftlichen Methoden reihen sich die praktischen Methoden an, die unaufzählbar sind. Zu zahllosen Methoden in der Gewinnung bestimmter Körper führt uns schon die Chemie und noch viel mehr die Praxis des Lebens.
Vgl. W. Wundt, Logik II. 1881. Stuart Mill, induktive u. deduktive Logik, dtsch. von Schiel. 1849.

Mitleid S. 364
heißt die
Teilnahme am Unglück anderer und die hieraus entspringende Bereitwilligkeit, den Leidenden zu helfen. Diese Art des Mitgefühls ist viel verbreiteter als die Mitfreude, weil die Mitfreude schwer ist, und weil sich im Mitleide zu der Unlust des Leidens auch eine Art von Lust (the luxury of pity), nämlich die Steigerung des Selbstgefühls, die aus dem Bewusstsein, anderen helfen zu können, entspringt, und das Bewusstsein, augenblicklich selbst nicht zu leiden, hinzugesellt; Mitleid schmeichelt dem Selbstgefühl und geht, wo es werktätig und bleibend wird, leicht in Liebe über, Mitfreude dagegen hat die Liebe schon zur Voraussetzung. Trübsinn und Kummer disponieren zum Mitleid; doch bleibt das so entstandene Mitleid meist nur kontemplativ; der Heitere und Glückliche entledigt sich desselben durch schnelle Tat.

Stolz weist geschenktes Mitleid zurück, während Eitelkeit es sucht.

Der gewöhnliche Mensch will lieber beneidet als bemitleidet sein. –

Nach Schopenhauer (1788-1860), Die beiden Grundprobleme der Ethik, ist das
Mitleid die einzige moralische Triebfeder, die Quelle aller freien Gerechtigkeit und aller echten Menschenliebe.

Nach Nietzsche (1844 bis 1900) taugt das
Mitleid gar nichts.

Eine große Rolle in der Erörterung der ästhetischen Frage vom Wesen des Tragischen hat die Definition des
Mitleids, die Aristoteles gibt, gespielt: estô dê eleos lypê tis epi phainomenô kakô phtharktikô kai lypêrô tou anaxiou tynchanein ho kan autos prosdokêseien an pathein ê tôn autou tina, kai touto, hotan plêsion phainêtai: Es sei Mitleid die Trauer über ein sichtbares, verderbliches und leidbringendes Übel, das jemand trifft, der es nicht verdient, und von dem man wohl vermuten könnte, dass man selber oder dass einer unserer Angehörigen es erleiden könnte, besonders wenn es nahe erscheint. Rhet. II 8, p. 1385 b 13 ff.

Schon Lessing in der Dramaturgie (Stück 75) erörterte den Aristotelischen Begriff des Mitleids ausführlich.

Mittel S.364f.
heißt dasjenige,
was zur Erreichung eines Zweckes dient. Es steht in der Mitte zwischen Wollen und Erreichen. Man stellt sich zunächst eine Wirkung vor und begehrt dieselbe (Zweck); hierauf begehrt man die Ursache oder den Ursachenkomplex, durch den diese Wirkung (Zweck) herbeigeführt werden kann (Mittel). Schließlich führt die in Tätigkeit gesetzte Ursache die Wirkung herbei; dann ist der Zweck erreicht.

Das
Vorstellen und Begehren des Zwecks verursacht also das Vorstellen und Begehren des Mittels. Der vorgestellte und begehrte Zweck ist die Ursache der Vorstellung und Begehrung des Mittels; aber das Mittel selbst ist die wirkliche Ursache des erreichten Zwecks. Mittel und Zweck setzen also die subjektive und objektive Welt zugleich voraus und stehen in einem zwiefachen ursächlichen Verhältnis.

Der
gewollte Zweck ist die Ursache des gewollten Mittels, und das reale Mittel ist die Ursache des realisierten Zwecks.

Aber
Mittel und Zweck können auch in ein doppeltes subjektives und doppeltes objektives Verhältnis des Gegensatzes zueinander treten. Im Subjekte kommt der zwiefache Gegensatz zum Ausdruck, wenn man das Mittel begehrt, ohne den Zweck herbeizuwünschen oder wenn man den Zweck wünscht, aber das Mittel verabscheut.

Das Geld z.B. will man im Allgemeinen als Mittel erwerben, um bestimmte Wünsche zu befriedigen. Aber der Geizige begehrt das Geld, ohne es zu verwenden. Umgekehrt ist der Zweck der Arznei die Heilung einer Krankheit. Aber der Kranke begehrt oft zwar gesund zu werden, weist aber doch jede Arznei zurück. Im Objekte liegt der zwiefache Gegensatz, falls zwischen Mittel und Zweck kein entsprechendes Wertverhältnis stattfindet.

Der
Zweck kann gut, aber das Mittel schlecht, oder umgekehrt, das Mittel erlaubt, aber der Zweck verwerflich sein. Darum darf weder der Satz gelten: »Der Zweck heiligt das Mittel«, noch umgekehrt: »Das Mittel heiligt den Zweck«.

Modalität (franz. modalité von lat. modus = Art und Weise) S. 366f.
bezeichnet zunächst
allgemein die Art und Weise, wie etwas geschieht oder gedacht wird.

Nach Kant
(1724-1804), der den Begriff enger fasst, ist Modalität eine Prädikatsbestimmung im Urteile, durch welche dem Subjektsbegriffe kein Merkmal hinzugefügt, sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen, die Art der Gewissheit der Urteile bezeichnet wird. »Die Modalität der Urteile ist eine ganz besondere Funktion derselben, die das Unterscheidende an sich hat, dass sie nichts zum Inhalte der Urteile beiträgt, sondern nur den Wert der Kopula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht« (Kant, Kr. d. r. V., S. 74).

Je nachdem
im Urteile eine Sache für möglich (A kann B sein) oder für wirklich (A ist B) oder für notwendig (A muss B sein) erklärt wird, heißt das Urteil entweder problematisch oder assertorisch oder apodiktisch. Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit sind daher die Modalitätsbegriffe. Kant hält sie für besondere Funktionen, Stammbegriffe des Verstandes (s. Kategorien), aber kaum mit Recht.

Die
Modalität bezeichnet nur verschiedene Grade der Überzeugung von der Wirklichkeit eines Dinges. Auch ist der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Notwendigkeit im Naturgeschehen kaum aufrechtzuerhalten. Was in der Natur geschieht, muss auch geschehen, da das Kausalitätsgesetz Ausnahmen nicht duldet. Vgl. Kategorien, Notwendigkeit. Vgl. Postulate des empirischen Denkens und Urteils.

Modus (lat. = Art und Weise) S. 367f.
ist die
Art und Weise eines Dinges zu sein (m. essendi) oder zu handeln (m. agendi). Da diese Art und Weise nun als das Unselbständige oder Veränderliche für nicht so wesentlich gehalten wird, wie die Substanz des Dinges, so wird oft Modus mit Akzidenz (s. d.) gleichgesetzt.

Spinoza
(1632-1677) versteht dagegen unter
Modus (Eth. I def. 5) »Zustände (affectiones) der Substanz oder das, was an einem anderen ist, durch das es auch vorgestellt wird«. »Per modum intelligo substantiae affectiones, sive id, quod in alio est, per quod etiam concipitur.«

Er denkt sich die
Modi nicht als etwas Positives, das zur Substanz hinzukommt, sondern als Negationen und Einschränkungen der Substanz (»omnis determinatio est negatio«), wie ein mathematischer Körper vermöge seiner Bestimmtheit eine Negation der unendlichen Ausdehnung ist. Die Modi entsprechen daher bei Spinoza den nicht wahrhaft wirklichen vergänglichen Einzeldingen.

Modus ponens und Modus tollens S.368
heißen die
beiden Arten hypothetisch-kategorischer Schlüsse, in denen ein hypothetisches und ein kategorisches Urteil verbunden ist. Jenes ist der Schluss von der Setzung des Subjektes (des Grundes) im Untersatze auf die Setzung des Prädikats (der Folge) im Schlusssatz; dieses der Schluss von der Aufhebung des Prädikate (der Folge) im Untersatze auf die Aufhebung des Subjekts (des Grundes) im Schlusssatz. Die Grundform ist:

1. Wenn A gilt, so gilt B;
A gilt;
----------------------
also gilt auch B

2. Wenn A gilt, so gilt B;
B gilt nicht;
----------------------
also gilt auch A nicht.

möglich S. 368f.
heißt
dasjenige, was den Bedingungen, der Erfahrung entspricht. Wir unterscheiden das formal Mögliche und das real Mögliche.

In erster Linie muss das
Mögliche den formalen Bedingungen der Erfahrung, also den Denkgesetzen entsprechen.

Demgemäß definiert Kant
Kr. d. r. V., S. 218: »Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung übereinkommt, ist möglich.«

Diese
logische oder formale Möglichkeit ist die Denkbarkeit einer Sache. Das logisch Unmögliche ist also der Widerspruch in sich selbst (contradictio in adjecto).
In zweiter Linie muss das
Mögliche den realen Bedingungen der Wirklichkeit, also dem Inhalte der Erfahrung, den Gesetzen, die wir in der Außenwelt vorfinden, entsprechen.

Das
inhaltlich Denkbare heißt das real Mögliche.

Die
reale Möglichkeit ist aber nicht ein Zustand der Außenwelt - in ihr gibt es nur Wirkliches, nicht Mögliches; selbst potentielle Energie ist wirklich vorhandene Energie, nicht nur mögliche Energie -, sondern sie ist ein Verhältnis des menschlichen Gedankens zur Wirklichkeit.

Es war also falsch, wenn Aristoteles
(384-322) die reale Möglichkeit als ein rein physisches Verhältnis ansah und hiernach den Begriff der Materie bestimmte. Er verstand unter Materie das Mögliche, das Noch-nicht-Seiende, welches erst durch Hinzutritt der Form zum Wirklichen wird. So wird nach ihm eine Bildsäule erst durch die Form wirklich, während sie aus dem Stoffe nur werden kann. Die Materie ist nur »der Möglichkeit nach seiend« (dynamei on), die Form dagegen der Wirklichkeit nach seiend (energeia on) oder (entelecheia on).

Aristoteles irrt aber, wenn er die Gestaltung des Stoffes durch die Form für den objektiven Übergang des Möglichen ins Wirkliche ansieht. Der Stoff, z.B. das Erz der Bildsäule, war, bevor er in die neue Form gebracht wurde, auch schon wirklich, auch schon geformt; nur in Bezug auf das Kunstwerk betrachten wir ihn als formlosen Stoff. Der subjektive Begriff des Möglichen ist also von Aristoteles fälschlich in die objektive Welt hineingetragen. –

Zu weit ist andererseits die Definition der
Möglichkeit, die Chr. Wolf (1679-1754) im Anschluss an Leibniz gegeben hat: »Möglich ist, was nichts Widersprechendes in sich enthält.«

Sie bestimmt den Begriff der Möglichkeit nur rationa
l ohne Beziehung auf die Erfahrung. –

Wir unterscheiden auch das psychisch und das moralisch
Mögliche. Ich kann manches, was ich nicht darf. Das psychisch Mögliche kann also geschehen, das moralisch Mögliche darf geschehen; jenes ist das Ausführbare, dieses das Erlaubte. Vergleiche Form, Modalität, Kategorie.
Vgl. F. A. Lange, Gesch. d. Materialismus I, 162 f.

Monade (gr. monas) S. 370f. Siehe auch bei Eisler
heißt eigtl.
Einheit, bezeichnet also den Grund-Zahlbegriff, aus dem alle anderen Zahlen entstehen, wie denn auch Eukleides sagt (Elem. 7, 1-2):

Monade ist der Begriff, durch den ein jeder Gegenstand, der ist, eins genannt wird, und: die Zahl ist eine aus Monaden zusammengesetzte Vielheit, Monas esti kath' hên hekaston tôn ontôn hen legetai. - 'Arithmos de to ek monadôn synkeimenon plêthos. –

Von vornherein aber verband die Philosophie mit dem
arithmetischen Begriff auch eine metaphysische Bedeutung.

So stellt Pythagoras
(ca. 500 v. Chr.) Monas und Dyas (Einheit und Zweiheit) als Prinzipien nicht nur der Zahlen, sondern auch der Dinge auf.

Platon
(427 bis 347) verstand unter den Monaden oder Henaden die Ideen, die allgemeinen Begriffe, denen substanzielles Dasein zukommt, und welche die ewigen Wesenheiten der Dinge sind.

Auch die Atome des
Leukippos, Demokritos und Epikuros wurden als Monaden bezeichnet.

Demgemäß nahm Giordano Bruno
(1548-1600) als Prinzipien sog. Minima oder Monaden an, die ihm punktuell, doch nicht schlechthin unausgedehnt, sondern sphärisch und sowohl psychisch als auch materiell waren.

Diesen Gedanken bildete Leibniz
(1646-1716) um. Seine Monaden sind in sich geschlossene, vollendete, selbständige, punktuelle Einheiten (Entelechien), sich selbst genügend (mit Autarkie), ohne Wechselverkehr nach außen (sie haben »keine Fenster«), aber mit Vorstellungskraft. Sie sind unräumlich und dem Wesen nach Seelen; Leibniz nennt sie daher auch »âmes«. Der Form nach kommt also bei Leibniz der metaphysischen Substanz Einheit und Individualität zu, dem Inhalte nach Vorstellung. Diese hat aber verschiedene Grade: Sie ist bloße Perzeption, d.h. verworrene, zum Teil unbewusste Vorstellung, oder Apperzeption, d.h. Vorstellung mit Bewusstsein und Erinnerung, oder endlich noch mit Reflexion und dem Bewusstsein allgemeiner Wahrheiten verbundene Vorstellung. Obgleich Leibniz sich die Monaden als unveränderlich und ewig denkt, nimmt er doch im Widerspruch damit noch theistisch einen Gott als Urmonade an, deren Effulgurationen [Hervorblitzungen], die anderen Monaden sein sollen. Den Zusammenhang zwischen den Monaden findet Leibniz in der prästabilierten Harmonie. (Vgl. Kirchner, Leibniz' Psychologie. 1875.)

Sein Gedanke ward nach Kant, der die Monadenlehre
Leibniz' in der Kr. d. r. V. bekämpfte (Amphibolie der Reflexionsbegriffe), wieder von Herbart (1776 bis 1841) aufgenommen, der als metaphysische Prinzipien die Realen aufstellt, d.h. einfache, unräumliche, quantitätslose, an sich unveränderliche Einheiten von einfacher Qualität. Aber diese Realen sind nicht wie bei Leibniz innerlich lebendig und mit Vorstellungskraft, sondern mit der Kraft der Selbsterhaltung wider Störungen ausgestattet. Obgleich die Realen von einfacher Qualität sind, so sind sie doch verschieden und bringen durch ihr »Zusammensein« alle körperlichen und geistigen Vorgänge hervor.

Lotze
(1817-1881) verband Spinozismus und Leibnizische Monadologie und nahm als das wirksame Reale in der Natur unendlich viele diskrete Ausgangspunkte der Wirkungen an, ließ aber diese Kraftzentren durch eine Substanz, die jedoch persönlich gedacht ist, umfasst werden.

Ähnliche Auffassungen der
Monaden finden sich bei J. H. Fichte (1796-1879), M. Carriere. Vgl. J. Frohschammer, Monaden und Weltphantasie. 1879.

Die
Monaden werden also in der Regel als die letzten Bestandteile des Daseins, als unendlich an Zahl und als metaphysische Einheiten gedacht, während den entsprechenden physischen Einheiten in der Regel der Name Atom verbleibt. –

Monaden im naturwissenschaftlichen Sinne sind nicht Atome, sondern so viel als Korpuskeln.


Monismus (v. gr. monos = einzig) S. 371f. Siehe auch bei Eisler
heißt im Gegensatz zum Dualismus jedes metaphysische System, welches nur ein Prinzip annimmt, mag dies der Stoff (Realismus, Materialismus), der Geist (Idealismus, Spiritualismus) oder ein Drittes, das Absolute sein, dessen Erscheinungen Stoff und Geist sind (Identitätsphilosophie).

In besonderer Bedeutung nimmt in neuerer Zeit das Wort Monismus die von Haeckel und Noack (der monistische Gedanke, Leipzig 1875) vertretene Auffassung, dass den Grundbestandteilen des Wirklichen sowohl Körperlichkeit als auch psychische Tätigkeit (Empfindung) innewohne, so dass sie zugleich geistig und materiell seien, für sich in Anspruch.

Der Haeckelsche Monismus beruht auf materialistischer Grundlage, ist dem Hylozoismus der Griechen verwandt und entlehnt Züge aus dem Parallelismus Spinozas. Vergleiche Metaphysik.

Die monistischen Systeme unterscheiden sich im Einzelnen dadurch, dass der Geist, Körper und das Absolute selbst wieder als eine numerische Einheit oder Vielheit gedacht werden, kann.

Den Geist als Einheit hat z.B. Hegel genommen, als eine Vielheit von Ideen Platon, von Seelen Leibniz, den Körper als Einheit die Eleaten, als eine Vielheit von Homöomerien Anaxagoras, von Atomen Leukippos und Demokritos.

Im Absoluten sah eine Einheit Spinoza, eine Vielheit Schleiermacher.

Monotheismus (nlt. v. gr. monos = einzig u. theos = Gott) S. 373 Siehe auch bei Eisler
heißt der Glaube, dass das göttliche Wesen der Zahl nach nur eins sei.

Gegensätze sind Dualismus und Polytheismus.

Zum Wesen des Monotheismus gehört nicht unbedingt, dass man Gott sich als Person vorstelle, wie es der Theismus tut. Auch Pantheismus und Deismus sind monotheistisch. Doch ist der Theismus die natürlichste Form des Monotheismus.

Die Vorstufe des Monotheismus ist dagegen der Henotheismus, welcher zwar einen Gott verehrt, die Existenz anderer jedoch nicht leugnet.

Der Monotheismus ist das Produkt des theoretischen und des ethischen Bedürfnisses.

Die drei großen monotheistischen Religionen sind Judentum, Christentum und Islam.


Moral (lat. mores = Sitten, davon abgeleitet moralis u. franz. morale) S. 373
bezeichnet sowohl die Sittlichkeit als auch Sittenlehre. Vergleiche Ethik.

Ein Mensch ohne Moral ist ein unsittlicher Mensch; moralisch tot bedeutet ohne Ehre.

Moralische Person
ist dasselbe wie juristische Person, d.h. ein Begriffswesen, welches Rechte erwerben und ausüben kann.

Moralische Wissenschaften bedeuten a. a. geistige Wissenschaften, die sich mit der Erforschung des geistigen Lebens beschäftigen;

moralische Weltordnung
ist nach J. G. Fichte der sittliche Zusammenhang der Welt; moralische Überzeugung ist die durch das Gewissen gebundene Überzeugung.

Moralischer Beweis für Gottes Dasein
ist der Beweis Kants, siehe Gott.

Moralist S. 373
bedeutet Sittenlehrer, Moralphilosoph, im tadelnden Sinne Sittenrichter.

Moralisieren
heißt sittliche Betrachtungen anstellen, den Sittenrichter spielen.

Amerikanische Moralisten
sind John Edwards (1703-1758), Rowland G. Hazard (Freedom ofmind in willing 1864) und Ch. G. Shields Final (Philosophy 1879).

Auch Adler und Salter heißen so, weil sie die Religion in die Moral gesetzt und »die Gesellschaft für ethische Kultur« begründet haben.
Vgl. Stanton, »Die ethische Bewegung in der Religion«, dtsch. Leipzig 1890.

Moralprinzip S. 373ff.
heißt ein fundamentaler Satz, welcher als höchste Norm für den Willen aufgestellt wird.

Man unterscheidet formale und materiale Moralprinzipien;

jene berücksichtigen nicht das Objekt und Ziel des Handelns, sondern nur die Art der Willensbestimmung (z.B. Kants kategorischer Imperativ);

diese fassen das Objekt der Handlung, Ihren realen Zweck ins Auge (Glück, Güte, Vollkommenheit u. dgl.).

Gemischte Moralprinzipien berücksichtigen beides.

Die materialen Prinzipien sind stets empirisch, d.h. aus der Erfahrung abgeleitet, und zwar

1. eudämonistisch, wenn sie das Wohl des einzelnen (Aristoteles) oder der ganzen Gesellschaft erstreben (Epikur, Bentham);
2. rational oder idealistisch, wenn sie die Quelle der Sittlichkeit in der Vernunft suchen (Leibniz, Herbart);
3. supernaturalistisch, wenn sie als Quelle Gott bezeichnen (Ulrici, Fichte).

Von den verschiedenen Philosophen sind recht mannigfaltige Moralprinzipien aufgestellt worden.

Platon (427-347) lehrt: Versuche, so schnell als möglich aus dieser Welt in jene zu fliehen! Die Flucht macht dich möglichst gottähnlich. Gottähnlichkeit aber besteht darin, fromm und gerecht mit Einsicht zu sein (Theaet. 176 A peirasthai chrê enthende ekeise pheugein hoti tachista. phygê de homoiôsis tô theô kata to dynaton; homoiôsis de dikaion kai hosion meta phronêseôs genesthai).

Aristoteles (384-422): Strebe nach Eudämonie! (eudaimonia, to eu zên, to eu prattein).

Die Stoiker: Lebe in Übereinstimmung mit dir und der Natur!

Epikuros (341-270): Erstrebe Lust, d.h. körperliche und geistige Leidenslosigkeit!

Spinoza (1632 bis 1677): Das höchste Ziel ist die intellektuelle Liebe zu Gott (amor intellectualis dei).

Leibniz (1646-1716): Strebe nach Vollkommenheit!

Pufendorf (1632-1694): Sei gemeinnützig!

Shaftesbury (1671-1713): Richtige Selbstliebe ist der Gipfel der Weisheit.

Smith (1723-1790): Handle deinem sittlichen Gefühle gemäß!

Kant (1724-1804): Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne!

Fries (1773-1843): Handle nach dem Grundsätze einer absoluten Wertgesetzgebung!

Fichte (1762-1814): Handle frei und selbsttätig!

Schelling (1775-1854): Handle als freies Individuum!

Hegel (1770 bis 1831): Die Sittlichkeit ist der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewusstseins gewordene Begriff der Freiheit.

Schleiermacher (1768-1834): Mache die Natur zum Organ und Symbol der Vernunft!

Herbart (1776-1841): Bilde die Eigenart eines Vernunftwesens heraus, vermöge deren es den praktischen Ideen gemäß Gegenstand des Beifalls wird!

Schopenhauer (1788-1860): Verneine den Willen zum Leben!

v. Hartmann (1842-1906): Sittlichkeit ist die Mitarbeit an der Abkürzung des Leidens- und Erlösungsweges Gottes.

Beneke (1798-1854) fordert, dass man in jedem Falle dasjenige tue, was nach objektiv und subjektiv wahrer Wertschätzung sich als das Höchste ergibt.

F. Nietzsche (1844-1900) lehrt: Nichts ist wahr, alles ist erlaubt! Leiden sehen bereitet Lust, Leiden zufügen noch größere.
Vgl. E. v. Hartmann: Phänomenol. d. sittl. Bewußtseins. 1879. F. Kirchner, Ethik 1881. Mangel eines allgemeinen Moralprinzips 1877.


Mut S. 377
heißt diejenige Furchtlosigkeit in Gefahren, welche aus dem Bewusstsein eigener sittlicher Kraft entspringt. Der Mutige begibt sich ruhig in Gefahren, die er nicht vermeiden kann, und besteht sie besonnen.

Der physische Mut beruht auf Körperkraft, Temperament und augenblicklicher Stimmung, der moralische dagegen auf der Einsicht in die sittliche Notwendigkeit einer Handlungsweise. Auch zeigt sich der Mut nicht nur in der Unverzagtheit in Gefahren, sondern auch im Übernehmen schwieriger oder unangenehmer Dinge, z.B. jemand die Wahrheit zu sagen, selbst Unangenehmes zu hören, sich selbst zu prüfen und zu bessern, sein Unrecht einzugestehen u. a.

Mutation (lat. mutatio = Veränderung) S. 377f.
nennt de Vries (geb. 1848) die sprunghafte Entwicklung von Arten aus Arten ohne Übergangsformen. Er sieht darin im Gegensatz zu Darwin die normale Entwicklung. Seit Darwin (1809-1882) galt bisher die Ansicht, dass neue Arten nur ganz allmählich durch Häufung zahlreicher kleiner Abweichungen von den bestehenden Arten, welche in erster Linie durch die Umgebung der Individuen bedingt werden, entstehen.

Auf Grund zahlreicher, umfassender und jahrelanger Züchtungsversuche mit Oenothera Lamarckiana (Nachtkerze) hat nun aber de Vries um 1900 die heute allgemein gültige Ansicht ausgesprochen, dass die Darwinsche Ansicht von der alleinigen Erstehung der Arten aus allmählicher Variation falsch sei, dass vielmehr neue Arten aus einer bestehenden auch ganz plötzlich entstehen und zwar aus Gründen, die noch nicht erkannt sind, die aber nicht in der Umgebung, sondern im Innern der Pflanze liegen. Für diese sprunghafte Entstehung der Arten hat er den Namen Mutation gewählt. Arten, die jahrelang völlig unverändert Nachkommen erzeugt haben, zeugen plötzlich Nachkommen mit völlig verschiedenen sie zu neuen Arten stempelnden Merkmalen; und zwar erzeugt ein und dieselbe Art nicht nur eine, sondern zahlreiche neue Arten, von denen jedoch nur wenige, die der Umgebung am besten angepasst sind, neue Individuen zu erzeugen vermögen. Von diesen neu erzeugten fortpflanzungsfähigen Arten bleibt der größere Teil längere oder kürzere Zeit konstant, geht dann aber ein, während der kleinere Teil nach einer gewissen Zeit der Konstanz abermals in eine neue Mutationsperiode eintritt und demnach neue Arten erzeugt.

Mit dem Nachweise, dass eine Mutation stattfindet, ist selbstverständlich nicht der Nachweis beseitigt, dass daneben allmähliche Änderungen stattfinden, und das Wort Jean Pauls: »Die physische Natur macht viele kleinere Schritte, um einen Sprung zu tun, und fängt dann wieder von vorne an; das Gesetz der Stetigkeit wird ewig vom Gesetze des Ab- und Aufsprungs beseelt«, klingt fast wie eine Vorahnung des wahren Naturverhältnisses (Jean Paul, Levana § 124).

Für die Vorgänge der Mutation will neuerdings Jaekel den Namen Metakinese anwenden, indem er nicht nur Abänderungen, bei denen ein physiologischer Nutzen nicht vorhanden ist, sondern auch wesentliche, die Korrelation der Teile stark beeinflussende und daher physiologisch sehr wichtige Umformungen ins Auge fasst.

Mystagog (gr. mystagôgos v. mystês = Eingeweihter u. agôgos = Führer), S. 378
heißt ursprünglich Führer in die Mysterien, dann Geheimniskrämer.

Mysterien (gr. mystêria) S. 378
hießen die Geheimlehren und -kulte der alten Ägypter, Griechen und Römer, in welche man nur nach mancherlei Reinigungen unter Gelobung tiefster Verschwiegenheit eingeweiht oder aufgenommen wurde. Es gab Mysterien zu Ehren des Bakchos, des Zeus, der Demeter und der Isis, welche sämtlich die Probleme vom Werden und Vergehen, vom Ursprung der Kultur, Geburt, Tod und Auferstehung des Menschen allegorisch und symbolisch behandelten. Sie waren eine Art von Religion für die Gebildeten, welche am Volksglauben irre geworden und zu schwach waren, um konsequente Denker zu sein, jedoch religiöse Bedürfnisse hatten.

Mystik (von gr. mystika [Neutr. Plur. von mystikos = geheim, den Geweihten heilig]) S. 379 Siehe auch bei Eisler
heißt das Streben,
Gott unmittelbar zu schauen, die religiöse Erkenntnis Gottes durch Versenkung in sein Wesen, die innere Erleuchtung im Gegensatze zum Glauben und zum Wissen.

Im Altertum findet sich die
Mystik bei den Neuplatonikern.

Im Mittelalter hieß
Mystik eine Richtung der Theologie, welche Gott nicht, wie die Scholastik, durch den Verstand, sondern durch das Gefühl zu erfassen suchte. Repräsentanten derselben waren Hugo und Richard v. St. Victor (1096 bis 1141), Bernhard v. Clairvaux (1091-1153), Meister Eckhart († 1329), Heinrich Suso (1300-1366), Johann Tauler (1290 bis 1361), Jan v. Ruysbroek (1293-1381). Ihr Motto war: Tantum deus intelligitur, quantum diligitur, Gott wird soweit begriffen, als er geliebt wird. Das Richtige hieran ist, dass die Religion Sache der inneren Erfahrung ist, falsch aber ist der Satz als der Satz der Theologie, soweit die Theologie eine Wissenschaft ist. Zuzugeben ist, dass alles gefühlsmäßig Religiöse etwas Mystisches, d.h. logisch nicht ganz Fassbares an sich hat: die Liebe, Freundschaft, Kunst u. a. Oft artet aber die Mystik oder der Mystizismus in regellose Phantasterei, wie z.B. bei Jakob Böhme († 1624), Imanuel Swedenborg († 1772), Franz. v. Baader († 1841) u. a. aus.
Vgl. Noack, Die christl. Mystik. 1853.



Mythus (gr. mythos), S. 379
eigtl. Erzählung, heißt die religiös gefärbte Darstellung von Vorgängen aus Natur- und Weltleben unter dem Bilde menschlichen Tuns und Leidens. Die Wesen, welche durch Vermenschlichung der Natur- und Weltformen entstanden sind, heißen Götter.

Der Mythus ist die Philosophie der kindlichen Menschheit. Unfähig, die von ihr beobachteten Naturvorgänge objektiv zu denken, personifiziert und idealisiert er dieselben, freilich immer in den Schranken der Menschlichkeit.

Aus den physischen Mythen entwickeln sich die ethischen Mythen. Die personifizierten Naturkräfte werden als dem Menschen freundlich oder feindlich gedacht; ihr Charakterbild wird weiter ausgemalt, Erlebnisse, Leiden und Taten ihnen beigelegt. Zuletzt, bei näherer Berührung der Stämme, werden die Stammgottheiten in ein genealogisches System gebracht.
Vgl. Creuzer, Symbolik und Mythol. der alten Völker. 2. Aufl. 1829. J. Lippert, der Relig. d. europ. Kulturvölker. 1881. Schultz, Bibl. Theologie. 1870.

Nächstenliebe S. 380f.
ist die Menschenliebe, welche jedem ihrer Hilfe Bedürftigen die Hilfe zuwendet.

Das berühmte Gleichnis von der Nächstenliebe ist das vom barmherzigen Samariter (Luk. 10, 30 ff.).

Nativismus S. 382 f.
ist die Lehre, dass unserem Geiste gewisse Anschauungen, Begriffe, Ideen und Grundsätze angeboren seien, so dass der Mensch sie fertig auf die Welt bringe.

Der Nativismus hängt eng mit dem Rationalismus zusammen. Wer das Wissen aus einer beschränkten Zahl allgemeiner Begriffe und Grundsätze ableiten zu können vermeint, kommt auch leicht dazu, das Allgemeinste dem Geist als ursprüngliches Besitztum zuzuschreiben.

Den Nativismus vertrat in der griechischen Philosophie namentlich Platon (427-347), für den das Erkennen Erinnerung (anamnêsis, vgl. Menon 13-21) war, in neuerer Zeit Descartes (1596-1650); es bekämpfte ihn Locke (1632 bis 1704), der alle angeborenen Ideen und Grundsätze leugnete, die Seele für ein leeres Blatt ansah, alles Wissen aus der Erfahrung ableitete und der rationalistischen Methode Descartes' die empiristische (genetische) Methode entgegensetzte.
Leibniz (1646-1716) nahm eine vermittelnde Stellung ein, indem er nicht fertige Vorstellungen und Grundsätze, wohl aber den Intellekt selbst als angeboren ansah. -

Der Nativismus wird sodann Kant (1724-1804) vielfach zugeschrieben auf Grund seiner Lehre von der Apriorität von Raum, Zeit und den Kategorien, und erscheint auf den ersten Blick mit dieser Lehre tatsächlich verwachsen zu sein. Aber Kant versteht unter a priori nicht das Angeborene, sondern das, was zwar aus der Vernunft stammt, aber in und mit der Erfahrung sich entwickelt. Kant ist daher kein Nativist. Er erklärt Raum und Zeit für erworben, aber nicht für angeboren.

Der Nativismus ist überhaupt eine den Tatsachen widersprechende Theorie. Alles Bewusste muss erst im Leben erworben werden. Aber der Nativismus empfängt seine Berichtigung durch die Entwicklungslehre. Die von den vorausgegangenen Generationen erworbenen Fähigkeiten vererben sich als Anlagen und müssen als angeboren bezeichnet werden. Die einzelnen Vorstellungen usw. werden dagegen stets erworben.

Natur (lat. natura v. nasci = geboren werden) S. 383ff.
bezeichnet allgemein
alles, was ohne fremdes Zutun so ist, wie es sich darstellt, alsosich nach den ihm innewohnenden Kräften und Gesetzen entwickelt. So spricht man von der Natur der Dinge, der Planeten, der Elemente der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, ja auch des einzelnen Menschen.

Die
Natur ist überall der Gegensatz zum künstlich oder absichtlich Gemachten, mithin das Gegenteil von der Kultur, Kunst und Erziehung, ferner von der Absicht, Freiheit, Sittlichkeit.

Von den älteren Philosophen haben namentlich die
Stoiker die Natur als die Richtschnur des menschlichen Handelns angesehen (naturam sequi),

von den neueren hat vor allem J. J. Rousseau (1712-1778) die
Natur im Gegensatz zur Kultur und Erziehung gepriesen. Ihm ist die erste Regel der Erziehung, die Natur zu beobachten und den Weg zu verfolgen, den sie vorzeichnet. –

In der Wissenschaft stellt man meist die Gebiete der
Naturwissenschaften und der Geschichtswissenschaften einander gegenüber.

Die Naturwissenschaften umfassen alles, was im Raume gegenwärtig existiert, die Geschichtswissenschaften alles, was in der Zeit vor uns geschehen ist. Jene suchen das Allgemeine, diese das Einzelne zu erfassen. Beide Gebiete haben aber auch viel Gemeinsames; denn alle Gegenstände der Natur waren auch schon früher, und alle Ereignisse der Geschichte müssen irgendwo geschehen sein. Auch jedes Naturobjekt hat seine Geschichte, wie umgekehrt alle historischen Begebenheiten ihre Naturseite haben.

Zwischen Naturgesetzen und geschichtlichen Gesetzen ist aber ein Unterschied. Die
Naturgesetze sind Formeln für die kausale Stetigkeit des Geschehens, die historischen dagegen, weil sittliche, schließen auch den Begriff der praktischen Willensfreiheit in sich ein. Vgl. Geschichte.

Fasst man den Begriff der Natur konkret, so heißt alles, was durch die
äußeren Sinne wahrnehmbar ist, Natur.

Je nach seiner Bildung und Weltansicht steht der Mensch der Natur verschieden gegenüber, entweder praktisch oder ästhetisch oder theoretisch.
Auf dem ersten Standpunkt sucht sie der Mensch seinen Zwecken zu unterwerfen, sie zum Organ seiner Tätigkeit zu machen, sie auszunutzen und zu beherrschen.

Auf dem zweiten Standpunkt fasst er sie mit seinem Gefühl auf. Seine Phantasie bevölkert sie mit lebenden Wesen, indem er ihre Produkte und Kräfte personifiziert. So entstand die Naturreligion und
Mythologie. Diese halb grauenvolle, halb anheimelnde Vorstellung von der Natur als der Mutter alles Lebendigen, der geheimnisvollen Macht ist ebenso religiös als poetisch. Allmählich aber traten an Stelle jener Phantasien Begriffe, an Stelle der Personifikationen Naturgesetze, und die theoretische Erforschung der Natur begann, die wieder die Herrschaft des Menschen über die Naturkräfte steigerte.

Die Griechen setzten mit klarer Naturforschung ein, das Mittelalter mied die Natur wieder, erst die Neuzeit entwickelte die Naturforschung im vollen Umfange, und im 19. Jahrhundert hat die Naturforschung große Macht und Ausdehnung gewonnen; man hat jetzt die Natur als einen festen, unveränderlichen Gesetzen unterworfenen Mechanismus von unverlierbarer Masse und Energie anzusehen gelernt, von dem jeder Zufall, jeder Verlust und jede Zutat ausgeschlossen ist. –

Die Stellung der Philosophie und Religion zum Begriffe Natur ist, wie leicht begreiflich, eine sehr vielfach wechselnde gewesen.

Ein Teil der Philosophen sah in der Natur das Wirkliche, so die Hylozoisten, Herakleitos, Empedokles, die Atomisten, Epikuros, die französischen Materialisten des XVIII. und die Naturalisten des XIX. Jahrhunderts.

Die Religion der Griechen schrieb den Göttern nicht die Erschaffung, sondern nur die Ordnung der Natur zu.

Das Judentum und das Christentum sah in der Natur Gottes Schöpfungswerk (natura creata, natura naturata), die Stoiker, Spinoza, Goethe, Schelling u. a. betrachteten die Natur und Gott als eins (deus sive natura, Gott - Natur).

Für die Eleaten, Platon, Fichte u. a. war die Natur eine Scheinwelt, ein Nichtseiendes, ein Nicht-Ich.

Aristoteles (384-322) sah in ihr ein nochnichtseiendes, aber die Möglichkeit des Seins in sich Schließendes;

Kant (1724-1804), der sie am strengsten dem Gesetze der Kausalität unterordnete, reduzierte sie auf die Welt der Erscheinungen, deren. Wesen unbekannt ist;

Hegel (1770 bis 1831) fasste sie als den Geist in seinem Anderssein.

Platon (427-347) und das mittelalterliche Christentum standen der Natur mit ethischer Abneigung gegenüber,

J. J. Rousseau
(1712-1778) mit der entgegengesetzten Gesinnung.

Im allgemeinen ist die neuere Philosophie naturfreundlich geworden.

An der exakten Durchforschung des einzelnen in der Natur arbeiten, alle Zweige der Naturwissenschaften.

Die Idee der Natur als, Ganzes auszubilden ist die Sache der Naturphilosophie.

Der ungeheure Nutzen der Naturforschung für die Praxis und für die Kultur liegt klar zu Tage, aber auch die dichterische und religiöse Erhebung und die Empfänglichkeit des Menschen für Natureindrücke leidet nicht darunter.

Im Gegenteil, die Größe und Schönheit der Natur bewundern wir Neueren mehr als die Alten. Endlich ist der Fortschritt der Naturwissenschaft auch für die Philosophie wichtig. Denn diese hat die exakten Resultate jener als Grundlage zur Aufstellung ihrer Weltanschauung zu verwerten. Vgl. Naturphilosophie.

Naturalismus (nlat.) S. 385
heißt in der Metaphysik diejenige Richtung, die kein höheres Dasein als das in, der sichtbaren räumlich-zeitlichen Welt gegebene anerkennt. Der philosophische Naturalismus übersieht die aus durch unser Innenleben bekannte Hälfte der Welt. –

In der Kunst heißt Naturalismus die sich auf bloße Nachahmung, der Natur beschränkende Richtung, welche in jeder Idealisierung eine Unwahrheit sieht. Sie ist oft nichts weiter als Geschmacksverirrung und führt leicht zu einer Kunst des Platten, Gemeinen und Widerlichen. Das Haschen nach Originalität hat in der Gegenwart stellenweise zu diesem Niedergange der Kunst geführt.

Natura naturans (mlat.) S. 385f.
ist die scholastische Bezeichnung der Schöpferkraft als des Urgrundes der Dinge im Gegensatz zur Natura naturata, dem Inbegriff der geschaffenen Dinge; so besonders bei Scotus Erigena (810-877). Beide Begriffe kehren bei Spinoza und Schelling wieder.

Natura non facit saltus (lat.: Die Natur macht keine Sprünge) S. 386
bedeutet: In der Natur entwickelt sich alles stetig, stufenweise.

Es ist dieses ein von Leibniz (1646-1716) und Kant (1724-1804) öfter gebrauchter Satz, der aber älteren Ursprungs ist. Schon in dem Discours véritable de la vie... du géant Theutobocus (1613) findet sich der Satz: Natura in operationibus suis non facit saltum.

Amos Comenius (1592-1671) hat in seiner Schrift de sermonis Latini studio (1638) die Worte: Natura et Ars nusquam saltum faciunt, nusquam fecerunt.


Die Form: Natura non facit saltus rührt von Linné (1707-1778) (Philosophia Botanica 1751) her. Vgl. Mutation. Büchmann, Geflügelte Worte, 23. Aufl. 1907. S. 451.

Naturgesetz, s. Gesetz. S. 386

natürlich S. 386
heißt das den Naturgesetzen Gemäße.
Gegensätze dazu sind: übernatürlich, d.h. dasjenige, was höheren Gesetzen gehorcht, künstlich, d.h. dasjenige, was von dem Menschen geschaffen ist und die Natur idealisiert, affektiert, d.h. dasjenige, was nicht von Natur vorhanden ist, sondern wovon nur der Schein erweckt wird. –

Die natürliche Religion und Theologie steht im Gegensatz zur positiven oder geoffenbarten und umfasst die Lehren von Gottes Dasein, seinem Wesen und seinen Eigenschaften, welche von der natürlichen Vernunft erkannt werden können.

Jetzt versteht man unter natürlicher Theologie ungefähr soviel wie Religionsphilosophie. –

Die natürliche Zuchtwahl (natural selection) ist nach Darwin (1809-1882) das notwendige Resultat des Kampfes ums Dasein (struggle for life), d.h. das Überdauern der jedesmal tüchtigsten und am günstigsten gestellten Individuen einer Art.

Naturphilosophie S. 387ff.
ist die Wissenschaft, welche sich mit dem Wesen und Werden der Welt beschäftigt. Die Alten nannten sie Physik, die Neueren zum Teil Kosmologie; jener Name bezeichnet jetzt die exakte Naturforschung, dieser nur einen Teil der philosophischen Naturforschung, die Lehre von der Entstehung und Beschaffenheit der Weltkörper. Der verbreitetste Name für das Gesamtgebiet der philosophischen Forschung ist jetzt Naturphilosophie. Sie schließt sich eng an die Metaphysik an.
In England, wo im allgemeinen die Möglichkeit der Metaphysik geleugnet wird, versteht man dagegen unter Natural Philosophy nur Physik und Chemie. –
Die Naturphilosophie als metaphysische Naturlehre hat die Resultate der Naturforschung zu prüfen und zu verwenden und sie zu den Tatsachen unseres Bewusstseins in Beziehung zu setzen; sie hat ferner die Grundbegriffe und Grundsätze, welche die Naturwissenschaft anwendet, zu kritisieren, auch das Naturwissen in letzten Hypothesen abzuschließen. Eine ihrer Hauptfragen ist, was als metaphysisches Grundprinzip des Weltprozesses anzunehmen sei.
Die Alten waren bezüglich dieses Grundprinzips zum Teil Dualisten, d.h. sie setzten der Materie den Geist entgegen, so Pythagoras, Anaxagoras und Aristoteles und in neuerer Zeit Cartesius. Die meisten Philosophen dagegen nahmen nur ein Prinzip an, sind also Monisten.

Das eine Prinzip kann als stoffliche Vielheit (die Atome des Demokritos und Epikuros) oder als stoffliche Einheit (Hylozoisten und Materialisten) oder als geistige Vielheit (die Ideen Platons, die Monaden des Leibniz und Realen Herbarts) oder als geistige Einheit (die Idee Hegels, die Phantasie Frohschammers, der Wille Schopenhauers) oder endlich als Einheit von Geist und Materie (Spinoza, Schelling) gedacht werden. Infolge der phantastischen Spekulationen der Schellingschen Schule ist die Naturphilosophie selbst lange Zeit in Misskredit gekommen; besonders die exakten Naturforscher haben sie im 19. Jahrhundert ganz fallen lassen. Aber richtig und in den ihr gesteckten Grenzen betrieben, ist sie zur Begründung einer Weltanschauung unentbehrlich; ja die Gegner derselben treiben selbst, sobald sie anfangen, ihre exakten Kenntnisse in Zusammenhang zu setzen, Naturphilosophie. Die Prozesse des organischen Lebens, die Existenz chemischer und physischer Kräfte, der Kristallisationsprozess, die räumliche und zeitliche Existenz der Naturdinge zwingt zur Lösung von Problemen, die über die exakte Forschung hinausreichen.

Der Einzelforscher kann für sich die Behandlung dieser Probleme abweisen; aber die Wissenschaft im Ganzen stellt diese Probleme auf und muss auch an ihrer Lösung arbeiten.
Vg. Schaller, Gesch. d. Naturphilos. von Bacon bis auf unsere Zeit. 1831-1846. F. A. Lange, Gesch. d. Materialismus. 5. Aufl. 1896. E. Dubois-Reymond, Über d. Grenzen d. Naturerkennens. 1872. Derselbe, Die sieben Welträtsel. 1883. A. v. Humboldt, Kosmos. 1845. Helmholtz, Popul. wissenschaftl. Vorträge. 1855. Haeckel, Natürl. Schöpfungsgesch. 1868. W. Ostwald, Vorlesungen über Naturphilosophie. 3. Aufl. Leipzig 1905.

Negation (lat. v. negatio, gr. apophasis), Verneinung, S. 389f.
ist die Aussage, dass einem Subjekt ein Prädikat nicht zukomme.

Die Verneinung ist eine Unterform der Kategorie der Verbindung oder Beziehung. Sie ist die Ausschließung des Prädikates vom Subjekt, der Eigenschaft von der Substanz, der Wirkung von der Ursache usw.

Die Verneinung ist die Grundform des Trennens und Unterscheidens. Da alle Verneinung aus der Beziehung entspringt, ist sie nur am Positiven, als dessen Beziehung zu einem anderen Positiven vorhanden.

Reine Negation findet sich nirgends bei der Verbindung des Denkens mit dem Sein. In der Natur ist nichts durch absolute Negation zu begreifen; überall stellt sie sich dem Forschenden, von anderer Beziehung aus genommen, wieder als Bejahung dar. Die Verneinung ist also eine sekundäre Beziehung des Denkens.
Die reine Negation ist daher nur eine höchste Abstraktion; es ist unzulässig, sie zum selbständigen realen Faktor zu erheben, wie Hegel (1770-1831) tut: es ist dies eine Hypostase, die aus der Verwechslung des Abstrahierten mit dem Realen hervorgeht.

Auch der Satz Spinozas (1632 - 1677), durch den die Bedeutung der Negation im menschlichen Denken übermäßig hoch geschraubt wird: Omnis determinatioest negatio (Jede Bestimmung ist Verneinung) ist nur für den zutreffend, der der Substanz allein, insofern sie das Allgemeine ist, das Dasein zuspricht, also nur für den Pantheisten.

Die besonderen Arten der Verneinung sind Gegensatz und Widerspruch.

Der Gegensatz ist die Verbindung zweier einander einschränkender positiver Größen, der Widerspruch ist die Verbindung einer Größe mit ihrer Verneinung. Jener findet sich in der realen Welt, dieser nur in der logischen Abstraktion. Nur in Gedanken existiert der logische Widerspruch; nur Gedanken widersprechen sich. In den Gegensätzen der Erscheinungen, welche nur die Endpunkte eines Ganzen, die sich einschränkenden Richtungen der Naturkräfte darstellen, wird das Ganze bejaht; in dem Widerspruch wird es verneint, oder es geschieht ihm Abbruch. Die Gegensätze bewegen die Natur und schaffen das Leben und die Veränderungen.

Der Ausdruck für den Widerspruch ist der Satz des Widerspruchs (A ist nicht Nicht-A). Ohne diesen Satz existiert weder Verständigung noch Beweis noch Widerlegung. Denn auf ihm beruht die Bewahrung des Gewordenen, des Bestimmten als festen Besitzes der Erkenntnis.
Der Gegensatz findet seinen Ausdruck in der Formel A - B = C. Für den Gegensatz also ist die Operation der Subtraktion der mathematische Ausdruck. Die Verbindung von A mit Non-A liefert nur das nihil negativum irrepraesentabile, ein Gedankenunding; die Verbindung von A mit -A ist dagegen = O, das nihil negativum repraesentabile.

Der erste, der scharf den Unterschied des logischen Widerspruchs und des realen Gegensatzes beleuchtete und erkannte, dass logische Negation und negative mathematische Größen etwas ganz Verschiedenes sind, war Kant (1724-1804). Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen. 1763. Vgl. Kr. der reinen Vern., 1781, S. 260-292, von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe.

Neid (lat. livor) S. 390f.
heißt die Unlust über die Vorzüge oder das Wohlergehen anderer. Der Neid richtet sich auf ein bestimmtes Gut, einen bestimmten Genuss, ein bestimmtes Glück, welches ein anderer besitzt und das man ihm missgönnt, selbst wenn man es gar nicht für sich haben möchte.

Neid wird darum nicht unmittelbar und nicht stets zum Hasse, weil er zunächst auf die Objekte der einzelnen Begehrungskreise beschränkt bleibt und auch schwindet, wenn die Vergleichung mit dem andern Menschen nicht mehr möglich ist. Aber weil er sich mit jedem neuen Anlasse tiefer ins Herz bohrt, wird er leicht zur Leidenschaft.

Er ist ein Zeichen von Kleinlichkeit, niedriger Selbstsucht und beschränktem Verstande; großherzige Seelen und intelligente Naturen sind des Neides nicht fähig. Die Erziehung hat ihn daher zu bekämpfen, sobald er sich in einem Kinde regt. Weil der Neid stets eine gewisse Homogeneïtät voraussetzt, so kehrt er sich, wie schon Xenophon (um 434 bis um 353 Memorabil. III, 9, 8) bemerkt, gegen Freunde, nicht gegen Feinde (oute mentoi tên epi philôn atychiais, oute tên ep' echthrôn eutychiais gignomenên [lypên phthonon einai], alla monous - phthonein tous epi tais tôn philôn eupraxiais aniômenous). –

Kant (1724-1804) unterscheidet Missgunst (invidentia), den Neid, der nicht zur Tat ausschlägt, von dem qualifizierten Neide (livor), der zur Tat, einen anderen zu schädigen, fortschreitet. (Kant, Metaph. d. Sitten II, § 36, S. 133.) Vgl. Schadenfreude.

Neugier (lat. novarum rerum cupiditas) S. 392
d.h. die Begier, Neues kennen zu lernen, ist ein unschädlicher Hang des Menschen, der in seinem Wesen begründet ist.

»Lockte die Neugier nicht den Menschen mit heftigen Reizen, sagt, erführ' er wohl je, wie schön sich die weltlichen Dinge gegeneinander verhalten? Denn erst verlangt er das Neue, suchet das Nützliche dann mit unermüdetem Fleiße, endlich begehrt er das Gute, das ihn erhebet und wert macht«
(Goethe, Herrn, und Doroth. I).

Zum Fehler wird die Neugier, wenn sie entweder auf Eitles gerichtet ist, oder einem unsittlichen Motive, der Klatschsucht u. dgl., entspringt.

Der Reiz der Neuheit ist unbestritten groß. Das unbedeutendste Geräusch kann unsere tiefste Spekulation und Andacht stören; alles Neue imponiert zuerst, wie die Geschichte der menschlichen Narrheit beweist.

Neukantianismus S. 392f.
heißt die philosophische Richtung der Gegenwart, die von der kantischen Philosophie ausgeht, diese aber nach allen Richtungen hin kritisch berichtigt und sachlich durch die Erfahrungswissenschaften ergänzt. Sie ist weniger eine Wiederherstellung der kantischen Philosophie, als Kantphilologie und eine philosophische Orientierung auf dem Boden der neueren Erkenntnistheorie (Liebmann, Lange usw.).

Die Begründer des Neukantianismus sind O. Liebmann, (Kant und die Epigonen, Stuttgart 1866) und F. A. Lange (Geschichte des Materialismus 1866) gewesen.

Zu den Neukantianern gehören H. Cohen und seine Anhänger (P. Natorp, Stammler, Staudinger u. a). B. Erdmanns, H. Vaihinger, E. Arnolit, B. Reicke, A. Riehl, W. Windelband, Th. Lipps, E. König u. a.

Neuplatoniker oder Platoniker der alexandrinischen Schule S. 393
heißen die Anhänger Platons im 1. und 2. Jahrh. n. Chr., welche die griechische Philosophie mit orientalischen Ideen verschmolzen. Ihr Ansehen erklärt sich aus dem Hange jener Zeit zur Mystik, aus der Verzweiflung am alten Heidentum und dem Wunsche, dem immer mächtiger werdenden Christentum zu widerstehen.

Das Ziel der Neuplatoniker war nicht nur die Erkenntnis, sondern die unmittelbare Anschauung des Absoluten; die Welt erklärten sie durch Emanation. Die Erhebung zu Gott geschah durch Askese, Theurgie und Ekstase.

Als Stifter dieser Schule gilt Ammonius Sakkas (ca. 175-242), dessen Schüler Plotinos (205-270) die Lehre ausführlich gestaltete, dann folgen Porphyrios (233-304) und Jamblichos (†333) als Schulhäupter.

Im 16. Jahrh. erwachten diese Lehren in der »Platonischen Akademie« wieder. Vgl. A. Richter, Neuplatonische Studien. 1864-67.

Neupythagoreer S. 393
hießen die Philosophen vom 1. Jahrh. v. Chr. bis ins 1. u. 2. Jahrh. n. Chr., welche die Lehre des Pythagoras erneuerten, sie unter dem Einfluss des Orients mit religiösen Anschauungen verbanden und sie hierdurch zur Theosophie umbildeten.

Begründet wurde der Neupythagoreismus durch Nigidius Figulus (1. Jahrh. v. Chr.). Anhänger desselben waren dann Sotion (Zeit des Augustus), Apollonius von Tyana (Nero), Moderatus aus Gades (Nero), Nikomachos von Gerasa (Zeit d. Antonine) und Secundus von Athen (Hadrian).

Nicht-Ich S. 393
bedeutet, besonders bei Fichte, die Außenwelt . Vergleiche Ich.



Nichts (lat. nihil) S. 393f. Siehe auch bei Eisler und den Bonus-Themen
und sein Gegenteil, Etwas, sind die dem Begriffe des Möglichen und Unmöglichen übergeordneten Begriffe. Nichts bezeichnet logisch

1. den leeren Begriff ohne Gegenstand der Anschauung, ein bloßes Gedankending (ens rationis), wie es die Nooumena ohne korrespondierende Anschauung sind;

2. den Begriff des fehlenden Gegenstands, wie den Schatten, die Kälte, die Finsternis (nihil privativum);

3. die leere Anschauung ohne Gegenstand, wie den leeren Raum, die leere Zeit (ens imaginationis);

4. den unmöglichen Begriff oder den Widerspruch in sich selbst (nihil negativum), z.B. die geradlinige Figur mit zwei Seiten, also ein Unding, von dem man sich überhaupt gar keinen Begriff machen kann.


Im metaphysischen Sinne bedeutet Nichts die Aufhebung aller Realität (metaphysisches Nichts). Nach griechischer und indobrahmanischer Metaphysik wird aus dem metaphysischen Nichts nichts, oder das Sein ist ewig; also das Entstehen des einen Seins aus dem andern ist nur Schein (Eleaten).

Die jüdisch-christliche und buddhistische Lehre behauptet dagegen, dass aus dem Nichts das Sein (durch Schöpfung) geworden sei und dass das Nichts aus dem Sein (Übergang in das Nirwana) werde.

Leugnung des Seins überhaupt heißt absolute Leugnung, Leugnung eines vom Denken unterschiedenen Seins relativer Nihilismus, dagegen Leugnung allgemein gültiger Rechts- und Sittengesetze schlechthin Nihilismus.

Das Nichts mit Hegel (1770-1831) zu einem Realprinzip der Wirklichkeit zu machen, ist unzulässig. Vergleiche Negation.

Platon (427-347) bezeichnete die Materie als Nichts (non ens, mê on) was aber in einem mehr relativen als absoluten Sinne zu verstehen ist; der Stoff für sich, sofern er noch nicht Form trägt, ist für Platon nichts. Vergleiche Form, Materie, möglich.


Nominalismus (nlt. v. lat. nomen = Namen) S. 395f.
heißt diejenige philosophische Richtung des Mittelalters, welche die Universalien (Allgemeinbegriffe) nicht für etwas Wirkliches (res), sondern nur für Worte (nomina rerum oder flatus vocis) hielt und das Einzelne für das wahrhaft Seiende erklärte. Urheber dieser, in der Isagoge des Porphyrius angedeuteten, später dem Aristoteles angeschriebenen Ansicht ist Roscellin (11. Jahrh.), Anhänger derselben Abälard (1079-1142).

Im Gegensatz zu ihm hielt der im Anschluss an Platon, Plotinos und Scotus Erigena von Anselm v. Canterbury (1033-1109) vertretene Realismus daran fest, dass die Universalien selbständige Realität hätten und nicht erst vom Verstande gebildet würden. Die Formel des Nominalismus war: universalia post rem, die des Realismus: universalia ante rem, oder in re.

Ersterer wurde, weil er zum Tritheismus zu führen schien, samt Roscellin 1092 zu Soissons verdammt. Der Streit zwischen beiden Parteien zog sich aber durch das ganze Mittelalter hin.

Berühmte spätere Nominalisten sind z.B. Joh. Buridan († 1358), Gabr. Biel (1495) gewesen. Sie wurden meist der Ketzerei beschuldigt, weil die Kirchenlehre, besonders von der Trinität, vom Logos und von der Transsubstantiation, durch sie bedroht schien. Eine vermittelnde Richtung war der Konzeptualismus des Wilhelm v. Occam († 1347) . Der Kampf zwischen Realismus und Nominalismus setzt sich übrigens nur mit veränderter Terminologie bis in die neueste Zeit fort –
Hobbes, Locke, Hume, Berkeley, Mill sind neuere Vertreter des Nominalismus und Konzeptualismus, Leibniz, Kant, Fichte, Hegel dagegen Vertreter des Realismus -, nur dass die Realisten jetzt Idealisten, die Nominalisten hingegen Sensualisten oder auch Realisten genannt werden.

Ebenso finden sich Spuren dieses Gegensatzes bereits im Altertum, bei Platon und Aristoteles. Siehe Realismus.
Vgl. F. Exner, Nominalismus und Realismus 1842. H. Reuter, Gesch. der relig. Aufklärung im Mittelalter. 1875.

Notwendigkeit (lat. necessitas) S. 398ff. Siehe auch bei Eisler
heißt in allgemeinster Bedeutung, als reales Verhältnis gedacht, die Unmöglichkeit des Gegenteils.

So fasste den Begriff schon Aristoteles (384 bis 322. Metaphys. IV, 5 p. 1015 a 34), der das Notwendige als das bezeichnete, was sich nicht anders verhalten könne, was also durch Widerlegung seines Gegenteils indirekt bewiesen werde (to mê endechomenon allôs echein anankaion phamen houtôs echein). Das Notwendige wäre demnach die Verneinung einer Verneinung. Aber eine solche negative Fassung des Begriffs befriedigt nicht.

Der Versuch, die Erklärung positiver zu gestalten, führt zunächst zur Unterscheidung verschiedener Arten der Notwendigkeit.

Der Begriff der absoluten Notwendigkeit würde zunächst die Existenz von etwas fordern, was unabhängig von allem anderen ist; der bloße Begriff müsste also die Existenz in sich schließen. Da aber das Dasein kein Merkmal eines Begriffs ist, ist ein solcher Begriff, der Existenz in sich einschlösse, nicht vorhanden, und der Begriff einer absoluten Notwendigkeit ist deswegen als unberechtigt aufzugeben; er ist höchstens so weit als abstrakte Idee zulässig, als die Existenz dem Gedachtwerden gleichgesetzt wird. Es bleibt also weiterhin nur der Begriff einer bedingten (relativen) Notwendigkeit.

Hier können wir logische, physische, moralische und metaphysische Notwendigkeit unterscheiden.

Logisch notwendig ist die Folge, wenn der Grund gesetzt ist.

Physisch notwendig ist die Wirkung, wenn die Ursache gegeben.

Moralisch notwendig ist die Handlungsweise, die aus einem gegebenen allgemeinen Sittengesetz folgt.

Metaphysisch notwendig ist die Konsequenz, wenn das Grundprinzip feststeht.

Notwendig ist also im Allgemeinen, was im kausalen Zusammenhang mit einem Gegebenen steht und darum, sobald dieses gegeben ist, in allen Fällen zutrifft.

Kant (1724-1804) nahm außerdem eine erkenntnistheoretische Notwendigkeit an. Notwendig und allgemein gültig sollten nach ihm in dem Erkenntnisprozesse alle diejenigen Anschauungen (Raum und Zeit) und Begriffe (Kategorien) sein, ohne welche Erfahrung überhaupt nicht möglich ist. Aber der Nachweis der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der uns gegebenen Raum- und Zeitanschauung und der von Kant aufgestellten Kategorien für alle Erfahrung misslang. Es ist sehr wohl eine auf anderen Anschauungsformen und Begriffen beruhende Erfahrung denkbar, und für uns schließen die Gesetze des Erkennens nur Tatsächlichkeit, nicht Notwendigkeit in sich ein. Und da alle Notwendigkeit schließlich auf kausale Bestimmung und Gesetzmäßigkeit hinauskommt, unsere Einsicht in das Wesen der Kausalität aber nur so weit reicht, dass wir den Eintritt der Folge nach dem Grunde, der Wirkung nach der Ursache kennen lernen, das Wie des Zusammenhangs aber nicht erkennen, so ist im Grunde alle uns bekannte Notwendigkeit nicht mehr als Tatsächlichkeit; das gilt von aller logischen, physischen und metaphysischen Notwendigkeit, und die moralische ist nicht einmal immer Tatsächlichkeit, sondern bleibt oft nur ein Gefühl der Verpflichtung ohne Verwirklichung.

Weil alle Notwendigkeit, soweit sie uns in der Erkenntnis gegeben ist, schließlich nur das Wiederkehrende in der Erfahrung, die Tatsächlichkeit in ihrem kausalen Zusammenhange ist, ist die rationalistische Methode in der Philosophie unschöpferisch und unfruchtbar, die empiristische allein schaffend und fördernd. Das Fördernde in allen mathematischen Schlüssen ist auch nur das tatsächlich Gegebene der Raum- und Zeitanschauung und die Möglichkeit der Verbindung der Elemente derselben in den verschiedensten Formen.

Auch mathematische Gewissheit und Allgemeingültigkeit schließt keine höhere Notwendigkeit in sich ein als alles Tatsächliche; wohl aber bleibt das Bedürfnis nach einer höheren Notwendigkeit als die des Tatsächlichen in seinem gegebenen Zusammenhange für das menschliche Gefühl bestehen. Vergleiche Freiheit, Determinismus, Prädestination, Fatalismus, Gott.

Die rechte Einsicht in den Begriff der Notwendigkeit gibt schließlich nur die Erkenntnis, dass sie ein Modalbegriff ist und als solcher überhaupt nicht ein reales Verhältnis (Sein und Nichtsein), sondern nur einen Grad der Überzeugung, mithin ein subjektives Verhältnis des Menschen zum Ausdruck bringt. Sie bezeichnet den stärksten Grad der menschlichen Überzeugung von der Wahrheit eines Satzes oder der Existenz eines Dinges. Wenn wir alle Bedingungen einer Sache erfüllt sehen, halten wir sie für notwendig, wo die Erfüllung aller Bedingungen behindert ist, reden wir im Gegensatz dazu von Unmöglichkeit.

Als modale Kategorie, d.h. als solche, die dem Begriff kein Merkmal hinzufügt, sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrückt, hat sie auch Kant erfasst, wenn er definiert: »Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist notwendig« (Kr. d. r. V. S. 218). Nur dürfte die Notwendigkeit nicht Kategorie zu nennen sein, sondern sich als abgeleiteter Begriff erweisen.

Nooumenon (gr. nooumenon = das Gedachte) S. 400
heißt ein Verstandesding (ens merae cognitionis), das von Jeder sinnlichen Anschauung frei ist.

Kant (1724-1804) versteht darunter den Gegenstand der reinen Verstandesbegriffe, und da Begriffe ohne Anschauung leer sind, ist ihm das Nooumenon zunächst ein leerer Begriff, dem nichts in der Wirklichkeit entspricht. Kant erweitert aber den Begriff des Nooumenon zu dem Begriff eines Gegenstandes, der einer Anschauung, obgleich nicht einer sinnlichen, gegeben werden kann, und nähert damit die Noumena unmittelbar den Begriffen der Dinge an sich selbst, die dann als bloße Verstandeswesen gedacht sind. (Kr. d. r. V., S. 137 ff. u. 235 ff. Prolegg. §§ 32-35.)

Der Gegensatz, zum Nooumenon ist das Phaenomenon, der Begriff der Dinge, welche die Sinnenwelt ausmachen, also der Erscheinungen (s. d.), sofern sie als Gegenstände nach der Einheit der Kategorien gedacht werden.

Nous, Nus (gr. nous = Verstand) S. 400f.
heißt schon bei Homer das Erkenntnisvermögen; von Parmenides und Demokritos wird er der Seele (psychê) gleichgesetzt, von Platon und Aristoteles als edelster Teil derselben gedacht.

Platon versteht darunter die denkende Seele (logistikon), die im Haupte ihren Sitz hat, Aristoteles den Teil der menschlichen Seele, den sie vor den Tieren voraus hat. Die übrigen Teile der Seele sind nach ihm vergänglich; der nous ist präexistierend und unsterblich. –

In der Geschichte der griechischen Metaphysik spielt der Nous eine wichtige Rolle: Schon Xenophanes von Kolophon (ca. 500 v. Chr.) nahm eine objektive göttliche Vernunft als Weltprinzip an.

Ihm folgend, fand Anaxagoras (500-428) des Sokrates Lehrer, die bewegende und gestaltende Kraft weder mit den Hylozoisten in der Natur der Stoffe selbst, noch mit Empedokles in unpersönlichen psychischen Mächten, sondern in einem weltordnenden Geiste. Der Nous unterscheidet sich nach ihm von den materiellen Wesen durch Einfachheit, Selbständigkeit, Wissen und Herrschaft über den Stoff.

Platon (427-347) definiert die weltbildende Vernunft als die schöpferische Zweckmäßigkeit in der Welt, während er die Notwendigkeitsursachen, welche nur mithelfen, als in der Materie begründet ansetzt. Vergleiche Notwendigkeit.

Aristoteles (384-322) nennt den stofflosen Geist direkt Gott, dessen Existenz er aus der Notwendigkeit eines ersten unbewegten Bewegers beweist (vgl. Beweise für das Dasein Gottes). Als solcher muss er reine Energie (purus actus), ewig, reine Form, ohne Materie, daher auch ohne Vielheit und Teile, reines Denken (nous), das sich selbst denkt, sein. Er ist also Selbstbewusstsein (noêsis noêseôs). Er bewegt, ohne zu bilden und zu handeln, selber unbewegt, als das Gute und der Zweck, dem alles zustrebt, wie der Liebende dem Geliebten. Die Welt als gegliedertes Ganzes hat ewig bestanden und wird nicht untergehen. Als Aktualität ist Gott nicht Produkt, sondern Prinzip der Entwicklung (Metaphys.12, 6 u. 7). –

Merkwürdig ist die Richtung der Neuplatoniker, die das Göttliche weder als Nous noch als Gegenstand der Vernunft (weder als nous noch als noêton) ansahen, sondern als Übervernünftiges (hyperbebêkos tên nou physin). Es verhält sich zum Nous, wie das Licht zum Auge. Die Einheit ist die Quelle und Kraft, woraus erst das Seiende stammt.

So hypostasiert Plotinos (206-270) das Resultat seiner Abstraktion zu einem gesondert existierenden Wesen, hält es für ein Prinzip dessen, woraus es abstrahiert ist, und nennt es die Gottheit.

Oberhaupt des Reichs der Zwecke S. 402
nennt Kant (1724 bis 1804) (Grundlegung zur Metaph. der Sitten, S. 75) ein vernünftiges Wesen, das allgemeine Gesetze gibt, ohne selbst denselben unterworfen zu sein. Ein solches Wesen muss unendlich, frei und unabhängig von sinnlichen Neigungen, Bedürfnissen und Antrieben und schrankenlos in seiner Macht sein.

Objekt (lat. von objicere = entgegenstellen, vorstellig machen), S. 402 ff.
Gegenstand, eigtl. das Dargebotene,
bedeutet allgemein dasjenige, womit sich ein Subjekt geistig beschäftigt. Das Verhältnis des Subjektes und Objektes ist also zunächst ein rein innerliches, ein Empfinden, Vorstellen, Wahrnehmen, Denken oder Erkennen.

Das
Objekt ist eine Kategorie oder Grundform des Erkennens. Von der Existenzweise des Objektes selbst ist dabei noch ganz abgesehen; Gegenstand der subjektiven Betätigung ist alles, was dem Bewusstsein gegeben ist, jedes Gedankending.

Ursprünglich von Duns Scotus (1265-1308) ab bis in das 18. Jahrhundert hieß es denn auch das, was
»im Vorstelligmachen liegt und hiermit auf Rechnung des Vorstellenden fällt«.

Objekt bedeutet aber jetzt, seit Kant (1724-1804), im engeren Sinne den dem Bewusstsein durch die Wirklichkeit gegebenen Gegenstand, mithin das Reale in seinem Verhältnisse zum Subjekte. Ohne das Subjekt ist also auch das Objekt in diesem engeren Sinne nicht vorhanden.

Dies haben J. G. Fichte und Schopenhauer richtig hervorgehoben: Gegenstand der Betrachtung ist ein Ding nur unter Voraussetzung von einem Betrachtenden. Daher muss von dem Objekte das Reale an sich geschieden werden, das aber für unser Wissen keine Rolle spielt (vgl. Ding an sich). Vielfach wird jedoch, was nur Verwirrung hervorrufen kann, das Reale unabhängig von unserem Bewusstsein auch Objekt genannt. Es ist empfehlenswert, diesem verwirrenden Sprachgebrauch nicht zu folgen. –

Objekt bezeichnet auch das Ziel unseres Handelns, das, worauf unser Streben und Tun gerichtet ist.

Eins der schwierigsten Probleme ist die Existenz der objektiven Welt. Es löst sich durch die Erkenntnis, dass das unserem Bewusstsein in der Empfindung Gegebene ein
Ungewolltes und nicht Abzuweisendes ist. –

Objektivität S. 403f.
heißt Gegenständlichkeit, und zwar, gemäß den obig entwickelten Bedeutungen, sachgemäßes Denken oder Gedachtwerden oder dem Menschen bewusste Realität, oder auch Sachlichkeit der Darstellung, im Gegensatz zur subjektiven, persönlichen Auffassung. Das Objektive steht mithin zwar dem Persönlichen gegenüber, ist deshalb aber keineswegs immer real oder wirklich, da Gegenstand unserer Betrachtung sowohl ein Ding als auch eine Vorstellung sein kann.
In der Kunst heißt Objektivität die Darstellung, welche den Gegenstand zur Geltung kommen lässt, während die subjektive Darstellung ihn sich unterordnet. Plastik, Epos und Drama sind objektive, Lyrik und Musik subjektive Künste.

Auch die Wissenschaft soll nach Objektivität (sine ira et studio) streben.

Objektiv gültig
heißt das, was für alle vernünftigen Wesen Gültigkeit hat, objektiv gut, was sie alle als solches anerkennen.

Vgl. subjektiv. Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart. 1905. S. 11 ff.

Od S. 406
nannte Karl v. Reichenbach (1788-1869) eine eigentümliche, aus den Fingerspitzen ausströmende und auch auf andere Körper übergehende, zwischen Wärme, Licht, Elektrizität und Magnetismus stehende Kraft, welche nur von Sensitiven, d.h. dafür empfänglichen Menschen, als angenehmer oder widriger Geschmack empfunden wird und auf dem die Polarität zwischen Metallen, Pflanzen und Menschen beruhen soll.
Vgl. Reichenbach, Odisch-magnetische Briefe. Stuttgart 1852.
Dagegen L. Büchner, Das Od. Darmst. 1854. Fechner, Erinnerungen an die letzten Tage der Odlehre und ihres Urhebers. Leipzig 1876.

Offenbarung (lat. revelatio, inspiratio) S. 406f. Siehe auch bei Eisler
heißt die Gott oder Gottgesandten zugeschriebene Enthüllung religiöser Wahrheiten und seines eigenen Wesens.

Gott offenbart sich, wie der Glaube annimmt, teils äußerlich, teils Innerlich, und zwar jedem Menschen nach Maßgabe seiner Empfänglichkeit. Die äußere (objektive) Offenbarung geschieht in der Natur und in der Geschichte. Der religiöse Mensch sucht Gottes Walten in den Naturgesetzen und Naturvorgängen, sowie in Ereignissen des Lebens einzelner und ganzer Völker; Familienerlebnisse, Rettung aus Gefahr, Not, Krankheit und Tod, wie die Knotenpunkte in der Staaten- und Kulturgeschichte, werden als Taten Gottes angesehen.

Die innere (subjektive) Offenbarung wird dagegen in der Vernunft und in dem moralischen Gefühl gesucht und befasst jeden theoretischen und praktischen Fortschritt der Menschheit auf dem Gebiete der Erfindungen und Entdeckungen, der Erkenntnis, der Darstellung der Kunst und der Sittlichkeit.

Der Glaube betrachtet die ganze Geschichte der Menschheit als die Erziehung derselben durch Gott, als eine Herausgestaltung seines Reiches.

Die Religionen stützen sich noch auf eine dritte Art der Offenbarung, nämlich die durch Auserwählte oder Gottgesandte. Insbesondere nimmt die christliche Lehre die Offenbarung des Wesens Gottes durch Moses, die Propheten und vor allem durch Christus an.

Fichte (1762-1814) sah eine äußere Offenbarung für den Fall als notwendig an, dass die Menschheit moralisch so verkommen sei, dass sie die Stimme des Sittengesetzes nicht mehr höre. (Versuch einer Kritik aller Offenbarung. Königsberg 1792.)

Kant
leugnete die Notwendigkeit einer Offenbarung gänzlich..


Okkasionalismus (franz. occasionalisme = Lehre von den Gelegenheitsursachen v. lat. occasio = Gelegenheit) S. 404 ff
heißt die Richtung der Philosophie, welche die Wechselwirkung zwischen Geist und Körper und den Einfluss der Seele auf den Leib und umgekehrt leugnete und die Übereinstimmung beider in jedem einzelnen Falle auf ein vermittelndes Drittes, Gott, zurückführte. Sie bildete sich in der Schule des Descartes (1596-1650) heraus. Während vorher die Theorie des natürlichen Einflusses (influxus physicus) von Körper und Geist, Leib und Seele aufeinander geherrscht hatte, stellte Descartes die dualistische Lehre von der substantiellen Verschiedenheit von Körper (Ausdehnung) und Geist (Denken) auf, die, konsequent durchgeführt, jede gegenseitige Einwirkung beider ausschließt.

Clauberg, Louis de la Forge und Cordemoy lehrten dann, dass die scheinbare Wechselwirkung zwischen Körper und Geist auf Gott als die wirkliche Ursache zurückzuführen sei.

Am entschiedensten vertrat diese Lehre Arn. Geulincx (1624-1669). Er behauptete, Gott rufe bei Gelegenheit des leiblichen Vorganges in der Seele die entsprechende Vorstellung hervor und bei Gelegenheit des Wollens bewege Gott den Leib. Nicht der Körper sei also Ursache für die bewusste Empfindung im Geiste, nicht der Wille sei unmittelbare Ursache der Bewegung, sondern das eine sei nur Gelegenheit für Gott (causa occasionalis), das andere hervorzubringen. Geulincx stützte sich dabei auf den Satz 'quod nescis, quomodo fiat, id non facis'. Wir wissen nicht, wie unser Wille den Leib, unsere Sinnesreizung die Empfindung in Bewegung setzt. Also ist Leibesbewegung und Sinnesempfindung nicht unser Werk.

Abgeschwächt ist das Problem bei Nic. Malebranche (1638-1716), welcher alles Tun überhaupt Gott zuschrieb. Gott hat zwei Grundideen, Denken und Ausdehnung, nach denen er alle Dinge geschaffen hat. Von den Körpern, hat er nur die Ideen in sich, die Geister aber hat er nicht nur als Ideen, sondern als Geister selbst in sich. Denn Gott, ist der »Ort der Geister«, die deshalb sich selbst und die Körper erkennen. In beiden, in der Körper- und Geisterwelt,
geschieht alles von Gott.

Bei Spinoza (1632-1677) schwächte sich das Problem noch weiter ab. Indem er nur Gott die Existenz: zuschrieb, Ausdehnung und Denken aber zu Attributen Gottes herabsetzte, war nur noch die Idee des vollkommenen Parallelismus beider Attribute nötig, um die Übereinstimmung zwischen Seelen- und Körpervorgängen zu erklären. Die Abweichung Malebranches und Spinozas voneinander liegt also, wie Malebranche hervorgehoben hat, nur darin, dass bei ihm selbst das Universum in Gott, bei Spinoza Gott im Universum zu suchen ist.

Noch weiter sinkt die philosophische Bedeutung des Problems bei Leibniz (1646-1716), der an Stelle des Okkasionalismus die Lehre von der prästabilierten Harmonie setzte. Unter Verwerfung des physischen Einflusses (»die Monaden haben keine Fenster«) leugnete auch er, dass Leib und Seele Wirkungen aufeinander ausüben; um aber nicht ein Wunder ohne Ende anzunehmen, stellte er die Hypothese auf, Körper und Seele folgten spontan den ihnen von Anfang anerschaffenen Gesetzen und stünden, kraft göttlicher Prästabilierung, dabei in steter Harmonie, wie zwei kunstvoll regulierte Uhren. Jede Monade ist mit Rücksicht auf alle anderen geschaffen. Die Seele hat also in demselben Momente eine schmerzhafte Empfindung, wo der Körper geschlagen wird: der Arm streckt sich gemäß den Gesetzen des leiblichen Mechanismus in dem Augenblicke aus, wo in der Seele ein bestimmtes Begehren auftaucht.

Erst mit dem Kritizismus Kants (1724-1804), der die Erkennbarkeit des Dinges an sich leugnete, verschwindet das Problem, das den Okkasionalismus hervorgerufen hat, und mit ihm der Okkkasionalismus selbst, aus der Philosophie gänzlich. Vergleiche Dualismus, Harmonie, Monade.


Ontologie (aus gr. on das Seiende u. logos) S. 407f.
heißt der Teil der Metaphysik, der es mit dem Sein zu tun hat. Das Forschungsgebiet der Ontologie begegnet uns schon bei Platon (427-347), der in seiner Ideenlehre die Ideen als das wahrhaft Seiende (to ontôs on) darstellt.

Mit den Prinzipien des Seins (Stoff, bewegende Ursache, Zweck, Form) beschäftigt sich ebenso Aristoteles' (384-322) »erste Philosophie« (philosophia prima); sie ist ihm die Wissenschaft vom Sein als Sein.

Während sich Epikuros, die Akademiker und Skeptiker nicht mit den realen Kategorien beschäftigten, schlossen sie die Stoiker, Neuplatoniker, ja fast alle Scholastiker eng an Aristoteles an.

Die Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts sagten sich fast ganz von der Ontologie los; erst Chr. Wolf (1679-1754), Leibniz' Schüler, der die Philosophie deutsch reden gelehrt hat, nahm diese Disziplin wieder auf indem er die Metaphysik in Ontologie, rationale Psychologie, Kosmologie und rationale Theologie zerlegte.

Die Ontologie behandelt die Eigenschaften und Arten des Seienden. Sie spricht vom Wesen, den Bestimmungen und Modis der Dinge, von Raum und Zeit, Ausgedehntem und Substanzen, Kräften und Aggregaten.

Hume
und Kant (1724 bis 1804) hingegen verwarfen die Ontologie ganz; an ihre Stelle hat nach Kant die Erkenntnistheorie oder Transzendentalphilosophie (s. d.) zu treten, welche den Vorrat unserer reinen Begriffe a priori einer Kritik zu unterwerfen hat.

Die nachkantischen Philosophen : Fichte, Schelling, Hegel, Herbart, Schopenhauer und v. Hartmann haben jeder in anderer Weise die Ontologie aufs neue bearbeitet; ebenso Trendelenburg, Ulrici, Fichte d. J. und Lotze. Jedoch halten andere, wie Wundt, F. A. Lange, an der Verwerfung jener Disziplin fest. Vgl. Metaphysik.

ontologischer Beweis S. 408
heißt der Beweis, der Gottes Dasein aus dem Begriff Gottes nachzuweisen versucht.

Er ist zuerst von Anselm von Canterbury (1033-1109) gebraucht, dann von Cartesius (1596-1650) und Spinoza (1632-1677).

Kant
(1724-1804) hat dagegen seine Unzulässigkeit nachgewiesen (Kr. d. r. V. S. 592-602), s. Gott. Ihm entfließt nach Kant die Ontotheologie, die er als diejenige transzendentale Theologie definiert, welche glaubt durch bloße Begriffe ohne Beihilfe der mindesten Erfahrung das Dasein des Urwesens zu erkennen.


Optimismus (nlat., franz. v. lat. optimus = der beste) S. 409f. Siehe auch bei Eisler
heißt theoretisch die Lehre, dass diese Welt, trotz ihrer mancherlei Unvollkommenheiten, die beste, die erschaffen werden konnte, d.h. möglichst vollkommen und auf die Glückseligkeit der darin lebenden Wesen berechnet sei.

Diese Lehre findet sich schon bei den Stoikern. So sagt Kleanthes in seinem »Hymnus auf Zeus«: »Nichts geschieht ohne dich, Gottheit, außer was die Bösen tun durch ihre eigene Unvernunft; aber auch das Schlimme wird wieder durch dich zum Guten gelenkt!«

Nach Chrysippos ordnet die Vorsehung (heimarmenê, fatum) alles aufs beste, und der Mensch kann sich dieser alles beherrschenden Logik anvertrauen. Gott ist der Vater aller, ist wohltätig und menschenfreundlich; zur Rechtfertigung der Übel geben die Stoiker eine ausführliche Theodizee.

Ebenso lehrt Plotinos den Optimismus, indem er die ganze Weltentwicklung als Emanation aus und Rückkehr zu Gott betrachtet.

Nicht minder vertreten Platon (427-347) und Aristoteles (384-322) mit ihrer teleologischen Weltbetrachtung den Optimismus und im Anschluss an Aristoteles die scholastischen Aristoteliker Albertus Magnus (1193-1280) und Thomas von Aquino (1225-1274).

Am bekanntesten aber ist Leibniz (1646-1716) als Optimist, weil er, angeregt durch Bayles (1647-1705) Zweifel, eine ausführliche »Theodicee« (1710) geschrieben hat. Gott hat die Ideen von unendlich vielen möglichen Welten; da von diesen nur eine existiert, muss es einen hinreichenden Grund dafür geben, warum er diese allen anderen vorgezogen hat. Diese muss also die vollkommenste aller möglichen sein, denn wenn sie es nicht wäre, so hätte Gott eine vollkommenere entweder nicht gekannt oder nicht schaffen können oder nicht schaffen wollen; das aber widerspräche entweder seiner Weisheit, oder seiner Allmacht, oder seiner Güte. Die Übel, welche Leibniz keineswegs ableugnet, sind daher nach seiner Ansicht notwendig mit der Existenz der Welt bedingt. Denn sollte es eine Welt geben, so musste sie aus endlichen, d.h. sündliche, beschränkten und leidensfähigen Wesen bestehen. Zwischen dem Reiche der Natur und dem der Gnade besteht eine durchgängige Harmonie.

Auch die folgenden großen Philosophen sind sämtlich Optimisten.

Erst Schopenhauer (1788-1860) und v. Hartmann (1842-1906) haben im neunzehnten Jahrhundert den Pessimismus herausgebildet, welcher diese Welt für die denkbar schlechteste hält. Jener leitet den Optimismus mit Hume aus »heuchelnder Schmeichelei« gegen Gott ab; er sei eine schreiende Absurdität dieser Welt des Elends und der Sünde gegenüber, eine Ironie, eine »wahrhaft ruchlose Denkungsart« (W. a. W. u. V. I, 385. II, 663).

Aber der Pessimismus beruht auf falschen Ansprüchen des Individuums, unrichtiger Auffassung des Wesens der Lust und Verkennung der zweckmäßigen Ordnung der Welt.

Im praktischen Sinne heißt Optimist derjenige, dessen Gemütsstimmung derart ist, dass er alle Begebnisse von der besten und heitersten Seite auffasst, den Menschen das Beste zutraut und überall Mut und Hoffnung, selbst in schlimmen Lagen des Lebens, bewahrt.

Organ (gr. organon = Werkzeug) S. 410
heißt dasjenige, was durch alle übrigen Teile des Ganzen da ist und auch um der anderen Teile und des Ganzen willen existierend gedacht wird. –

Organon nannten spätere Herausgeber die Gesamtheit der logischen Schriften von Aristoteles, weil ja die Logik gleichsam das Werkzeug für alle Wissenschaften ist.

Auch Bacon (1561-1626), der die Logik im Gegensatz zu Aristoteles erneuern wollte, nannte einen Teil seines Hauptwerkes Novum Organon.

Organon der reinen Vernunft heißt bei Kant (1724-1804) der Inbegriff derjenigen Prinzipien, nach denen alle reinen Erkenntnisse a priori erworben und wirklich zustande gebracht werden. Kr. d. r. V. 2. Aufl. Vorrede, S. 24.

Organisation S. 411
heißt eine zweckmäßige und in ihrer Form beharrliche Anordnung der Teile.

Organismus S. 411f.
heißt ein Naturganzes, in welchem sämtliche Teile sich wechselseitig zueinander wie Mittel und Zweck verhalten. Im Organismus liegen die Teile des Ganzen nicht nur äußerlich nebeneinander, wie in Mechanismen und Industrismen, sondern sie hängen innerlich zusammen und vermitteln einen einheitlichen Prozess, der sich auf das Ganze selbst bezieht.

Die Organismen entwickeln sich von innen heraus. Aus einem Keime (Zelle, Samen oder Ei) entstehend, wachsen sie und erhalten sich durch den Stoffwechsel, bis sie entweder das ihnen gesteckte Lebensziel erreicht haben und sterben oder gewaltsam zerstört werden.

Alle Organismen haben eine gewisse Spontaneität, welche besonders ihrer Ernährung und Fortpflanzung dient. So stellen sie sich alle als ein System von Kräften dar, das durch die in der Zelle angelegte Form spontan (d.h. von innen heraus) und zweckvoll ausgestaltet wird und sich selbst erhält.

Schließlich kann man auch den Kosmos, wenn man ihn teleologisch betrachtet, einen Organismus nennen.

Der Begriff des Organismus ist im Altertum besonders von Aristoteles, in der Neuzeit von Kant philosophisch bestimmt worden.

Aristoteles
(384-322) geht von der Bedeutung des Wortes organon aus: organon heißt Werkzeug. Jedes Werkzeug ist aus ungleichartigen Teilen zusammengesetzt, hat einen Zweck und ist um einer bestimmten Tätigkeit willen da. Organische Wesen sind daher zusammengesetzte aus ungleichartigen Teilen bestehende Wesen, deren Teile zweckmäßig zu irgend einer Tätigkeit eingerichtet sind (De anima II, 1). Zu diesem Begriff fügt Aristoteles noch den Begriff des Lebens, der Beseeltheit (der Kraft der Selbstbewegung, der Selbstwirkung und des Wachstums) hinzu. So ergibt sich die aristotelische Definition, dass ein organisches Wesen ein innerlich zweckmäßiges, beseeltes oder belebtes Naturwesen ist, ein Mikrokosmos, dessen ungleichartige Teile dem Zweck des Ganzen als Werkzeuge dienen. Die organischen Wesen bilden eine Stufenfolge von der Pflanze zum Tiere und von da zum Menschen.

Für Kant (1724-1804) ist das organische Wesen ein seine Gattung fortpflanzendes, sich selbst als Individuum im Wachstum fortbildendes Naturprodukt, dessen Teile sich gegenseitig erhalten, oder kürzer zusammengefasst, ein Naturprodukt, das zugleich Naturzweck ist.

Beide Philosophen gründen also den Begriff des organischen Wesens auf die Merkmale: Naturwesen, Selbsternährung, Wachstum, gegenseitige Abhängigkeit der Teile, innere Zweckmäßigkeit. Aber Kant fügt dem Begriff noch das Merkmal der Erhaltung der Gattung hinzu und verfeinert den Begriff des Wachstums zum Begriff der beständigen Selbsterzeugung des Individuums, und für die Bestimmung des Aristoteles, dass die Teile des Organismus dem Zweck des Ganzen dienen, die auch auf ein Kunstprodukt passt, setzt Kant den Begriff der gegenseitigen Erhaltung der Teile des Organismus. So ist Kants Definition der des Aristoteles überlegen. (Kr. d. U. II, §§ 62-68; Vom Gebrauch teleologischer Prinzipien 1788.)

Nach Kants Zeit ist der Begriff des organischen Wesens namentlich durch die Entdeckung der Zelle neu begründet, aber philosophisch noch nicht endgültig formuliert.

Wundt (geb. 1832) erklärt den Organismus als einen aus einer großen Zahl ineinander greifender Selbstregulierungen zusammengesetzten Apparat, der, sobald er mit einer Anzahl anderer gleich- und verschiedenartiger Organismen in Wechselwirkung tritt, nun alsbald auf das so entstehende Ganze ebenfalls das Prinzip der Selbstregulierung übertragen muss (Logik).

Ostwald
sieht in den Organismen Wesen, deren Betätigung der Energiestrom ist und die befähigt sind, sich selbst zu erhalten und fortzupflanzen, oder kurz, sich selbst als Individuen und Familien erhaltende stationäre Energiegebilde (Vorles. üb. Naturphilos. 3. Aufl. Leipzig 1905. S. 312-331).
Vergleiche Lebenskraft, Telelogie.

organisch S. 412
im bildlichen Sinne heißt jedes Verhältnis einer Wechselwirkung, weil diese Wechselwirkung das Hauptmerkmal des Lebens ist, so spricht man bildlich auch von organischen Verhältnissen des Staates, der Schule, der Gesellschaft usw., ja sogar der Wissenschaften. Denn die Wissenschaften, z.B. Politik und Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaft stehen in Wechselwirkung, und der »philosophische Kopf«, wie Schiller den wahrhaft wissenschaftlichen Menschen nennt, setzt sie stets in Wechselbeziehung.

Panentheismus (Neubildung) S. 414 Siehe auch Eisler
heißt die Ansicht, nach der die Welt in Gott existiert, der sie als höhere Einheit umfasst.

So dachte Malebranche (1638 -1715), der den Sitz der Geister und der Ideen der Körper in Gott suchte, und so nennt man das System Fr. Krauses (1781-1832).

Der Grundgedanke des Panentheismus spricht sich in den Worten Fausts aus:»Der Allumfasser, der Allerhalter, fasst und erhält er nicht dich, mich, sich selbst?«


Pansatanismus S. 414 Siehe auch Eisler
hat O. Liebmann (Zur Anal. d. Wirklichkeit, Straßburg 1876, S. 230) Schopenhauers (1788 bis 1860) Willenslehre genannt.

Die Fichte-Schelling-Hegelsche Philosophie lief in Pantheismus aus. Schopenhauer liefert dazu das Gegenstück und die Karikatur. Die Benennung trifft nicht völlig zu; statt ihrer braucht man jetzt die Benennung Panthelismus.


Panspermie (aus d. gr. geb. von pan = alles und sperma = Samen), S. 415
Allsamigkeit, Verbreitung der Samen in der Welt, nennt Svante Arrhenius (Das Werden der Welten übersetzt von L. Bamberger, Leipzig 1907, S. 195 ff.) die Annahme, dass Lebenssamen in den Räumen des Weltalls umherirren, die Planeten treffen und deren Oberfläche mit Leben erfüllen, sobald die Bedingungen für das Bestehen der Organismen dort erfüllt werden. Durch diese Theorie soll sowohl die Annahme einer generativ acquivoca als auch die Rückkehr zur Linnéschen Lehre von der Konstanz der Arten vermieden werden.

Die Theorie der Panspermie hat Vorläufer in dem Franzosen Sales-Gayon de Montlivault (1821) und dem Deutschen H. E. Richter (1865). Arrhenius nimmt an, dass es so kleine lebende Organismen gibt (unter 0,00016 mm Durchmesser), dass der Strahlungsdruck der Sonne sie in den Raum hinaustreiben könnte, wo sie auf Planeten, die ihrer Entwicklung günstigen Platz böten, Leben erwecken könnten. Aber er gibt zu, dass die Richtigkeit dieser Annahme direkt durch Untersuchung der aus der Luft niederfallenden Samen wohl kaum bewiesen werden wird; und seine Lehre erklärt in keiner Weise, wie diese im Weltraume befindlichen organischen Lebewesen aus unorganischem Stoffe entstehen konnten, löst also nicht die Frage nach der Entstehung der Organismen in ihrem Kern und Wesen, sondern schiebt die Lösung nur weiter zurück, als die Theorie der generatio acquivoca es tut.

Pantheismus (von pan = alles u. theos = Gott) S. 415ff. Siehe auch bei Eisler
heißt seit Anfang des 18. Jahrhunderts dasjenige religionsphilosophische System, welches Gott und die Welt nicht voneinander trennt, sondern im Wesen für eins erklärt.

Theismus heißt im Gegensatz dazu das System, das an der Verschiedenheit von Gott und Welt festhält.

Der Pantheist identifiziert Gott und Welt und verleiht Gott ein immanentes Dasein in der Welt, während der Theist Gott und Welt trennt und Gott eine transzendente Existenz zuschreibt. Leicht aber verflüchtigt sich dem Pantheismus, wenn er Gott und All gleichsetzt oder auch das eine in das andere setzt, die Bedeutung des einen der gleichgesetzten Faktoren. Entweder verliert er über dem Begriff Gott das Bild der Welt oder über dem Bilde der Natur das Bild Gottes.

Der Pantheismus erzeugt daher zwei Hauptrichtungen, die akosmistische (Brahmaismus, Eleaten), welche im Grunde die Welt leugnet, und die pankosmistische, atheistische (Spinoza, Goethe, Strauß), welche in Gefahr ist, Gott über der Welt völlig zu verlieren. (Siehe Th. Ziegler, Religion und Religionen. Stuttgart 1893. S. 113 f.)

Bei den einzelnen Vertretern der Einheitslehre gewinnt der Pantheismus durch Betonung eines besonderen Elementes an dem über Geist und Körper hinaus gedachten Absoluten eine sehr verschiedene Färbung. Realistisch erscheint er da, wo die Einheit eines Stoffprinzips wie bei Herakleitos, oder die Einheit der Naturkraft, wie bei den Stoikern, hervorgehoben ist, idealistisch da, wo, wie bei Hegel, Gott die sich selbst entwickelnde Idee oder, wie bei Fichte, Gott die sittliche Weltordnung ist. Abstrakt erscheint er da, wo eine fast nur mit negativen Prädikaten ausgestattete Einheit wie bei den Eleaten gesetzt ist, konkret da, wo Gott als das Allpersönliche in den Geistern gedacht wird. (Vgl. Weisenborn, Vorlesungen über den Pantheismus und Theismus. 1859. Frz. Hoffmann, Theismus und Pantheismus. 1861.)

Der Pantheismus, welcher innige Religiosität keineswegs ausschließt, wie dies z.B. die indische Religion beweist, ist eine weite und hohe poetische Weltanschauung, die etwas tief Beruhigendes an sich hat; aber wir befinden uns meist außerhalb der Wissenschaft und im Reiche der Phantasie, wenn pantheistische Gedanken unser Gemüt erfüllen. Wir finden ihn in allen Zeiten vor.

Die Eleaten vertraten einen abstrakten Pantheismus (Xenophanês de prôtos toutôn henisas eis ton holon ouranon apoblepsas to hen einai phêsi ton theon. Arist. Met. I, 5, p. 986 b 21), indem sie nur dem einen Sein Existenz zuschrieben; Herakleitos (um 500 v. Chr.) sah in dem All ein göttliches Urfeuer.

Auch die Stoiker legten dem Göttlichen als Substrat das Feuer unter. Andere war der neuplatonische Pantheismus beschaffen, der die bunte Erscheinungswelt aus dem einen Gott durch Emanation ableitete, sei es, wie bei Plotinos und Proklos, in der Form spekulativer Entwicklungen, sei es, wie bei Jamblichos, vermischt mit dämonischen Phantastereien.

Im Mittelalter tritt der Pantheismus nur vereinzelt auf, entweder im Anschluss an Plotinos, bei Scotus Erigena, oder an Averroes, bei David v. Dinanto.
Das erwachende Naturstudium des 16. Jahrhunderts rief eine Art von Schwärmerei für die mit Gott identifizierte Natur hervor (Vanini, Campanella, Giordano Bruno).

Mehr panentheistisch als pantheistisch war die Lehre Malebranches (1638-1715), dem Gott als der Sitz der Geister erschien.

Der nüchternste und konsequenteste Pantheist ist Spinoza (1632-1674), dem das All »deus sive natura« war; er verschmäht jeden poetischen Reiz, jede bestechende Rhetorik. Nachdem er lange Zeit mehr verketzert als studiert war, haben sich Herder, Goethe und die neueren Philosophen nach Kant mehr oder weniger an ihn angeschlossen, namentlich Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher und Fechner.

Bekannt gemacht hat ihn zuerst durch seine Polemik Fr. Jacobi (1743 bis 1819).

Die Lehre E. v. Hartmanns (1842-1906) als Pantheismus zu bezeichnen, ist unzulässig. Pantheismus kann vernünftigerweise nur da gesucht werden, wo Gott nicht in das Gegenteil verkehrt wird. Bei v. Hartmann ist aber das Absolute vernunftloser Wille und ohnmächtige logische Idee, und der Hartmannsche Pessimismus fordert als Endresultat die Aufhebung des Daseins. Die durch Verbindung von Christentum und Buddhismus geschaffene Zukunftsreligion Hartmanns, die er als konkreten Monismus bezeichnet, hat mit dem Pantheismus nur den Gedanken der Einheit des (Unbewussten) Absoluten gemeinsam.

Gegen den Pantheismus richtet sich außer den Bedenken, die jede Identitätsphilosophie erweckt, der Einwand, dass es für ihn fast unmöglich ist, dem Individuum gerecht zu werden, dass die menschliche Persönlichkeit mit ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Selbstbestimmung unerklärlich wird, und dass ihm die Erklärung des Übels und des Bösen kaum ohne Gewaltsamkeiten gelingt. Vgl. Pansatanismus. Jaesche, der Panth. nach seinen Hauptformen. Berlin 1826. Schuler, der Pantheismus. Würzburg 1884. Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipzig 1904. S. 256 ff., 378 ff.


Panthelismus (v. gr. pan = all u. thelô = ich will) S. 417
heißt die Lehre Schopenhauers (1788-1860), nach der der Wille das Wesen aller Dinge ist. Vgl. Pansatanismus, Voluntarismus.

paradox (gr. paradoxos) S. 417
heißt seltsam, wider Erwarten. –

Paradoxie oder Parádoxon
heißt eine Behauptung, welche dem gesunden Menschenverstand (common sense) widerspricht.

Die Eleaten und die Stoiker liebten es, solche Paradoxa aufzustellen.

Cicero (106-43 v. Chr.) überliefert in seinen »Paradoxa« folgende Sätze: 1. Nur was sittlich, ist gut. 2. Die Tugend genügt zum Glück. 3. Tugenden und Laster sind gleichartig. 4. Jeder Unweise ist ein Wahnsinniger. 5. Der Weise allein ist frei, der Unweise ein Sklave. 6. Der Weise allein ist reich.

Schopenhauer (1788-1860) hält die Paradoxie für ein günstiges Symptom der Wahrheit, und F. Nietzsche (1844 -1900) liebt es, den Leser durch paradoxe Sätze zu fesseln.

Parallelismus (gr. parallêlismos = Gleichlauf, Gleichförmigkeit) S. 417f.
heißt die Lehre, dass Körper und Geist, Leib und Seele zwei gleichlaufende Reihen bilden. Einen metaphysischen Parallelismus der Attribute Gottes, des Denkens und der Ausdehnung, der Ideen und Körper, und damit zusammenhängend einen psychophysischen (anthropologischen) Parallelismus des Geistes und des Körpers nimmt Spinoza (1632-1677) an und ersetzt hierdurch den Okkasionalismus der Cartesianer. Er lehrt, dass nur ein in sich selbst und für sich selbst bestehendes Wesen, nur eine Substanz, Gott oder die Natur, existiere. Diese besitze unendlich viele Attribute, von denen der menschliche Intellekt zwei als ihr Wesen ausmachend erkennt, das Denken (cogitatio) und die Ausdehnung (extensio). Alles Einzelne ist demgegenüber nur unselbständig, nur Zustand der Substanz (affectio), nur Modus. Alle Ideen sind Modi des Denkens, alle Körper Modi der Ausdehnung. Die Ideen haben daher nicht die Körper, und die Körper nicht die Ideen zur Ursache; die Ideen haben vielmehr Gott als denkendes Wesen und die Körper Gott als ausgedehntes Wesen zur Ursache. Beide gehen aber in gleicher Weise aus den Attributen Gottes hervor und drücken das Wesen ein und derselben Substanz aus, so dass sie zwei nebeneinander parallel laufende Reihen bilden (Parallelismus der Attribute). Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist daher nach Spinozas Auffassung im Weltall dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Körper (ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio renim Eth. II Prop. 7).

Auf den Menschen (anthropologisch) angewandt, besagt diese Lehre, dass die Ordnung und Verknüpfung des Handelns und Leidens unserer Seele dieselbe ist wie die Ordnung und Verknüpfung des Handelns und Leidens unseres Körpers. Hierin besteht der Zusammenhang beider. Auch der Hæckelsche Monismus schließt den Gedanken des Parallelismus in sich ein.

Leibniz
(1646 bis 1716) setzte an Stelle dieser Lehre Spinozas die Idee der prästabilierten Harmonie .

Partitio (lat. partitio = Teilung) S. 421
hieß im Altertum allgemein die Einteilung eines Ganzen in seine Teile.

In der neueren Logik bedeutet es die Einteilung des Inhaltes eines Begriffs, während Divisio die Einteilung des Umfangs bezeichnet. (Quintil. inst. or. 4, 5. Überweg, System der Logik § 50.) Vergleiche Divisio, Einteilung.


patristische Philosophie (franz.) S. 424
heißt innerhalb der Geschichte der Philosophie die der Scholastik vorausgehende Philosophie der Kirchenväter ( patres ecclesiae), die durch strengere Fassung der christlichen Lehre und in Anlehnung an die alte Philosophie einen ersten Versuch zur Begründung dieser Lehre machte.

So verfolgten die Apologeten im 2. Jahrh. n. Chr. das Ziel, die christliche Religion den Gebildeten als die wahre Philosophie des Geistes, der Freiheit und der Sittlichkeit zu empfehlen.

Ebenso versuchten die Alexandriner (Ende des 2. Jahrh.) Wissenschaft und Christentum in Einklang zu setzen.

Ähnlich versuchte die jüngere Patristik, die Dogmen zu beweisen.

Die katholische Kirche rechnet zur Patristik alle Kirchenlehrer bis zum 13., die protestantische Kirche dagegen nur bis zum 8. Jahrhundert,
Vgl. A. Stöckl, Gesch. der christl. Philos. zur Zeit der Kirchenväter. 1891. J. Huber, Philosophie der Kirchenväter. 1859. Chr. Baur, das Christentum der drei ersten Jahrh. 1860. Vergleiche Gnosis.

Pelagianismus S. 424
heißt die von dem britischen Mönche Pelagius (Anfang des 5. Jahrh. n. Chr.) vertretene Lehre, dass durch Adams Sündenfall die menschliche Natur nicht verdorben, der Mensch daher willensfrei und durch die Kraft seines Willens befähigt sei, auch außerhalb der Kirche der göttlichen Gnade teilhaftig zu werden. Sie bildet den Gegensatz zur Lehre Augustins (353-430), der die Erbsünde und Prädestination annahm. Vergleiche Prädestination und Determinismus.

Peripatetiker (gr. peripatêtikos = Philosophen von den Spaziergängen) S. 425
heißen die Anhänger des Aristoteles (384-322), von den schattigen Gängen (peripatoi) des Lykeions, in denen Aristoteles lehrte.

Sie haben sich weniger mit der Fortbildung als mit der populären Auslegung und gelehrten Feststellung seiner Lehre beschäftigt.

Hervorragend sind Theophrastos, Eudemos, Aristoxenos, Dikaiarchos, Straton, Lykon, Ariston, Hieronymos, Kritolaos, Diodoros, Staseas, Kratippos.

Unter den späteren Kommentatoren des Aristoteles sind am bekanntesten Andronikos von Rhodos, Boëthius aus Sidon, Nikolaos von Damaskos, Alexander von Aigai, Aspasios und Adrastos von Aphrodisias, Alexander von Aphrodisias, endlich Porphyrios, Philoponos und Simplicius.

Seit dem 12. Jahrhundert beherrschte Aristoteles die Scholastik, deren größte Vertreter, Albertus Magnus, Thomas von Aquino und Duns Scotus, ihm anhingen.

Zur Zeit der Renaissance traten Neu-Aristoteliker auf, die sich wieder entweder dem Averroes oder Alexander v. Aphrodisias oder Platon mehr näherten.

Der neueste Vertreter des Aristotelismus ist Trendelenburg (1802-1872) gewesen. Vergleiche Aristotelismus.

Person (vom lat. persona. gr. prosôpon = Maske, Rolle, Mensch) S. 425f.
heißt ein
Wesen mit individueller Einheit und kontinuierlicher, im Wechsel der körperlichen und geistigen Zustände beharrender Identität des Bewusstseins.

Personen sind oder Persönlichkeit besitzen vernunftbegabte Wesen
, welche Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung haben und daher zurechnungsfähig sind. Sie können im Staate Rechte erwerben und Pflichten übernehmen, während Sachen und Tiere nur der Gegenstand rechtlicher Verhältnisse sein können.
Im speziellen bedeutet Person entweder

ein erkenntnistheoretisches Subjekt, das sich seiner numerischen
Einheit bei den Veränderungen bewusst ist oder

ein metaphysisches Subjekt, d.h. eine beharrliche
Substanz mit dem Bewusstsein ihrer Identität, oder

ein moralisches Subjekt, welches, unabhängig vom Naturmechanismus, sich selbst Zwecke setzen kann und daher auch der Zurechnung fähig ist, oder

ein juristisches Subjekt, welches in einem Rechtsverhältnisse berechtigt oder verpflichtet ist.

Die Anlage zur Persönlichkeit bringt der Mensch mit auf die Welt, er kann sie daher weder verlieren noch freiwillig aufgeben. Sie ist der Grund aller Menschenrechte und Menschenpflichten. Die Sklaverei ist widersinnig und unberechtigt, weil sie den Menschen
als Sache, nicht als Person behandelt.

Der Begriff der Person und der Persönlichkeit hat seine Ausprägung zunächst durch die Dogmatik des Christentums gewonnen, nachdem er von Tertullianus († 220 n. Chr.) eingeführt und von Boëthius (480-524) in die Form gebracht war:

Person ist ein vernünftiges Einzelwesen (Persona est rationalis naturae individua substantia).

In der neueren Philosophie hat ihm vor allem Locke und Kant feste Gestalt gegeben.

Locke (1632 bis 1704) versteht unter der Person: »ein denkendes, vernünftiges Wesen mit Verstand und Überlegung, was sich als sich selbst und als dasselbe denkendes Wesen zu verschiedenen Zeiten und Orten auffassen kann, indem dies nur durch das Selbstbewusstsein geschieht, was vom Denken nicht zu trennen und - wesentlich ist« (Ess. II, 27 § 9).

Kant (1724 bis 1804) unterscheidet bezüglich der Person das logische, reale und vernünftige Subjekt.

Das logische Subjekt ist sich der numerischen Identität seiner selbst in verschiedenen Zeiten bewusst. Ich bin in diesem Verstande eine Person.

Das reale Subjekt ist eine beharrliche Substanz mit Bewusstsein ihrer Identität. Ob ich dieses bin, hält Kant für unbeweisbar, weil mein Bewusstsein fließen und in ein anderes Subjekt übergehen könnte.

Ein vernünftiges Objekt ist ein Wesen, das von dem Mechanismus der Natur unabhängig sich Zwecke vorsetzen kann und daher Zweck an sich selbst ist (Kr. d. r. V. S. 341 ff.).

Personifikation
(lat.) heißt Verpersönlichung, Darstellung von Unpersönlichem als Person (gr. Prosopopöia). Vergleiche Ich.
Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipzig 1904. S. 344 ff.

Perzeption (lat. perceptio = Aufnahme, Erfassung) S. 426ff.
heißt zunächst die
sinnliche Wahrnehmung und dann auch in erweiterter Bedeutung die bewusste Vorstellung. In der ersten Bedeutung ist der Begriff klar zuerst innerhalb des englischen Empirismus und Sensualismus im 17. und 18. Jahrh. geprägt worden.

Bei Leibniz (1646-1716) verschiebt und trübt sich der Begriff der Rezeption unter dem Einflusse der Metaphysik. Nach
Leibniz besteht die Wirklichkeit aus Monaden (âmes). Jede Monade, so auch die menschliche Seele, ist ein Spiegel des Universums. Aber keine Monade erleidet äußere Einwirkungen, und es kann ihr keine Vorstellung von außen zukommen. Die Quelle der Vorstellungen der Seele liegt vielmehr in ihr selbst. Die sinnliche Wahrnehmung ist für Leibniz daher nicht ein Gegensatz zum Denken, sondern nur die unvollkommenere verworrene Vorstufe des Denkens. Leibniz macht demgemäß die Perzeption zur Vorstellung, zum inneren Zustand der Monade. Er scheidet dabei zwischen kleineren Perzeptionen (petites perceptions), die die unbewussten (insensiblen) Elemente anderer Vorstellungen sind und den zusammengesetzteren bewussten (remarquables) Perzeptionen, die aus jenen entstehen. Der Perzeption (der sinnlichen Vorstellung) stellt er die Apperzeption entgegen. Jene ist der einzelne vorübergehende Zustand der Monade, diese der Eintritt der Rezeption in das Selbstbewusstsein und das über den Zustand nachdenkende Bewusstsein der Seele.

Kant (1724-1804) verändert weiter den
Begriff der Perzeption. Sie ist ihm eine Art der Vorstellung (repraesentatio), und zwar ist sie die Vorstellung mit Bewusstsein. Die Perzeption kann sich entweder auf das Subjekt beziehen und heißt dann Empfindung, oder sie ist eine objektive Perzeption und heißt dann Erkenntnis (cognitio). Die Erkenntnis ist entweder unmittelbar und einzeln und heißt dann Anschauung (intuitus), oder sie ist allgemein und mittelbar und heißt dann Begriff (conceptus) (Kr. d. r. V. S. 320). Der Perzeption ist bei Kant die Apperzeption, und zwar die empirische als das Bewusstsein des jedesmaligen Zustandes und die transzendentale als das Selbstbewusstsein überhaupt (ich denke) entgegengesetzt.

Herbart (1776-1841) schied zwischen der
Perzeption, der sinnlichen Aufnahme und der Apperzeption der Aneignung und Verarbeitung der neu aufzunehmenden Vorstellungen durch die älteren untereinander verbundenen und ausgeglichenen Vorstellungsgruppen.

Wundt (geb. 1832) vergleicht das
Bewusstsein einem inneren Sehen und scheidet zwischen Blickfeld und Blickpunkt des Bewusstseins. Die in einem bestimmten Momente gegenwärtigen Vorstellungen befinden sich im inneren Blickfelde, diejenigen, denen die Aufmerksamkeit zugekehrt ist, im inneren Blickpunkt des Bewusstseins. Der Eintritt einer Vorstellung in das innere Blickfeld heißt Perzeption, der Eintritt in den Blickpunkt Apperzeption (Wundt, Grundz. d. phys. Psych. II, S. 235 ff.).

Im allgemeinen Sprachgebrauch heißt
Perzeption jetzt sinnliche Aufnahme, sinnliche Wahrnehmung, also das, was Kant als Anschauung (intuitus) bezeichnete.

Pessimismus (nlt. v. lat. pessimus = der schlechteste) S. 428f. Siehe auch bei Eisler
heißt die durch Schopenhauer (1788-1860) und von Hartmann (1842-1906) begründete Theorie, nach der unsere Welt die schlechteste unter allen möglichen Welten sein soll.

Schopenhauer bezeichnet den Optimismus, die dem Pessimismus entgegengesetzte Weltstimmung, als eine sinnlose und ruchlose Denkungsart. Von Glückseligkeit könne hienieden nicht die Rede sein. Das irdische Leben biete höchstens Illusionen. Unser Dasein trage den Charakter einer Tragödie, einer Verirrung, einer Schuld. Die Welt ist vernunftloser, zielloser Wille. Seine Hemmung ist Leiden; aber die Erreichung eines vermeintlichen Zieles bringt nie Befriedigung, sondern weckt nur neues Streben. So bewegt sich das menschliche Leben zwischen Schmerz und Langweile. Wahrhafte Güter existieren nicht.

Jugend, Freiheit, Gesundheit gewähren auch nach v. Hartmann keine positive Lust; was aber sonst an Glück etwa aufgeführt wird, ist Illusion. Alles ist eitel, die Unlust überwiegt bei weitem die Lust; völlige Vernichtung des Willens durch die Intelligenz ist daher der höchste Zweck des Daseins. –

Der Pessimismus ist im Wesen nur der leidenschaftliche Ausdruck für unbefriedigte Ansprüche des Menschen an das Leben. Mit der ethischen Einsicht in das Unberechtigte dieser Ansprüche und mit der Beherrschung der Leidenschaften schwindet er von selbst. Die Summe des menschlichen Glücks kann mit Recht weder, was den einzelnen, noch was die gesamte Menschheit betrifft, zum Maßstab für das Werturteil über die Welt gemacht werden. Es wäre dies ein der ganzen Tendenz der Philosophie widersprechendes anthropozentrisches Urteil. Von einem allgemeinen »Weltelend« zu sprechen ist unzulässig, wo wir nur von den Ansprüchen der Menschheit und nicht einmal der ganzen Menschheit ausgeben. Und auch für die Menschheit ist alle Befriedigung nicht bloß negativ; Arbeit, Erwerb, Streben, Selbstbetätigung, Gesundheit, Liebe, Ehe, Freundschaft u. dgl. sind nicht nur Illusionen, sondern geben uns faktisch Glück. Auch Erinnerung, Hoffnung, Ruhm und Phantasie sind eine Quelle des Genusses selbst für den, der erkannt hat, dass sie objektiv nichts sind. Kunst, Wissenschaft, Moral und Religion mehren den geistigen Genuss des menschlichen Lebens. Vergeblich beruft sich auch der Pessimismus auf die unbewiesene Lehre, dass die Welt blinder, zielloser Wille sei, und mit Unrecht wirft er dem Optimismus vor, dass er oberflächlich, der Pessimismus dagegen die tiefere Denkweise sei. Man kann vom Pessimismus frei sein, ohne Anhänger eines oberflächlichen, die Mängel des Daseins übersehenden oder ableugnenden Optimismus zu sein. Vgl. Übel, Eudämonismus, Moralprinzip.

Man kann übrigens praktischen und theoretischen Pessimismus unterscheiden; jener wäre die Maxime, an sich schlechte Zustände auf die Spitze zu treiben, um dadurch eine Besserung zu erzielen. Dieser hat mancherlei Formen: Der soziale Pessimismus findet, mit Malthus, eine Disharmonie zwischen der Volksvermehrung und der Nahrung; auf die Idee des Kampfes ums Dasein, wie ihn Darwin annimmt, gründet sich der zoologische Pessimismus; der dichterische Pessimismus findet sich als Stimmung bei Jünglingen und poetisch veranlagten Menschen; der oben geschilderte endlich ist der metaphysische Pessimismus.
Vgl. A. Taubert, der Pess. u. s. Gegner. Berlin 1873. Pfleiderer, d. moderne Pess. Berl. 1875. Plümacher, der Pess. in Vergangenheit u. Gegenwart. Heidelberg 1888.

petitio principii (lat.), Erschleichung des Grundes, S.429
heißt ein Fehler im Beweisen, der darin besteht, dass man einen Satz, der selbst erst bewiesen werden müsste, als Beweisgrund anführt. So begeht Kant eine petitio principii, wenn er die Apriorität der Raum- und Zeitanschauung von der Notwendigkeit und Allgemeinheit mathematischer Lehrsätze ableitet, die keineswegs feststeht, vielmehr selber erst aus der Apriorität von Raum und Zeit folgen würde.

Pfeil S. 429
»Der fliegende Pfeil ruht« ist einer der Sätze des Eleaten Zenon (geb. zw. 490 und 485 v. Chr.), mit dem er die Nichtexistenz der Bewegung zu beweisen suchte (Arist. Phys. VI, 9, p. 239 b. 30 tritos d' ho nyn rhêtheis, hoti hê oistos pheromenê hestêken).

Der Fehler in dem Zenonischen Argument liegt, wie schon Aristoteles bemerkte, darin, dass Zenon annahm, die Zeit bestehe aus den unteilbaren Augenblicken (Tor ton chronon synkeisthai ek tôn nyn).

Pflicht (officium), eigtl. Sorge, Pflege, Dienst (vom ahd. phlegan), S. 430ff.
heißt allgemein soviel als Obliegenheit. Eine Pflicht setzt ein Subjekt, welches eine Aufgabe vorschreibt, und ein anderes, welchem die Aufgabe erteilt wird und das sowohl des Gehorsams wie des Ungehorsams fähig ist, voraus.

In engerer Bedeutung ist Pflicht soviel als sittliches Gebot. Die Notwendigkeit, welche die Pflicht dem Menschen auferlegt, ist hiernach keine nur äußerliche oder physische, sondern eine innerliche, moralische ; der Mensch muss nicht die Pflicht erfüllen, sondern er soll sie erfüllen. Dasjenige, was ihn verpflichtet, ist im Allgemeinen die Vernunft, das Gewissen, der Charakter und im Einzelnen das psychologische Motiv seines Willens, die alle natürlich in Wechselwirkung mit den äußeren Umständen des Lebens stehen. So erwächst die Pflicht aus Vernunft und Erfahrung, Anlage und Erziehung, Notwendigkeit und eigenem Willen, Zwang und praktischer Freiheit.

Wir lernen gewisse Dinge als sittlich gut, andere als schlecht ansehen, und wir begreifen, dass die Nichtbefolgung der Pflicht, sittlich zu handeln zum physischen und seelischen Verderben führe. Das Sittliche wurzelt mithin in der menschlichen Natur. Während aber die Ethik des Naturalismus keine Pflichtenlehre kennt und die pantheistische Ethik der Philosophie des Absoluten Natur- und Sittengesetz für im Grunde identisch annimmt, baut sich die Ethik des Idealismus ganz und gar auf dem Pflichtbegriff auf.

Die Pflicht wird von ihr vornehmlich als der Gegensatz zu den natürlichen Trieben und Neigungen gefasst und teils formalistisch, aber unzulänglich, von der Art, wie die Bestimmung des Willens erfolgt, abgeleitet, teils, richtiger, inhaltlich bestimmt, indem Ziel und Zweck der Handlung mit ins Auge gefasst wird.
Die Pflichtenlehre ist zuerst von den Stoikern geschaffen, dann namentlich durch das Christentum ausgebildet und als der Kern der Ethik von Kant stark betont, der folgenden Hymnus auf die Pflicht anstimmt (Kr. d.pr. Vernunft, S. 154): »Pflicht! du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet, und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenngleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn sie gleich ins geheim ihm entgegenwirken, welches ist der deiner würdige Ursprung und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen, die unnachlassliche Bedingung desjenigen Werts ist, den sich Menschen allein selbst geben können?«

Nüchterner definiert Kant den Begriff der Pflicht (Metaphysik der Sitten 1, S. XXI):

»Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist (Verbindlichkeit ist die Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft).« Eine nicht rein formalistische Ethik des Idealismus kann allerdings den schroffen Widerspruch zwischen Pflicht und Neigung nicht mit Kant aufrechterhalten und muss in dem durch Erziehung hergestellten Einklang von Trieb und Vernunftgebot, wie schon Schiller hervorhob, den höheren sittlichen Standpunkt anerkennen.

Man unterscheidet die Pflichten nach ihrer Tragweite in absolute und relative, assertorische und hypothetische, allgemeine und besondere, notwendige und bedingte.

Formal lassen sie sich in positive und negative, präzeptive und prohibitive sondern.

Inhaltlich unterscheidet man Pflichten der Gerechtigkeit (Tugendpflichten) und der Güte oder Liebe. Das Christentum macht den Unterschied von Pflichten gegen uns selbst, gegen andere und gegen Gott, Selbst-, Ander- und Gottespflichten.

Phänomen, Phänomenon (gr. Phainomenon = Erscheinung) S. 432f.
heißt ein Objekt oder ein Vorgang, dessen wir uns durch die Sinne bewusst werden. So spricht man von physikalischen, chemischen und psychologischen Phänomenen. Das Phänomen ist also nicht die Sache an sich selbst, sondern die Sache, wie sie uns in den Formen unseres Bewusstseins, von den Sinnen bestimmt, erscheint.

Kant
definiert die Phänomena als Gegenstände der Sinne, sofern sie nach der Einheit der Kategorien gedacht werden (Kr. d. r. V., S. 248).

Metaphysisch steht das Phänomenon im Gegensatz zu dem Nooumenon, dem Gedanken- oder Verstandesdinge. –

Phänomenologie heißt,

1. die Lehre von den Erscheinungen, also auch von der Wahrnehmung;

2. die Darstellung von verschiedenen Entwicklungsstufen unseres Bewusstseins.

So stellt Hegel (1770-1831) in seiner »Phänomenologie des Geistes« den Geist in seiner Erscheinung als Bewusstsein und die Notwendigkeit seiner Entwicklung bis zum absoluten Standpunkt dar;

3. die Darstellung einer Entwicklung überhaupt. So hat v. Hartmann eine »Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins« geschrieben und darin alle überhaupt möglichen Moralprinzipien behandelt; Scheidler u. a. nannten den speziellen Teil der Psychologie Phänomenologie der Seele.

Phänomenalismus (von gr. phainomenon, Erscheinung) S. 433
heißt die Lehre, dass wir nicht die Dinge an sich, sondern nur ihre Erscheinungen erkennen. Sie beruht auf der Lehre von der transzendentalen Idealität von Raum und Zeit und ist eine Seite des Kantischen Kritizismus.

Phantasie (gr. phantasia = Darstellung, Erscheinung, Vorstellung, Vorstellungskraft) S. 433ff.
oder Einbildungskraft heißt das Vermögen unseres Geistes, Anschauungen in freier Weise zu reproduzieren, sie apperzeptiv mit Vorstellungen zu verbinden und nach einem bestimmten Plane umzugestalten. Sie wirkt mehr bewusst oder mehr unbewusst, mehr passiv oder mehr aktiv, ist an die
Anschauung von Raum und Zeit wie auch an die wirkliche Welt als an ihre Quelle gebunden und wird sowohl durch sensible Reize, als auch durch lebhafte Gefühle und fesselnde Gedanken besonders erregt. Ihr Einfluss lässt sich auf physischem, physiologischem, logischem, ästhetischem und ethischem Gebiet verfolgen. Ihre Kraft ist auf allen diesen Gebieten schöpferisch.

Vom logischen Denken ist die
Phantasietätigkeit durch ihre sinnliche Lebendigkeit unterschieden, und Wundt nennt sie daher in » Denken in Bildern « (Grundz. der phys. Psychol. II, S. 397ff.). –

Zunächst beeinflusst sie unser Leibesleben ; ansteckende Krankheit, Nervosität und Ekstase können vereinzelt durch die
Phantasie übertragen werden; unsere Sinne empfangen oft durch sie täuschende Reize. Der Hungernde schmeckt die vorgestellte Speise, der Furchtsame sieht und hört den Räuber, der Verfolgte fühlt die Faust des Verfolgers. Illusion, Vision, Halluzination sind zum Teil das Werk der Phantasie, ebenso das Traumleben, der Somnambulismus und die Psychose.

Auch die Wissenschaft steht unter ihrem Einfluss, und die Philosophie, soweit sie schöpferisch ist und eine Weltanschauung konstruiert, bedarf ihrer. Es ist kein größeres System ohne die
Phantasietätigkeit aufgestellt, auch keine wichtigere Erfindung ohne sie gemacht worden.

Auf ethischem Gebiete schafft sie die Ideale, welche zum Handeln begeistern, verstärkt sie die Macht des Beispiels und befördert sie die Freiheit der Wahl. Die Kunst verdankt ihr fast alles.

Auch die Religion, welcher die
Kunst vielfach verwandt ist, bedarf ihrer, wie die Geschichte der Religion bezeugt.

So erweist sich die
Phantasie als eine schöpferische Grundkraft der Seele, die, passiv, beständig in uns wirksam ist und die logische Tätigkeit vorbereitet, begleitet und unterstützt, aktiv, die verstecktere und nicht unter Regeln und Gesetze zu bringende Schaffensweise des menschlichen Geistes bildet.

Aristoteles versetzt die Phantasie zwischen die Wahrnehmung
(aisthêsis) und das Denken (dianoia, noêsis) (De an. III, 3, p. 427 b 14) und sieht in ihr eine psychische Nachwirkung der Empfindung, eine abgeschwächte Empfindung (aisthêsis tis asthenês), die sich auf Vergangenheit und Zukunft bezieht (Rhet.1, II, p. 1370 a 28).

Die Stoiker unterscheiden zwischen dem Bewusstsein der Affektion
(phantasia d.h. pathos en tê psychê genomenon) und dem Objekte, der Ursache derselben, (phantaston, to poioun tên phantasian), der bloßen Einbildung, der nichts zugrunde liegt (phantastikon) und demjenigen, was solche Einbildung in Träumen veranlasst (phantasma).

Augustinus
(353-430) kennt drei Arten der Phantasie: die reproduktive, produktive und synthetische (Ep. ad Nebrid. 62).

Die
Phantasievorstellungen gehören bei Descartes (1596-1650) zu den von dem Menschen selbst gebildeten (factae).

Die neuere Philosophie hat sich nur wenig mit diesem höchst wichtigen Seelenvermögen beschäftigt.

Erst Kant
(1724-1804) tat es, indem er die Einbildungskraft (Phantasie) zwischen Sinnlichkeit und Verstand einschob (Kr. d. r. Vernunft, S. 137 ff.); sie hat den Stoff, den jene herbeischafft, synthetisch zur Einheit zu bringen. Auf ihr beruht der Schematismus der reinen Vernunft (s. d.).

J. Frohschammer
(1821-1893) bezeichnet die Phantasie als das schöpferische Weltprinzip (Die Phantasie als Grundprinzip des Weltprozesses, München 1877); ähnlich, wenn auch mehr nur auf die organische Welt beschränkt, fassten sie Krause, J. H. Fichte und Ulrici auf.

Man unterscheidet determinierende, abstrahierende und kombinierende Phantasie; doch sind diese Unterscheidungen mehr künstliche als natürliche, da sich bei jedem Vorgange mehr oder weniger alle Seiten der Phantasie zeigen. Die
Einbildungskraft ist auch die Hauptquelle des Irrtums,

Vgl. H. Cohen, Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. Berlin 1869.
H. Sibeck, Das Wesen der ästhet. Anschauung. Berlin 1875. S. Rubinstein, Psychologisch-ästhet. Essays. Heidelberg 1878.
J. Frohschammer, Bedeutung der Einbildungskraft in der Philosophie Kants und Spinozas. München 1879.

Phantast (gr. phantastês) S. 435
heißt derjenige, welcher auf die Wirklichkeit gern Bilder der Phantasie überträgt.

Philosophém (gr. philosophêma) S.435
heißt allgemein eine philosophische Behauptung, bei Aristoteles (Top. VIII, 11, p. 162 a 15) ein apodiktischer Syllogismus. Siehe Epicherém, Aporema, Sophisma.

Philosophie (gr. philosophia von philos = Freund und sophia = Weisheit), S. 435ff.
eigtl. Liebe zur Weisheit, heißt diejenige Wissenschaft, welche die Grundlagen aller Wissenschaften zu untersuchen, ihre Ergebnisse in Einklang zu setzen und so das Wissen zu einem Gesamtweltbilde zusammenzufassen hat.

Die Philosophie ist Wissenschaft des Ganzen. Alle Einzelwissenschaften haben es mit besonderen Gebieten des Wissens von der Natur oder von der Geschichte zu tun; die Philosophie allein untersucht das Wissen überhaupt, seine Prinzipien und Methoden. Jene arbeiten isoliert für sich, sie brauchen aufeinander nicht überall Rücksicht zu nehmen; die Philosophie stellt dagegen den Zusammenhang zwischen ihnen her; sie ist ihr geistiges Band.

Die Philosophie setzt andrerseits die verschiedenen Wissenschaften voraus; diese müssen ihr die Resultate ihrer Einzelforschung darbieten, damit sie selbst bei Aufstellung der Weltanschauung nicht in leere Phantasmen gerate. –

Die Philosophie ist griechischen Ursprungs. Ihr Name findet sich nicht bei Homer und Hesiod, sondern erst bei Herakleitos (philosophousandras), dann bei Herodot (I, 30: Xeine 'Athênaie, par' hêmeas gar peri seo logos apikto pollos kai sophiês heineken tês sês kai planês, hôs philosopheôn gên pollên theôriês heineken hypelêlythas) und bei Thucydides II, 40 (philokaloumen gar met' euteleias kai philosophoumen aneu malakias).

Nach Cic. Tusc. V, 3, 8 und Diog. Laert. Prooem. § 12 soll Pythagoras (ca. 500 v. Chr.) sich zuerst einen Philosophen genannt haben.

Für Sokrates (469 bis 399) war die Philosophie begriffliches Wissen. Platon (427 bis 347), der zuerst ein philosophisches Lehrgebäude schuf, nennt die Philosophie die Wissenschaft der Ideen, die Kunst, die Seele von der Sinnlichkeit zu befreien, oder auch die Kunst, sterben zu lernen.

Für Aristoteles (384-322) ist sie die Wissenschaft überhaupt, oder im engeren Sinne Forschung nach den höchsten Prinzipien (epistêmê tôn prôtôn archôn kai aitiôn theôrêtikê.Met. I, 2, p. 982 b 9).

Während die Stoiker die Philosophie als das Streben nach Tugend ansahen, bezeichneten sie die Epikureer als das rationelle Streben nach Glückseligkeit.
Die Scholastik des Mittelalters erniedrigte die Philosophie zur ancilla theologiae.

Chr. Wolf (1679-1754) bezeichnete sie als Wissenschaft von dem Möglichen, wiefern es sein kann.

Kant (1724-1804) erklärt sie für die Wissenschaft von den Vernunftprinzipien der Erkenntnis oder für die reine Vernunfterkenntnis aus Begriffen (andrerseits auch als Lehre vom höchsten Gut. Vgl. Primat.).

Fichte (1762-1814), Schelling (1776-1854) und Hegel (1770-1831) definieren sie als die Wissenschaft vom Absoluten,

Herbart (1776-1841) als die Wissenschaft von der Bearbeitung der Begriffe,

Schopenhauer (1788-1860) als die vollständige Wiederholung, gleichsam Abspiegelung der Welt in abstrakten Begriffen.

Zur Philosophie gehören anerkanntermaßen folgende Gebiete:

1. als Grundlage aller Philosophie die Erkenntnistheorie, welche die Grenzen und die Tragweite des gesamten Wissens zu untersuchen hat,
2. die Metaphysik, die es mit den letzten Gründen alles Seins, mit dem, was über der Natur und hinter der Erscheinungswelt liegt, zu tun hat,
3. die Naturphilosophie, die sich mit dem Wesen und Werden der Welt beschäftigt,
4. die Psychologie, die Lehre von den Bewusstseinsvorgängen,
5. die Logik, die Wissenschaft von den Gesetzen des Denkens,
6. die Ethik, die Wissenschaft vom Sittlich-Guten und -Bösen,
7. die Ästhetik, die Lehre von den Empfindungen, die durch das Schöne und das ihm Verwandte oder Entgegengesetzte hervorgerufen werden.

An die Ethik und Psychologie schließt sich die Pädagogik oder Erziehungslehre, die Soziologie und Politik oder die Gesellschafts - und Staatslehre, und die Rechtslehre, an die Metaphysik die Religionsphilosophie an. –

Platon teilte die Philosophie in Dialektik, Physik und Ethik,

Aristoteles in theoretische und praktische Philosophie.

Chr. Wolf (1679-1754) schickte die Ontologie voran; dann ließ er die reine Philosophie (Kosmologie, Psychologie, Theologie) und die praktische ( Logik und Erfindungskunst, Ethik, Politik und Ökonomik) folgen.

Kant (1724-1804) teilt die Philosophie in Transzendentalphilosophie und Metaphysik, die Metaphysik in Metaphysik der Natur und der Sitten.

Herbart (1776-1841) unterschied Logik, Metaphysik (reine und angewandte, d.h. Psychologie und Naturphilosophie) und Ästhetik (d.h. Ethik, Rechtsphilosophie, Pädagogik und Soziologie).

Hegel (1770-1831) teilte die Philosophie ein in: Logik, Naturphilosophie und Geistesphilosophie.

Endlich Schleiermacher (1768-1834) unterscheidet empirische und spekulative Philosophie; jene schildert, was ist: Natur- und Geschichtskunde; diese, was sein soll: Psychologie und Ethik. Über die Geschichte der Philosophie s. o. S. 233.

Gegen die Philosophie sind oft von verschiedenen Seiten mancherlei Beschuldigungen erhoben worden:

Während Platon sie eine königliche Kunst (basilikê technê, Euthydemos 18, 291 B) genannt hat, sagt A. v. Humboldt, sie sei die Kunst, einfache Begriffe in schwerfälliger Weise wiederzugeben, und Goethe behauptet: »Genau besehen ist alle Philosophie nur der Menschenverstand in amphigurischer Sprache«. (Sprüche in Prosa 635).

Aber der gesunde Menschenverstand reicht keineswegs aus zur Erforschung der letzten Wahrheiten, und einfach sind die Grundbegriffe der Philosophie gewiss nicht. Oft wirft man ihr Penelopearbeit vor, weil ein System das andere auflöst; aber es ist andrerseits ein Fortschritt in den Systemen erkennbar, und was der eine Philosoph als ganze Philosophie ansah, findet oft seinen angemessenen Platz als Teil und Baustein in späteren Systemen.

Der Philosophie wird oft Feindschaft gegen die Religion vorgeworfen. Aber schon Bacon (1561 - 1626) sagte richtig: die Philosophie, oberflächlich betrieben, führt von Gott ab, tiefer behandelt, zu ihm hin.

Religion ohne Philosophie bleibt stets oberflächlich und schwankend, und es ist ein großer Mangel des Protestantismus, dass er es bisher nicht zu fester Verbindung mit der Philosophie gebracht hat. Der Philosophie wird ferner Untergrabung der Achtung vor der Autorität zur Last gelegt (Sophisten, Freidenker, Enzyklopädisten, Rationalisten und Naturalisten); aber die Irrwege der Philosophie sind nicht die Philosophie selber und die Autorität, die nicht vor vernünftiger Aufklärung bestehen kann, ist nichtig.

Endlich werfen ihr die Anhänger der exakten Forschung vor, sie sei überhaupt keine Wissenschaft, da sie sich nicht auf feste Formeln bringen lasse; aber sie fassen die Aufgabe der Wissenschaft zu eng. Die Philosophie ist zwar kein abgeschlossener Bau, sondern wandelt sich mit den Fortschritten der Wissenschaften und des Lebens; aber was ihr an Fertigkeit abgeht, besitzt sie an Lebensfrische.

Physik (gr. physikê sc. epistêmê), S. 441f.
eigentlich Naturlehre im weitesten Sinne des Wortes, heißt heute derjenige Teil der Naturwissenschaft, welcher von den Gesetzen der in der unbelebten Natur vorkommenden Vorgänge handelt, sofern diese Vorgänge nicht eine wesentliche Veränderung der stofflichen Eigenschaften der Körper in sich einschließe. Sie begründet sich auf Empirie und Induktion, ist aber in ihren Einzelproblemen der mathematischen Behandlung fähig; doch vermag sie nur das Wie, nicht das Warum der Erscheinungen zu erklären; dazu dienen vielmehr die Hypothesen der Naturphilosophie.

Zur Physik pflegt man die Experimentalphysik und die theoretische Physik zu rechnen, als metaphysische Physik pflegt man aber die Naturphilosophie zu bezeichnen.

Bei den Griechen schloss die Physik die metaphysischen Probleme mit in sich ein und bildete neben Ethik und Dialektik einen Hauptteil der Philosophie. Experimentell wurde sie besonders von Archimedes, Heron, Ptolemäus u. a. behandelt.

Das Mittelalter begnügte sich damit, den Aristoteles auszulegen; daher sind physikalische Entdeckungen in dieser Zeit ganz vereinzelt.

Als eigentlicher Begründer der modernen Physik ist Galilei (1564-1641) anzusehen, während Bacon (1661-1626) in seinem Novum Organon die Empirie und Induktion wohl als die einzig sicheren Quellen der Erkenntnis pries, die Physik selbst aber nicht förderte. Vergleiche Natur, Naturphilosophie.

Platoniker S. 445
hießen teils die unmittelbaren Schüler Platons (Akademie), teils die Neuplatoniker, teils die Mitglieder der von Cosmo v. Medici ins Leben gerufenen platonischen Akademie (15. Jahrh.).

platonische Liebe S. 445
heißt die Zuneigung zu einer Person des anderen Geschlechts, welche frei ist von Sinnlichkeit und nur aus geistiger Hinneigung entspringt. Sie hat ihren Namen davon, dass Platon von der Geschlechtsliebe eine höhere geistige Liebe, auf welcher der philosophische Trieb beruht, geschieden hat.
Vgl. Wiegand, die wissensch. Bedeutung der platonischen Liebe. Berl. 1877.

Platonismus S. 445f.
ist die Philosophie Platons (427-347). Sie besteht in einem Idealismus, der dem Einzelnen und der Sinnenwelt die Existenz abspricht, den allgemeinen Begriffen (Ideen) das substanzielle Dasein zuspricht und in ihnen die Wirklichkeit erblickt.

Der Platonismus nimmt die wirkliche Welt als eine metaphysische Vielheit von Begriffen, nicht als eine Einheit (wie die Eleaten), strebt aber außerdem zu einer ethischen Weltanschauung hin und sieht in der Idee des Guten die höchste aller Ideen und den Ursprung des ganzen Daseins.

Goethe hat in der Geschichte der Farbenlehre unter der Überschrift »Überliefertes« (Hempel XXXVI S. 96) Platon folgendermaßen charakterisiert:

»Plato verhielt sich zu der Welt wie ein seliger Geist, dem es beliebt, einige Zeit auf ihr zu herbergen. Es ist ihm nicht sowohl darum zu tun, sie kennen zu lernen, weil er sie schon voraussetzt, als ihr dasjenige, was er mitbringt, und was ihr so Not tut, freundlich mitzuteilen. Er dringt in die Tiefen, mehr, um sie mit seinem Wesen auszufüllen, als um sie zu erforschen. Er bewegt sich nach der Höhe, mit Sehnsucht, seines Ursprungs wieder teilhaft zu werden. Alles, was er äußert, bezieht sich auf ein ewiges Ganzes, Gutes, Wahres, Schönes, dessen Forderung er in jedem Busen aufzuregen strebt. Was er sich im Einzelnen von irdischem Wissen zueignet, schmilzt, ja man kann sagen verdampft in seiner Methode, in seinem Vortrag «.

Pluralismus (nlat.) S. 446
nennt man die Annahme, dass die Welt aus einer Vielheit einzelner Wesen bestehe. Dahin gehört der Atomismus, die Monadologie und die Herbart Lotzesche Metaphysik.

Der Pluralismus kann im Wesen entweder Dualismus sein, wenn Geist und Körper als wesentlich geschieden zugleich angenommen werden, oder Monismus (Materialismus, Idealismus, Identitätslehre), wenn die Vielheit der Wesen gleichartig entweder nur als materielle oder nur als geistige oder als absolute Einheiten gedacht werden.

Als Monismus ist er entweder Realismus, wie im Atomismus, oder Idealismus, wie im Platonismus und der Monadenlehre, oder Idealrealismus wie bei Herbart und Lotze.

Kosmologischer Pluralismus bedeutet soviel als die Annahme mehrerer von Menschen bewohnten Welten.

Kant (1724-1804) versteht in seiner Anthropologie § 2 unter Pluralismus eigenartig die dem Egoismus entgegengesetzte Denkungsart »sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten.«

Pneuma siehe bei Eisler


Pneumatiker (v. gr. pneuma = Geist) S. 446
sind

1. eine medizinische Schule im 1. Jahrh. n. Chr., welche eine Art von Luftgeist als Urheber der Gesundheit und Krankheit ansahen;

2. nach der Bezeichnung der Gnostiker diejenigen Menschen, welche nicht unter der Herrschaft der Hyle (Materie) oder der Psyche (des sinnlichen Lebenskeims), sondern des göttlichen Pneuma (heiliger Geist) stellen.

Pneumatologie (gr. pneuma, Geist, logos, Lehre), S. 447
eigtl. Geisteslehre, hieß früher die metaphysische Psychologie.

Poesie (gr. Poiêsis) S.447
eigtl. Schöpfung, Dichtkunst, heißt diejenige Kunst, welche das Schöne durch die Sprache darstellt. Sie vereinigt die Wirkungen der Musik und der bildenden Künste, da die Worte erstens Töne und als solche wie die Ausdrucksmittel der Musik an die Zeit gebunden sind, zweitens aber, als Zeichen und Träger einer Bedeutung, alles, was die Welt in sich einschließt (Räumliches und Zeitliches), darstellen können. Daher ist sie die reichste und fruchtbarste Kunst. Ihr Vehikel ist das Wort; dieses arbeitet für den inneren Sinn, das Erinnerungsvermögen, die Einbildungskraft, nicht, wie die Farbe und der Stein, für die äußere Anschauung; aber es bleibt nicht wie der bloße Ton, der durch das Gehör zur Phantasie spricht, bei unbestimmter Innerlichkeit stehn, sondern erhebt sich als festes Zeichen zur Klarheit und Deutlichkeit des Inhalts.

Die Poesie ist dahermit der Wissenschaft verwandt; beide empfangen ihre Form von der Sprache, beide bringen das Innere des Menschen zur Darstellung. Aber die Wissenschaft will lehren, und die Poesie will Wohlgefallen hervorrufen. Die Poesie stellt das Schöne dar, die Wissenschaft hingegen das Wahre. Jene ist subjektiv, diese objektiv; dort ist das Gefühl, hier der Verstand die Hauptsache. Einem und demselben Gegenstande gegenüber sind viele Gedichte möglich; die Wissenschaft erstrebt nur eine sachgemäße Darstellung desselben. Der Dichter schafft Werke, deren kleinstes ein Ganzes ist, sofern sich daran die Eigenart des Schöpfers ausspricht; die wissenschaftliche Arbeit dagegen, auch die größte, bleibt im einzelnen Stückwerk. Gegenstand der Dichtung ist das gesamte Innen- und Außenleben. Nach Jakob Grimms (1785-1863) ansprechender Erklärung ist sie »das Leben gefaßt in Reinheit und gehalten im Zauber der Sprache«. Der Dichter selbst muss nach Goethe (Hans Sachsens poetische Sendung) ein kluges, treues Auge und Liebe besitzen, um die Welt klar und rein zu schauen, und eine Zunge haben, die sich leicht und fein in Worte ergießt. Jeder Dichter aber muss mit seiner Nation innerlich zusammenhängen, da sein Mittel nicht ein neutraler Stoff, sondern eine bestimmte, den Geist eines Volkes ausdrückende Sprache ist; der echte Dichter gibt seinem Volke Neues, aber dem Geist des Volkes Entsprechendes. Aus der Nachahmung fremder Poesie ist noch nie wahre Poesie entstanden. -

Die poetischen Stoffe sind entweder objektiv oder subjektiv, d.h. der Dichter empfängt den Anstoß zum Schaffen entweder von außen oder von innen. Aus jenem entspringt die epische, aus diesem die lyrische Poesie; durch Verbindung beider entsteht die dramatische, welche Schicksal und Charakter darstellt.

Die Dichtung kann es in bezug auf äußere Formen den bildenden Künsten nicht gleich tun; sie kann nichts so greifbar bilden wie Architektur und Plastik, nichts so anschaulich vorführen wie die Malerei (vgl. Lessing, Laokoon). Der Dichter muss erst künstlich Vorstellungen anschaulich machen; er bedient sich dazu der Bilder und Gleichnisse (Metaphern, Tropen, Metonymien) und belebt seine Worte durch Personifikationen, durch packende und eindringliche Ausdrücke, durch rhetorische Figuren, durch Rhythmus und Reim. In der Dichtung versuchen sich sehr viele Menschen. Der echte Dichter ist selten und der echte Dramatiker am seltensten. Das Drama ist der Gipfel der Kunst, und nach einem Ausspruch Gottfried Kellers ist es »ein Paradies auf Erden; es ist aber auch verteufelt schwer, hineinzukommen«.


Polarität S. 448 Siehe auch bei Eisler
nennt man das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedene, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Wirkungsreihen. So spricht man von der Polarität der magnetischen und elektrischen Erscheinungen, aber auch von der Polarität der Geschlechter. Diesen Gegensatz kennt schon die chinesische Spekulation, ferner findet er sich bei Pythagoras, Herakleitos und besonders bei Schelling.

Position (lat. positio v. pono = setze) S. 449f.
heißt die Setzung oder die Bejahung oder die Daseinsaussage, d.h. 1. die Annahme von etwas; 2. die Bejahung eines Urteils; 3. die Zusprechung des Daseins einem Dinge gegenüber.

positiv, bejahend, S. 450
ist der Gegensatz von negativ. Vergleiche Negation.

Positivismus S. 450f. Siehe auch bei Eisler
nennt der Franzose Aug. Comte (1798 bis 1857) sein System, welches sich, unter Verwerfung jeder Theologie und Metaphysik, mit der Erkenntnis der die Erscheinungen regelnden Gesetze der Koexistenz und Aufeinanderfolge begnügt.

Die positive oder exakte Philosophie, die in Hume (1711-1776) ihren Vorläufer hat, sucht sensualistisch durch Beobachtung die im Bereiche der Erscheinungen selber liegenden festen Verhältnisse zu erkennen und den Begriff der Ursache durch den der konstanten Folge zu ersetzen. Ihr Ziel ist: »Sehen, um vorauszusehen, und forschen, was ist, um zu schließen, was sein wird.« Die Naturwissenschaft ist nach ihr die Grundlage aller Philosophie, und der Unterschied zwischen physikalischen und moralischen Wissenschaften ist hinfällig (vgl. dagegen Natur und Geschichte!). Die Tätigkeit des Menschen ist nur ein Produkt der unendlichen Mannigfaltigkeit äußerer Eindrücke und der Wechselwirkung zwischen ihnen und inneren Reaktionen. Dem positiven Stadium der Wissenschaft, welches da anfängt, wo man die Erscheinungen in Gesetze fasst, geht das theologische, welches die Ereignisse der Welt von Willensakten übernatürlicher Wesen ableitet, und das metaphysische voran, das den Erscheinungen abstrakte Begriffe unterschiebt; und nach dem Maße, wie die einzelnen Wissenschaften sich in dieser dreifachen Gestaltung entwickelt haben, bestimmt sich selbst ihre Ordnung und Stufenleiter.

Die Hierarchie der Wissenschaften ist hiernach: 1. Mathematik (Arithmetik, Geometrie, Mechanik), 2. Astronomie, 3. Physik (Lehre von der Schwere, der Wärme, Akustik, Optik, Elektrizitätslehre), 4. Chemie, 6. Biologie (oder Physiologie), 6. Soziologie.

Besonderen Nachdruck legt Comte auf die Soziologie. Sie zur exakten Wissenschaft zu erheben, ist sein Ziel. Vgl. Comte, Cours de philosophie positive (1830-1842). Lewes, Comte's philosophy 1874. G. E. Schneider, Einl. in d. posit. Philos. 1880.

Auch E. Dühring (Natürliche Dialektik. Berl. 1865; Kursus der Philosophie. 1875) hat eine materialistische »Philosophie der Wirklichkeit« aufgestellt.

Als deutsche Positivisten bezeichnet man E. Laas (1837-1885) und Al. Riehl (geb. 1844). Nach Laas ist der Positivismus diejenige Philosophie, die keine anderen Grundlagen als positive Tatsachen (Wahrnehmung und logische Gesetze) anerkennt. Die Grundlage dieser Philosophie bilden drei Lehren:
1. die korrelative Tatsache, dass Subjekt und Objekt nur miteinander bestehen und entstehen, 2. die Variabilität der Wahrnehmungsobjekte und
3. der Sensualismus.
Auch Laas verwirft jede Metaphysik und fordert für die Ethik, dass sie aus menschlichen Verhältnissen begründet werde. –

Riehl stellt die von der Grundlage der Empfindung ausgehende Erkenntnistheorie als wissenschaftliche Philosophie der Metaphysik der unwissenschaftlichen entgegen und verweist die Lehre von den praktischen Idealen aus der Wissenschaft in die Nähe der Kunst und Religion. Vgl. Laas, Idealismus und Positivismus (1879 bis 1884). Riehl, der philosophische Kritizismus (1876-1887). Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie 1898 S. 515 f.

Possibilität (lat. possibilitas) S. 451
heißt Möglichkeit.

post hoc, ergo propter hoc (danach, folglich dadurch) S.451
lautet einer der häufigsten Fehlschlüsse, der die Aufeinanderfolge zweier Dinge oder Ereignisse für Kausalität ansieht. Es können Dinge zeitlich aufeinander folgen, die keineswegs miteinander in Kausalnexus stehen. So folgt der Tag auf die Nacht, ohne dass die Nacht die Ursache des Tages wäre. Vgl. Kausalität, Kausalnexus.

Postulat (postulatum v. lat. postulo = fordere, gr. aitêma), Forderung, S. 451f.
heißt eine Voraussetzung, die nicht beweisbar ist (Propositio practica indemonstrabilis. Chr. Wolf).

Kant (1724-1804) nennt Postulat der reinen praktischen Vernunft einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz, sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt (Kr. der prakt. Vernunft, S. 220).

Solche Postulate sind ihm 1. die Unsterblichkeit der Seele, 2. das Dasein Gottes, 3. die Freiheit des Willens.

Unter Postulaten des empirischen Denkens versteht er die drei modalen Grundsätze des reinen Verstandes:

1. Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung übereinkommt, ist möglich;

2. was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung zusammenhängt, ist wirklich

3. dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist notwendig (Kr. d. r. V., S. 218).

Potenz (lat. potentia, eigtl. Vermögen) S. 452
heißt in der Arithmetik ein Produkt aus gleichen Faktoren.

In der Philosophie hat Potenz den allgemeinen Sinn: Möglichkeit, Vermögen, Kraft.

Demgemäß schrieb Schelling (1775-1854) jedem Einzelwesen beide Faktoren des absoluten Wesens, Natur und Ideelles, in einer eigentümlichen Potenz zu. Er unterschied drei Potenzen: die erste Potenz in der Natur ist die Schwere, ein Überwiegen des objektiven Faktors, die zweite das Licht, ein Überwiegen des subjektiven Faktors, die dritte das organische Leben, das Gleichgewicht der Faktoren.

Prädestination (lat. praedostinatio), Vorherbestimmung, S. 452 Siehe auch bei Eisler
heißt nach Augustinus (353-430) und Calvin (1509-1564) die von Gott nach absoluter Willkür getroffene Auswahl der einen zur Seligkeit, der andern zur Verdammnis (Prädamnation). Vergleiche Determinismus; Pelagianismus.

Prädeterminismus (v. nlat. praedeterminatio) S. 452 Siehe auch bei Eisler
heißt eine Art des Determinismus, welche in der Behauptung besteht, dass alle menschlichen Handlungen durch vorangehende Zeiterscheinungen vollständig bestimmt seien. Der naturalistische oder transzendentale Prädeterminismus findet die Bestimmungsgründe in der Natur und im Weltlauf, der theologische (eines Augustin, Boëthius, Anselm, Calvin, Beza) in Gottes Ratschluss. Vergleiche Determinismus , Fatalismus, Prädestination.

Prädikabilien (lat. praedicabilia) S. 452
heißen die reinen abgeleiteten Verstandesbegriffe. Vergleiche Kategorie.

Prädikat (lat. praedicatum, gr. katêgorêma, katêgoroumenon) S. 452
heißt dasjenige Glied eines Urteils, welches die Aussage enthält. Bei natürlicher Gestaltung des Urteils ist das Subjekt der zu bestimmende Begriff, das Prädikat die Bestimmung, so dass im Prädikat das wichtige Ergebnis des Urteils liegt.

Präexistenz (nlat. praeexistentia, franz. préexistence) S. 452f. Siehe auch bei Eisler
heißt das Dasein der menschlichen Seele vor dem gegenwärtigen Leben. Die Annahme einer Präexistenz läuft entweder auf Metempsychose hinaus, so beim Buddhismus, bei Pythagoras, Empedokles, Platon und Leibniz, oder auf Kreatianismus (s. d.), wonach Gott die Seelen vor der Welt erschaffen habe und sie seinerzeit mit ihrem Körper verbinde, oder auf die Idee eines präexistenten Sündenfalls wie bei Philon, Plotinos, Origenes und Schelling, durch den die Seelen in den für sie geeigneten Leib gekommen seien. –

Veranlassung zu der Annahme einer Präexistenz gab sowohl die Lehre von den angeborenen Ideen als auch die Existenz eines angeborenen Hangs zum Bösen; ferner wirkten mit Idiosynkrasien, Sympathien und Antipathien, beständig wiederkehrende Traumbilder, welche den Wahn erzeugten, dass man schon einmal existiert habe, auch die instinktartigen Impulse, die den individuellen Talenten und Fertigkeiten zugrunde liegen. Aber diese Gründe sind zu subjektiv und zu dunkel, um darauf eine so gewagte Hypothese zu bauen. Vgl. Bruch, die Lehre von der Präexistenz der menschlichen Seele. 1859. J. M. Meyer, die Idee der Seelenwanderung. 1861.

pragmatisch (gr. pragmatikos = befähigt v. pragma = Handlung) S. 453f.
heißt

1. dasjenige, was zum Handeln, zur Praxis notwendig ist;

2. bedeutet es nützlich, gemeinnützlich, klug, erfahren. So ist die pragmatische Sanktion Karls VI., welche die Erbfolge im österreichischen Staate regelte (1713 und 1724), eine für Österreich nützliche, aus der Vorsorge für die allgemeine Wohlfahrt getroffene Maßregel gewesen; ein pragmatischer Kopf ist ein tüchtiger, anstelliger Mensch;

3. pragmatisch heißt endlich diejenige Geschichtsschreibung, welche die Begebenheiten, nach ihrem inneren Zusammenhang entwickelt. Der Pragmatismus der Geschichte ist der unter dem Gesichtspunkte des Kausalnexus betrachtete objektive Verlauf der Ereignisse. –

Kant nennt pragmatisch im weiteren Sinne dasjenige, was dazu dient, unsere Absichten zu erfüllen; also ist ihm jede Klugheitsregel pragmatisch.(Kant, Grundlegung z. Metaph. d. Sitten.)

praktisch (gr. praktikos) S. 454
heißt im Unterschiede vom Theoretischen alles, was sich auf das Tun und Handeln bezieht, was irgendwie den Willen bestimmt.

So sind praktische Wissenschaften die, welche die Zwecke des Handeins und die Mittel zu ihrer Erreichung zum Gegenstande haben. Die Erkenntnis, welche sie bieten, bezieht sich auf Handlungen und wird dadurch verwendbar, dass sie das Handeln des Menschen beeinflussen kann.

Solche Wissenschaften sind: Ethik, Pädagogik, Rechts- und Staatsphilosophie, Theologie, Medizin und alle technischen Disziplinen.

Ein praktischer Vortrag einer Wissenschaft nimmt auf die Anwendbarkeit ihrer Lehren für bestimmte Zwecke Rücksicht; ein praktischer Mensch weiß, unabhängig von systematischer Einsicht und nur durch Erfahrung geleitet, die richtigen Mittel zum Zwecke zu finden. Vergleiche Praxis. –

Praktisch gut heißt bei Kant, was vermittelst der Vorstellungen der Vernunft, mithin nicht aus subjektiven Ursachen, sondern objektiv, d. i. aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen als ein solches gültig sind, den Willen bestimmt; daher ist der Wille, der sich ganz durchs Sittengesetz bestimmen lässt, praktisch gut. Praktische Vernunft heißt unsere Vernunft, sofern sie unseren Willen bestimmt.

Prämissen (lat. praemitto = vorausschicken) S. 454
heißen die Vordersätze eines Schlusses. Der vollständige Schluss hat zwei Prämissen (Ober- und Untersatz), der unvollständige aber nur eine.

Praxis (gr. praxis) S. 454f.
heißt die aus gewohnter Tätigkeit hervorgehende Übung; sie bildet den Gegensatz zur Theorie, dem wissenschaftlichen Erkennen und Verständnis.
Praxis und Theorie können sich verbinden, können aber auch im Widerspruch zueinander stehen. Einsicht und Übung ergänzen sich, und da ein einsichtsloses Handeln nur zufällig zum Ziele führt, so kann Praxis nicht ohne Theorie sein, wenn sie zum sicheren Erfolge führen will. So kann die rechte Theorie und die erprobte Praxis sich nicht widersprechen.

Wo Praxis und Theorie trotzdem im Widerspruch stehen, muss jene blind, diese einseitig sein; doch hat in diesem Falle die Praxis immer etwas vor der Theorie voraus, weil alle Erkenntnis mit der Erfahrung beginnt und so trifft Goethes Wort zu: »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum«. (Faust.) Beide müssen nach Ausgleich streben.

Nur wo die Theorie noch nicht genügend geklärt oder die Praxis noch nicht genügend erprobt ist, wandeln sie zwiespältig nebeneinander.

Jedenfalls ist es in der Moral, Ästhetik und Religion eine Halbheit, dasjenige, was man theoretisch vollständig anerkennt, nicht auch in die Praxis umzusetzen. Diese Halbheit ist oft die Signatur der Übergangsepochen in der Kulturgeschichte. Sie deutet aber die zukünftige Entwicklung an. Vgl. Kant, Über den Gemeinspruch: »das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.« 1793, Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipzig 1904, S. 38 ff.

Prinzip (lat. principium, gr. archê = Anfang) S. 456ff.
bedeutet, allgemein genommen, den Anfang, den Ursprung, die Grundlage, die Voraussetzung irgend einer Sache. Ein Prinzip ist also ein (relativ oder absolut) Erstes, Ursprüngliches, von dem eine Reihe nachfolgender Dinge abhängig ist. (Quod in se continet rationem alterius, Chr. Wolf, Ontologie § 866.)

Solche Prinzipien für die gesamte Wirklichkeit aufzusuchen, ist das Ziel der Metaphysik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart gewesen.

Thales (um 600 v. Chr.) fand das Prinzip alles Wirklichen im Wasser,

Anaximandros (um 570) im qualitativ unbestimmten, quantitativ unendlichen Apeiron,

Anaximenes (um 530) in der Luft,

Herakleitos (um 600) im Feuer,

Pythagoras (580 bis um 500) in der Zahl,

Empedokles (484-424) in den vier Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer,

Leukippos
(5. Jahrh. v. Chr.) und Demokritos (um 460-360) in den Atomen,

Platon
(427-347) in den Ideen,

Aristoteles (384-322) im Stoff, der Form, der bewegender Ursache und dem Zweck, oder im Stoff und der Form allein,

die Stoiker im Stoff und in der Kraft,

die Epikureer in den Atomen,

die Scholastiker in Gott,

Descartes (1596-1650) im Denken und in der Ausdehnung,

Spinoza (1632-77) in Gott-Natur,

Leibniz (1646-1716) in den Monaden,

Fichte (1762-1814) im Ich,

Schelling (1775-1854) im Absoluten,

Hegel (1770-1831) in der logischen Vernunft,

Schopenhauer
(1788-1860) im Willen,

v. Hartmann (1842-1906) im Unbewussten.

Im engeren Sinne ist ein Prinzip ein erster Grundsatz, der eines Beweises nicht fähig ist und nicht bedarf und der eine Denknotwendigkeit für uns bildet.

Sein Gegenstück ist das Axiom, d.h. ein unbeweisbarer Satz, der auf unmittelbarer Anschauung beruht.

Prinzipien in dieser engeren Bedeutung können dem Range nach entweder komparativ oder absolut sein.

Komparative Prinzipien sind allgemeine Sätze, aus denen sich andere Sätze ableiten lassen,

absolute Prinzipien sind die schlechthin obersten Sätze oder Regeln, die einer Ableitung zugrunde gelegt werden.

Der Beziehung nach zerfallen die Prinzipien in Realprinzipien, Kausalprinzipien, Erkenntnisprinzipien und Willenspinzipien.

Realprinzipien sprechen die obersten Bedingungen des Daseins, der Wirklichkeit aus (principia essendi).

Kausalprinzipien bestimmen die obersten Ursachen alles Geschehens (principia fiendi).

Erkenntnisprinzipien
(principia cognoscendi) umfassen die obersten Bedingungen für alle Erkenntnis,

Willensprinzipien oder praktische Prinzipien (principia agendi) geben die obersten Regeln alles Handelns.

Die Realprinzipien sind so mannigfaltig gestaltet worden, als es die verschiedenen metaphysischen Standpunkte verlangen (siehe oben).
Das oberste Kausalprinzip lautet nach Kants Formulierung: Alles, was geschieht, setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt.

Die Erkenntnisprinzipien zerfallen in formale und materiale.

Die Formalprinzipien beziehen sich auf die Form der Anordnung und der inneren Verbindung der Erkenntnisse;

die Materialprinzipien bestimmen den Inhalt des Erkennens.

Jene, wie den Satz der Identität, des Widerspruchs usw., stellt die Logik auf; diese hängen von dem jedesmaligen Erkenntnisgebiet ab. Je nachdem das Einzelne und Besondere, oder das Allgemeine als Ausgangspunkt der Erkenntnis dient, ist der eingeschlagene Weg der Ableitung regressiv (analytisch) oder progressiv (synthetisch). Nur im letzteren Falle können die Erkenntnisprinzipien mit den Realprinzipien sich decken, und die so gewählte Methode des Erkennens ist die eigentlich wissenschaftliche und konstruktive, während die entgegengesetzte nur heuristisch und propädeutisch ist.

Die praktischen Prinzipien, die eine Forderung aussprechen und eine Wertbestimmung enthalten, sind entweder von allgemeiner und objektiver Geltung, wie der kategorische Imperativ Kants, oder sie gelten nur für die Person und sind subjektiv ; sie heißen dann Maximen.

Was der gewöhnliche Mensch Prinzipien nennt, sind meist nur Maximen, die keineswegs als Prinzipien brauchbar sind.
(Vgl. Überweg, System der Logik § 139. Schopenhauer, über d. vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Rudolstadt 1813.)

Die Lehre von den Prinzipien im engeren Sinne hat mit der Entwicklung der Logik Schritt gehalten.

Platon (427 bis 347) stellte den Begriff der archê auf und forschte über den progressiven und regressiven Weg (Arist. Eth. Nicom. I, 2. p. 1095 a 32 eu gar kai Platôn êporei touto kai ezêtei, poteron apo tôn archôn ê epi tas archas estin hê hodos hôsper en tô stadiô apo tôn athlothetôn epi to peras ê anapalin).

Aristoteles
(384-322) unterscheidet die verschiedenen Arten der Prinzipien, des Seins, des Werdens und des Erkennens, und nennt als solche Natur, Element, Gedanke, Entschluss, Wesen und Zweck: pasôn men oun koinon archôn tôn to prôton einai, hothen ê estin ê gignetai ê gignôsketai; toutôn de hai men enyparchousai eisin, hai de ektos. dio hê te physis archê kai to stoicheion kai hê dianoia kai hê prohairesis kai ousia kai to hou heneka. (Aristot. Metaph. IV, 1 p. 1013 a 17 ff.)

Kant (1724-1804) verstand unter Prinzipien synthetische Erkenntnisse aus Begriffen und schied zwischen theoretischen und praktischen Prinzipien. Jene geben die Bestimmung der Natur nach Begriffen, diese die Bestimmungen unserer freien Handlungen durch allgemeine Begriffe. (Kant, Kr. d. r. V. S. 298 ff.) Prinzip aller menschlichen Erkenntnis ist für Kant die transzendentale synthetische Einheit der Apperzeption einerseits und die sinnliche Empfindung andrerseits, Prinzip der Natur das Kausalitätsgesetz, Prinzip alles Handelns der kategorische Imperativ und Prinzip der Kunst- und Naturbetrachtung im Einzelnen das (nur regulative, nicht konstitutive) Gesetz der Zweckmäßigkeit.

Problem (gr. problêma = der Auftrag, die Streitfrage v. proballein = hinwerfen, vorschlagen) S. 460
heißt eine wissenschaftliche Frage, deren Lösung Schwierigkeiten bereitet. Jede Wissenschaft hat ihre eigentümlichen Probleme, aus deren Lösung gewöhnlich immer neue, schwierigere hervorgehen.

Ein Muster von Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit in der Untersuchung philosophischer Probleme ist Immanuel Kant (1724-1804) gewesen. Er führt die Grundfragen der Philosophie auf folgende drei zurück, die alles Interesse der Vernunft vereinigen:

1. Was kann ich wissen?
2. Was soll ich tun?
3. Was darf ich hoffen?
(Kr.d. r. V. S. 805.) –

Die wichtigsten Probleme der neueren Philosophie sind:

1. Welches sind die Quellen der Erkenntnis?
2. Welches sind die Grenzen der Erkenntnis?
3. Was ist das Wesen der Dinge?
4. Welches sind die Grundgesetze der Natur?
5. Was ist das Wesen von Raum, Zeit und Bewegung?
6. Was ist das Wesen von Stoff und Kraft?
7. Ist die Natur nur aus Ursachen verständlich, oder wird sie auch aus Zweckbegriffen erkannt?
8. Wie entsteht die Empfindung?
9. Was ist das Wesen der Seele?
10. Wie bestimmt sich der Wille?

Vgl. Flügel, Die Probleme der Philosophie. Köthen 1876.

problematisch (gr. problêmatikos) S. 460
heißt das Mögliche oder Ungewisse oder Zweifelhafte.

Ein problematischer Begriff gibt nur etwas Mögliches zu denken; ein problematisches Urteil ist ebenso möglich wie sein Gegenteil; dem problematischen Urteil steht das assertorische und das apodiktische gegenüber. –

Problematische Naturen sind nach Goethe (Sprüche in Prosa II, 127) solche, »die keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genug tut; daraus entsteht der ungeheure Widerstreit, der das Leben ohne Genuss verzehrt«.
Vgl. den gleichnamigen Roman von Spielhagen. 1861.

Produkt (v. lat. produco = bringe hervor) S. 461
heißt jedes Erzeugnis der Natur oder der Kunst; produktiv heißt schöpferisch. Vergleiche Phantasie.

Progress (lat. progressus = Fortschritt v. progredi = fortschreiten) S. 461
heißt der Fortgang von der Bedingung zum Bedingten; progressiv heißt die Methode welche synthetisch (deduktiv) von dem Allgemeinen zum Besonderen oder Einzelnen herabführt.

Progressus in infinitum nennt man das Herabsteigen in einer unendlichen Reihe, die vom Allgemeinen zum Besonderen führt.

Progressus in finitum heißt der entsprechende Gang in einer endlichen Reihe,

in indefinitum
derjenige in einer Reihe, deren Endlichkeit oder Unendlichkeit nicht feststeht. Siehe Deduktion, Regress

Projektion (lat. proieotio = Hinausverlegung, v. proiicio = hinwerfen) S. 461f.
nennt man in der Mathematik die Abbildung eines Raumgebildes auf einer ebenen oder krummen Fläche durch gerade Linien, die entweder von einem Zentrum aus (Zentralprojektion) oder, indem dieses Zentrum ins Unendliche verlegt wird, parallel gezogen werden (Parallelprojektion). Jedem Punkt des Gebildes entspricht dann ein Punkt seiner Projektion, und aus der Projektion lassen sich Lage, Gestalt, Größe und gegenseitige Beziehungen der projizierten Gegenstände rechnerisch bestimmen (deskriptive Geometrie). –

Projektion der Empfindung heißt in der Psychologie die Hinausverlegung derselben in die Außenwelt, deren Folge ist, dass wir sie nicht für einen subjektiven Vorgang, sondern für einen objektiven Gegenstand und Vorgang halten. So wird zunächst die Druckempfindung nach außen als Leib, die Muskel- und Tastempfindung als Außending projiziert. Dies erhellt z.B. aus der Tatsache, dass ein Glied, das infolge abnormer Einwirkung die Druckempfindung verliert, uns alsbald als etwas Fremdes, zur Außenwelt Gehöriges erscheint. Auch die Empfindungen der anderen Sinne werden projiziert, freilich erst mit Hilfe des Tastsinns, und so, dass das Gesicht wieder das Gehör leitet. Betonte Empfindungen werden nach dem Grade ihrer Betonung lokalisiert, unbetonte im Verhältnisse der Bestimmtheit ihres Inhalts projiziert. Betastet man ein Objekt mit einem Stabe, so wird die Tastqualität vor das Ende des Stabes projiziert.

Bei Berührung projiziert das nervenreichere Glied seine Empfindung auf das nervenärmere, das bewegte auf das unbewegte, das frische auf das ermüdete.
Neugeborene projizieren noch nicht; denn sie schließen weder die Augen vor dem sich nähernden Gegenstand, noch wenden sie ihm das Ohr zu. Ebenso wenig projiziert der Erwachsene im Halbbewusstsein. Das Projizieren auch der Traumbilder nach außen beweist, dass es überhaupt ein rein psychischer Vorgang ist.
Vgl. W. Volkmann, Psychol.II, 127 f. 3. Aufl. 1885.

Prolegomena (gr. prolegomena = das Vorausgesprochene) S. 462
bedeutet Vorrede, Einleitung; berühmt sind Kants »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können«. Riga 1783.

Kant beantwortet darin vier Fragen:

1. Wie ist reine Mathematik möglich?
2. Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?
3. Wie ist Metaphysik überhaupt möglich?

4. Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?

und führt den Nachweis, dass es bis dahin überhaupt noch keine Metaphysik gegeben habe, ja dass eine solche in dem Sinne einer theoretischen Wissenschaft von den letzten Ursachen und Zwecken alles Seins unmöglich sei. Diese Schrift Kants ist, trotz ihres negativen Resultats, sehr lesenswert, besonders als Einleitung zum Studium seines schwierigen Werkes: »Kritik der reinen Vernunft«. 1781.

Wer in die Metaphysik auf literarischem Wege eindringen will, lese erst Humes Essays, dann Kants Prolegomena, dann dessen drei Kritiken, hiernach Platons und Aristoteles' Schriften; schließlich wird er sich an jede metaphysische Abhandlung heranwagen können.

Protestantismus und Philosophie S. 463ff.
Die Geschichte des deutschen Geisteslebens zerfällt im Grunde in zwei große Abschnitte, deren Inhalt ist, wie wir uns in der Kindheit und Jugend unserer Nation selbst verloren haben und im Fremden untergingen, um zum Kulturvolke zu werden, und wie wir uns im reiferen Alter wieder fanden und eigenes deutsches Wesen zurückerwarben.

Im Mittelalter haben alle bahnbrechenden germanischen Persönlichkeiten dazu beigetragen, uns mit der romanischen Kultur, mit der Kultur des Auslandes in Verbindung zu setzen und uns so aus einem Barbaren- zu einem Kulturvolk zu machen; in der Neuzeit haben uns alle deutschen Geistesführer von fremdem Einfluss befreit und auf unsere Eigenart hingewiesen.

Der Wendepunkt in der Entwicklung ist die Entstehung des Protestantismus im 16. Jahrhundert.

Der Protestantismus ist das von Rom in Lehre und Organisation losgelöste, auf deutsche Art gegründete und mit deutschem Wesen verwachsene, von dem Eingriff veralteter Philosophie befreite, auf eigene Prinzipien (Bibelwort und innere Erfahrung) gestellte Christentum der praktischen Gewissensfreiheit, der sittlichen Gesinnung und Selbstverantwortung des Individuums, unter dessen Herrschaft sich die moderne Kultur entfaltet hat. Nur durch bewusste Wahl, nicht durch Zwang von den Deutschen gewonnen, hat er sie von der Erdrückung durch fremden Einfluss und von der römischen Hierarchie befreit und ihnen das Recht des eigenen religiösen Empfindens und Denkens zurückgegeben; er hat die Religion von der Beimischung einer noch im Altertum steckenden Halbphilosophie losgemacht und den Glauben auf historisches Zeugnis und Lebenserfahrung gestellt. Er hat das Leben mit seinen Forderungen anerkannt, den Deutschen zu einer seiner Natur entsprechenden Lebenshaltung zurückgeführt und intensive geistige und sittliche Selbsttätigkeit des Individuums geweckt. Er begünstigt die Fortschritte der Kultur und verinnerlicht den Menschen durch die Anerkennung der unmittelbaren Beziehung zu Gott und der Selbstverantwortung des einzelnen Menschen. –

Der Protestantismus zeigt seinem ganzen Wesen nach in seiner Entwicklung eine Hinneigung zur Philosophie. Luther hat zwar anfangs jede Philosophie zurückgewiesen. Er hasste den Aristotelismus, »die gottlose Wehr der Papisten«.

Aber die protestantische Theologie bedurfte philosophischer Waffen, und schon Melanchthon verknüpfte den protestantischen Glauben mit einem gereinigten Aristotelismus. Als dann später die Systeme der neueren Philosophie entstanden, hat es der Protestantismus der Reihe nach mit dem Cartesianismus, mit Leibniz und Wolf, mit Kant, mit Schelling und Hegel versucht; über ein festes Bündnis mit einem der neueren Systeme ist nicht entstanden.

Das Dienstverhältnis der Philosophie gegenüber der Theologie ist selbstverständlich in der Neuzeit aufgehoben. Die Wissenschaft geht ihre eigenen Bahnen, und der Protestantismus hat sich auf Grund der Erfahrung und historischer Kritik ebenfalls in seinen eigenen Gleisen fortbewegt.

Eine Übereinstimmung zwischen Philosophie und Protestantismus ist darum viel weniger wahrscheinlich und viel schwieriger erreichbar als dies im Mittelalter bei Katholizismus und Scholastik der Fall war. Wenn jedoch nicht eine unheilvolle Kluft zwischen Glauben und Wissen entstehen soll, ist die Verständigung zwischen dem Protestantismus und der Philosophie eine Notwendigkeit.

Es besteht auch eine Wahlverwandtschaft zwischen den Grundlehren des Protestantismus und bestimmten Richtungen der Philosophie.
Der Protestantismus, der sich auf äußere und innere Erfahrung und auf historische Zeugnisse stützt, ist seiner Methode nach Empirismus. Als theistischer Glaube ist er mit dem erkenntnistheoretischen Standpunkt des Skeptizismus, Positivismus und Naturalismus unvereinbar, aber ebenso wenig hat er mit dem rationalistischen Dogmatismus innere Verwandtschaft. Am nächsten steht er erkenntnistheoretisch dem vom Rationalismus befreiten Kerne des Kantischen Kritizismus, indem er mit ihm das Sonderrecht des Glaubens und Wissens anerkennt.

Metaphysisch und ethisch ist der Protestantismus Idealismus und berührt sich auch hier mit der Philosophie Kants, obwohl er mit einem rein formalen Sittengesetz nicht auskommen kann; aber er ist ethischer Glaube, wie es im Grunde auch die Kantische Philosophie ist. Paulsen hat deswegen auch Kant den Philosophen des Protestantismus genannt. Doch ist die Übereinstimmung zwischen Kant und dem Protestantismus eine zwar bedeutende, aber doch nicht vollständige. Eine die Gemüter beherrschende, allgemein anerkannte protestantische Philosophie gibt es also noch nicht. Sie kann nur aus einer Verbindung von Empirismus, Kritizismus und Idealismus erwachsen, und Männer wie Lotze und Fechner sind diesem Ziele nicht ferngeblieben.
Vgl. Fr. Paulsen, Kant der Philosoph des Protestantismus. Berlin 1899. J. Kaftan, Das Christentum und die Philosophie. 2. Aufl. Leipzig 1896.

Prozess (lat. processus = Fortgang, Verlauf von procedo = vorwärts schreiten) S. 460
heißt zunächst das Verfahren vor Gericht, dann jedes Verfahren nach bestimmten Regeln, endlich ein gesetzmäßiger Vorgang überhaupt.

So spricht man von chemischen, logischen, psychologischen Prozessen.

Psyche (gr. psychê), S. 465f.
Hauch, Lebenskraft, Seele, heißt die Lebenskraft der einzelnen Person. Parallel dem Begriff der griechischen Psyche geht der Begriff der lateinischen anima, des Lebensprinzips im Menschen und im Tiere, welches zwischen Leib und Geist die Mitte hält. Dieselbe Bedeutung hat das hebräische Nephesch (Seele) als das den Leib durchdringende Lebensprinzip, das im Blute wohnt, dem jedoch auch Liebe, religiöses Gefühl und Denken zugeschrieben wird. Vergleiche Seele, Psychologie

Psychologie (gr. psychê = Seele und logos = Lehre, Seelenlehre) S. 466ff.
heißt die Wissenschaft, welche darlegt, wie die Erfahrung ihrem ganzen Umfange nach aus den Vorgängen im Subjekte entsteht.

»Sie untersucht den gesamten Inhalt der Erfahrung in seinen Beziehungen zum Subjekt und in den ihm von diesem unmittelbar beigelegten Eigenschaften« (Wundt, Grundriß d. Psychologie, 7. Auflage, Leipzig 1905, S. 3).

Sie hat die uns unmittelbar gegebenen Vorgänge unseres Bewusstseins zu ermitteln und durch Analyse auf ihre Grundlagen zurückzuführen, ihre Entstehung und die Verbindung ihrer Elemente untereinander und ihren Verlauf zu erforschen, und die Gesetze, nach denen sich die inneren Vorgänge für sich und in ihren Beziehungen zur Wirklichkeit abspielen, festzustellen. Sie beruht auf der Erfahrung und muss ihrer Methode nach zunächst streng empirisch sein. Sie, wie andere auf der Grundlage der Erfahrung beruhende Wissenschaften synthetisch zu einer Entwicklungsgeschichte umzugestalten, ist ein Ziel, dem zugestrebt werden muss, das aber zur Zeit noch nicht erreicht ist.

Die Psychologie ist kein Teil der Metaphysik. Nur in ihren Endhypothesen kann sie in metaphysische Spekulationen über das Wesen der Seele hinauslaufen, aber sie kann nicht mit metaphysischen Voraussetzungen beginnen. Wie sie sich von aller Metaphysik unabhängig halten muss, um fruchtbar zu sein, und nach dem Ausdruck von Lange (1828-1875) eine Psychologie ohne Seele sein muss, so kann sie auch nicht einfach die Wege der Naturwissenschaft gehen. Die Naturwissenschaft abstrahiert nach Möglichkeit von den Beziehungen des gegebenen Erfahrungsinhaltes zum Subjekt, während diese Beziehungen gerade der Gegenstand der Forschungen der Psychologie sind.

So ist die Psychologie weder mit Hegel, der die Seelenvorgänge konstruktiv als Momente der Selbstentwicklung des Geistes bestimmt, nur für einen Teil der Metaphysik, noch mit Beneke, der von Erfahrungen ausgeht und dieselben rationell zu verarbeiten sucht, lediglich für Naturwissenschaft zu halten. Sie hat ihr eigenes Forschungsgebiet und ihre eigene Methode. Sie dient allen Geisteswissenschaften, wie Philologie, Geschichte, Rechtslehre, Staatslehre usw. zur Grundlage und erfreut sich, je mehr dies in der Gegenwart erkannt wird, eines steigenden Interesses. Die Psychologie ist in der Jetztzeit der am höchsten geschätzte Teil der Philosophie.

Von der Logik, welche, ihren Gesichtspunkt enger wählend, die Gesetze des richtigen Denkens aufstellt und von der Ethik und Ästhetik, welche nur Normen für das Handeln und Empfinden des Menschen suchen, unterscheidet sie sich dadurch, dass sie die Vorgänge in unserm Inneren in ihrem ganzen Umfange und nach ihrem natürlichen Verlauf betrachtet, ohne sie beeinflussen zu wollen.

Von der Erkenntnistheorie weicht sie darin ab, dass sie den genetischen Gesichtspunkt besitzt und die Entstehung der Erfahrung zu ermitteln versucht, während jene ausschließlich die objektive Beziehung und Gültigkeit unserer Vorstellungen ins Auge fasst, um ein sicheres Urteil über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik zu erlangen.

Das Musterwerk der Erkenntnistheorie, Kants Kritik der reinen Vernunft, verfolgt keinen psychologischen Gesichtspunkt.

Das Verfahren der Psychologie besteht in experimentell geregelter Beobachtung an uns selbst und anderen gleichartigen oder verwandten Wesen bis hinab zu den einfachsten Organismen und darüber hinaus bis zu der unorganisch genannten Stoffwelt, in physiologischen und in psychophysischen Forschungen.
Die Untersuchungen der Sprachwissenschaft, Ethnographie, Statistik unterstützen sie, und alle Geisteswissenschaften sowie die Schöpfungen der Kunst geben der Beobachtung Aufschlüsse.

Der Psychologie des Menschen, die als Teil der Anthropologie gefasst wird, gliedert sich die Tierpsychologie an, der Psychologie der reifen Seele die der Kindesseele (s. Psychogenese), der Psychologie des einzelnen Menschen (s. Individualpsychologie), die der Gesellschaften und Völker (Sozialpsychologie, Völkerpsychologie).

So gestaltet, sucht die Psychologie die ersten Elemente des psychischen Lebens auf, die Triebanlagen und Triebe, welche Empfindung und Bewegung in sich einschließen, verfolgt die Empfindungen nach Qualität und Intensität, ermittelt die assoziativen Vorbindungen der Empfindungselemente, die Komplikationen, Assimilationen und Verschmelzungen derselben und verfolgt den Vorgang der Reproduktion der aus ihnen hervorgehenden Vorstellungen bis zur Entstehung der aktiven Apperzeption im aufmerksamen Denken. Ebenso zergliedert sie den die Empfindungen begleitenden Gefühlston in seine Elemente und zeigt die Entstehung der Gefühle, der Affekte, der Ausdrucksbewegungen, der Willenshandlungen, des Ichgefühls und des Selbstbewusstseins. An die Untersuchung der Vorstellungen nach Qualität, Intensität und Gefühlston schließt sich folgerichtig die Ermittlung der komplizierten Vorgänge des Denkens, der Beziehung, der Vergleichung, der Kontrastbildung, der Analyse und Synthese der Vorstellungen an. So werden die allgemeinsten Gesetze des Seelenlebens, das Gesetz der psychischen Relationen, das Gesetz des psychischen Kontrastes und das Gesetz der psychischen Resultante aufstellbar und so wird das Wesen der psychischen Kausalität bestimmbar. Erst von hier aus führt der Weg der Psychologie in ergänzende und abschließende metaphysische Hypothesen hinein.

Zu dieser Gestaltung, zu einer klaren Erfassung ihrer Aufgaben und zu einem erfolgreichen methodischen Verfahren ist aber die Psychologie, deren Anfänge in die Zeit der Sophisten (5. Jahrh. v. Chr.) zurückreichen und deren Versuche bis zur Gegenwart ununterbrochen fortdauern, erst im 18. und namentlich im 19. Jahrhundert gelangt. Auch erst im 18. Jahrhundert ist ihr Name, der im 16. Jahrhundert durch Melanchthon geschaffen ist, durch Wolf (1679-1754) zur allgemeinen Verbreitung gekommen.

Die Psychologie ist so lange unfruchtbar geblieben, als sie in Verwechslung mit der Metaphysik von Spekulationen über das Wesen der Seele ausging und aus dem Begriff der Seele die Tatsachen des Seelenlebens ableiten wollte. Sie ist überall da fruchtbar geworden, wo sie mit Beiseitesetzung der metaphysischen Spekulationen von den Seelenvorgängen ausging und von den einfachen Phänomenen zu den komplizierten aufzusteigen versuchte.

Die Entstehung der englischen deskriptiven Psychologie, deren Schöpfer Locke (1632-1704), der Geograph des Bewusstseins, gewesen ist, die Ausbildung der englisch-schottischen Assoziationspsychologie durch Berkeley (1685-1753), Hartley (1704 bis 1757), Hume (1711-1776), Priestley (1733-1804), James Mill (1775-1836), Stuart Mill (1806-1873), Alexander Bain (1818-1903), George Lewes (1817 bis 1878), Herbert Spencer (1820-1904), H. Münsterberg (geb. 1863), die Begründung der Psychophysik durch E. H. Weber (1795-1878) und Fechner (1817-1881), die Verbindung der Psychologie mit physiologischen Forschungen durch Hartley, Priestley, durch Mediziner und Naturforscher und vor allem durch Wundt (geb. 1832) hat die Psychologie vorwärts gebracht und allmählich zur methodisch verfahrenden Wissenschaft mit gesicherten Resultaten emporgehoben.

Wie langsam sie aber hierzu gekommen ist, lehrt der Blick auf den zwei bis drei Jahrtausende umfassenden Werdegang der Psychologie. In der Geschichte der Philosophie treten nach- und nebeneinander hervor:

1. eine metaphysische Psychologie, die entweder

a) auf dem dualistischen Prinzip der Scheidung von Seele und Körper oder

b) auf dem monistischen Prinzip entweder b1) des Materialismus, dass der Stoff das Wirkliche sei, oder b2) des Idealismus (Spiritualismus), dass der Geist das Wirkliche ist, oder b3) der Philosophie des Absoluten, dass ein über Geist und Körper stehendes Göttliches das Wirkliche sei, beruht;

2. eine empirische Psychologie, die

a) als Psychologie des inneren Sinns sich auf Selbstbeobachtung zu stützen versuchte, die seelischen Vorgänge beschrieb (deskriptive Psychologie) und auf Seelenvermögen reduzierte (Vermögenspsychologie) und eine Neigung in spekulative Betrachtungen einzulenken nie verleugnet hat, und

b) als Psychologie der unmittelbaren Erfahrung sich als experimentelle Psychologie zu entwickeln angefangen und entweder mehr intellektualistisch dem Verlauf der Vorstellungsprozesse das Interesse zugewandt oder mehr voluntaristisch auch den Gefühls- und Willensvorgängen gleiche Beachtung geschenkt hat.
(Vgl. Wundt, Grundriß d. Psychol. § 2, S. 6-24.)

Ganz metaphysisch war die Psychologie des Altertums und des Mittelalters.

Platon und Aristoteles streben einem idealistischen Monismus zu, bleiben aber noch im Dualismus stecken. Denn Platon lässt neben der geistigen Welt der Ideen auch den Stoff als ein Nichtseiendes, Veränderliches der Erscheinungswelt bestehen, und Aristoteles hält zwar die Form (eidos) für die einzige vollendete Wirklichkeit (energeia, entelecheia), schreibt aber dem Stoffe (hylê) die Anlage zur Wirklichkeit, die Möglichkeit (dynamis) zu.

Platon (427-347) philosophiert zum Teil in der Form des Mythus (im Timaios) über die Welt- und Menschenseele, in der er ein Mittelglied zwischen Idee und Erscheinung sieht, über Präexistenz und Erinnerungsfähigkeit, über Postexistenz und Wanderung der Seele, über sterbliche und unsterbliche Teile der Seele, über deren Sitz im Körper und deren Zusammenhang mit den menschlichen Tugenden und den Teilen des Staatsorganismus.

Aristoteles (384-322), der das erste psychologische Werk peri psychês, de anima, über die Seele verfasst hat, geht planmäßiger und weniger phantastisch vor. Er kritisiert die Aufstellungen der älteren Philosophen, bestimmt den Begriff der Seele als erste Entelechie des organischen Körpers, verfolgt den Seelenbegriff bis in die Tier- und Pflanzenwelt, verfeinert die Lehre Platons von Seelenteilen zu einer Vermögenstheorie (threptikon; aisthêtikon, orektikon, kinêtikon kata topon; nous) und trennt den nous poiêtikos, das formgebende Prinzip der Seele, als den unsterblichen Teil von den anderen sterblichen Teilen ab. –

Über die platonische und aristotelische Psychologie, auf der auch die stoische Psychologie beruht, kommt das Altertum und Mittelalter nicht wesentlich hinaus. Die Psychologie ist in dieser Zeit noch kein klar abgegrenzter Teil der Philosophie, sondern ein Teil der Physik gewesen.

Von den monistischen Richtungen der Psychologie hat im Altertum nur die materialistische (atomistische) in Leukippos (5. Jahrh. v. Chr.), Demokritos (um 460-360) und den Epikureern (vom 4. Jahrh. ab) einen kräftigeren Ausdruck empfangen, ohne rechte Ausbildung zu finden, die auch der moderne Materialismus (Hobbes, Holbach, Diderot, Helvetius, vgl. Seele) der Seelenlehre nicht zu geben verstanden hat.

Über die Hypothese, dass die Seele, wie das Feuer, aus feinen, glatten und runden Atomen bestehe, über die Forschung nach dem Sitz der Seele, die sie als im ganzen Körper verbreitet annahmen (sôma leptomeres par' holon to athroisma paresparmenon Diog. Laert. X, 1 § 63), und über eine mangelhafte Theorie von der Entstehung der Sinneswahrnehmung ist der antike Materialismus nicht hinausgekommen.

Der moderne Materialismus hat dagegen entschieden das Verdienst, mit dahin gewirkt zu haben, dass die Psychologie sich auf physiologische Untersuchungen stützt.

Die metaphysische, sich auf die Methode des Rationalismus stützende Richtung bildet sich in der Psychologie der Neuzeit fort.

Auf dualistischem Standpunkte steht Descartes (1596-1650). Er scheidet Seele und Körper als Denken und Ausdehnung, betont die Wichtigkeit des Bewusstseins für das Seelenleben und erzeugt durch seinen Dualismus die Frage nach dem Zusammenhang von Seele und Leib, an deren Lösung nach ihm der Okkasionalismus mit entschiedenem Misserfolge arbeitete.

Den idealistischen Standpunkt vertritt dagegen Leibniz (1646-1706), der die Seele oder Monade als das eigentlich Wirkliche hinstellte, intellektualistisch die Entwicklung der Vorstellungen in den Seelen verfolgte und dem Seelenleben auch in der Stufenfolge der Wesen nachgeht.

Wolf (1679-1754), der sich an Leibniz anschloss, formulierte die Grundlehren der idealistischen Psychologie und begründete die moderne Vermögenstheorie, indem er Erkennen und Begehren schied und sowohl das Erkenntnis- wie das Begehrungsvermögen in ein niederes und höheres einteilte.

Die Vermögenstheorie ist dann von Tetens (1736-1805), der Erkennen, Fühlen und Begehren schied, und von Kant (1724 bis 1804), der sich an Tetens anschloss, aber die rationale Psychologie verwarf, ausgebildet worden.

Einen gewissen Übergang zu der empirischen Richtung leitete Wolf in Deutschland damit ein, dass er neben die rationale Psychologie, die rein spekulativ sein sollte, auch eine empirische stellte, um jener Stützen aus der Erfahrung zu geben, ohne aber sie fruchtbar gestalten zu können.

Auch Herbarts Psychologie beruht im Wesen auf der Leibniz-Wolfschen. Doch hat Herbart (1776-1841), der von der inzwischen entstandenen Assoziationspsychologie nicht unberührt geblieben ist, sich bemüht, die spekulative Psychologie zu einer exakten Wissenschaft umzugestalten, indem er mit der Vermögenstheorie brach, das ganze Seelenleben streng intellektualistisch auf Vorstellungen, die er als Kräfte dachte, und ihre Verbindungen zurückführte und eine mathematisch gestaltete Statik und Mechanik der psychischen Prozesse zu liefern versuchte. Seine mathematische Psychologie, die nicht auf Psychophysik gestützt war, entbehrt aber eines Maßes für psychische Größen und schwebt daher völlig in der Luft. –

Die Philosophie des Absoluten ist die Grundlage der Psychologie bei Spinoza (1632-1677), der eine Substanz (Gott-Natur) mit den Attributen Denken und Ausdehnung annahm, und der Grundgedanke Spinozas ist von Schelling (1775 bis 1864) wieder aufgenommen worden.

Eine streng empirische Richtung in der Psychologie hat zuerst Locke (1632-1704) eingeschlagen. Sein Essay concerning human understanding 1690 ist ein epochemachendes Ereignis und bedeutet den Übertritt der Psychologie in die induktiven Wissenschaften.

Locke beobachtete unbefangen und vorurteilsfrei, zergliederte scharfsinnig und gut, führte die Vorstellungen auf die Doppelquelle der Sinneswahrnehmung (sensation) und inneren Erfahrung (reflexion) zurück und ging der Zusammensetzung des Psychischen aus den einfachen Elementen ohne jede Gewalttätigkeit nach.

Auch Beneke (1798-1854) folgte der induktiven Richtung, stand aber auf dem einseitigen Standpunkt des Sensualismus.

Scharf griffen englisch-schottische Forscher wie Berkeley, Hartley, Hume, Priestley seit dem 18. Jahrhundert zu und schufen die Lehre von der Assoziation der Vorstellungen, die von James Mill, Stuart Mill, Bain, Lewes und Spencer im 19. Jahrhundert fortgeführt und von letzterem mit dem Gedanken der Evolution verbunden wurde.

Weber
und Fechner begründeten die Psychophysik. In der Gegenwart hat die Herbartsche Schule ihr Fortleben in Zimmermann, Lindner, Volkmann u. a., ihre Fortbildung durch Lotze u. a. gefunden.

Steinthal (1823-1899) und Lazarus (1824-1903) haben zur Herbartschen Psychologie die Sprachforschung und Völkerpsychologie hinzugebracht. Die Fäden aller psychologischen Forschung laufen aber zusammen in Wundt (geb. 1832), der der Psychologie eine voluntaristische Richtung gegeben hat und dessen »Grundzüge der physiologischen Psychologie« (3.Aufl. Lpz. 1887) und dessen »Grundriß der Psychologie« (7. Aufl. Lpz. 1905) als die bedeutendsten Werke auf diesem Gebiete gelten.

Vergleiche

Herbart, Lehrbuch der Psychologie. 2. Aufl. 1834.
Drobisch, Empirische Psychologie. 1842. 2. Aufl. 1898.
Fortlage, System der Psychologie als empirische Wissenschaft. 1855.
Jessen, Versuch einer wissenschaftlichen Begründung der Psychologie. 1855.
Lotze, Medizinische Psychologie. 1852; Mikrokosmus 1856-1864.
Strümpell, Psychologie. 1884. Dessoir, Geschichte der neueren deutschen Psychologie 1. Bd. 1902.
Th. Ribot, La psychologie anglaise contemporaine. 1875.
Guido Villa, Einleitung in die Psychologie der Gegenwart. 1902.
W. Hellpach, Die Grenzwissenschaften der Psychologie. 1902.
Münsterberg, Aufgabe und Methode der Psychologie. 1891. Psychologische Gesellschaft zu Breslau, über die Entwicklung der Psychologie (Vortrags-Zyklus) 1903 f.

Psychometrie (gr.) S. 473
nennt Chr. Wolf (1679-1754) die mathematische Psychologie, welche er für ausführbar hält, aber als noch fehlenden Teil der Wissenschaft bezeichnete, die aber erst Herbart (1776-1841), freilich ohne Erfolg, auszuführen versucht hat (1823); Kant (1724-1804) erklärte die Psychologie für nicht geeignet, mathematisch durchgeführt zu werden.

Fechner (1817-1881) hat diese Idee, wenn auch in beschränkter Form, in seiner Psychophysik wieder aufgenommen.

Herbarts Gedanke, jene quantitativen Bestimmungen, zu denen die psychologische Betrachtung führt, auf mathematische Formeln zu bringen, scheiterte an dem Mangel eines Maßstabes, so gut auch die Begriffe Vorstellungsstärke, Grad ihrer Helligkeit, Hemmung, Hemmungssumme, Verschmelzung und Bewegung gewählt waren. Vgl. Herbart, Über die Möglichkeit und Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden. 1823. Derselbe, Psychologie als Wissenschaft. 1824.


Psychopannychie (gr. psychê = Seele, pan = alles, ganz u. nyx = Nacht) S. 474
heißt der Seelenschlaf zwischen Tod und Auferstehung, der wiederholt von der christlichen Theologie angenommen wurde, ein Zustand der Bewusstlosigkeit, dessen Ansetzung schon Tertullianus (de anima 58) bekämpft und das Konzil zu Lyon 1274 verworfen hat.

Die Psychopannychiten, Anabaptisten und Soulsleepers huldigten dieser Lehre. Vgl. Calvin, de psychopannychia 1534.

Psychophysik (moderne Bildung aus gr. psychê = Seele und physikê = Naturwissenschaft) S. 474
heißt die Lehre von den Beziehungen zwischen Leib und Seele; sie vereinigt in sich Physiologie und Psychologie und ist die Grundlage der experimentellen Psychologie.

Sie misst, um. die Empfindungsintensitäten zu bestimmen, psychische Vorgänge an physischen, weil diese allein Maßstäbe liefern.

Unmittelbare Vergleichung ist nur möglich unter der Voraussetzung, dass psychische Größen nach ihrem relativen Werte verglichen werden (Webersches Gesetz); Wundt fügt noch die Fälle hinzu, wo eine Vergleichung nach absolutem Werte stattfindet. Bei drei Arten von Verhältnissen statuiert er die »psychische Größenmessung«:

1. bei Gleichheit zweier psychischer Gebilde;
2. bei eben merklichem Unterschied zweier Größen;
3. bei Gleichheit zweier Größenunterschiede (vgl. Wundt, Grundriß der Psych. S. 309 ff.).

Gefördert wurde die Psychophysik außer durch E. H. Weber (1795-1878) durch Fechner, G.E. Müller, (Zur Grundlegung der Psychophysik. 1878.) Delboeuf, W. Wundt und H. Münsterberg. Vgl. des letzteren »Neue Grundlegung der Psychophysik«. Freiburg 1889.

Die Psychophysik ist ein wichtiger Teil der objektiven experimentellen Psychologie.


psychophysisches Gesetz S.474f.
ist das Gesetz, das von E. H. Weber und Fechner aufgestellt ist; es lautet:

»Der Zuwachs des Reizes, welcher eine eben merkliche Empfindung hervorbringt, steht zu der Reizgröße, zu welcher er hinzukommt, immer in demselben Verhältnis.«

[delta r/r = Konst.; oder (r,-r)/r = (r,,-r,)/r, = (r,,,-r,,)/r,, usw.]

»Der Unterschied je zweier Reize wird also gleich hoch geschätzt, wenn das Verhältnis der Reize unverändert bleibt«
oder:

»Soll in unserer Auffassung die Intensität der Empfindung um gleiche absolute Größen zunehmen, so muss der relative Reizzuwachs konstant bleiben.«

Hieraus folgt:

»Die Stärke des Reizes muss in einem geometrischen Verhältnisse zunehmen, wenn die Stärke der apperzipierten Empfindung in einem arithmetischen zunehmen soll.«

»Die Intensitäten der Empfindungen verhalten sich wie die Logarithmen der Intensitäten der sie hervorrufenden Reize, wenn als Einheit der Schwellenwert des Reizes angesehen wird, d.h. diejenige Reizstärke, wobei die Empfindung in der Reihe wachsender Reize zuerst entsteht, resp. bei abnehmender Reihe zuerst verschwindet

( E = c log(r/e)

Das Webersche Gesetz gilt von Licht- (100 : 101), Druck- (15: 16); und besonders deutlich von Schallempfindungen (3 : 4) aber es hat eine obere und untere Grenze, bei der es seine Richtigkeit verliert.

Es lässt eine physiologische (Müller), psychophysische (Fechner) und psychologische (Wundt) Ausdeutung zu. (Wundt, Grundz. d. phys. Psych. I S. 356 ff.).

Die erste leitet dasselbe aus hypothetischen Verhältnissen der Leitung der Erregungen im zentralen Nervensystem ab;

die zweite betrachtet es als ein spezifisches Gesetz der Wechselwirkung zwischen Leib und Seele und beruht auf einer Auffassung dieses Verhältnisses, die heute nicht mehr gilt.

Nach der dritten, von Wundt vertretenen Auffassung bezieht sich das Gesetz l
ediglich auf die relative Maßbeziehung der Empfindungen selbst.

Punkt (lat.) S. 475
ist nach Eukleides dasjenige im Raume, was keine Teile und keine Ausdehnung hat.

Der geometrische Punkt ist daher ebenso, wie das Atom der Physik, eine Abstraktion; beide kann man nur denken, nicht vorstellen oder anschauen.

Durch Fortbewegung eines Punktes entsteht die Linie. Punkte bilden die Grenzen, aber nicht die Teile der Linie.

Die Ausdehnungslosigkeit des Punktes rechnet Schopenhauer zu den Prädikabilien a priori des Raumes.


Qualität (lat. qualitas von qualis = wie beschaffen,gr. poiotês), S. 476
d.h. Beschaffenheit, wird Dingen, Begriffen und Urteilen zugeschrieben. Die Qualitäten eines Dinges sind seine durch die Sinne in der Empfindung erfassten Eigenschaften, wie Licht, Farbe, Geruch, Geschmack, Wärme, Kälte, Härte usw.

Die philosophische Besinnung führt aber zu der Erkenntnis, dass diese Qualitäten nur in der Empfindung des Subjektes existieren und dem Dinge ohne Beziehung auf ein erkennendes Bewusstsein abzusprechen sind.

Diese Erkenntnis drang schon im Altertum bei den Atomisten durch.

In der Neuzeit ist sie einer der Grundgedanken der Physik, welche die Qualitäten auf quantitative Verhältnisse zurückführt.

Ihren philosophischen Ausdruck fand sie durch Locke (1632-1704), der die Qualitäten sekundäre, die Quantitäten primäre Eigenschaften nennt.

Bei Kant (1724-1804), der alle räumlichen und zeitlichen Verhältnisse für subjektiv hält, hat dieser Unterschied Lockes keinen Platz. Er setzt aber Quantität und Qualität als extensive und intensive Größe einander gegenüber. Qualität als Kategorie a priori ist ihm also dasjenige, was sich an jeder Empfindung, als Empfindung a priori erkennen lässt. (Kr. d. r. V. S. 166 ff.)

Die Qualitäten eines Begriffs sind seine Merkmale, die seinen Inhalt ausmachen. Man denkt einen Begriff logisch genau, wenn man sich nach seiner Qualität richtet. –

Bei Urteilen nennt man gewöhnlich das Verbindungsverhältnis zwischen Subjekt und Prädikat Qualität. Die Urteile sind demgemäß der Qualität nach bejahende oder verneinende (auch limitierende). Dieser Begriff der Qualität ist nur ein Beziehungsbegriff und hat mit dem sonstigen Begriff der Qualität nichts gemein.

Quantität (lat. von quantus = wie groß, gr. posotês), S. 477
Größenbestimmung, Zahlbestimmung, Formbestimmung, wird Dingen, Begriffen und Urteilen zugeschrieben. Die Quantität eines Dinges ist im Gegensatz zu den durch die Sinne in der Empfindung erfassten Eigenschaften (Qualitäten) die Art der Verbindung, in der diese Eigenschaften gegeben sind.

Quantität setzt daher stets Vielheit und Verbindung der Vielheit voraus und erscheint der Vermehrung und Verminderung fähig.

Im Einzelnen scheidet sich die Quantität in Menge, Zahl, Größe, Grad, Raum, Ziel, Bewegung, Intensität usw.

Quantität gilt als die Grundeigenschaft des Objektes, und Reduktion der Qualität auf Quantität ist ein Hauptpunkt der naturwissenschaftlichen Methode, da die Quantitätsbegriffe die allgemeinsten und sichersten sind; dass aber der Begriff der Verbindung ebenfalls seine subjektive Grundlage hat und auch nur den Dingen in Beziehung auf ein Subjekt zukommt, hat Kant richtig bestimmt. Damit ist freilich über das Wesen und den Ursprung der Quantitätsbegriffe im Allgemeinen nicht entschieden.

Der höchste und allgemeinste unter ihnen ist der Begriff der Zahl. Dieser erhebt sich, wenn er auch nur im Zusammenhange mit der Erfahrung gewonnen wird, am meisten über dieselbe, alle anderen sind in stärkerem Maße empirischen Ursprungs. –

In der Logik bezeichnet die Quantität eines Begriffs seinen Umfang, d.h. die Menge von Dingen oder Begriffen, denen er als Merkmal zukommt. –

Die Quantität eines Urteils dagegen richtet sich nach dem Umfang seines Subjekts, ist also die Bestimmung, ob das Urteil vom ganzen Umfange des Subjekts ausgesagt wird oder von einem Teile.

Quantitativ unterscheidet man also die universalen und die partikulären (auch die singulären) Urteile.


Quietismus (von lat. quies = Ruhe) S. 477
heißt diejenige Lebensauffassung, welche sich durch
Versenkung in Gott völlig vom Leben abwenden will. Solche Quietisten oder Hesychasten finden sich unter den Buddhisten, im Altertum unter den Mystikern, im Mittelalter (Meister Eckhardt, Tauler) und in der neueren Zeit, im 17. Jahrhundert (Frau v. Guyon, v. Bourignon, Bunyan, Michael Molinos, Gichtel). Auch Schopenhauer gehört, wenigstens in der Theorie, hierher.

Quintessenz (lat. quinta essentia), S. 478
eigtl. fünftes Wesen, bezeichnet ursprünglich den Äther, den Aristoteles als fünftes Element annahm
(außer Feuer, Wasser, Luft und Erde); da der Äther für das Vorzüglichste, ja für etwas Göttliches gehalten wurde, so bedeutet die Quintessenz einer Sache ihr Wesen.

Rationalismus S. 479ff.
ist der Gegensatz

1. von Empirismus und Sensualismus ;
2. von Skeptizismus und Kritizismus ;
3. von Supranaturalismus.

Im Gegensatz zum Empirismus und Sensualismus ist der Rationalismus diejenige methodische Richtung der Philosophie, die, von dem Vorbilde der Mathematik ausgehend, aus der Philosophie ein System von Vernunftschlüssen, an deren Spitze ein oberster Grundsatz steht, machen möchte. Aus dem obersten Grundsatze versucht sie durch folgerichtige Ableitung das Ganze des begrifflichen Wissens zu gewinnen. Der Rationalismus ist die Grundrichtung der griechischen Philosophie gewesen.

In der Neuzeit ist er in Frankreich von Descartes geschaffen, von ihm auf Spinoza übergegangen und dann für lange Zeit die Methode der deutschen Philosophie geworden: Leibniz, Wolf, Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Herbart sind seine namhaftesten Vertreter gewesen. Als oberster Grundsatz galt ihm bis auf Kant der Satz der Identität oder des Widerspruchs; Kant stellte dagegen den Gedanken der Möglichkeit der Erfahrung und damit den Begriff der transzendentalen synthetischen Einheit der Apperzeption an die Spitze seines Vernunftsystems.

Auch der nachkantische Idealismus suchte nach neuen Ausgangspunkten. Es ist jedoch noch keine rationale Ableitung des Wissens zustande gekommen, ohne dass irgendwo, bewusst oder unbewusst, die Erfahrung zu Hilfe genommen ist. –

Im Gegensatz zum Skeptizismus und Kritizismus ist der Rationalismus oder Dogmatismus diejenige Ansicht von den Grenzen der menschlichen Erkenntnis, welche unbedingtes Vertrauen in die Leistungsfälligkeit unserer Vernunft setzt. Dieser erkenntnistheoretische Rationalismus macht die Vernunft zur Alleinherrscherin im Reiche der Wahrheit und erklärt ihr Regiment für absolut.

Von Cartesius (1596-1650) im Aufbau seines Systems geschaffen, hat er sich mehr negierend und die historisch gegebenen Verhältnisse in Gesellschaft, Staat, Kirche, Wissenschaft, Kunst auflösend als agitatorische Aufklärungsphilosophie im 18. Jahrhundert in Frankreich entwickelt und hier den Glauben an die Autoritäten untergraben.

Mehr positiv sich haltend und in vornehmerer Wissenschaftlichkeit hat er in Deutschland durch Leibniz und Wolf seine Ausbildung empfangen und im 19. Jahrhundert in Fichtes, Schellings und Hegels Systemen fortgelebt. Auch in Deutschland zeigt er im 18. Jahrhundert Abneigung gegen das historisch Gegebene, und sein stets von ihm im Auge behaltener Gegner ist der Aberglaube gewesen. Er hat mit Erfolg dahin gewirkt, uns von dem Erbe mittelalterlicher Befangenheit zu befreien.

Vor allem hat er den Versuch gemacht, Glauben und Wissen zu einem einheitlichen System zu vereinigen, bei dem nicht mehr wie im Mittelalter die Theologie der Philosophie übergeordnet ist, sondern umgekehrt sich der Glaube nach der Vernunft richten muss. –

In dieser dritten Bedeutung ist also der Rationalismus diejenige theologische Richtung, welche in Glaubenssachen den Gebrauch der Vernunft nicht nur für erlaubt, sondern sogar für notwendig hält, um die göttliche Offenbarung aufzufassen und zu prüfen.

Der theologische Rationalismus ist in Deutschland durch Chr. Wolf begründet. Dieser stellt in seiner »Natürlichen Theologie« eine Vernunftreligion dem positiven Glauben gegenüber. Hiermit verband sich die durch Semler eingeleitete, durch Ernesti, Töllner, Griesbach u. a. fortgesetzte Kritik der Bibel und Kirchengeschichte. Ferner traten die Popularphilosophen sowie Nicolais »Allgemeine Deutsche Bibliothek« für eine bisweilen seichte Aufklärung ein, welche auf religiösem Gebiet nichts gelten lassen wollte, was sich nicht vor dem »gesunden Menschenverstande« (common sense) rechtfertigen könnte.

Zwar vertiefte Kant ihre eudämonistische Moral, aber der Gegensatz zu allen positiven Elementen der Religion (Offenbarung, Wunder, Weissagung) und zu allem Mystischen war auch sein Standpunkt. Auch er betrachtet die Vernunft als die einzige Offenbarungsquelle und duldet nichts Mystisches und Unbegreifliches in der Religion. Um nun aber doch die geschichtliche Wahrheit der hl. Schrift, deren Autorität die Rationalisten anerkannten, zu retten, ohne mit der Vernunft in Widerspruch zu geraten, verirrten sich dieselben in gewaltsame, abenteuerliche, oft lächerliche Auslegungen, indem sie alles Wunderbare als Akkommodation der heiligen Schriftsteller deuteten. So ist viel Plattes und Unnatürliches beim Rationalismus herausgekommen, und der Rationalismus erscheint als das echte Kind des 18. Jahrhunderts, der Zeit der Ernüchterung, Verständigkeit und Aufklärung. Gegen ihn erhoben sich Hamann, Herder, Jacobi, Lavater u. a. ferner die Romantiker und vor allem Schleiermacher und Schelling.

Nicht den Angriffen der Supranaturalisten, wohl aber dem historischen Sinn des 19. Jahrhunderts ist der Rationalismus wehrlos zum Opfer gefallen.
Vgl. Stäudlin, Gesch. d. Rat. u. Supranaturalism. 1816. K. Hagenbach, Kirchengesch. des 18. und 19. Jahrh. 3. Aufl. 1836. K. Hase, Anti-Röhr. 1834.

Raum und Zeit S. 481ff.
Alles, was wir wahrnehmen und uns vorstellen, versetzen wir in Raum und Zeit. Bei jedem Ereignisse fragen wir, wo und wann es geschehen ist. Der naive Mensch findet dabei nichts Auffallendes, während der Philosoph damit auf eines der schwierigsten erkenntnistheoretischen und psychologischen Probleme stößt. –
Zunächst ist klar, dass wir uns die Dinge, wenn wir sie in Raum oder Zeit versetzen, als Glieder einer Mannigfaltigkeit nebeneinander oder nacheinander vorstellen. Jenes geschieht bei den sogenannten Außendingen, dieses bei allen Veränderungen der Außen - und Innenwelt.

Überlegen wir nun, was wir uns eigentlich unter Raum und Zeit vorstellen, so ergibt sich, wenn wir von allem abstrahieren, was in Raum und Zeit gedacht wird, dass wir uns den Raum als eine Form der Gegenstände und die Zeit als eine Form des Geschehens vorstellen. Für das naive Denken existieren diese Formen als etwas Selbständiges, vor dem Inhalte Fertiges und auf diesen Wartendes,

der Raum als ein ungeheures Gefäß, welches alles umschließt (etwa eine Kugel), (vgl. Aristot. Phys. IV, 4 p. 212 A 15 ho topos angeion ametakinêton),

die Zeit als der stetige Übergang von dem, was war, zu dem, was sein wird, als ein sich selbst bewegender Fluss.

Jenen (Raum) denkt man sich durch drei rechtwinklige Abmessungen von einem Punkte aus bestimmt,

diese (Zeit) als eine immer entstehende, aber nie daseiende Linie von einer Dimension.

Nun lehrt aber die Erkenntnistheorie, dass die ganze Außen - und Innenwelt uns zunächst in unserem Bewusstsein gegeben ist; Raum und Zeit sind trotz aller Beziehung zum Wirklichen also nicht etwas, was den Dingen unabhängig von unserem Bewusstsein angehört, sondern wie jede Verbindungsform der Vorstellungen aus der Tätigkeit des Subjekts entspringt, so sind auch sie nur unter Voraussetzung eines Subjekts, das zur Wirklichkeit in Beziehung tritt, vorhanden.

Diese Lehre von der transzendentalen Idealität von Raum und Zeit, die Kant (1724-1804) in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) und schon vorher (1770) aufgestellt hat, muss jetzt zu den gesicherten Resultaten der Erkenntnistheorie gerechnet werden. –

Raum und Zeit scheiden sich nun bestimmt und klar von den Qualitäten der Empfindung; sie sind die extensiven Formen, in denen sich die Elemente der Empfindungen unmittelbar und in fester Ordnung zueinander, sowie auch in Beziehung zum Subjekte verbinden. Solche Formen sind aber nicht selbst Empfindungen. Und weil sie nur Verbindungsformen von Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen sind, können sie auch nicht unmittelbar als Wahrnehmungen oder Vorstellungen gegeben sein.

Man kann sich den Raum zwar von allem Inhalt getrennt als absoluten oder reinen unendlichen Raum und die Zeit als leere unendliche Zeit denken, und die Mathematik stellt die ideale Forderung, sie sich so zu denken; aber jede wirkliche räumliche und zeitliche Vorstellung und Anschauung eines einzelnen Subjekts schließt trotzdem einen, wenn auch noch so verblassten Empfindungsinhalt in sich ein. Der reine Raum und die reine Zeit wird niemals wahrgenommen oder vorgestellt, sondern nur gedacht. Andererseits besteht gerade das Wesen der Verbindungsformen, die uns in Raum und Zeit vorliegen, auch darin, dass die Empfindungen sich unmittelbar und assoziativ ohne unseren Willen und unsere Aktivität mit einem gewissen Zwang, den wir erleiden, in sie hineinfügen, und dass diese Formen dann von den Wahrnehmungen aus durch Reproduktion in die Vorstellungen übergehen. Raum und Zeit haben darum empirische Realität und sind als sinnliche Formen der Anschauungen zu bezeichnen. Sie sind keine begrifflichen Formen und sind etwas stets Einzelnes, nie schlechthin Allgemeines. Sie wollen also wahrgenommen und vorgestellt, aber nicht nur gedacht sein.

Nur gedachte Räume oder Zeiten sind keine Räume und Zeiten mehr. Absolute unendliche Räume und Zeiten sind also nichts weiter als Abstraktionen, die in Wahrheit nie vom Subjekte erreicht werden und nur als letzte ideale Forderungen der Philosophie und der Mathematik vorhanden sind.
Mit Recht hat also Kant Raum und Zeit von den Kategorien (allgemeinen Begriffsformen) geschieden und als sinnliche Formen der Anschauung bezeichnet und ihnen empirische Realität zugeschrieben. –

Die Frage ist nun weiter, ob sie als fertige Formen in der Seele liegen oder sich von Fall zu Fall aus den Empfindungen und Vorstellungen des Subjektes entwickeln. Jene Ansicht, die nativistische, wird Kant oft fälschlich zugeschrieben. Das beruht aber nur auf einem hartnäckigen Missverständnis der Lehre Kants. Kant bezeichnet 1770 Raum und Zeit ausdrücklich als »ursprünglich erworben«, nicht als angeboren, und in der Kritik der reinen Vernunft (1781) findet sich nichts, was dieser Annahme widerspricht oder eine Änderung der Ansicht Kants andeutet. Das Apriori hat bei Kant nicht die Bedeutung: »angeboren«, oder »fertig im Bewusstsein gegeben«, oder »vor aller Erfahrung gegeben«, sondern es hat nur die Bedeutung: »aus der Quelle der Vernunft, nicht von außen her entstehend«. Das Apriori kann sich somit in der Erfahrung und durch die Tätigkeit des Bewusstseins selbst erst entwickeln und bilden. Kant ist also bezüglich der Lehre von Raum und Zeit kein Nativist, wofür er häufig gehalten wird. Er hat zwar keine genetische Raumtheorie aufgestellt, aber sie lässt sich der Kantschen Lehre ohne Widerspruch hinzufügen. -

Es kann nun mit Raum und Zeit nicht anders stehen als mit unserem gesamten Bewusstseinsinhalt. Er entwickelt sich erst im Leben innerhalb der Erfahrung und wird schrittweise erworben ; und nur die Anlage zur räumlichen und zeitlichen Einordnung der Empfindung ist ein Besitz, den wir durch Vererbung auf der Stufe des höheren tierischen und des menschlichen Lebens bereits überliefert erhalten. –

Wenn nun aber alle räumlichen und zeitlichen Vorstellungen sich erst innerhalb unserer sinnlichen Tätigkeit auf Grund der vorhandenen Anlagen entwickeln, so kann allerdings die Erkenntnistheorie die Idee einer strengen Allgemeinheit und Notwendigkeit der uns bekannten Zeit- und Raumgesetze, wie sie Kant aufgestellt hat, nicht aufrechterhalten.

Raum und Zeit entstehen mit unseren Vorstellungen von in der Wirklichkeit gegebenen Objekten und haben nur den Wert und die Bedeutung des Tatsächlichen.
Die Mathematik, soweit sie aus diesen Vorstellungen hervorgeht, insbesondere die Geometrie, beruht auf Tatsachen und ist in ihren Fundamenten ebenso empirisch wie jede Wissenschaft.

Aus dem Begriffe der Sinnlichkeit, Empfänglichkeit, Rezeptivität oder Verbindung lässt sich nie Raum und Zeit in der uns gegebenen Form ableiten, nie zeigen, dass Raum und Zeit so beschaffen sein müssen, wie sie sind; und der Gedanke der Möglichkeit anderer Räume und Zeiten wie die unsrigen lässt sich sehr wohl fassen, und wenn auch nie in Anschauung übersetzen, so doch mathematisch bestimmen und durchführen (s. Metamathematik). Alle geometrischen Lehrsätze haben also nur eine beschränkte Apodiktizität.

Die spiritistische Phantasterei, einen mehr als dreidimensionalen Raum als wirklich gegeben anzunehmen, ist natürlich andrerseits durch nichts gerechtfertigt, und alle experimentellen Versuche ihn nachzuweisen sind Gaukelspiel und Betrug. Es gilt aber noch heute der Satz, den Gauß am 9. April 1830 an Bessel schrieb: »Nach meiner innigsten Überzeugung hat die Raumlehre zu unserem Wissen der selbstverständlichen Wahrheiten eine ganz andere Stellung als die reine Größenlehre; es geht unserer Kenntnis von jener durchaus diejenige vollständige Überzeugung von ihrer Notwendigkeit (also auch von ihrer absoluten Wahrheit) ab, welche der letzteren eigen ist, wir müssen in Demut zugeben, dass, wenn die Zahl bloß unseres Geistes Produkt ist, der Raum auch außer unserem Geiste eine Realität hat, der wir apriori ihre Gesetze nicht vollständig vorschreiben können.«

Die Lehre von der transzendentalen Idealität des Raumes findet also erst ihre Ergänzung in der recht verstandenen und richtig gewendeten Lehre von dem empirischen Ursprunge von Zeit und Raum, mit der allerdings das Apriori im Sinne Kants als das Notwendige, Allgemeine, aus reiner Vernunft Stammende fällt und nur im Sinne der Entwicklungslehre bleiben kann. Aus den Bedingungen unserer geistigen und physischen Organisation hervorgehend, entstehen Zeit und Raum mit der Entwicklung des Empfindungslebens. Als Bewusstseinsformen sind sie nicht unmittelbar etwas Wirkliches, aber sie gehören zu dem Objektiven in unseren Vorstellungen, eben weil sie unmittelbar mit den Empfindungen verknüpft sind und die Einordnung in sie ohne Willkür und unter einem gewissen Zwange erfolgt.

Im besonderen vollzieht sich die Entstehung der Raum- und Zeitvorstellung im Subjekte nach Wundts genetischer Verschmelzungstheorie, die an Lotze und v. Helmholtz anknüpft und der nativistischen Herings (geb. 1834) entgegengesetzt ist, in folgender Weise: Die Raumvorstellung ist nicht eine ursprüngliche Eigenschaft der einzelnen Empfindungselemente, wie es die Intensität und Qualität der Empfindungen sind, sondern sie setzt ein Zusammensein der Empfindungen als Bedingung voraus und ist die Form fester Ordnung der Sinnesqualitäten. Sie entsteht aus den Funktionen zweier Sinne, des Tastsinns und des Gesichtssinns, ist also die Form der Ordnung der Tastempfindungen und Lichtempfindungen. Der Blindgeborene erwirbt sie nur durch den Tastsinn, der normal sehende Mensch in ihrer feineren Ausbildung mehr durch den Gesichtssinn als durch den Tastsinn. Die Vorgänge, die beim Zustandekommen der Raumvorstellung durch den Tastsinn stattfinden, sind folgende: Ein Gegenstand kommt in Berührung mit dem Tastorgan und ruft eine Tastempfindung hervor. Hierbei bildet sich eine bestimmte Vorstellung von dem Orte der Berührung, die darauf beruht, dass jedem Punkte des Tastorgans eine eigentümliche qualitative Färbung der Tastempfindung zukommt, die von der Qualität des äußeren Eindrucks unabhängig ist. Die lokale Färbung der Empfindung wird das Lokalzeichen (s. d.) der Empfindung genannt. Diese Lokalzeichen oder Ortsempfindungen schließen, jedes für sich, noch keine Raumvorstellung in sich ein. Mit diesen Ortsempfindungen verbinden sich nun aber die Bewegungen des Tastorgans, die von inneren Tastempfindungen begleitet sind. Die einzelne dieser inneren Tastempfindung schließt ebensowenig wie das Lokalzeichen die Raumvorstellung in sich ein. Aber durch die empirisch gegebenen Verbindungen der Empfindungen entsteht die räumliche Vorstellung. Mit je zwei Empfindungen a und b von bestimmter Lokalzeichendifferenz ist stets eine bestimmte, die Bewegung begleitende innere Tastempfindung b, mit einer größeren Lokalzeichendifferenz a und c eine intensivere Bewegungsempfindung g assoziiert. So ist die aus der Funktion des Tastsinns hervorgehende Raumvorstellung das Produkt einer Verschmelzung äußerer Tastempfindungen und ihrer qualitativ abgestuften Lokalzeichen mit inneren intensiv abgestuften Tastempfindungen, und zwar bilden bei dieser Verschmelzung die äußeren Tastempfindungen die herrschenden Elemente, während die inneren Tastempfindungen hinter ihnen zurücktreten, wie etwa die Obertöne eines Klanges. Die Verschmelzung selbst ist eine doppelte, wenn auch gleichzeitige. Durch eine erste Verschmelzung ordnen sich die Qualitätsstufen des nach zwei Dimensionen geordneten Lokalzeichensystems in ihrem Verhältnis zueinander nach den Intensitätsstufen der inneren Tastempfindung ; durch eine zweite verbinden sich die durch die Reize bestimmten äußeren Tastempfindungen mit jenen ersten Verschmelzungsprodukten. Die äußere Tastempfindung wechselt mit der Beschaffenheit des objektiven Reizes; aber die Lokalzeichen bilden zusammen mit den inneren Tastempfindungen subjektive Elemente, deren wechselseitige Zuordnung bei den verschiedenen äußeren Eindrücken immer dieselbe bleibt, so dass die psychologische Bedingung für die dem Raume zugeschriebene Konstanz der Eigenschaften gegeben ist, die sich in der Lehre von der Verschiebbarkeit und Drehbarkeit der räumlichen Gebilde ausspricht. Die so erworbene Raumvorstellung ist natürlich reproduzierbar und kehrt in Erinnerungsbildern wieder.

Die Eigenschaften des Tastsinns wiederholen sich beim Gesichtssinn, freilich in viel feinerer Ausbildung. Die Netzhautfläche verhält sich analog einem Tastgebiet, übertrifft es aber an Stärke. Auch bei dem Eintritt einer Gesichtsempfindung durch Einwirkung eines Lichtreizes auf die Netzhaut entsteht die Vorstellung eines ihm zukommenden Ortes, mit der aber die räumliche Vorstellung noch nicht verbunden ist; doch erfolgt hierbei die Lokalisation nicht wie beim Tastsinn durch die unmittelbare Beziehung auf den entsprechenden Punkt des Sinnesorganes selbst, sondern wir verlegen, ohne dass wir erklären können, warum dies geschieht, den Eindruck an das außerhalb des vorstellenden Subjektes und in irgend einer Entfernung von ihm gelegene Sehfeld. Mit diesen qualitativen Lokalzeichen des Gesichtssinnes, die mit den einzelnen Zuständen der Netzhaut zusammenhängen, verbinden sich die die Bewegungen des Auges begleitenden, ein intensiv abgestuftes System bildenden Empfindungen. Die Bewegungen des Auges spielen bei der Ausmessung von Strecken des Sehfelds eine ähnliche Rolle wie die Tastbewegungen bei Ausmessung der Tasteindrücke, jedoch so, dass die Bewegungen des einen Auges noch durch die des andern unterstützt werden. Mit der einzelnen Empfindung ist auch hier die räumliche Vorstellung nicht verbunden. Sie entsteht auf Grund der Verbindung der Empfindungen. Die räumliche Ordnung der Lichteindrücke ist also eine Einordnung des nach zwei Dimensionen geordneten Lokalzeichensystems der Netzhaut in ein intensiv abgestuftes System der die Bewegungen des Auges begleitenden inneren Tastempfindung. Für je zwei Lokalzeichen, a und b, ist die bei der Durchmessung der Strecke a b entstehende Spannungsempfindung a ein Maß der linearen Raumgröße, während einer großem Strecke a c eine intensivere Spannungsempfindung je entspricht. So vollzieht sich also auch bei der Entstehung der Raumvorstellung durch die Vorgänge im Gesichtssinne eine Verschmelzung. Verschmolzen werden die in der Beschaffenheit der äußeren Reize begründeten Empfindungsqualitäten, die von den Arten der Reizeinwirkung abhängigen qualitativen Lokalzeichen und die durch die Beziehung der gereizten Punkte zum Netzhautzentrum bestimmten intensiv abgestuften Spannungsempfindungen. Auch hier ist die Entstehung der Raumvorstellung an die Vorgänge selbst gebunden, aber die Raumvorstellung ist ebenso reproduzierbar wie beim Tastsinn. Während aber beim Tastsinn sich die qualitativen Lokalzeichen mit den inneren, durch die Bewegung des Tastorgans verbundenen Bewegungen verschmelzen, verbinden sich beim Sehen die qualitativen Lichteindrücke mit den die Bewegungen der Augen begleitenden inneren Tastempfindungen, so dass hier von einem System komplexer Lokalzeichen geredet werden kann. Die räumliche Lokalisation irgend eines Lichteindrucks erscheint demnach als das Produkt einer vollständigen Verschmelzung der durch den äußeren Reiz bestimmten Lichtempfindung mit je zwei zusammengehörigen Elementen jenes komplexen Lokalzeichensystems, und die räumliche Ordnung einer Mehrheit einfacher Eindrücke besteht in der Verbindung einer großen Anzahl solcher Verschmelzungen, die qualitativ und intensiv nach Maßgabe der Elemente des Lokalzeichensystems gegeneinander abgestuft sind. Hierbei sind die von den äußeren Reizwirkungen bestimmten Empfindungen die herrschenden Elemente, gegenüber denen die Elemente des Lokalzeichensystems selbst zurücktreten.

Die durch den Tastsinn und die durch den Gesichtssinn erworbenen Raumvorstellungen und ihre Erinnerungsbilder ordnen sich ineinander ein und ergänzen sich, und zwar so, dass beim Sehenden die letzteren vorherrschen und uns das Bild der Außenwelt liefern. Sie werden schließlich auf alle anderen Sinnesempfindungen übertragen. ( Wundt, Grundriß der Psychologie § 10.)

Die Bildung der Zeitvorstellungen erfolgt vornehmlich auf Grund von Tast - und Gehörsempfindungen ; doch sind die Bedingungen zu ihrer Entstehung auch bei anderen Empfindungen gegeben.

Bei der Bildung der Zeitvorstellung durch den Tastsinn sind es nicht die äußeren, sondern nur die inneren Tastempfindungen, welche die Tastbewegungen begleiten, aus denen die Zeitvorstellung hervorgeht. Bei den Bewegungen, besonders bei den rhythmischen Bewegungen, z.B. der Beine und Arme beim Gehen findet ein regelmäßiges Wechseln qualitativ entgegengesetzter, spannender und lösender Gefühle statt, von denen das lösende sehr rasch verläuft, das spannende langsam zum Maximum aufsteigt, um dann plötzlich zu sinken, und bei deren Wechsel die intensivsten Gefühlsvorgänge sich auf die Grenzpunkte der
Perioden zusammendrängen. Die einfachsten zeitlichen Tastvorstellungen, die so entstehen, bestehen demnach in rhythmisch geordneten Empfindungen, die sich gleichförmig wiederholen.

Für die Entstehung der Zeitvorstellung durch den Gehörssinn liegen die Bedingungen besonders günstig, wenn es sich um diskontinuierliche Tastfolgen handelt, bei denen den Zeitstrecken selbst jeder objektive Empfindungsinhalt fehlt, und die Gehörseindrücke selbst nur die Begrenzung der Zeitstrecken gegeneinander vermitteln. Auch hier füllen sich die objektiv leeren Zeitstrecken mit einem subjektiven Gefühls - und Empfindungsinhalt, der dem bei rhythmisch verlaufenden Tastbewegungen vollständig entspricht, und es wechseln steigende und erfüllte Erwartung, die auf Spannungsempfindungen des Trommelfells oder auf den inneren Tastempfindungen beruht, die sich mit einem unwillkürlichen Taktieren verbinden.

Verbindet man die Resultate dieser Beobachtung, die sich nur auf die günstigen Fälle der Entstehung der Zeitvorstellung bezieht, so ergibt sich, dass auch die Zeitvorstellung nicht an einer einzelnen isoliert gedachten Empfindung haftet, sondern aus der Verbindung psychischer Elemente hervorgeht. Auch hier ist der Vorgang der Entstehung eine Verschmelzung. Bei dieser ist der momentan gegenwärtige Eindruck, der am schärfsten und klarsten wahrgenommen wird und durch Gefühlselemente charakterisiert ist, immer derjenige, nach dem alle andern orientiert werden, wodurch die Vorstellung vom Fließen der Zeit entsteht.
Die zeitliche Ordnung nach diesem Orientierungspunkte geschieht durch Hilfsmittel, die analog den Lokalzeichen Zeitzeichen genannt werden können und die im wesentlichen Gefühlselemente sind. Die Erwartungsgefühle sind die qualitativen, die inneren Tastempfindungen die intensiven Zeitzeichen. Die Zeitvorstellung ist daher ihrer Entstehung nach ein Verschmelzungsprodukt beider Arten der Zeitzeichen miteinander und mit den in die zeitliche Form geordneten objektiven Empfindungen. ( Wundt, Grundriß der Psychol. § 11.)

Aus der psychologischen Darlegung der Entstehung unserer Zeit- und Raumvorstellung ergibt sich, dass Zeit und Raum, soviel Analoges sie enthalten, weder gleichgesetzt, noch vollständig parallellisiert werden können. Die psychologischen Grundlagen der Zeitvorstellung sind viel allgemeiner als die der Raumvorstellung. Die Zeit wird zur Ordnung aller unserer psychischen Elemente, zur Grundform der inneren Wahrnehmung und ist somit allgemeiner als die Raumform. Die Ordnung, die im Raume den psychischen Elementen gegeben wird, ist nur fest in Bezug auf die Elemente selbst, aber veränderlich bezüglich des Subjekts, so dass wir die Möglichkeit einer Drehung und Verschiebung der räumlichen Gebilde ohne Änderung derselben zugeben. Die Ordnung, die dagegen in der Zeit den psychischen Elementen gegeben wird, ist fest auch bezüglich des Subjekts, so dass jede Veränderung in dieser Beziehung auch eine Veränderung der Zeitelemente zueinander herbeiführt. Der Raum hat drei Dimensionen, die Zeit nur eine; aber die Punkte in dieser Dimension sind nie zugleich gegeben. Auch völlige Parallelisierung von Raum und Zeit ist unmöglich.

Die Ansichten der Philosophen über das Wesen von Raum und Zeit haben sehr geschwankt.

Die reale Existenz des leeren Raumes nahmen im Altertum die Pythagoreer, die Atomisten und Epikureer an, während die Eleaten sie leugneten.
Platon (427-347) setzte Materie und Raum einander gleich. Beide sind ihm ein Nichtreales.

Aristoteles (384-322) erklärte den Raum für die erste unbewegte Grenze des umschließenden Körpers gegen den umschlossenen und leugnete den leeren Raum (to tou periechontos peras akinêton prôton tout estin ho topos. Phys. IV, 4, p. 212 A 20).

Die Stoiker lehrten die Existenz eines außerhalb der stofflichen Welt befindlichen unendlichen leeren Raumes. –
Von den Neueren nahm Descartes (1596-1650) Raum und Materie für identisch, indem er als das Wesen des Körperlichen die Ausdehnung ansah.

Für Leibniz (1646-1716) dagegen ist der Raum nur eine verworrene Vorstellung. In der sinnlichen Auffassung erscheint uns die Ordnung der Monaden als Ordnung koexistierender Phänomene.

Kant (1724-1804) erfasste den Raum richtig als sinnliche Form und lehrte seine transzendentale Idealität und empirische Realität. Seine Lehre von der Reinheit, Unendlichkeit und Apriorität der Raumanschauung und Apodiktizität der Mathematik entspricht zwar dem rationalistischen Gesichtspunkte seiner Philosophie, ist aber nicht haltbar. Gegen sie sind von mathematischer Seite triftige Einwendungen namentlich von Lobatschewsky, Gauß, Riemann, v. Helmholtz u. a. gemacht worden; die Raumtheorie Kants lebt also nur modifiziert in der Gegenwart fort.

Den physiologisch-psychischen Prozess, durch den die Raum- und Zeitvorstellung erworben wird, hat in neuerer Zeit im Anschluss an Lotze und v. Helmholtz vor allem Wundt (geb. 1832) festgestellt, der die Theorie des komplexen Lokalzeichens geschaffen hat. An Wundt sich anlehnend, gibt Hellpach (Die Grenzwissenschaften der Psychologie S. 142 ff.) eine ausführliche Theorie der Raumanschauung, die aber Missverständnisse der Kantischen Lehren in sich einschließt.

Die Zeit ist nach Platon mit dem Bewegung in Himmel entstanden.

Nach Aristoteles ist sie das Maß der Bezug auf das Früher und Später (hoti men toinyn ho chronos arithmos kinêseôs kata to proteron kai hysteron - phaneron Arist. Phys. IV, 11 p. 220 A 24).

Für den Stoiker war die Zeit ein unkörperliches Gedankenhaftes.

Auch Cartesius (1596-1650) sah in ihr nur einen Modus des Denkens (modus cogitandi) und definierte sie nach Aristoteles als 'numerus motus'. Ihm folgte Spinoza.

Für Leibniz (1646-1716) war die Zeit 'l'ordre des possibilités inconsistentes'.

Kant (1724-1804) verbindet die Raum- und Zeittheorie miteinander. Ebenso wie der Raum, ist ihm die Zeit sinnliche Form, und zwar Form des inneren Sinnes und von transzendentaler Idealität. Ebenso wie vom Raume, lehrt er die Reinheit, Unendlichkeit und Apriorität der Zeitvorstellung, ebenso wie in der Raumtheorie, will er die Apodiktizität der Mathematik mit auf die Apriorität der Zeitvorstellung aufbauen. Aber von dem Erscheinen der Prolegomena ab begeht er in seiner Zeittheorie den Irrtum, dass er den Zeitbegriff als Grundlage des Zahlbegriffs ansieht und nun die Arithmetik ebenso in Verbindung mit seiner Lehre von. der Zeit setzt, wie die Geometrie mit seiner Raumlehre. Die erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft ist von diesem Irrtum noch frei.

Dass der Begriff der Zeit seine mathematische Verwendung erst in der Kombinations- und Reihenlehre findet, die Grundbegriffe der Arithmetik aber nichts damit zu tunhaben, muss Kant gegenüber betont werden (s. Zahl); aber ebenso wenig ist seine Parallelisierung von Zeit und Raum als richtig anzuerkennen. Nach Kant ist die erkenntnistheoretische Frage bezüglich der Zeit wenig behandelt und nur die psychologische Theorie von der Zeit gefördert worden. Eine Theorie andersartiger Zeiten, als unsere Erfahrungszeit ist, ist bisher nicht aufgestellt worden und dürfte ihre besondere Schwierigkeit haben, da mit Dimensionen bei der Zeit nichts auszurichten ist.

Neuerdings hat M. Palágyi (Neue Theorie des Raumes und der Zeit. Leipzig 1901) die Zweiheit der Raum- und Zeitanschauung geleugnet und beide durch den Begriff des »fließenden Raumes« ersetzen wollen. Aber seine Grunddefinition: »Der Zeitpunkt ist der Weltraum« und »Der Raumpunkt ist der Zeitstrom« begründen nicht die Idee der untrennbaren Zusammengehörigkeit von Raum und Zeit; denn der Zeitpunkt ist keine Zeit, und der Raumpunkt kein Raum. -
Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 191 ff. Th. Isenkrahe, Idealismus oder Realismus. 1883. C. Stumpf, Psychol. Urspr. der Raum-vorstell. 1873. Baumann, die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik. 1869. B. Erdmann, die Axiome der Geometrie. 1877. Schlesinger, Substantielle Wesenheit des Raumes und der Kraft. Wien 1885. Wundt, Grundzüge der phys. Psychologie II. Max Simon, Didaktik und Methodik des Rechen-, Mathematik- und Physik-Unterrichts. München 1895.

real (v. lat. res) S. 492
heißt 1. sachlich oder dinglich; 2. gegenständlich, objektiv und 3. materiell und wirklich.

realisieren S. 493
bedeutet etwas verwirklichen, z.B. eine Idee, einen Zweck, Entwurf oder Plan.

Realismus (lat. res, Sache) S. 493ff.
heißt in der scholastischen Philosophie des Mittelalters der Gegensatz zum Nominalismus. Er behauptet in seiner strengsten Form mit Platon, die Universalien, d.h. die allgemeinen Begriffe, seien vor den Dingen vorhanden (Universalia sunt ante res), und zwar (als ewige Ideen) in Gott und (als angeborene Ideen) in unserem Geiste.

Diesen Standpunkt vertritt Anselm v. Canterbury (1035 bis 1109); ihm sind die Gattungs- und Artbegriffe nicht bloß subjektive Abstraktionen, sondern Wesen, welche vor den Einzeldingen existieren.

Abälard
(1079-1142) dagegen lehrte, andern er einen vermittelnden Standpunkt einnahm, sie seien in denselben (Universalia sunt in re), das Allgemeine sei zwar nur ein Gedachtes, aber als solches gehöre es nicht allein dem Bewusstsein an, sondern es habe auch seine objektive Realität in den Einzeldingen selbst, aus denen man es nicht abstrahieren könnte, wenn es nicht darin wäre.

Der Gegensatz zum Realismus ist in der Scholastik der Nominalismus, für den das Allgemeine bloße Namen (flatus vocis) und nichts Wirkliches sind. Der Nominalismus wurde zuerst vertreten von Roscellin (geb. um 1050) und von Wilhelm von Occam (†1347) erneuert. Neuere Vertreter des Nominalismus sind Hobbes, Locke, Berkeley, St. Mill usw.

Die ganze Streitfrage knüpfte besonders an die Einleitung des Porphyrius (233-305) zu Aristoteles' logischen Schriften (Isagoge in Aristotelis Organon) an, in der untersucht wird, ob die fünf Begriffe: Gattung, Art, Differenz, Eigentümlichkeit und Zufälliges substanzielle Existenz haben, ob sie ferner Körper oder unkörperliche Wesen seien, und endlich, ob sie von den sinnlichen Objekten gesondert oder nur in und an diesen existieren. Während Porphyrius selbst die Frage nicht entscheidet, beschäftigte sich das Mittelalter eifrig damit, weil die Theologie darauf fort und fort hinwies. Übrigens findet sich schon bei jenem selbst der entschiedene Realismus, bei Marcianus Capella der Nominalismus, während Boethius, Macrobius und Chalcidius vermitteln.

Seit dem 16. Jahrhundert ist die Philosophie nominalistisch; doch erhob sich der alte Streit bei der Frage, ob es »angeborene Begriffe« gäbe oder nicht.
Descartes (1596-1650) vertrat jene Ansicht, indem er seinen Beweis für das Dasein Gottes darauf stützte. Gott hat die Idee von sich dem Menschen schon im Mutterleib eingeprägt; doch sind die angeborenen Begriffe mehr nur Dispositionen, gleichsam involviert im Geiste, und kommen ihm erst allmählich zum Bewusstsein.

Cudworth (1617-1688) kehrte vollständig auf Platons Standpunkt zurück; gegen ihn erhob sich Locke (1632-1704), ging aber in seiner Opposition zu weit, so dass Leibniz (1646-1716) wieder gegen ihn leichtes Spiel hatte, indem er nur die virtuelle Erkenntnis angeboren sein ließ.

Kant (1724-1804) suchte den Streit dadurch zu entscheiden, dass er lehrte, der Stoff aller unserer Erkenntnis entstamme der sinnlichen Empfindung, die Form aber der Vernunft. Diese Form gehöre derselben a priori an, aber weder als fertige Vorstellung noch als Disposition, sondern als Funktion der Vernunft. –
Die nachkantischen Philosophen waren zunächst wieder ganz realistisch, so Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher, Krause und Schopenhauer, während die neueste Philosophie vielfach dem Nominalismus zuneigt. Vgl. Nominalismus und Konzeptualismus.

Eine andere Bedeutung hat das Wort Realismus in dem neueren philosophischen Sprachgebrauche erlangt, wo es den Gegensatz zum Idealismus bezeichnet. Hier ist der Realismus dasjenige monistische System der Metaphysik, welches dem Einzelnen, dem Körper, der Materie die Existenz zuschreibt, und dem Allgemeinen, der Idee, dem Geiste die Existenz abspricht, oder doch nur eine sekundäre Art der Existenz lässt, wodurch alle geistigen Vorgänge zu Begleiterscheinungen des Körperlichen herabgesetzt werden.

Der naive Realismus, die Weltauffassung des nicht philosophisch denkenden Menschen, stützt sich auf das Zeugnis der Sinne und glaubt ohne Kritik an die Wirklichkeit des Körperlichen.

Der philosophische Realismus dagegen ist sowohl im Altertum wie in der Neuzeit ein Kind der sich zur Philosophie entwickelnden Naturwissenschaft. Er tritt meist im Zusammenhang mit der empiristischen Methode und der sensualistischen Erkenntnistheorie auf. Bald knüpft er mehr an die Erscheinungsform des Stoffes an und wird dann zum Materialismus, bald geht er mehr von den Bewegungsgesetzen des Stoffes und den im Stoffe wirksam erscheinenden Kräften aus und wird dann zum Mechanismus oder Dynamismus. Bei konsequenter und einseitiger Ausbildung zeigt er stets Hinneigung zum Atheismus.

Im Altertum ist er als Atomismus von Leukippos und Demokritos (5. Jahrh. v. Chr.) und Epikuros (341-270) ausgebildet; seine klassische Epoche hat er im 18. Jahrhundert in Frankreich erlebt, wo er als Materialismus sich aus dem englischen Sensualismus, aus der Naturwissenschaft und aus dem Oppositionsgeist gegen Religion und Konvention entwickelte und eine lebendige Agitationskraft erlangt hat. Sein Hauptvertreter ist Lamettrie (1709-1751, l'homme machine. 1748). Das klassische Buch des französischen Materialismus ist das Systeme de la Nature (1770).

Im 19. Jahrhundert hat der materialistische Realismus eifrige Vertreter in Deutschland gefunden in Feuerbach, C. Vogt, Moleschott, Büchner u. a. (s. Materialismus). –

Soweit der Realismus als Naturwissenschaft auftritt, ist er eine sich auf die wahrnehmbare Außenwelt einschränkende folgerichtige und unanfechtbare, aber auf Abstraktion beruhende Gedankenkette. Aber soweit er Metaphysik sein will, kann er nie erweisen, dass die Welt der Sinneswahrnehmung mehr als die halbe wirkliche Welt ist, und so wird er durch seine eigenen Schlussfolgerungen über das Sinnenbild der Natur hinaus zu Ergänzungen aus der geistigen Welt gedrängt. –
In der Ästhetik ist Realismus diejenige Richtung, welche das Schöne nicht nur in der Form, sondern auch im Inhalt sucht.

Realität (mlat. realitas v. lat. res) S. 495f.
heißt Sachlichkeit, Wirklichkeit; Realität bedeutet in der Metaphysik das Dasein eines von uns Vorgestellten. In der Logik bezeichnet Realität soviel als Bejahung im Gegensatze zur Negation.

Kant (1724-1804) stellt der objektiven Realität, d.h. der Beziehung einer Erkenntnis auf einen Gegenstand, die subjektive gegenüber, d.h. die Gültigkeit einer Erkenntnis für die menschliche Vernunft. Empirisch nennt er die Realität eines Gegenstandes, welcher unseren Sinnen gegeben ist, transzendental die eines solchen, dessen Begriff an sich selbst ein Sein in der Zeit anzeigt.

Recht S. 496f.
Der Begriff des Rechtes beruht auf den Begriffen der Befugnis und der Pflicht und hat einen subjektiven und einen objektiven Sinn. In jenem ist er im Gegensatz zur Rechtspflicht die Befugnis, etwas zu tun oder zu lassen, in diesem ist er das Gesetz, welches die Rechtspflichten und Rechtsbefugnisse der einzelnen zueinander oder zu Gesamtheiten regelt.

Kant (1724-1804) definiert das objektive Recht als den »Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann« (Metaphysik der Sitten 1, S. XXXIII). Eine jede Handlung ist demnach recht, die mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann. Dasjenige, was jeder inmitten der übrigen tun darf, ist die Sphäre seiner rechtlichen Freiheit. Dies ist natürlich nach Ort, Zeit und Verhältnissen verschieden.

Die Rechtsphilosophie hat die Frage nach dem Ursprung, dem Inhalt und der Autorität des Rechts zu untersuchen, sie hat also festzustellen, wie es kommt, dass das Recht jeden auch ohne den zu erwartenden Zwang verpflichtet, seine Rechtssphäre nicht zu überschreiten, oder die anderen ermächtigt, den Übertreter zu bestrafen. -

Das Recht unterscheidet sich von der Sitte und der Moral.

Die Sitte ist Grundlage des Rechts, aber ihre Vorschriften lassen sich nicht erzwingen.

Ein Unterschied des Rechts von der Moral besteht nach verschiedenen Richtungen; zuerst im Zwecke: dieser ist bei der Moral die Harmonie des Menschen mit sich selbst, beim Rechte dagegen diejenige mit den anderen; ein anderer Unterschied liegt in der Quelle: diese ist dort Vernunft oder Religion, hier ein Vertrag, ein Herkommen, eine Sitte usw.

Ein weiterer Unterschied liegt auch in dem Interesse, das beide erwecken: auf moralischem Gebiete gibt es nichts Gleichgültiges (adiaphoron), wohl aber auf rechtlichem und innerhalb seiner Rechtssphäre steht es jedem Menschen frei, zu tun und zu lassen, was ihm beliebt. Endlich besteht auch darin ein Unterschied zwischen beiden, dass das Recht, aber nicht die Moral, äußere Motive, äußere Richter- und Zwangsgewalt zulässt, während die sittlichen Handlungen auf Selbstbetätigung beruhen und Selbstverantwortung in sich einschließen.

Kant sagt daher: »mit dem Rechte ist zugleich eine Befugnis, den, der ihm Abbruch tut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft.« (Met. d. Sitten 1, XXXV.)

Doch beweist die Geschichte auch andrerseits, dass der Zwang zur Verwirklichung der Rechtsordnung keineswegs genügt; vielmehr gehört hierzu auch die sittlich-religiöse Achtung des Rechts, der Freiheit und Ehre. Und in der Tat ist jeder bessere Mensch von dem Gefühl durchdrungen, dass Ordnung, Friede, Sicherheit und Zuverlässigkeit der äußeren Lebensverhältnisse nicht bloß aus Nützlichkeitsgründen notwendig, sondern die Grundlage unseres Lebens und unserer Kultur sind, ja dass deren Gegenteil absolut verwerflich sei. Daher bilden Moral und Recht keinen unaufhebbaren, sondern nur einen tatsächlichen Gegensatz. Vergleiche Mensch, Persönlichkeit, Pflicht.

Regress (lat. regressus, v. regredi = rückschreiten) S.504
heißt der Rückschritt vom Besonderen zum Allgemeinen, von dem Bedingten zur Bedingung (regressive oder analytische Methode).

Regressus in infinitum heißt das Aufsteigen in einer unendlichen Reihe zu immer allgemeineren, immer schwerer zu beweisenden Sätzen, ohne daß eine letzte Grundlage vorhanden ist,

Regressus in finitum dagegen das gleiche Aufsteigen in einer endlichen Reihe und Regressus in indefinitum der gleiche Gang in einer Reihe, von der es nicht feststeht, ob sie endlich oder unendlich ist.
Vergleiche Deduktion, Progress

Reich S. 504
heißt die oberste systematische Einheit verschiedener Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze.

So spricht man von dem Naturreich, wenn die bestimmenden Gesetze Naturgesetze sind; Reich der Zwecke nennt Kant (1724-1804) dagegen dasjenige Reich, dessen Gesetze die Beziehung der Wesen desselben als Zwecke und Mittel zur Absicht haben, also die moralische Welt. Dem Reiche der Natur steht auch das Reich der Gnade oder das Reich Gottes gegenüber; jenes bezeichnet die Menschen, sofern sie nur durch physische und soziale Gesetze zusammengehalten werden, dieses sofern sie Gott als dem höchsten Gesetzgeber gehorchen. Vgl. höchstes Gut. Kant, über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie. Teutscher Merkur 1788. Januar und Februar.

Reife S. 504f.
nennt man den Zustand eines Wesens, welches das geworden ist, was es seiner Natur nach werden kann, dessen Kräfte also allseitig entwickelt sind.
Beim Menschen liegt sie in der Zeit vom dreißigsten bis fünfzigsten Lebensjahre. Schopenhauer (1788-1860) verlegt sie erst ins vierzigste Jahr.

Reihe (series) S. 505
ist nach Herbart (1776-1841) eine Folge von Vorstellungen, die entweder äußerlich (zeiträumlich) oder innerlich (logisch) miteinander verbunden sind und deren Glieder in bestimmter Ordnung reproduziert werden. Die Reihenbildung hält Herbart für die Voraussetzung der Ideenassoziation, der Reproduktion (Gedächtnis und Erinnerung) und der Phantasie. –

Der Reihenbegriff beruht auf dem Begriffe des Nacheinander und somit auf dem Zeitbegriff und ist die mathematische Gestaltung und Spezialisierung dieses Begriffs, während der Zahlbegriff nur zu seiner Entstehung der Reihenbildung bedarf, aber in seiner fertigen und allgemeinen Form diese nicht in sich einschließt. Vergleiche Zahl, Raum und Zeit.

rein S. 505f.
heißt physisch, was frei von Schmutz, moralisch, was frei von Unsittlichkeit ist; im allgemeinen bedeutet es das, was ohne fremden Zusatz ist. So spricht man von reinem Golde, reinem Kunststil u. dgl.

Rein nennt Kant (1724-1804) im transzendentalen Sinne alles, was den Gegensatz zum Empirischen bildet. So nennt er reine Vernunft im Gegensatz zur Erfahrung das Vermögen der Erkenntnis aus Prinzipien a priori; reine Anschauung bedeutet bei ihm die von Empfindung leere, formale Anschauung, wie sie Grundlage der Geometrie ist; sie ist bei Gegenständen des äußeren Sinnes der Raum, bei denen des inneren die Zeit. Reine Begriffe sind bei Kant die zwölf Kategorien, ohne die eine Erfahrung unmöglich ist und die aus diesen Kategorien abgeleiteten Prädikabilien. Das reine Ich bedeutet bei Kant die transzendentale synthetische Einheit der Apperzeption. Kants gesamte Erkenntnistheorie wurzelt in dem Gedanken, daß reine Erkenntnis möglich und nachweisbar sei. Ihm trat bei Lebzeiten namentlich, den Standpunkt des Empirikers verteidigend, C. G. Selle mit seiner Schrift, Grundsätze der reinen Philosophie, Berlin 1788, entgegen.

Von den späteren Philosophen muß namentlich Comte (1798-1857) als Gegner der Lehre von der reinen Erkenntnis gelten. Auch die Gegenwart verwirft den rationalistischen Standpunkt Kants. -

Reines Denken ist bei J. G. Fichte (1762-1814) und Hegel (1770-1831) das Denken, welches nur sich selbst, den »immanenten Inhalt der formbildenden Bestimmungen«, und insofern das Sein selbst zum Objekt hat. -

Die schroffe Isolierung der Vernunft von der Erfahrung, wie sie sich bei Kant und seinen Nachfolgern in der Idee der Reinheit findet, ist keine glückliche Wendung der Philosophie gewesen. Die Trennung des Erfahrungswissens von dem Vernunftwissen ist eine Zerreißung der natürlichen Tätigkeit des Menschen; die nicht der Wirklichkeit entspricht und zur einseitigen Überschätzung der spekulativen Vernunfttätigkeit führt.

Relation (lat. relatio v. refero = beziehen) S. 507
heißt Beziehung oder Verhältnis. Die einfachsten Relationen gehören zu den Kategorien. In der physischen Welt stehen alle Dinge in Relation, und wir erkennen an den Dingen nur ihre Relationen.

Ebenso stehen aber auch psychische Bestandteile des Bewusstseins, ferner Begriffe in Verhältnis zueinander
(Relationsbegriffe oder Korrelate). Dasselbe gilt auch von Urteilen (z.B. beim Schließen) und Schlüssen.

Der Relation nach unterscheidet man seit Kant (1724-1804) die Urteile in kategorische, hypothetische und disjunktive.

relativ, S. 507
der Gegensatz von absolut, ist das nur beziehungs- oder verhältnisweise Bestimmte und Gültige. Jede Größe ist z.B. relativ, d.h. relativ groß im Vergleich zu diesem, aber relativ klein zu jenem. Relative Begriffe sind demnach solche, die erst aus Vergleichung eines Objekts mit einem anderen entspringen.

Religion, (lat. religio) S. 507ff.
aus dem Lateinischen seit dem 16.Jahrhundert entlehnt, abgeleitet von relegere (Cic. de nat. deor. 2, 28, 72 Qui - omnia, quae ad cultum deorum pertinerent, diligenter retractarent et tamquam relegerent, sunt dicti religiosi ex relegendo, ut elegantes ex eligendo, itemque ex diligendo diligentes, ex intelligendo intelligentes), nicht von religare (wie Lactantius, Institut. IV, 28 annimmt: Vinculo pietatis obstricti deo et religati sumus), heißt das Verhalten des Menschen zur Gottheit.

Die Religion besteht weder allein in einem Fühlen, noch in einem bloßen Wissen, noch im bloßen Handeln des Menschen; sie beruht vielmehr auf einem Zusammenwirken aller geistigen Funktionen des Menschen. Der Mensch fühlt sich von einer höheren Macht abhängig, erkennt dieselbe als seinen Lebensgrund und bemüht sich durch sein sittliches Leben, die Sammlung seines Gemütes und den Kultus, sich mit ihr zu vereinigen. Wo die Religion dagegen nur als Wirkung des einen oder des anderen Seelenvermögens angesehen wird, entsteht eine Einseitigkeit der Auffassung. So legten die Gnosis, der Dogmatismus und Hegel mehr oder weniger einseitig den Schwerpunkt auf die Lehre; das Judentum, der Katholizismus und der Rationalismus auf die Werke; der Mystizismus, Quietismus und Pietismus auf das Gefühl.

Einseitig und darum nicht haltbar sind auch viele der älteren Definitionen der Religion.

So nennt Platon (427 bis 347) die Frömmigkeit hosiotês das Gerechtsein gegen die Götter,

Locke
(1632-1704) definiert die Religion als Gehorsam gegen Gott,

Spinoza (1632-1677) als Gehorsam gegen die durch Verheißung und Drohung verpflichtende Autorität,

Kant (1724-1804) als Ehrfurcht gegen den Urheber der Sittengesetze oder als Anerkennung unserer Pflichten als göttlicher Gebote.

Fichte
(1762-1814) identifizierte ursprünglich Moral und Religion (als glaubend-tätiges Ergreifen des Übersinnlichen); die Religion ist ihm der Glaube an eine moralische Weltordnung oder der Glaube an das Gelingen der guten Sache. Später definiert er sie als den konzentrierenden Gesamtbesitz der Gesetze des Heiligen, Guten und Schönen in harmonischer Grundstimmung des Gemüts.

Schopenhauer nannte die Religion die Metaphysik des Volkes.

Schelling (1775-1864) dagegen charakterisiert sie als das von einem seligen Gefühle begleitete Anschauen des Unendlichen in seinen endlichen Erscheinungen oder die Vereinigung des Endlichen mit dem Unendlichen.

Aber erst Schleiermacher (1768-1834) hat das Verdienst, ihr Wesen in das Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit von Gott gesetzt zu haben.

Hegel (1770-1831) dagegen setzte es einseitig intellektualistisch in die Erhebung des subjektiven Bewusstseins aus seiner natürlichen Gebundenheit zur Selbstbeziehung auf sein wahres Wesen als absoluten Geist. Je nach der Individualität wird man jenes Moment der Abhängigkeit oder dieses der Freiheit betonen.

Nach Pfleiderer (geb. 1839) ist die Religion das Suchen und Finden einer dem Menschen überlegenen und ihm zugleich verwandten Geistesmacht in der Welt.
Dass in den Anfängen der Entwicklung der Religion bei den Menschen weder allgemein der Fetischismus noch der vollkommene Monotheismus gestanden habe, ist wahrscheinlich. Der Bildungsstand der früheren Menschen verbietet jene Annahme, das Gesetz der Entwicklung diese. Vielmehr war wohl Henotheismus vielfach die Urreligion. Schwer ist es überhaupt, ihren Ursprung zu bestimmen. Die Versuche, diesen bloß aus äußeren Einflüssen abzuleiten, sind misslungen, so

a) der Euhemerismus (Euhemeros, Philon v. Byblos, Porphyrius), der geschichtliche Vorgänge und Personen in transzendente Ideale umgesetzt werden läßt;

b) der soziale Pragmatismus (Hobbes, Bolingbroke), der die Religionen aus der egoistischen Berechnung pfiffiger Priester oder Tyrannen erklärt;

c) der anthropomorphistische Naturalismus (Epikur, Hume, v. Hellwald), welcher annimmt, die Menschen hätten gesetzmäßige und außerordentliche Naturvorgänge personifiziert;

d) der ethnologische Utilitarismus (Dühring), der die Religion als die phantasiemäßige Verkörperung der Institutionen eines Volkes betrachtet;

e) die linguistisch-mythologische Theorie (Max Müller), die die religiösen Vorstellungen aus der Wandelbarkeit der Sprache ableitet. (Andere Entstehungstheorien siehe z.B. bei Runze Katechismus der Dogmatik. 1893. § 16.)

Man muss bei der Untersuchung des Ursprungs der Religion zunächst ihren subjektiven Ursprung aufsuchen, und hierbei zeigt sich, dass die Motive, die zur religiösen Auffassung der Welt führen, mannigfaltige sind. Im Gemüt entsteht das Gefühl der Abhängigkeit von der gewaltigen Natur, der Eindruck, den die Harmonie des Weltganzen auf uns macht, die Sehnsucht nach Vollkommenheit, die Verehrung der Abgeschiedenen und Helden (Seelen- und Ahnenkult).

Zu diesen Motiven kommen moralische Motive: Die Liebe zum Mitmenschen läßt einen alle liebenden Vater ahnen, das Gewissen führt zur Annahme einer sittlichen Weltordnung, der Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Lebenswandel und Schicksal, zwischen Streben und Erfolg lassen einen Ausgleich durch ein Göttliches fordern.

Auch die Phantasie, durch die Natur angeregt, betätigt sich symbolisierend und mythenbildend, sie legt den Naturvorgängen menschliche Eigenschaften bei und hypostasiert die Erfahrungen des eigenen Bewusstseins, sie betrachtet den Naturverlauf als Abbild eines übernatürlichen Vorganges, mag derselbe ein übergeschichtlicher oder ein in der Vorzeit geschehener sein.

Endlich tritt auch der Verstand in Wirksamkeit, indem er eine letzte Ursache der Dinge sucht und hierdurch auf das Göttliche schließt. Er macht den Schluss vom Vorhandenen auf einen Urheber, von Glück und Unglück auf den Geber desselben, von der Persönlichkeit des Menschen auf diejenige Gottes; er abstrahiert von den Einzeldingen die Substanz, von der Vielheit des Bedingten das Absolute, von der eigenen Vernünftigkeit die objektive Vernunft; er erhebt sich durch die eigene Art nach Zwecken zu fragen und zu handeln zur realen Zweckmäßigkeit. Die so erworbene subjektive Religion (Religiosität) wird zur objektiven, indem z.B. die Religiosität des Familienhauptes von seinen Angehörigen angenommen wurde und sich allmählich zur Stammes- und Volksreligion erweiterte.

Die Verschiedenheit der geschichtlichen Religionen erklärt sich aus den Einflüssen des Klimas, der Bodenbeschaffenheit und der Nationalität sowie aus dem Charakter der Religionsstifter und Reformatoren.

Religion bestimmt sich hiernach zusammenfassend als die Hingabe des Menschen an die Gottheit: sie entspringt aus dem Gefühl der Abhängigkeit, stützt sich auf die Erfahrung und Wissenschaft und betätigt sich in einem vernunftgemäßen, d.h. sittlichen Leben und besonderen Formen. Sie beseligt den Menschen in der Überzeugung, mit Gott im Verkehr zu stehen, demütigt ihn im Glück, erhebt ihn im Unglück, gibt dem Streben des Menschen ein Ziel und seiner Arbeit eine Zukunft.

Eingeteilt
werden die Religionen

I. nach dem Gegenstande der Gottesverehrung, und zwar

a) quantitativ in heno-, poly- und monotheistische;

b)
qualitativ in natürliche (Natur- und Geschichtsreligionen) und positive.

II. Nach dem Standpunkte des Subjekts, und zwar

a) nach dem Gefühl der Freiheit oder Abhängigkeit in fatalistische und teleologische;

b) nach dem Verhältnis zu Gottes Sein: Immanenz- und Transzendenzreligionen;

c)
nach der Selbstbetätigung: in asketische und soziale, kontemplative und praktische, esoterische und exoterische.
Vergleiche Offenbarung, Frömmigkeit, Gott, Polytheismus usw. -
C.Schwarz, d. Wesen d. Rel. 1847. Schleiermacher, Reden ü. d. Rel. 1799. Fichte, Kritik aller Offenbarung 1792. Pfleiderer, das Wesen d. Rel. 1869. Seydel, d. Rel. und die Religionen 1872.

Religionsphilosophie S.510ff.
ist die philosophische Wissenschaft von der Religion; sie hat deren Ursprung, Wesen, Inhalt und Bedeutung zu untersuchen. Als denkende, wissenschaftliche Betrachtung der Religion fasst sie dieselbe im Zusammenhang mit allen übrigen Erscheinungen des Menschengeistes auf. Sie will nicht bloß eine Phänomenologie des religiösen Bewusstseins, d.h. eine Übersicht der verschiedenen Religionen sein, sondern sie will begreifen lehren, was und warum Religion ist, wie dieselbe mit der Natur des Menschen und seiner Stellung im Weltall zusammenhängt, wie und weshalb sie bei diesem Volke so, bei jenem anders wurde. Als spekulative Religionserkenntnis will sie den religiösen Erfahrungsstoff durch logische Bearbeitung desselben mit der Vernunft durchdringen und zu einem begriffenen Inhalt unseres Denkens erheben. –

Hieraus ergibt sich ihre Methode: Sie versucht von der historischen Überlieferung auszugehen und von dort aus die Entstehung, Fortbildung und Wandlung der religiösen Vorstellungen und Bräuche zu verfolgen. Da sie aber nicht bloß Religionsgeschichte ist, sucht sie das allgemeine Wesen, das innere Prinzip der Religion, den religiösen Geist zu erkennen. Dieser aber stellt sich sowohl in den objektiven Religionen als auch im religiösen Leben des einzelnen Subjekts dar. Beider Seiten bedarf der Religionsphilosoph zur gegenseitigen Vergleichung.

Daher hat die Religionsphilosophie nach möglichst inniger Durchdringung der psychologischen, spekulativen und historischen Untersuchung zu streben.
Nachdem sie das religiöse Bewusstsein und die religiöse Erkenntnisart analysiert hat, betrachtet sie die geschichtlichen Einzelerscheinungen, aber so, dass sie das ihnen zugrunde liegende geistige Prinzip aus den Zufälligkeiten herausschält. So gewinnt sie ohne subjektive Dialektik durch sachgemäßes Vorgehen allmählich, also auf genetisch-spekulativem Wege den Wahrheitskern der Religionen. Nichts liegt ihr ferner, als an Stelle der Religion etwa ein philosophisches System abstrakter metaphysischer Begriffe setzen zu wollen. Das philosophische Denken kann die Religion weder erzeugen noch ersetzen; denn beide sind ganz verschiedene Funktionen. Weder die Fähigkeit noch das Bedürfnis, religiös zu empfinden, wird durch das philosophische Wissen alteriert, sondern nur die Art, wie sich die religiöse Empfindung in der theoretischen Weltansicht reflektiert.

Die Geschichte der Religionsphilosophie geht mit derjenigen der Philosophie überhaupt Hand in Hand.

Im engeren Sinne beginnt sie mit Fichtes »Kritik aller Offenbarung« 1792 und Kants »Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft« 1793. Dann folgt Schleiermacher mit seinen »Reden« 1799 und Schellings, »Philosophie und Religion« 1804, ferner F. H. Jacobis, »Von den göttlichen Dingen« 1811, Hegels »Philosophie der Religion« 1831. Vgl. Biedermann, »Die freie Theologie« 1844. Pfleiderer, Religionsphilosophie. 3. Aufl. Berl. 1896. E. v. Hartmann, »Das religiöse Bewußtsein« 1881; »Die Religion des Geistes« 1882. Vgl. auch Goethes Gedicht »Die Geheimnisse« 1784.

Religiosität S. 512
heißt die subjektive Religion oder die Frömmigkeit.

Reue (mhd. riuwe, eigtl. Schmerz, Kummer) S. 513
nennt man die Unlust, die man über einen begangenen Fehler empfindet und aus der der Wunsch entspringt, ihn nicht begangen zu haben, ihn künftig zu meiden und ihn wieder gutzumachen. Wir bereuen gewöhnlich, was uns Unheil gebracht hat; manches bereuen wir aber auch, trotzdem es uns keinen Schaden, ja vielleicht Vorteil gebracht hat, weil wir es als Unrecht erkennen.

Die Reue gehört zu den peinigendsten Gefühlen. Weder Zerstreuung, noch Vernunftgründe, noch Askese helfen dagegen etwas; nur die Zeit und die emsige Arbeit lindern sie; doch bricht in tieferen Naturen die Reue immer wieder hervor. Es besser zu machen ist jedenfalls die beste Reue.

Schopenhauer
(1788 - 1860) lehrt, die Reue entspringe nie daraus, dass der Wille, sondern daraus, dass die Erkenntnis sich geändert habe. Wir bereuten deshalb nie, was wir gewollt, wohl aber, was wir getan hätten, weil wir, durch falsche Begriffe geleitet, etwas taten, das unserem Willen nicht gemäß war. Die Einsicht in diesen Irrtum sei die Reue. Immer sei sie die berichtigte Erkenntnis des Verhältnisses der Tat zur eigentlichen Absicht. Doch ist diese Auffassung Schopenhauers kaum haltbar; sie ist nur eine Konsequenz seiner metaphysischen Willenslehre und fällt zugleich mit dieser. –

Gewissensangst
dagegen ist nicht Reue, sondern Schmerz, welcher aus der Erkenntnis unser selbst, unserer sittlichen Schwäche fließt. Vgl. Gewissen.

richtig (korrekt) S. 514f.
heißt eigentlich dasjenige, was nicht von der Richtung abweicht, was einer Richtschnur entspricht, dann das Regelmäßige.

Im logischen Sinne ist es das in sich Widerspruchslose.

Die logische Richtigkeit ist eine Art der Wahrheit, aber nur die formale; sie besteht nur in der Übereinstimmung des Denkens mit sich selbst, während die materiale Wahrheit auf der Beziehung desselben zu dem Sein beruht.-

Mancher Gedanke kann daher logisch (formal) richtig sein, während er material ungültig, d.h. falsch ist; z.B. der Schluss: »Alle Vögel fliegen - der Strauß fliegt nicht - folglich ist er kein Vogel.«

Hier ist der Obersatz des logisch richtigen Schlusses falsch. Dagegen kann kein Gedanke (material) wahr sein, der (formal) unrichtig ist.

Richtig ist daher ein Urteil, in welchem dem Subjekt dasjenige Prädikat beigefügt wird, das ihm zukommt. Man kann auch subjektive und objektive Richtigkeit unterscheiden. Bei jener liegt die Norm im urteilenden Subjekt selbst, bei dieser im Zusammenhang der Dinge.

Die Wissenschaft, welche die richtigen allgemeinen Denkformen von den unrichtigen unterscheiden lehrt, ist die Logik.
Vergleiche
Wahrheit, Urteil.

Schein S.522 Siehe auch bei Eisler
bedeutet zunächst einen Lichtglanz, z.B. Sonnen-, Mondenschein u. dgl., dann das Bild des Wirklichen und endlich den Gegensatz zum Wirklichen, die Täuschung. Man kann zwischen subjektivem und objektivem, metaphysischem und logischem Schein unterscheiden. Der subjektive Schein beruht auf einem falschen Schlusse von der Folge auf den Grund, indem man entweder einen Grund setzt, den eine Erscheinung überhaupt nicht haben kann, oder indem man behauptet, dass sie ihn überall und stets habe. Übereilung oder Mangel an Urteil und beschränkte Kenntnis der Verhältnisse veranlassen diesen Irrtum. –

Oft aber liegt ein objektiver Schein vor, nämlich da, wo man den Irrtum als solchen erkennt, ihn aber nicht verbessern kann, weil er gleichsam an den Gegenständen zu haften scheint. Hierher gehören die Sinnestäuschungen, bei denen der Schein ganz individueller Natur ist. Entweder sind die Sinnesorgane in eine ungewöhnliche Lage gebracht, oder sie sind krank, oder ihre Energie wird durch einen ganz ungewöhnlichen Reiz hervorgerufen. Ferner gibt es einen sinnlichen Schein, der sich ohne krankhafte Affektion der Organe aufdrängt, z.B. die scheinbare Größe entfernter Gegenstände (optischer Schein). Auf dem objektiven Schein beruht auch die Wirkung der Künste, besonders der Malerei, Musik und Poesie. (Vgl. Illusion.) –

Der metaphysische (transzendentale) Schein ist die unserem Wesen notwendige und doch falsche Vorstellung von der Welt, die entsteht, indem wir Ideen für Wirklichkeit, Subjektives für Objektives, Vorstellungen für Dinge nehmen. Ihn zu berichtigen ist die Aufgabe der Philosophie, insbesondere der Metaphysik. –
Unter logischem Schein endlich versteht man die Ableitung formell richtiger Folgerungen aus falschen Voraussetzungen oder falscher Folgerungen aus richtigen Voraussetzungen. Hierauf beruht die Kraft der Trug- und Fehlschlüsse, (s. d.) Vgl. Erscheinung, Irrtum, Widerlegung, Illusion, Sinnestäuschungen.

schlecht S. 529
ist das Gegenteil von gut, bezeichnet mithin dasjenige, was nicht so ist, wie es sein soll, also das Unbrauchbare, Unangenehme oder Schädliche. In Bezug auf die Handlungsweise des zurechnungsfähigen Menschen nennen wir es böse (s. d.).

Schluss S. 529ff.
heißt derjenige Denkprozess, durch welchen ein Urteil aus einem oder mehreren anderen abgeleitet wird. Die Ableitung eines Urteils aus einem anderen heißt unmittelbarer Schluss; die Ableitung eines Urteils aus zwei oder mehreren Urteilen heißt mittelbarer Schluss. Man schließt entweder vom Allgemeinen auf das Besondere oder umgekehrt vom Besonderen auf das Allgemeine.

Die erste Art des mittelbaren Schlusses heißt Syllogismus (ratiocinatio), die zweite Induktion. Das Urteilen besteht im Vergleichen und in der Verbindung zweier Begriffe, das syllogistische Schließen aus demjenigen zweier oder mehrerer Urteile. Sage ich mit dem trivialsten Beispiel der Schullogik: »Alle Menschen sind sterblich, Cajus ist ein Mensch, folglich ist Cajus sterblich« - so habe ich aus zwei Urteilen ein drittes und das Besondere aus dem Allgemeinen abgeleitet. Subsumiert schon das einzelne Urteil einen Begriff unter einen anderen, umfassenderen, so führt also der Schluss die Subsumtion weiter fort. Es lässt sich die Voraussetzung, dass, was vom umschließenden Begriff gilt, auch vom umschlossenen gelte, so fortsetzen, dass das, was vom umschlossenen Begriff gilt, auch von dem Begriffe gelte, den dieser umschließt, und so fort. Sind also alle Menschen sterblich, so gilt es auch von Cajus, wenn er unter die Menschen zu rechnen ist.

Der Syllogismus heißt einfach, wenn er aus zwei Urteilen, welche zwei verschiedene und einen gemeinsamen Begriff haben, ein drittes Urteil ableitet, zusammengesetzt, wenn mehr als drei Begriffe darin vorkommen und mehr als zwei Urteile zur Begründung des Schlusssatzes dienen. Der gemeinsame Bestandteil im einfachen Syllogismus heißt Mittelbegriff (terminus medius), er kommt in den beiden Urteilen, aus denen ein drittes abgeleitet wird, d.h. den Vordersätzen (Prämissen), aber nicht im Schlusssatz (conclusio) vor.

Von den beiden Prämissen heißt Obersatz (propositio maior) diejenige, welche das Prädikat, Untersatz (propositio minor) diejenige, welche das Subjekt des Schlusssatzes enthält. Alle diese Bestandteile nennt man die Elemente des Syllogismus. Seine Relation richtet sich nach derjenigen der Prämissen, d.h. er ist kategorisch, hypothetisch, disjunktiv, je nach der Relation jener. Sind sie von verschiedener Form, so ist der Obersatz maßgebend.
Die Möglichkeit des Schlusses als Erkenntnisform beruht auf der Voraussetzung einer realen Gesetzmäßigkeit gemäß dem Satze vom Grunde. Die vollkommenste Erkenntnis entspringt aus dem Zusammenfallen des Real- und Erkenntnisgrundes, folglich ist auch der Schluss am vollkommensten, in dem der Mittelbegriff jene beiden enthält. Durch den Schluss erfährt der Schließende nicht etwa schlechthin Neues, ihm vorher ganz Unbekanntes, sondern etwas, was er implizite schon wusste, was er nun aber erst explizite kennen lernt. Wir bringen uns also durch den Schluss nur zum Bewusstsein, was schon latent in den Prämissen lag.

Diese »Entzifferung unserer eigenen Noten«, wie Mill sagt, ist aber doch nur die eine Seite der Sache; die andere ist die wirkliche Förderung unserer Erkenntnis durch den Syllogismus, sobald unser Denken auf dem Grunde einer erkannten realen Gesetzmäßigkeit ruht.

Darum forderte Aristoteles, dass der Mittelbegriff (M) die reale Ursache ausdrücke. Die Skeptiker hingegen drehten die Sache um und meinten, dass die Wahrheit der Prämissen aus derjenigen des Schlusssatzes folge, nicht umgekehrt!

Das Mittelalter hat den technischen Apparat der Aristotelischen Syllogistik eifrig ausgearbeitet. (Siehe Schlussfiguren und Schlussmodi.)

Bacon (1561-1626) zieht ihr die Induktion vor, Cartesius (1596-1650) verwirft sie ganz, ebenso Locke (1632-1704), während Leibniz (1646-1716) im Syllogismus ein bedeutendes Hilfsmittel der Forschung erkennt.

Kant (1724-1804) dagegen hielt nur die erste Schlussfigur für natürlich und betrachtete sie bloß als ein Mittel, das, was wir schon wüssten, durch Analyse klar zu machen.

Ähnlich lehren Herbart (1776-1804), Fries (1773-1843) und Beneke (1798-1854), während Hegel (1770-1831) und Schopenhauer (1788-1860) im Schlusse die notwendige Form alles Vernünftigen, das eigentliche Geschäft der Vernunft sehen. Der Wert desselben beruht vor allem in dem Ausbau der Subsumtion, in der Herstellung der richtigen Verbindungen zwischen Gattungs- und Artbegriffen. Die Klassifikation der Wissenschaft beruht auf durchgeführter Syllogistik. Das Material für die Prämissen hat die Induktion (s. d.) herbeizuschaffen, aber ihre Ordnung erfolgt durch den Syllogismus.

Allgemeine Regeln für das Schließen sind:

1. Im einfachen regelmäßigen kategorischen Schlusse dürfen nur drei Begriffe vorhanden sein.
2. Aus rein verneinenden Prämissen folgt nichts.
3. Aus rein partikulären Prämissen folgt nichts.
4. Aus einem partikulären Obersatz und einem verneinenden Untersatz folgt nichts.
5. Die Quantität (s. d.) des Schlusssatzes richtet sich nach dem Untersatz, hingegen
6. seine Qualität (s. d.) nach dem Obersatze.
7. Ist eine Prämisse problematisch, so ist es auch der Schlusssatz.

Eingeteilt werden die Schlüsse gewöhnlich nach der Relation des Obersatzes in kategorische, hypothetische und disjunktive; andere unterscheiden sie nach der Form in vollständige und abgekürzte oder nach dem Inhalt in einfache und zusammengesetzte.

Die hypothetische Schlussform richtet sich nach dem Grundsatz: mit dem Bedingenden (Grund) ist das Bedingte (Folge) gesetzt, und mit dem Bedingten (Folge) ist das Bedingende (Grund) aufgehoben. Ihre Hauptform, der gemischte hypothetische Schluss, dessen Obersatz ein hypothetisches und dessen Untersatz ein kategorisches Urteil ist, zerfällt in 2 Modi. Der modus ponens schließt aus der Setzung der Bedingung des Obersatzes im Untersatz auf die Setzung des Bedingten des Obersatzes im Schlusssatz. (Wenn A ist, so ist B; nun ist A - also ist B.) Der modus tollens schließt aus der Aufhebung des Bedingten des Obersatzes im Untersatz auf die Aufhebung der Bedingung des Obersatzes im Schlusssatz (wenn A ist, so ist B; nun ist B nicht, also ist A nicht). –

Bei der disjunktiven Schlussform, bei der der Obersatz ein disjunktives Urteil ist, gilt die Regel, dass von je zwei einander vollkommen ausschließenden Gegensätzen jeder durch die Setzung des anderen ausgeschlossen und durch die Aufhebung des anderen gesetzt ist.

Auch hier gibt es 2 Modi:

Der modus ponendo tollens schließt aus der Setzung des einen Gegensatzes im Unter- auf die Aufhebung des anderen im Schlusssatz (A ist entweder B oder C; nun ist es B - also ist es nicht C).

Der modus tollende ponens schließt von der Aufhebung des einen im Unter- auf die Setzung des anderen im Schlusssatz (A ist entweder B oder C; nun ist es nicht B - also ist es C). –

Die Induktion ist der Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine. Ihre Grundform ist: A, B, C, D sind P; A, B, C, D sind S; also sind alle S: P.

Schmerz S. 534ff.
heißt die
qualitativ bestimmte mit Unlust verbundene Empfindung in welche jede Empfindung übergeht, sobald sie eine bestimmte Stärke erreicht.

Jeder
Schmerz ist zunächst körperlich und kann aus der Gemeinempfindung oder aus der einzelnen Sinnesempfindung hervorgehen. Es gibt schmerzhafte Tasteindrücke, Geräusche, Gesichtsreize, Schmerzen der inneren Organe usw. Die einzelnen Arten derselben werden als stechende, ziehende, bohrende, brennende, reißende usw. bezeichnet.

Die Entstehung der körperlichen Schmerzen ist physiologisch und psychologisch ebenso dunkel wie die der körperlichen Lustgefühle. Unzweifelhaft sind die Empfindungsnerven dabei beteiligt. Da aber alle Schmerzen, von welchem Teil sie auch ausgehen, einen gewissen gemeinsamen Charakter haben, so scheint der Schmerz mehr in Erregungsvorgängen der Nerven selbst, als in den Endapparaten derselben seine Quelle zu haben. Manche Nerven scheinen des Schmerzes weniger fähig zu sein, z.B. der Geruchs- und Geschmacksnerv; bei den eigentlich sensitiven Nerven dagegen, die mit dem Lebensprozess enger verknüpft sind, löst jede starke Reizung sogleich Schmerz aus. Bei anderen wird aus großer, aber noch nicht gefährlicher Unannehmlichkeit bereits Schmerz, z.B. beim Druck-, Wärme- und Muskelsinn.

Bei den edlen Sinnen, Gehör und Gesicht, bedeutet
Schmerz schon Gefährdung ihres Seins. –

Der
Schmerz kann von dem zentralen Sitz der Erregung in viele Mitempfindungen ausstrahlen, so dass man sich über den Sitz der Schmerzen vollständig täuschen kann; körperliche Schmerzen fühlen wir nicht, wenn das betreffende Glied vom Gehirn getrennt oder dieses selbst chloroformiert ist. Wenn der Schmerz fehlt, wo er natürlicherweise zu erwarten wäre, liegt das Symptom bedenklicher zentraler Störungen vor. –

Im übertragenen Sinne kann man auch von
seelischen oder geistigen Schmerzen sprechen.

Die Fähigkeit zum
seelischen Schmerzempfinden ist bei den verschiedenen Menschen verschieden. Die höchsten Schmerzen empfindet derjenige Mensch, der das tiefste Gefühl, die klarste Einsicht und den besten Willen hat.

Schopenhauer (1788-1860) meint, wenn nicht das Leiden der nächste und unmittelbarste Zweck des Lebens wäre, so wäre unser Dasein das Zweckwidrigste von der Welt. Denn es sei absurd anzunehmen, dass der endlose, aus der dem Leben wesentlichen Not entspringende
Schmerz zwecklos und rein zufällig sein soll. Das ist nur richtig, wenn Schopenhauers metaphysische Lehre vom Willen und sein Pessimismus richtig ist.

Aber dass der
Schmerz eine hohe ethische Bedeutung hat, weiß jeder aus eigener Erfahrung. Geduld, Sanftmut, Mitgefühl, Streben nach Höherem und Enthaltsamkeit werden dadurch befördert. Diese teleologische Deutung, welche Burdach dahin präzisiert: »Der Schmerz ist der Wächter des Lebens«, knüpft an die seelischen Schmerzen an, ihr steht die vom Körperschmerz ausgehende physiologisch-mechanische Deutung gegenüber, welche ihn nur als zu große Schwingungsweite der Vibrationen der Nervenfaser betrachtet. Vgl. Hagen, Psychol. Untersuchung. S. 59 f. 1847. Domrich, die psych. Zustände. 1849. S. 173 f.

Wundt, Grundz. d. physiol. Psych I, S. 409 ff., Grundr. d. Psychol. S. 56 unterscheidet zwischen Schmerz als Empfindung und Unlust als Gefühlston der Empfindung.

Scholastik (lat. scholasticus = zur Schule gehörig, Schüler und Lehrer) S. 536
nennt man die Philosophie des Mittelalters, besonders von
Scotus Erigena bis zur Reformation (9. - 16. Jahrhundert).

Die
Scholastik steht im Dienste der Kirche (ancilla theologiae), deren Dogmen sie zu verteidigen und logisch zu begründen sucht. Sie bedient sich dabei der Reste der antiken Philosophie. Jede ihrer Untersuchungen verwandelt sich in eine Kontroverse, welche die notwendige Folge des Widerstreits zwischen Vernunft und Offenbarung ist.

In der
1. Periode vom 9. bis 13. Jahrhundert verband man die aristotelische Logik mit neuplatonischen Lehren,

in der
2. Periode vom 13. - 16. Jahrhundert herrschte Aristoteles ganz vor.

In jener ragten Scotus Erigena
(† um 889), Anselm v. Canterbury (1033-1109), Abälard (1079-1142) und Petrus Lombardus († 1164) hervor;

in dieser Albertus Magnus (
1193-1280), Thomas von Aquino (1225-1274) und Duns Scotus (1274-1308).

Mit großem Scharfsinn und nicht ohne Tiefe behandelten sie die dogmatischen und die philosophischen Fragen, soweit sie untereinander zusammenhingen; besonders interessierte sie das Wesen der Universalien, welche sie entweder realistisch oder nominalistisch auffassten. (Siehe Nominalismus und Realismus.) Freilich riefen ihre Armut an Kenntnissen, ihre Unterschätzung der Natur, ihre dialektische Spitzfindigkeit, ihre rationalistische Methode und die Gebundenheit ihrer Denkungsart die Opposition von Mystikern, Humanisten und Naturforschern hervor.

Kant
(1724-1804) nennt daher Scholastiker Leute, deren Kunst darin besteht, sich an Scharfsinn zu übertreffen. –

Noch heute übrigens gilt
Thomas v. Aquino den Katholiken als der größte Philosoph. (Siehe Katholizismus und Philosophie.) Vgl. A. Stöckl, Gesch. d. Philos. des Mittelalters. 1864. H. Reuter, Gesch. der relig. Aufklärung im Mittelalter. 1875. Hauréau, de la philosophie scolastique. 2 Bde. Paria 1872 u. 80. v. Eicken, Geschichte und System der mittelalterlichen Weltanschauung. 1887. Ellinger, Philipp Melanchthon. Berlin 1902. Vgl. Patristik.

schön S. 536ff.
heißt im weiteren Sinne dasjenige, was unser geistiges Wohlgefallen erregt, ohne unsere Begierden zu reizen; es gefällt durch die Einheit in der Mannigfaltigkeit, die Harmonie seiner Teile, durch seine scheinbare Zweckmäßigkeit, ohne das es selbst für anderes direkt als Mittel diente. In ihm erscheint den höheren Sinnen erfassbar das eigentümliche innerste Wesen, der Dinge, befreit von den störenden Zufälligkeiten.

Beim Schönen ist also die sinnliche Form durchaus von der geistigen Idee bestimmt. Schön im engeren Sinne heißt die völlige Durchdringung des Geistigen und Sinnlichen; im Komischen dagegen wird das Geistige, vom Sinnlichen überragt, im Erhabenen das Sinnliche vom Geistigen; das Hässliche ist die rohe, geistverlassene Sinnlichkeit. Alles Schöne erhebt den Menschen über sein persönliches Interesse zur Objektivität der Idee; denn diese tritt ihm im Schönen der Natur und der Kunst derartig entgegen, dass er zum selbst und willenlosen Betrachter wird.

Der Sinn für das Schöne heißt Geschmack. Der Geschmack findet das Schöne zunächst in der Natur vor.

Das Schöne der Natur (s. Naturschönheit), ist die erste und vorbildliche Stufe der Schönheit; die Kunst, die Fähigkeit, das Schöne zu schaffen, sucht diese in bewusster Tätigkeit zu überbieten. Mit der Wissenschaft hat die Kunst gemein die Darstellung des Wesens der Dinge, der Wahrheit, nur dass die Wissenschaft diese begrifflich, die Kunst sie anschaulich darstellt. Auch idealisiert die Kunst das Natürliche, d.h. sie fasst das in der Wirklichkeit Zerstreute zusammen und legt andrerseits das Verworrene übersichtlich auseinander, erhöht, und veredelt sein Wesen.

Die Wissenschaft vom Wesen des Schönen heißt Ästhetik (s. d.). - Da aber; die Idee des Schönen bei den verschiedenen Völkern und in den verschiedenen Zeiten gewechselt hat, so wechselt auch die Erscheinung des Schönen in den verschiedenen Zeiten. Deshalb hat die Ästhetik (s. d.) auch die Kunstgeschichte zu berücksichtigen und ihre eigene Methode empirisch zu gestalten, was sie nicht immer getan hat.

Platon (427-347), der nur Ansätze zu einer Ästhetik geschaffen hat, trennt das Schöne nicht vom Gutenund verlegt es in die Idee;

Aristoteles (384-322) setzt die Schönheit in die Ordnung, Symmetrie, Begrenztheit, Einheit und Ganzheit, also in die Form des schönen Gegenstandes.

Nach Plotinos (205-270) besteht sie nicht in der bloßen Form, sondern in der Herrschaft des Höheren über das Niedere, der Ideen über den Stoff, der Seele über den Leib, der Vernunft und des Guten über die Seele.

Shaftesbury (1671-1713) identifizierte, an Platon anknüpfend, das Gute und Schöne und sah in Gott das Urschöne.

Leibniz (1646-1716) sieht in der Harmonie der Gegensätze, in der Einheit innerhalb der Vielheit die Schönheit;

Baumgarten (1714-1762), der Begründer der Ästhetik - (s. d.) in Deutschland, verlegt die »sinnlich erkannte Vollkommenheit« oder die Schönheit in die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in der Erscheinung, und verlangt für alle Schönheit das Vorbild der Natur.

Wolf (1679 bis 1754) charakterisiert die Schönheit als diejenige Vollkommenheit, die in uns Wohlgefallen hervorruft,

Sulzer (1720-1779) definiert sie als Vollkommenheit der äußeren Form oder Gestalt.

Lessing (1729-1781) forscht nach dem Wesen einzelner Kunstformen, der Fabel, des Epigramms, des Epos, des Dramas und schied zwischen bildender Kunst und Poesie.

Kant (1724-1804) nennt schön den Gegenstand eines allgemeinen notwendigen interesselosen Wohlgefallens, welches durch das subjektiv Zweckmäßige hervorgerufen ist.

Schiller (1759-1805) definiert das Schöne als Freiheit in der Erscheinung und findet es da, wo Vernunft und Sinnlichkeit übereinstimmen.
Nach Schelling (1775-1854) ist das Kunstwerk die Darstellung des Ewigen oder Unendlichen im Endlichen, die Harmonie des Bewussten und Bewusstlosen, des Freien und Notwendigen, von Natur und Geist, Realem und Idealem.

Hegel (1770-1831) definiert es als das Absolute in sinnlicher Existenz, die Wirklichkeit der Idee in der Form begrenzter Erscheinung.

Auf dem Verhältnis der Idee zum Stoffe - dem Überwiegen der Erscheinung - dem Gleichgewicht von Idee und Erscheinung – dem Überwiegen der Idee - beruht der Unterschied der symbolischen, klassischen und romantischen Kunst.

Nach Schopenhauer (1788-1860) ist schön der deutliche Ausdruck bedeutsamer Ideen.

Herbart (1776-1841) endlich nennt schön, im Unterschied vom Begehrten und Angenehmen, das, was an den Objekten unwillkürlich gefällt; die Materie ist gleichgültig, nur auf die Form, das Verhältnisse der einfachen Elemente kommt es an. Er kehrt damit, wie fast in seiner ganzen Philosophie, zu Leibniz zurück, dessen ästhetischen Formalismus er teilt.

In der Neuzeit strebt man nach einer Ästhetik auf empirischer Grundlage, die von theoretischen Vorurteilen befreit ist, ohne dass eine solche und ein darauf gegründeter Begriff des Schönen bereits erreicht sei. Vgl. C. Lemcke, populäre Ästhetik.

schöne Seele S. 538f.
nennt Schiller den Menschen, in welchem
Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren. Die schöne Seele hat kein anderes Verdienst, als dass sie ist.

Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung
; nicht ihre einzelnen Handlungen, sondern ihr Charakter ist sittlich.

Die
schöne Seele tut das Gute wie aus Instinkt und übt selbst die peinlichsten Pflichten und die heldenmütigsten Opfer mit der größten. Leichtigkeit.
Vergleiche Goethes »Wilhelm Meister« (Bekenntnisse, einer schönen Seele VI B.). Schiller, Über Anmut und Würde 1793.

Schöpfung S. 539f. Siehe auch bei Eisler
heißt im allgemeinen jede Hervorbringung durch irgend eine Person (z.B. die eines Kunstwerks), im besonderen diejenige der Welt durch Gott.

Eine der ersten Fragen, welche der Mensch sich vorlegt, ist die: »Woher ist dies alles?«

Das
Gesetz der Kausalität, nötigt ihn, für alle Dinge eine Ursache zu suchen. Die letzte Ursache findet der gläubige Mensch in Gott.

Weder die griechische Kosmogonie, welche die
Welt aus dem Chaos, noch die gnostische, welche sie durch den Demiurgen entstehen, noch die atomistische, welche sie überhaupt nicht entstanden sein lässt, befriedigt den Glauben.

Derselbe Gedankengang, der zur
Annahme Gottes (s. d.) führt, führt auch zur Anerkennung der göttlichen Schöpfung.

Die Idee der
Schöpfung »aus Nichts« bezeichnet nicht das Nichts als das Material der Welt, sondern will nur ein Chaos als gleichberechtigten Faktor neben Gott und die absolute Grundlosigkeit der Welt verwerfen. Die religiöse Bedeutung dieser Lehre beruht in der ethischen Grundlage, die sie dem Gemüte gibt; denn, wenn sie gilt, weiß es alles nach Anfang und Fortgang von Gott bedingt. Für das Menschenherz ist es nicht gleichgültig, ob es aus dem Urschlamm oder aus dem Ozean der Substanz oder aus Gottes Hand hervorgegangen ist.

Die
ethische Weltbetrachtung des Glaubens kann Gottes als des Weltschöpfers nicht entraten, mag sie ihn auch Natur, Urgrund, Unbewusstes oder sonst wie nennen.

Ähnlich der biblischen Lehre von der Schöpfung lehrt Platon
(427-347), die Welt sei nicht ewig, sondern geworden, weil sinnlich wahrnehmbar und körperlich. Gottes Güte hat sie zugleich mit der Zeit gebildet. Sie ist das Beste von allem Entstandenen; denn sie ward vom besten Werkmeister als Nachbild des höchsten Urbildes geschaffen.

Die neben Gott existierende, an sich unbestimmte Materie (insofern ein Nichts, mê on) ist nur Nebenursache der Welt.


Nach Aristoteles
(384-322) setzt die Welt einen ersten Beweger voraus, den nous (Verstand); als gegliedertes Ganzes aber hat sie ewig bestanden und wird ewig sein. Sie hat ihr Prinzip in Gott, welcher nicht etwa bloß so da ist, wie die Ordnung im Heere als immanente Form, sondern als an und für sich seiende Substanz, gleich dem Feldherrn im Heere.

Der
organische Pantheismus der Stoiker, betrachtet die gestaltende Weltkraft als Gottheit, deren Existenz durch die Schönheit und Zweckmäßigkeit des Alls bewiesen wird. Sie durchdringt die Welt als allverbreiteter Hauch, als künstlerisch nach Zwecken bildendes Feuer, als Vernunft und Weltseele. Nach einer gewissen Zeit nimmt diese alles wieder in sich zurück durch einen Weltbrand. So vergehen und entstehen fortwährend neue Welten nach vernünftiger Notwendigkeit.

Einen mechanischen Materialismus lehren die Atomisten (Demokritos und
Leukippos) und Epikuros. Ihr Prinzip heißt: Aus Nichts wird Nichts, und: Nichts vergeht in Nichtseiendes. Seit Ewigkeit sind die Atome und der leere Raum. Aus jenen, die sich nur durch Größe, Gestalt und Ordnung unterscheiden, entstehen alle Dinge, indem sie (nach Epikuros) sich infolge zufälliger Abweichung von ihrer Fall-Linie zusammenballen. Die Welt wird weder durch Gott noch durch Zweckmaeßigkeit geleitet.

Plotinos (205 bis 270) endlich leitet die
Welt aus dem Einen durch Emanation oder Ausstrahlung ab, welche, sich immer mehr von der Sonne entfernend, schwächer wird und Schlechteres hervorbringt. –

In diesen Systemen treten nacheinander die verschiedenen Möglichkeiten, die Weltentstehung zu erklären, hervor:

die Theorie der Schöpfung durch einen persönlichen oder durch einen unpersönlichen Gott;

der organische Pantheismus,

der atheistische Mechanismus und

das Emanationssystem.

In der neueren Philosophie werden diese Gedanken schrittweise vertreten durch Leibniz, Hegel, Spinoza, Holbach, Schelling.
Vgl. Fr. Schultze, Philosophie der Naturwissenschaft 1881. L. Weis, Antimaterialismus 1871.



Seele (gr. psychê = Hauch, Lebenskraft, Seele; lat. anima; hebr. Nephesch) S. 543ff. Siehe auch bei Eisler
bezeichnet bei Homer das Leben der einzelnen Person und auch das Lebensprinzip des Menschen. Homer denkt sich die Psyche als eine Substanz, die im Körper wohnt, ihn beim Tode verlässt und nach dem Tode als Schattenbild im Hades fortbesteht. Dort hat sie kein Bewusstsein (phrenes und thymos) mehr; doch kann sie dies durch Bluttrinken zurückerlangen. Nachdem der Begriff der Psyche als des Lebensprinzips im einzelnen Menschen durch die homerische Dichtung gegeben war, hat sich die Fortentwicklung und Erweiterung des Begriffs innerhalb der griechischen Gedankenwelt und dann weiter in der Philosophie des Mittelalters und der Neuzeit vollzogen, und da die Frage nach dem Wesen der Seele eine metaphysische ist, so spiegelt sich auch in den Wandlungen dieses Begriffs die Geschichte und das Schicksal der Metaphysik ab.

Das Problem vom Wesen der Seele ist bis heute noch nicht endgültig gelöst, aber auch nicht fallen gelassen.

Der Skeptiker und Positivist hat das Problem gemieden, der Kritizist hat die Schwierigkeiten, die die Lösung des Problems bereitet, gekennzeichnet und die Grenzen unseres Wissens vom Wesen der Seele beleuchtet, der Metaphysiker hat die Lösung in Angriff genommen und sich mit dem Glauben und den einzelnen Religionen auseinandergesetzt.

Der Empirist hat die Einzeltatsachen des Seelenlebens durch Beobachtung und Experiment zu erfassen, Gesetze des Seelenlebens zu gewinnen und in letzten Hypothesen die Lehre abzuschließen versucht.

Der Rationalist ist von Dogmen über das Wesen der Seele ausgegangen und hat sich bemüht, durch Schlüsse und Folgerungen mit den Dogmen die Einzeltatsachen in Einklang zu setzen.

Der Dualist hat die Seele scharf vom Körper als unkörperliches Wesen abzuscheiden versucht, der Monist hat Körper und Geist in Einklang bringen zu können gemeint. Unter den Monisten hat sich der Realist die Seele als materielle, oder auch als eine der Materie ähnliche feinere Substanz oder als Funktion einer solchen Substanz gedacht, der Idealist (Spiritualist) sah in ihr ein die eigentliche Wirklichkeit darstellendes, geistiges Wesen, der Identitätsphilosoph, Pantheist oder Idealrealist betrachtete sie als eine Seite des über der Scheidung von Körper und Geist stehenden Göttlichen und Absoluten.

Der eine Teil der Metaphysiker dachte sie sich als substanziell, der andere als aktuell, der eine als eine bleibende Einheit, der andere als eine fortschreitende Entwicklung.

Mehrfach ist auch der Begriff der Einzelseele zum Begriff einer Weltseele erweitert worden. So ist von einer einheitlichen Erfassung des Begriffs der Seele nicht zu reden, und eine allgemein anerkannte Definition von der Seele zur Zeit noch nicht vorhanden; aber resultatlos ist die philosophische Forschung trotzdem nicht geblieben.

Ausgegangen ist man bei den Versuchen, das Wesen der Seele zu erfassen, von der Bewegungsfähigkeit und von der Bewusstseinstätigkeit der beseelten Wesen, im besonderen der Empfindung, der sinnlichen Wahrnehmung, dem Denken und dem Wollen, oder auch, indem der Begriff weiter gefasst und vom Menschen und Tiere auch auf die Pflanzen übertragen wurde, von der Ernährungs- und Erhaltungsfähigkeit organischer Wesen.

Die Seele wurde, weil beseelte Wesen Bewegungsfähigkeit zeigen, als das Bewegende, oder auch weil, man annahm, dass das Bewegende nur ein Bewegtes sein könne, zugleich als Bewegtes und Bewegendes, und zwar entweder als ein sich selbst oder als ein den Körper oder als ein beide zugleich Bewegendes angesehen.

So scheint schon Thales (um 600 v. Chr.) in der Seele ein Bewegendes gesehen zu haben (eoike de kai Thalês, ex hôn apomnêmoneuousi, kinêtikon ti tên psychên hypolabein Arist, de anima 1 p. 406 a 19).

Nicht anders lehrte Anaxagoras (500-428) ('Anaxagoras psychên einai legei tên kinousan Arist,de an. 1, 2 p. 405 a 25).

Herakleitos (um 500 v. Chr.) sah in ihr ein immer Bewegtes. (Arist, de an. I, 2 p. 404a.)

Die Pythagoreer dagegen dachten sie sich als eine sich selbst bewegende Zahl (Pythagoras [apephênato tên psychên] arithmon hauton kinounta Stob. Ecl. I, 41, 794; auch Aristoteles sagt, ohne die Pythagoreer zu nennen: epei de kai kinêtikon edokei hê psychê einai kai gnôristikon, outôs enioi syneplexan ex amphoin, apophênamenoi tên psychên arithmon kinounth' heauton Arist, de an. I, 2 p. 404b 27).

Leukippos
(5. Jahr. v. Chr.) und Demokritos (um 460-360) dachten sich die Seele als ein Bewegtes und anderes Bewegendes (kinein ta loipa kinoumenon kai auta, hypolambanontes tên psychên einai to parechon tois zôois tên kinêsin Aristot. de an. I, 2, p.404a. 7).

Platon
(427-347) endlich sieht in der Seele ein immer Bewegtes und sich selbst und anderes Bewegendes (psychê pasa athanatos. to gar aeikinêton athanaton. to de allo kinoun kai hyp' allou kinoumenon paulan echon kinêseôs, paulan echei zôês. monon dê to hauto kinoun, hate ouk apoleipôn heauto, oupote lêgei kinoumenon alla kai tois allois, hosa kineitai, touto pêgê kai archê kinêseôs. archê de agenêton. Phaedr. 24, p. 245 c. hô dê psychê tounoma, tis toutou logos; echomen allon plên ton nyn dê rhêthenta tên dynamenên autên hautên kinein kinêsin; Platon, de leg. 10,7, p. 896 A.)

Die Vorstellung, dass die Seele Bewegungsprinzip sei, schloss nicht die Ansicht aus, dass sie stofflich und körperhaft sei.

Die älteren griechischen Philosophen haben vielmehr an eine stoffliche Existenzform der Seele geglaubt, und sie nacheinander bei den von der Philosophie angenommenen Elementen außer bei der Erde gesucht, (panta gar ta stoicheia kritên elabe plên tês gês Arist, de an. I, 2, p. 405 b 8.)

So sah Hippon (5. Jahrhundert) die Seele für Wasser an (kai hydôr tines [tên psychên] apephênanto, kathaper Hippôn. Arist, de an. I, 2, p. 405 b 2).

Kritias (403 v.Chr.) identifizierte die Seele mit dem Blute (heteroi d'haima [tên psychên apephênanto], kathaper Kritias Arist, de an. I, 2, p. 405 b 5).

Anaximenes (um 530 v.Chr.) und Diogenes von Apollonia (5. Jahrhundert) hielten die Seele für Luft (hoion hê psychê, phêsin [sc. Anaximenes], hê hêmetera aêr ousa synkratei hêmas, kai holon ton kosmon pneuma kai aêr periechei Stob. Ecl. I, 12, 296. - Diogenês d' hôsper kai heteroi tines aera [eoike tên psychên hypolabein], touton oiêtheis pantôn leptomerestaton einai kai archên)

Herakleitos
(um 500 v. Chr.), der als den Stoff, an dem sich der Werdeprozess abspielt, das Feuer ansah, hat sich die Seele als Feuer gedacht (Zeller, Phil. d. Gr. I, S. 479), auch Leukippos und Demokritos dachten sich die Seele als Feuer (Dêmokritos men pyr ti kai thermon phêsin autên [sc. tên psychên] einai. - homoiôs de kai Leukippos Arist. de an. I, 2, p. 403 b 31-404 a 5).

Empedokles (um 490-430) ließ die Seele aus allen Elementen zusammengesetzt und jedes von ihnen im Menschen eine besondere Seele sein, die das Gleichartige außer sich erkennt. ('Empedoklês men ek tôn stoicheiôn pantôn, einai de hekaston psychên toutôn, legôn houtô: gaiê men gar gaian opôpamen, hydati d' hydôr, aitheri d'aithera dian, atar pyri pyr aidêlon. Arist, de an. I, 2, p. 404 b 11.)

Die Atomisten (Leukippos, Demokritos), die die Seele für Feuer ansahen, ließen sie zugleich mit dem Feuer aus runden Atomen bestehen apeirôn gar ontôn schêmatôn kai atomôn ta sphairoeidê pyr kai psychên legei [Dêmokritos. homoiôs de kai Leukippos] Arist. de an. I, 2, p. 404 a 1), identifizierten sie auch mit den Sonnenstäubchen, wie schon die Pythagoreer vorher getan hatten (Arist, de an. I, 3, p. 404 a 5-25).

Die Lehre der Atomisten über die Seele hat später Epikuros (341-270) etwas modifiziert wieder aufgenommen.

Gegenüber dieser materialistischen Auffassung taucht bei den Griechen die Lehre von der Unstofflichkeit der Seele auf. Diese Lehre tritt jedoch, klar geformt, erst in der nachsokratischen Philosophie hervor.

Pythagoras (680 bis um 500) hatte wohl schon die Seele als die Harmonie des Leibes angesehen (Arist, de an. I, 4, p. 407-430),

Herakleitos sie für das Unkörperlichste erklärt (kai asômatôtaton dê kai rheon aei Arist, de an. I, 2 p. 405 a 24),

Anaxagoras (500-428) sie, wenn auch nicht mit der alles ordnenden göttlichen Vernunft identifiziert, so doch als dem nous für wesensgleich angesehen (Anaxagoras d' eoike men heteron legein psychên te kai noun - chrêtai d'amphoin hôs mia physei, plên archên ge ton noun tithetai malista pantôn; monon goun phêsin auton tôn ontôn haploun einai kai amigê te kai katharon. apodidôsi d'amphô tê autê archê, to te gignôskein kai to kinein, legôn noun kinêsai to pan Arist de an. I, 2 p. 405 a 13), aber erst bei

Platon
gewinnt die idealistische Auffassung der Seele eine umfassendere, wenn auch noch nicht widerspruchslose Formulierung. Platon, für den die eigentliche Wirklichkeit in den Ideen liegt, der aber der sinnlich wahrnehmbaren Welt doch noch eine gewisse Existenz lässt, indem er sie zwar für ein Nichtseiendes, zugleich aber auch für das Einzelne, Veränderliche und Schlechte ansieht, erweitert den Begriff der Einzelseele zu dem Begriff der Weltseele. Die Weltseele ist von Gott durch Mischung aus der unteilbaren und sich selbst gleich bleibenden Substanz der Ideenwelt und aus der teilbaren und veränderlichen Substanz der körperhaften Welt gebildet und in die Welt gepflanzt, um die Vernunft in das Weltganze zu bringen und dieses dadurch vollkommener zu machen. Sie ist die Kraft, die sich selbst und alles andere bewegt, ist durch das Weltganze verbreitet und wirkt in der Sphäre der Fixsterne und in der Sphäre der Planeten. Sie ist aber auch die Ursache aller Erkenntnis. Die Einzelseele des Menschen ist von der Weltseele abgeleitet, aber abgesehen davon, dass sie in Verbindung mit dem Körper steht, der Weltseele wesensgleich; auch sie ist das Prinzip der Bewegung und des Erkennens.

Platon schreibt ihr drei Teile, das Begehrende (to epithymêtikon), das seinen Sitz im Unterleibe, das Mutartige (to thymoeides), das seinen Sitz in der Brust, und das Denkende (to logistikon), das seinen Sitz in dem Kopfe hat, zu und vertritt die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, indem er für sie sowohl eine Präexistenz, aus der gefolgert wird, dass das Wissen Erinnerung (anamnêsis) ist, als auch eine Postexistenz mit Wanderung durch verschiedene Leiber und Versetzung in den Fixsternhimmel annimmt (Platon: Timaeus, Phaedrus, Phaedon, Republik, Zeller, Philos. d. Gr. II, S. 490 bis 506,524-553). –

Aristoteles (384-322), der zwischen dem Stoff (hylê), der die Möglichkeit oder Anlage (dynamis) ist, dem Wesen oder der Form (eidos, ousia, hê kata ton logon ousia,to ti ên einai) scheidet, die die Erfüllung, Vollendung, Betätigung (entelecheia, entelecheia hê prôtê, energeia) ist und bewegendes Prinzip und Zweck in sich einschließt, sieht in der Seele die Form des organischen Körpers. Die Seele ist ihm die erste Entelechie (erste Entelechie = betätigungsfähige Kraft, nicht Betätigung) eines natürlichen Körpers, der die Anlage zum Leben besitzt, oder was dasselbe ist, eines organischen Einzelwesens (psychê estin entelecheia hê prôtê sômatos physikou dynamei zôên echontos. toiouto de ho an ê organikon Arist, de an. II, I, p. 412a 27 ei dê ti koinon epi pasês psychês dei legein, eiê an entelecheia hê prôtê sômatos physikou organikou Arist, de an. II, 1, p. 412 b 4).

Die Seele ist also stets mit einem lebensfähigen organischen Körper (Pflanze, Tier, Mensch) verbunden, sie ist Erfüllung, betätigungsfähige Kraft, aber nicht immer Betätigung selbst. Sie ist das Bewegungsprinzip, der Zweck und die Form des organischen Einzelwesens.

Bei den Pflanzen, die eine Seele besitzen, ist die Seele das Ernährungsvermögen (to threptikon), die Tiere besitzen außer diesem noch das Vermögen der Wahrnehmung (to aisthêtikon), welches Reproduktionsfähigkeit (phantasia), Gedächtnis (mnêmê) und Erinnerung (anamnêsis) in sich einschließt, das Lust und Unlust in sich einschließende Vermögen des Begehrens (to orektikon) und das der Ortsbewegung (to kinêtikon kata topon) und hierfür ein Zentralorgan, das Herz.

Die menschliche Seele besitzt alle Vermögen der Pflanze und des Tieres; hierzu kommt die Vernunft (nous), die präexistent und göttlichen Ursprungs und insofern unsterblich ist, als sie ihre Kraft auf eine gegebene dynamis als formgebendes Prinzip (nous poiêtikos) ausübt. Die menschliche Seele vereinigt also die Kräfte der anderen Wesen in sich (hê psychê ta onta pôs esti panta) und ist eine kleine Welt (mikros kosmos) (Arist. Phys. VIII, 2 p. 252b 26). Aber sie hat auch ihren besonderen Vorzug vor den übrigen Wesen und schließt etwas Göttliches und Unvergängliches in sich ein. –

Die Stoiker nahmen wie Platon eine Weltseele an und dachten sich diese, in der sie die Gottheit sahen, als einen alles durchdringenden Hauch (to pneuma, diêkon di' holou tou kosmou), als künstlich bildendes Feuer (to pyr technikon) und als Weltvernunft (ho en autê logos).

In der Einzelseele des Menschen erblickten sie eine Abscheidung der Gottheit (apospasma tou theou) und schrieben ihr eine Fortdauer nach dem Tode, aber keine Unsterblichkeit zu. Die Seele schließt nach stoischer Auffassung die fünf Sinne, das Sprachvermögen, die Zeugungskraft und eine herrschende Kraft (hêgemonikon), die im Herzen wohnt und die das Vermögen der Vorstellung, Begehrung und der Vernunft besitzt, in sich ein.

Die christliche Philosophie des Mittelalters neigt zu Anfang einer materialistischen Auffassung vom Wesen der Seele zu, sieht die Seele aber trotzdem für unsterblich an; in ihrem weiteren Verlauf stellt sie sich auf idealistischen (spiritualistischen) Standpunkte, und erneuert im wesentlichen die Lehre des Aristoteles.

Tertullianus († 20 v. Chr.) und Arnobius († 327) erklärten die Seele für geschaffen, körperlich und unsterblich.

Schon Augustinus (353-430) aber sah in ihr eine geistige, unkörperliche, einfache, unzerstörbare, vernunftbegabte und den Körper regierende Substanz, und seine Auffassung kehrt im Wesentlichen bei Claudianus, Marestus, Cassiodorus, Hugo von St. Victor, Bernhard von Clairvaux u.a. wieder.

Mehr oder weniger eng schlössen sich in der Bestimmung des Wesens der Seele an Aristoteles an: Averroes (1162-1198), Albertus Magnus (1193-1280), Thomas von Aquino (1225-1274), Duns Scotus (1265 [od. 74] bis 1308) u.a., die zum Teil die Definition des Aristoteles wörtlich übernahmen. Gefordert ist die Erkenntnis der Seele durch die Scholastik im Wesentlichen nicht.

Erst in der neueren Philosophie haben sich die Gegensätze in der Auffassung des Wesens der Seele scharf zugespitzt.

Den Dualismus vertritt nur Descartes (1596 bis 1650). Er nimmt die Existenz von zwei Substanzen, Körper oder Ausdehnung und Geist oder Denken, an und scheidet dementsprechend Leib und Seele. Der menschliche Leib ist nur eine Maschine. Die Wärme des Herzens bewirkt den Blutumlauf; aus dem Blute scheiden sich als feinste und beweglichste Teile die Lebensgeister aus, die zur Zirbeldrüse und von dort in die Nerven gelangen und mit Hilfe der mit den Nerven verbundenen Muskeln die Körperbewegungen verursachen. Die Seele ist dagegen geistige Substanz, die von Gott geschaffen und mit dem Körper nur durch eine Einheit der Zusammensetzung (unio compositionis), nicht durch irgend welche Wesensgleichheit verbunden ist. Ihr Sitz ist die Zirbeldrüse, ihr einziger Einfluss auf den Körper besteht darin, eine Änderung in der Bewegung der Lebensgeister in der Zirbeldrüse hervorzurufen: Ihr ganzes Wesen ist Denken oder Bewusstseinstätigkeit. Nur die Menschen haben eine Seele, die Tiere sind nur seelenlose Maschinen. Dem Dualismus Descartes' ist es nicht gelungen, die Tatsache der Wechselwirkung zwischen Seele und Leib widerspruchslos und befriedigend zu lösen. Vergleiche Okkasionalismus, Freiheit.

Den Materialismus, der das Körperliche für das Wirkliche, die Seele für körperlich oder wenigstens alles Psychische für eine Eigenschaft der körperlichen oder alle psychischen Vorgänge für körperliche Bewegungsprozesse oder deren Resultate ansieht, haben in der Neuzeit viele Philosophen und meist solche, die zugleich Naturforscher, Physiker, Ärzte waren, vertreten.

Für Hobbes (1588-1679) war die Philosophie Körper- und Bewegungslehre. Alle Substanz erschien ihm daher als körperlich, alles Seiende als Körper, alles Geschehen als Körperbewegung. Auch die Seele erklärt er für körperlich; alle Erkenntnis erwächst aus den Empfindungen, und alle Empfindungen aus Bewegungen, aber auch alle Materie trägt die Anlage zu Empfindungen in sich.

Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Diderot (1713-1784), nach dem die Empfindung eine wesentliche Eigenschaft der Materie ist.

Noch strenger materialistisch hat Lamettrie (1709-1751) der Ansicht gehuldigt, dass der Mensch nur Körper, nur Maschine, dass alle psychischen Funktionen nur Resultate der körperlichen Organisation seien, dass alles Empfindende materiell sei. Die Seele hängt ganz und gar von den leiblichen Organen ab, entsteht, wächst, nimmt ab und stirbt mit ihnen.

Ebenso erklärt Holbach (1723-1789) den Menschen für ein rein physisches Wesen. Die Seele ist ihm nur das Gehirn, alle Seelentätigkeiten sind ihm Gehirntätigkeiten und als solche nur Spezialfälle des Wirkens der allgemeinen Naturkräfte. Denken und Wollen ist Empfinden, und Empfinden Bewegung.

Auch Priestley (1733-1804) sieht in dem Denken nur Nerven- und Gehirntätigkeit, in den psychischen Vorgängen mechanische Vorgänge und erklärt die Entstehung aller komplizierteren Vorgänge aus den einfacheren durch Assoziation.

Nach Cabanis (1757-1808) sind ebenfalls alle Gedanken Absonderungen des Gehirns, das Bewusstsein ist die Eigenschaft der organischen Materie.

Auch die deutschen Materialisten des 19. Jahrhunderts Vogt (1817-1895), Moleschott (1822-1893), Büchner (1824-1899) halten die Seelentätigkeiten lediglich für Funktionen des Gehirns, während du Bois-Reymond (1818 bis 1896) die Ohnmacht des Materialismus richtig erkannt und die Möglichkeit der Ableitung des Bewusstseins aus den physischen Vorgängen geleugnet hat und Albert Lange (1828-1875), der kritische Geschichtschreiber des Materialismus, mit Kant den Ausgangspunkt des Materialismus für verkehrt und die Materie für bloße Erscheinung erklärt hat. So endet also die materialistische Lehre vom Wesen der Seele mit ihrer kritischen Selbstaufhebung. Der inneren Erfahrung, nicht der äußeren kommt die Priorität zu.

Von den auf idealistischem (spiritualistischem) Standpunkte stehenden Philosophen der Neuzeit, die von dem richtigen Gedanken ausgehen, dass die innere Erfahrung unmittelbare Gewissheit hat, hat Hegel (1770-1831) die Auffassung vom Wesen der Seele, wie sie Aristoteles hatte, erneuert. Ihm ist die Seele die ideelle und immaterielle Einheit des organischen Leibes, die Entelechie ihres Körpers. Als solche ist sie den körperlichen Affektionen unterworfen, ist klimatischen und meteorologischen Einflüssen ausgesetzt, bildet die Besonderheit der Erdteile als Rassenbestimmtheit in sich nach, hat individuelle Eigentümlichkeiten des Naturells, Temperaments und Charakters, wird vom Unterschied der Lebensalter, dem Gegensatz der Geschlechter, dem Wechsel von Schlaf und Wachen berührt, macht überhaupt Veränderung und Entwicklung durch. (Vgl. Zeller, Gesch. d. deutschen Philos. S. 651f.)

Eine neue Prägung hat dagegen vom idealistischen Standpunkte aus dem Begriffe der Seele Leibniz (1646-1716) gegeben, an den sich fast alle anderen neueren Idealisten angeschlossen haben. –

Nach Leibniz besteht die Wirklichkeit aus einer unendlichen Zahl unkörperlicher einfacher Einzelsubstanzen, deren inneres Wesen die Vorstellungskraft ist. Solche Wesen sind aber Seelen, und Leibniz nennt sie daher âmes oder, um ihrer Einheitlichkeit willen, Monaden. Nur Seelen machen daher bei Leibniz die Wirklichkeit aus. Darum denkt er sich alle Wesen als organisch und nimmt innerhalb der organischen Welt keinen Wesensunterschied, sondern nur Gradunterschiede in der Vorstellungskraft an. Die Seelen oder Monaden haben nur innere Zustände und spiegeln mit ihren mehr oder weniger klaren und deutlichen Vorstellungen das Universum ab. Fenster haben sie nicht, und von außen sind sie nicht beeinflussbar. Aber alle Monaden sind von dem Schöpfer durch die Grundunterschiede der Vorstellungskraft und die darauf beruhende geringere und größere Vollkommenheit in den Zustand einer ein- für allemal festgesetzten Harmonie (s. praestabilierte Harmonie) gebracht; jede ist in Rücksicht auf die andere geschaffen. Wenn in einer Monade so viel Vollkommenheit ist, als in anderen Unvollkommenheit, so bilden sie ein Aggregat von Monaden, und die erste ist eine Zentralmonas. Die sinnliche Vorstellung eines solchen Monadenaggregats fasst dieses als Körper.

Die menschliche Seele im besondern ist eine solche Zentralmonas, die durch den Wechsel ihrer Vorstellungen auch in wechselnden Beziehungen zu ihrem Leibe steht und durch Abfluss und Zufluss der Teile Entwicklung, Evolution und Involution in sich einschließt.

An Leibniz schließt sich Christian Wolf (1679-1764) an, dem die Seele eine einfache Substanz mit der Kraft, sich die Welt vorzustellen (vis repraesentativa universi) ist.

Auch Herbart (1776-1841) folgt Leibniz, führt aber die Vorstellungskraft auf die Fähigkeit der Selbsterhaltung zurück. Die Seele ist ihm eine einfache Substanz, deren Selbsterhaltungen gegenüber störenden Einflüssen Vorstellungen sind.

Ganz eigene Wege hat dagegen Fichte (1762-1814) mit seinem moralischen Idealismus eingeschlagen. Für ihn besteht das Wirkliche lediglich im Ich, das er sich anfangs mehr individualistisch als Einzelobjekt, dann mehr pantheistisch als das All denkt, und in den sittlichen Tathandlungen dieses Ichs. Da er die Wirklichkeit der Außenwelt ableugnet und diese nur für eine Setzung des Ichs um eines bestimmte Stufen in sich einschließenden Systems moralischer Zwecke willen ansieht, so ist für ihn die Welt das tätige Ich. Eine Seele, in Beziehung auf einen Leib gesetzt, ist daher ein Begriff, der in seine Philosophie nicht hineinpasst. Das theoretische wie das praktische Ich, das Selbstbewusstsein im Erkennen und Handeln, die Seele, bleibt außer Beziehung zu einem Wirklichen, abgesehen von sich selbst, und lässt nur Selbstbeschränkung zu. Die Seele ist ihm daher ein sich selbst um moralischer Zwecke willen Schranken im Erkennen und Handeln setzendes, seiner selbstbewusstes Ich, dessen Funktionen ein System von Handlungen bilden, deren jede an ihre Stelle von den übrigen gefordert wird und ihrerseits die übrigen voraussetzt.

In dem neueren Idealismus scheiden sich also die Wege Hegels, Leibniz' und seiner Nachfolger und Fichte's; mit einem sicheren Ergebnis schließt die idealistische Philosophie ihre Lehre vom Wesen der Seele nicht ab, und wie Kant scharfsinnig in der Kritik des psychologischen Paralogismus gezeigt hat, überschreitet der Idealismus mit seiner Annahme einer einfachen Seelensubstanz die Erfahrung.

Die vom Standpunkt der Philosophie des Absoluten aufgestellte moderne Seelenlehre hat zu ihrem Urheber Spinoza (1632-1677), der nur eine Substanz, Gott oder die Natur (deus sive natura) annimmt und Denken und Ausdehnung zu Attributen dieser Substanz macht, denen zwei Reihen von einzelnen Zuständen oder Affektionen der Substanz (Modi) entsprechen. Alles Einzelne ist nur Modus; der Mensch ist Modus, der menschliche Körper ist Modus, und die menschliche Seele (mens) ist nichts anderes als die Idee dieses Körpers. In jedem einzelnen Momente ist die Seele nur die Idee eines einzelnen Körperzustandes. Hierin besteht die Verbindung zwischen Seele und Körper. Das Verhältnis der Seele zum Leibe ist nicht das eines gegenseitigen Einflusses und auch nicht das eines beständig vermittelnden Eingreifens Gottes (s. Okkasionalismus); es erklärt sich vielmehr daraus, dass Denken und Ausdehnung gleichmäßig Attribute Gottes sind, und dass die Reihe der Modi der Ausdehnung parallel verläuft der Reihe der Modi des Denkens, dass jedem Modus der Ausdehnung ein Modus des Denkens entspricht und umgekehrt, zwischen beiden Reihen also ein vollständiger Parallelismus besteht (Ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum. Eth. II, Prop. 7). Andrerseits ist die Seele und der Körper, wie alle Modi auch in der Substanz, und sie sind also ein Teil des unendlichen göttlichen Intellekts. In Gott ist eine Idee, welche das Wesen des einzelnen menschlichen Körpers unter der Form der Ewigkeit ausdrückt (sub specie aeternitatis). Die menschliche Seele geht daher nicht zugrunde, sondern es bleibt etwas Ewiges von ihr zurück.

An Spinozas Ideen hat Schelling (1775-1854) wieder angeknüpft; er hat aber auch aus der Platonischen Philosophie den Begriff einer Weltseele aufgenommen, um ein gemeinschaftliches Prinzip für die anorganische und organische Natur zu finden. Er sieht das Wesen dieser Seele in der Duplizität und Polarität aller Erscheinungen und findet diese im Lichte, in der Wärme, der Elektrizität, im Magnetismus, in der Irritabilität, Sensibilität und der Produktionskraft der tierischen Organismen usw.

Das starre Sein der Dinge in Gott bei Spinoza löst sich bei ihm also in Entwicklung und Stufenfolge in Natur und Dasein auf. Die Einzelseele denkt sich Schelling zugleich als unendliches und endliches Erkennen. Sofern sie unendliches Erkennen ist, steht sie über dem Leibe, insofern sie endliches Erkennen ist, ist sie der Leib selbst. Die Einheit beider ist das Ich. Das endliche Erkennen ist Empfindung, Bewusstsein, Anschauung, das unendliche Begriff, Urteil, Schluss und zuletzt Vernunfterkenntnis, die alles in seinem Wesen unter der Form der Absoluten begreift. –

An Leibniz und Spinoza zugleich haben angeknüpft Fechner (1801-1887) und Lotze (1817-1881), indem sie mit einem idealistischen einen pantheistischen Grundzug verbinden.

Nach Fechner steht Gott und Welt in derselben Beziehung und Zusammengehörigkeit wie Leib und Seele. Die Seele verknüpft die Mannigfaltigkeit der Tätigkeiten und Zustände in der Einheit des Bewusstseins und ebenso verknüpft Gott alles einzelne Sein und Geschehen der Welt. Die Natur ist der Leib des göttlichen Geistes, der unserem Geiste gleicht, nur weiter und höher ist als der unsrige. Seelen haben nicht nur die Menschen und die Tiere, sondern auch die Pflanzen und die Himmelskörper. Im Übrigen hat Fechner ein exaktes Wissen über das Verhältnis von Leib und Seele in seiner Psychophysik (s. d. und psychophysisches Gesetz) angestrebt und Maßgrößen für psychische Zustände zu entdecken gesucht. –

Für Lotze heißt Sein: in Beziehungen Stehen, und in Beziehungen Stehen: Wirkungen Austauschen. Dieses Sein ist aber nur erklärlich unter Voraussetzung einer unendlichen Substanz, deren Zustände oder Modi die Einzeldinge sind; und diese Substanz empfängt erst

Inhalt aus der Religionsphilosophie durch die Begriffe der unendlichen Persönlichkeit Gottes und eines höchsten Gutes. Den wirklichen Dingen kommt insgesamt, indem sie Zustände eines solchen Wesens sind, Bewusstsein zu; alle Wesen sind also beseelt und geistig.

Auch Wundt (geb. 1832) schließt sich, beide kritisch berichtigend, in seiner metaphysischen Hypothese über das Wesen der Seele zugleich an Leibniz und Spinoza an. Und die Wundtsche Hypothese, die der sorgfältigsten empirischen psychologischen Untersuchung zur Krönung dient, kann als die reifste und ansprechendste Ansicht der Philosophie über das Wesen der Seele gelten. Er erkennt den Vorrang der inneren Erfahrung vor der äußeren an. Die innere Erfahrung besitzt für uns unmittelbare Realität, während die Objekte der äußeren Erfahrung nur mittelbar gegeben sind. Dies Verhältnis, das dem Idealismus den Sieg über andere Weltanschauungen verleiht, entbindet aber nach Wundts Auffassung nicht von der Pflicht, die Realität der Außenwelt anzuerkennen, sondern nötigt vielmehr zu einer kritischen Sonderung derjenigen Bestandteile objektiver Erkenntnis, welche in den Erkenntnisfunktionen des Subjekts ihre Quelle haben, von denen, die als objektiv gegebene vorauszusetzen sind. Darum ist der allein berechtigte kritische Idealismus der Idealrealismus, der das Verhältnis der idealen Prinzipien zu der objektiven Realität aufsucht und nachweist, wie weit die idealen Prinzipien sich in der objektiven Realität wieder finden. Bei dieser Untersuchung ergibt sich, dass die innere Erfahrung einen Kausalzusammenhang bildet, der eine Entwicklung in sich einschließt. Eine nach synthetischer Methode dargestellte psychische Entwicklungsgeschichte ist das Ziel, auf das die Untersuchung hinweist, und als das Grundphänomen, das der Entwicklung zugrunde gelegt werden muss, ergibt sich der Trieb, der Empfindung und Willen in ursprünglicher Verbindung in sich einschließt. Ferner zeigt sich, dass die physische Entwicklung die Wirkung der psychischen ist, nicht umgekehrt die psychische die der physischen. Der aus der kritisch berichtigten äußeren Erfahrung gewonnene Substanzbegriff muss also zur Erklärung des Seelenlebens so erweitert werden, dass er zugleich die psychischen Lebensäußerungen der komplizierten Substanzkomplexe der organischen Welt in sich fasst, und alle organische Entwicklung muss als ein psycho-physischer Vorgang, die bewegte Substanz zugleich als Trägerin des psychischen Elementarphänomens angesehen werden. Dies führt schließlich, indem die Vorbedingungen zu den Lebensäußerungen der organischen Substanzen in dem einfachen Vorgange der leblosen Natur gesucht werden müssen, zu einer Weltansicht, die jede Bewegung als eine Triebäußerung betrachtet, dem Atom Triebanlage zuschreibt und als die allverbreiteten Zustände aller Substanz, auch der leblosen, bewusstlose unverbundene Triebelemente ansetzt, während sie für die komplizierteren organischen Verbindungen komplizierte psychische Verbindungen und Nachwirkungen vorangegangener Zustände, die sich mit neuen verbinden und durch die eine Kontinuität der inneren Zustände und der äußeren Bewegung entsteht, annehmen muss.

»Nach seiner physischen wie nach seiner psychischen Seite ist der lebende Körper eine Einheit. Diese Einheit beruht aber nicht auf der Einfachheit, sondern im Gegenteil auf der sehr zusammengesetzten Beschaffenheit seiner Substanz. Das Bewusstsein mit seinen mannigfaltigen und doch in durchgängiger Verbindung stehenden Zuständen ist für unsere innere Auffassung eine ähnliche Einheit, wie für die äußere der leibliche Organismus, und die durchgängige Wechselbeziehung zwischen Physischem und Psychischem führt zu der Annahme, dass, was wir Seele nennen, das innere Sein der nämlichen Einheit ist, die wir äußerlich als den zu ihr gehörigen Leib anschauen. Diese Auffassung des Problems der Wechselbeziehung führt aber weiterhin unvermeidlich zu der Voraussetzung, dass das geistige Sein die Wirklichkeit der Dinge, und dass die wesentlichste Eigenschaft derselben die Entwicklung ist. Das menschliche Bewusstsein ist für uns die Spitze dieser Entwicklung; es bildet den Knotenpunkt im Naturlauf, in welchem die Welt sich auf sich selber besinnt. Nicht als einfaches Sein, sondern als das entwickelte Erzeugnis zahlloser Elemente ist so die menschliche Seele, was Leibniz sie nannte, ein Spiegel der Welt.« (Grundzüge d. physiol. Psychol. Leipz. 1887. Bd. II, S. 553f.)

So schließt die Lehre vom Wesen der Seele mit einer keineswegs allgemein anerkannten, aber für denjenigen besonders ansprechenden Hypothese ab, der als die Methode der Philosophie die empiristische und als den letzten metaphysischen Gewinn der Philosophie einen kritisch berichtigten Idealismus fordert.
Kant, der dem Schein einer rationalen Psychologie ein Ende gemacht hat, hat doch bei seiner Scheu vor allen metaphysischen Hypothesen zur Erklärung des Wesens der Seele positiv nichts beigetragen, sondern in seiner Anthropologie nur viele ansprechende Beobachtungen gesammelt und die Arbeit der modernen Psychologie überlassen.

Sein (esse) S. 559f.
bedeutet

1. die Beziehung zwischen zwei Begriffen, von denen der erste Subjekt, der zweite Prädikat eines Gedankenurteils ist. Die Beziehung kann entweder Identität oder Gleichheit, oder Subsumtion (Verhältnis von Art zu Gattung, Über- und Unterordnung) sein. Der Begriff des Seins ist so weit nur der Begriff eines Gedankenverhältnisses und gestattet keinen Schluss auf Wirklichkeit;

2. das Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat in einem Wahrnehmungsurteil, z.B. dieser Mensch ist krank. In diesem Falle involviert der Begriff des Seins eine Beziehung auf die Wirklichkeit;

3. direkt die Wirklichkeit, das Dasein, sofern dieser Begriff nur durch die Erfahrung gegeben ist;

4. das Sein im metaphysischen Sinne, welches die philosophische Überlegung als den Grund der Welt ansieht. Die Wissenschaft von diesem metaphysischen oder absoluten Sein nennt man Ontologie. Das absolute Sein kann auf dreierlei Weise gedacht werden, entweder mit den Eleaten, Atomisten, Leibniz und Herbart als das schlechthin Einfache, Unterschiedslose, oder mit Platon, Aristoteles, Spinoza, Schelling und Hegel, als ein Werdendes, sich durch das Mannigfaltige hindurch Entwickelndes; oder aber man verzichtet überhaupt darauf, das »reine« Sein zu erkennen, erklärt es für ein Unbestimmbares und begnügt sich mit der subjektiven Auffassung, die unsere Erfahrung von der Welt haben kann. So dachten im Mittelalter die Nominalisten, in neuerer Zeit Bacon, Locke, Hume, Kant u.a.

Die Auffassung des absoluten Seins ist natürlich eine verschiedene für den Realismus, Idealismus und die absolute Philosophie. –

Das Verhältnis von Sein und Denken untersucht die Erkenntnistheorie. Vgl. Außenwelt, Idealismus, Schein.

Selbstachtung S. 560f.
ist das von Eitelkeit freie Bewusstsein eines Menschen von seinem eigenen Wert; sie ist also nicht mit dem Selbstgefühl identisch, welches mit Eitelkeit gemischt ist. Der Grund der Selbstachtung ist das allgemeine Bewusstsein unserer Menschenwürde, welche uns über das Tier erhebt, sodann die besondere Anerkennung unserer individuellen Leistung oder unseres persönlichen Wertes durch andere. Aber selbst wenn uns diese nicht zuteil werden sollte, so kann sich die Selbstachtung auch auf das Zeugnis unseres Gewissens stützen. –

Die Selbstachtung hält uns von Niedrigem und Unedlem, wie Lüge, Betrug, Hinterlist, Heuchelei u. dgl., ab und treibt uns zum Guten an, selbst wenn man uns nicht sieht noch lobt.

Auch bietet sie uns den Lohn dar, wenn uns die billige Anerkennung nicht zuteil wird, und tröstet uns bei unverdienten Beleidigungen und Kränkungen.

A. Döring (Philosophische Güterlehre. 1888) sieht in dem Eigenwerte das höchste Gut der Menschheit. -

Die Selbstachtung kann leicht in Selbstgefühl, Selbstüberhebung oder Stolz ausarten.

Selbstbeherrschung S. 561
nennt man die Fähigkeit, den Willen und das Gemüt schnell durch die Vernunft zu bestimmen. Die Selbstbeherrschung wird nur durch andauernde strenge Selbsterziehung und Einschränkung der Wünsche erworben. Die Triebe, die Neigungen, die Leidenschaften sind eine elementare Kraft, die immer von neuem hervorzubrechen droht.

Nur wer sich selbst beherrscht, ist frei: »Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet!« (Goethe, Geheimnisse.)
Vgl. Blackie, Selbsterziehung, deutsch von Kirchner. Lpz. 2. Aufl. 1886.

Selbstbeobachtung S. 561
ist die Aufmerksamkeit auf unser eigenes Wesen, unsere Anlagen, unsere Art zu denken, unsere Neigungen, unsere Handlungsweise.

Sie dient dazu, uns unsere Fehler erkennen zu lehren und uns psychologische Erkenntnis zu geben.

Die Selbstbeobachtung ist sogar eine Hauptquelle der Psychologie und für jeden einzelnen der Weg, um andere Menschen verstehen zu können: »Willst du die andern verstehn, blick' in dein eigenes Herz.« (Schiller.)

Aber sie hat ihre Schwierigkeiten; denn es entziehen sich ihr die Affekte, das angestrengte Denken, das Aufmerken, die künstlerische Begeisterung, überhaupt alles Aktuelle. Erst wenn ein Seelenzustand schwindet, können wir ihn beobachten, und während wir ihn betrachten, entschwindet er uns und hält vor unserem geistigen Auge nicht stand; auch ist die Selbstbeobachtung nur bei schon vorgeschrittenem Seelenleben ausführbar. Daher kann man sagen: je ernstlicher wir uns beobachten wollen, desto weniger finden wir zu beobachten vor. Vgl. Beneke, Neue Psychologie 1845. S. 20. Wundt, Vorles. ü. d. Menschen- u. Tierseele. Lpz. 1863. S 21.

Selbstbestimmung S. 561
heißt die aus inneren, im Subjekt selbst liegenden Gründen entspringende Fassung eines Entschlusses. Vergleiche Freiheit, Person.

Selbstbewusstsein S. 561ff.
könnte

1. im theoretischen Sinne
eigentlich nur die unmittelbare Erfassung des eigenen Ichs durch das Bewusstsein heißen. Wir erfassen uns aber nur in unseren wechselnden Bewusstseinszuständen und psychischen Vorgängen. Doch was dahinter steht, erfassen wir nicht. Die Einheit des Ichs ist eine Bedingung der Erkenntnis überhaupt, aber keine Tatsache, die wir beobachten können. Alle Selbstbeobachtung liefert uns kein apriorisches Element des Wissens, das von der Erfahrung unabhängig wäre oder über derselben stände. (Vgl. Kant, Kr. d. r. V. S. 341-405. Von den Paralogismen der reinen Vernunft.)

Das Selbstbewusstsein gibt uns also nur immer bruchstückweise unser empirisches Ich. In diesem empirischen Bewusstsein liegt aber

1. eine Summe von wechselnden Vorstellungen,
2. die Kontinuität der Ichvorstellung und
3. die Identität beider.


Aber es liegt nicht unmittelbar in diesem empirischen Bewusstsein die Idee einer für sich selbst bestehenden einfachen und immateriellen, denkenden Substanz.

Platon (427-347) fasst das Selbstbewusstsein im ethischen Sinne als Selbsterkenntnis, aber

Aristoteles (384-322) schreibt dem Verstande die Fähigkeit zu, sich selbst theoretisch zu erkennen (hauton de noei ho nous kata metalêpsin tou noêtou. Metaph. XI, 7 p. 1072b, 20; estin hê noêsis noêseôs noêsis Metaph. XI, 9, p. 1074 b, 34).

Ähnliches sagt der Stoiker Epiktetos (2. Hälfte des 1. Jahrh. v. Chr.).

Erst Plotinos (205-270) spricht, das Wort Selbstwahrnehmung gebrauchend, vom Selbstbewusstsein (synaisthêsis hautês) und nennt es die Identität des Erkennens, seines Aktes und seines Objekts (nous, noêsis, noêton).

Auch Thomas v. Aquino (1225-1274) nennt dieselben drei Seiten des Selbstbewusstseins.

Die folgende Zeit hat wenig über das Problem nachgedacht.

Kant (1724-1804) hat die Unmöglichkeit des Selbstbewusstseins, sofern es sich um die Erfassung des reinen Ichs handelt, nachgewiesen (siehe oben).

J. G. Fichte (1762-1814) dagegen hält sie für möglich und lässt das Selbstbewusstsein durch eine Reflexion der absoluten Tätigkeit des Ichs auf das reine Sein entstehen. Das Reflektierte ist die in einem Punkte angehaltene, fixierte Tätigkeit, das Reflektierende die aus ihrer Begrenzung in ihrer Unendlichkeit sich wiederholende Tätigkeit selbst.

Auch Hegel (1770-1831) hält das Selbstbewusstsein für möglich und erklärt: »Die Wahrheit des Bewusstseins ist das Selbstbewusstsein und dieses der Grund von jenem.«

Lotze (1817-1881) dagegen bezeichnet das Selbstbewusstsein als bloße theoretische Ausdeutung des Selbstgefühls. Weder die Selbstbezeichnung mit »Ich«, die aus äußerlicher Nachahmung entspringen kann, noch die Unterscheidung der eignen Glieder, noch die Wiedererkennung des eigenen Spiegelbildes ist ein Zeichen des Selbstbewusstseins im Kinde. Es entspringt vielmehr allmählich teils aus Vorstellungen, teils aus Willenshandlungen und Gefühlen. Die Spuren davon beginnen wahrscheinlich schon in den ersten Lebenswochen.

Wundt (geb. 1832) erklärt das Selbstbewusstsein mit Recht als das Erzeugnis psychischer Prozesse, nicht als ihre Grundlage, und als eine Realität, die nicht von den Vorgängen, aus denen es besteht, verschieden ist, sondern auf den Zusammenhang dieser Vorgänge schlechterdings hinweist. Das Selbstbewusstsein ist in den Anfängen seiner Entwicklung durchaus sinnlich und mit der Vorstellung des Leibes verwachsen. Erst durch die Selbstauffassung des Willens wird es abstrakter; aber »selbst der spekulative Philosoph vermag sein Selbstbewusstsein nicht loszulösen von seinen körperlichen Vorstellungen und Gemeingefühlen«. (Wundt, Grundz. der phys. Psych. II, S. 259f.; Grundriß d. Psych. S. 269). Vergleiche Ich. -

Selbstbewusstsein bedeutet

2. im praktischen Sinne soviel als Selbstgefühl (s. d.).
.

Selbsterhaltungstrieb S. 563
nennt man die Zusammenfassung aller derjenigen Triebe, welche auf die Erhaltung des eignen Seins des Individuums gerichtet sind.

Kein tierisches Wesen wünscht unterzugehen, sondern sich gegenüber den zahllosen Angriffen von außen zu behaupten und zu erhalten.

Der Selbsterhaltung dienen vor allem die Nahrungs- und Schutztriebe. Das Verlangen nach Nahrung und Schlaf, nach Luft, Licht, Wärme, nach Bewegung und Ruhe, das Streben, alle feindlichen Eingriffe abzuweisen, dann auch die Betätigung unseres Denkens und Wollens, das Streben nach Macht, Ehre, Besitz usw. sind jedem Menschen eigen. Auch muss unser Geist, um sich selbst zu erhalten, denken, sich selbst treu bleiben und dem Nützlichen und Guten zustreben.

Dem Selbsterhaltungstrieb ist der Gattungstrieb entgegengesetzt, der die Geschlechtstriebe, die elterlichen und die sozialen Triebe umfasst.
(Wundt, Grundz. d. phys. Psychol. II S. 419 f.)


Selbsterkenntnis S. 563f.
kann nach der bekannten Inschrift des Apollotempels zu Delphi: Erkenne dich selbst! gnôthi sauton als der Anfang der Weisheit und als die höchste Offenbarung gelten, die dem Menschen zuteil werden kann. Die Selbsterkenntnis besteht nicht in der theoretischen Erkenntnis des menschlichen Wesens überhaupt, sondern in der ethischen Einsicht in das eigene Wesen, die der einzelne Mensch besitzt, in der Kenntnis, die jeder Mensch von seinen eigenen Mängeln und Schwächen, Anlagen und Fähigkeiten, Kräften und Kraftgrenzen erwirbt, im richtigen Urteil über sich selbst.

Das Haupthindernis der Selbsterkenntnis ist die Eitelkeit, welche uns schmeichelt und alles im günstigsten Lichte erscheinen lässt. Aber selbst wenn wir gegen sie ankämpfen, so erhebt sich die andere Schwierigkeit, dass wir uns selbst, ebenso wie andere, nur immer im Einzelfalle durch Erfahrung kennen lernen.
Jeder erkennt sich zu bestimmter Zeit immer nur stückweise und wird an sich selbst nacheinander Seiten des Charakters erkennen, die er in sich nicht vermutet hätte.

Von der Selbsterkenntnis gilt also der Satz: »Wirke, nur in seinen Werken kann der Mensch sich selbst bemerken.«

Die Selbsterkenntnis setzt aber auch die Kenntnis der anderen Menschen und der Welt voraus, weil wir nur im Vergleich mit anderen über uns selber gerecht zu urteilen vermögen. Da alle Menschen Individuen derselben Gattung sind, ist die Beobachtung anderer unentbehrlich, wie Schiller sie in dem Worte fordert: »Willst du dich selber erkennen, so sieh', wie die andern es treiben!«

Es gibt übrigens einige gute Kriterien, an denen man sich selbst beurteilen lernt: Mit wem man umgeht, was man lächerlich findet, worein man das höchste Glück setzt, wie man sich benimmt, wenn man allein ist, u. dgl. m. Vgl. Augustinus, Confessiones, dtsch. v. Rapp. 7. Aufl. 1878. Rousseau, Confessions. 1764. Schleiermacher, Monologe. 1800. Vergleiche Selbstbeobachtung.

Selbstgefühl S. 564f.
ist das mit Eitelkeit gemischte Gefühl der Lust, welches aus dem Bewusstsein unseres Selbsts, unserer Kraft, Bedeutung oder Geltung entspringt. Es bereitet uns Lust, von uns selbst zu sprechen oder sprechen zu hören, uns gedruckt oder gemalt zu sehen, auf ein Buch von uns oder ein Zitat aus unseren Schriften zu stoßen. Meist erweckt schon Schmuck und Kleidung das Selbstgefühl. Die rauschende Schleppe, die nickende Feder, der bunte Rock, der rasselnde Säbel erheben die Trägerin und den Träger, und Schnurrbartbewusstsein lässt manchen geistig öden Jüngling selbstbewusst dreinschauen. Ebenso stärken Besitz, Macht, Herrschaft, Einfluss das Selbstgefühl. Vor allem vermehrt jede Leistung, die wir glücklich vollbringen, sei sie physisch, technisch, intellektuell, künstlerisch oder moralisch, unser Selbstgefühl.

Die Arbeit ist die relativ berechtigtste Quelle des Selbstgefühls. Daher findet sich beim Mann in Beruf und Stellung ein verhältnismäßig gesundes, beim Jüngling, der seine Kräfte überschätzt und in Phantasien schwärmt, oft ein übertriebenes Selbstgefühl.

Der Erwachsene merkt bald, dass er nur ein Glied des Ganzen, ein Rad im Mechanismus des Lebens, also auf andere angewiesen ist, und lernt Bescheidenheit.

Der Grad des Selbstgefühls hängt aber auch zum Teil von körperlichen Einflüssen ab. Vergleiche Selbstbewusstsein.

Selbstliebe S. 565
ist die aus dem Selbsterhaltungstriebe hervorgehende natürliche Neigung des Menschen, sich geltend zu machen und auszubilden. Sie bedarf der Einschränkung durch die Rücksicht auf andere, um nicht zur Selbstsucht (Egoismus s. d.) zu werden.

Die Selbstliebe ist an sich nicht verwerflich. Ohne sie gäbe es kein Streben nach Besitz, Schmuck, Ehre, Macht, kein höheres Bildungsbestreben.

Die Religion erkennt die Selbstliebe als natürlich in dem Sittengebote an: Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst.

Die Selbstliebe ausrotten wollen, hieße Heuchler erziehen;aber die Selbstliebe bedarf der beständigen Zucht und Ergänzung. Vgl. Th. Fechner, Über das höchste Gut. 1846. H. Lotze, Mikrokosmus II. 1864. Pfleiderer, Eudämonismus und Egoismus. 1880.

Selbstsucht, s. Egoismus. S. 568

Selektion S. 568
heißt Auslese, Zuchtwahl. Sie ist eine künstliche, wenn ein Züchter sich zur Fortpflanzung bestimmter Rasseneigentümlichkeiten besonders geeignete Individuen auswählt; sie ist eine natürliche, wenn sie im Kampf des Daseins von selbst erfolgt, in dem die für den Wettbewerb des Lebens geeigneten Individuen ihre Konkurrenten überleben und allein zur Fortpflanzung kommen. Vgl. Darwinismus.

Sensualismus (nlt. v. sensus = Sinn) S. 569f. Siehe auch bei Eisler
heißt derjenige erkenntnistheoretische Standpunkt, welcher alle Erkenntnis lediglich aus den Sinnen ableitet und eine davon unabhängige innere Erfahrung (Reflexion) als Erkenntnisquelle ableugnet. Diese verengte Form des Empirismus hat zwei Seiten, eine theoretische und eine praktische.

Der theoretische Sensualismus ist vorbereitet durch die Lockesche Formel: Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu (Nichts ist im Verstande, was nicht im Sinne war). Ausgebildet ist er dann durch Hume (1711-1776), der alle Ideen von sinnlichen Eindrücken ableitet, durch Condillac (1715-1780) und durch Bonnet (1720-1793), welche alle psychischen Vorgänge für umgebildete Sinnesempfindungen ansehen.

Condillac versucht an dem Beispiel einer allmählich belebten Statue nachzuweisen, dass die Menschheit den Sinnen alle Erkenntnis verdanke. Aber der theoretische Sensualismus ist eine Einseitigkeit, die das Wesen der inneren Erfahrung und der apperzeptiven Vorgänge verkennt, und schon Leibniz (1646-1716) hat den Lockeschen Satz berichtigt durch den Zusatz: nisi intellectus ipse (ausgenommen der Geist selbst), um anzudeuten, dass die Voraussetzung für die Sinneserkenntnis selbst das Vorhandensein geistiger Tätigkeit sei. –

Der praktische Sensualismus gründet sich auf die metaphysische Behauptung, alles, was die Grenzen der sinnlichen Erfahrung überschreite, sei Täuschung. Durch diesen Standpunkt werden alle höheren spekulativen, ethischen, ästhetischen und religiösen Interessen gefährdet und der Weltansicht des Materialismus die Tore geöffnet. Folgerichtig wird dann die Sinneslust als Zweck des Daseins anerkannt. Dieser Ansicht huldigten Aristippos, Hobbes und die französischen Naturalisten des 18. Jahrhunderts.

Eine mildere Form des sensualistischen Materialismus vertrat dagegen die schottische Philosophie (Hutcheson, Shaftesbury, Smith), welche den moralischen Sinn (common sense) statt der Sinnenlust zur Norm in sittlichen Dingen erhob.

Sitte S. 577
heißt

1. die zur Gewohnheit gewordene Art und Weise der Lebensführung von Gemeinschaften. Die Sitten eines Volkes hängen von seiner Naturumgebung, seiner Geschichte und seiner psychischen Eigenart ab. Jede Änderung darin deutet auf eine Umwandlung des Volkscharakters hin.

2. Sitte bedeutet ferner Gesittung, d.h. feine Lebensart von Gemeinschaften, also die Form eines zivilisierten Lebens. Die Gesittung hängt vom Handel und Verkehr, vom Reichtum und Luxus, auch von »zufälligen« Ereignissen und von der Mode ab. Doch zeigt sich die fortschreitende Gesittung auch in immer richtigeren Vorstellungen über Recht, Religion, Familienleben usf.

3. Sitte heißt endlich Sittlichkeit.

Die Sitte in der ersten Bedeutung ist ein Produkt der Natur, die feinen Sitten dagegen sind von der Konvenienz, die guten vom Sittengesetz abhängig.

Bezüglich der Sitte ist der Mensch unfrei, die Gesittung ist zum Teil willkürlich, die Sittlichkeit beruht auf praktischer Willensfreiheit.

Die Sitte ist herkömmlich, die Gesittung umfasst das Schickliche, die Sittlichkeit die Moral. Alle drei können zusammentreffen; bisweilen ist eine Volkssitte auch von der feineren Lebensart beibehalten und keine Verletzung des Sittengesetzes; oft freilich steht sie zu beiden im Gegensatz. Ebenso sind feine Sitten noch lange nicht gute Sitten.

sittlich S. 577f.
bedeutet

1. alles, was in der Beurteilung dem Sittengesetz unterliegt, mag es für gut oder für böse befunden werden; so sagt man, der sittliche Charakter eines Menschen sei gut oder schlecht;

2. das, was dem Sittengesetz gemäß ist, also nach dem Urteil unseres Gewissens dem Moralgesetz entspricht. Das Sittliche in dieser Bedeutung ist das in die praktische Willensfreiheit aufgenommene Gute.

Um sittlich zu heißen, muss eine Tat also mit Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung des Menschen getan werden und der Vernunft und dem Gewissen entsprechen.

Andere belebte Wesen und alle Dinge nennen wir gut, wenn sie ihrem Zwecke gemäß sind, den Menschen nur, wenn er aus eigener Entschließung vernunftgemäß handelt.

Das Sittlichgute ist also das Gesetzmäßige in der Freiheit.

Nicht sittlich dagegen ist alles, was gegen unsere Überzeugung (aus Zwang, Furcht, Selbstsucht) getan ist, noch nicht sittlich das aus Naturnotwendigkeit Geschehende. Gut kann nur sein, was vernünftig, mit Rücksicht auf die Norm, mit guter Absicht und freiem Willen getan wird. Bei der sittlichen Tat sind Zweck, Motiv, Wille und Ausführung gut. Vergleiche Gut, Moralprinzip, Eudämonismus.

Das Sittliche scheidet sich vom Angenehmen, Nützlichen und Schönen. Oft ist das Gute weder angenehm, noch bringt es uns Nutzen, noch ist es schön.

Auch zum Intellektuellen steht das Sittlichgute oft im Gegensatz, zu dem es Sokrates, Aristoteles, Spinoza, Fichte und Hegel in zu enge Vorbindung gesetzt haben.

Man darf das Sittliche auch nicht mit Büchner, Vogt u.a. in die praktische Verbesserung des Lebens setzen.

Ebenso ist die Vermischung von Recht und Moral, Moral und Religion unhaltbar. Beide, Recht und Religion, haben zwar viel Gemeinsames mit der Moral, sie beeinflussen die Moral und empfangen von ihr mancherlei Befruchtung; aber ein religiöser Mensch ist noch nicht ein moralischer, und ein legales Tun ist noch kein sittliches. Das klassische Buch über das Sittlichgute ist Kants Kritik der praktischen Vernunft. Riga 1788.

Sittlichkeit S. 578f.
ist der höchste moralische Zustand einer Persönlichkeit, die Reinheit ihrer Gesinnung und ihres Handelns. Sie setzt voraus, dass der Mensch das Gute kennen und schätzen gelernt und sich zu der Übung desselben erzogen hat. Sie liegt in der Gesinnung des Menschen, kommt aber in jeder seiner Handlungen zum Ausdruck. Sie ist in vollkommener Weise nur da vorhanden, wo der Mensch allmählich seinen Willen erzogen, seinen Charakter ausgebildet, sich zum Pflichtbewusstsein gewöhnt und aus allen Erfahrungen des Lebens richtige Maximen gewonnen, diese untereinander verbunden gegen sie und unverbrüchliche Treue erworben hat. Für Kants Leben und Philosophie ist die Sittlichkeit der höchste Gesichtspunkt gewesen. Vgl. Intellektualismus, Voluntarismus.
Strümpell, Vorschule der Ethik. 1844. Baumann, Moral. 1879. Paulsen, System der Ethik. Berlin 1894. Wundt, Ethik. Stuttgart 1892. Achelis, Ethik. Leipzig 1900.

Skepsis oder Skeptizismus (gr. skepsis = Prüfung, Untersuchung, Bedenken) S. 579ff.
nennt man diejenige philosophische Richtung, welche an der Wahrheit und dem Werte unseres Wissens zweifelt.

Der Skeptizismus kann als vorübergehende Phase in der Entwicklung des einzelnen Philosophen oder als dauernde Ansicht des einzelnen oder ganzer Generationen auftreten; er kann als Ausgangspunkt des philosophischen Denkens vorkommen, oder zum Ergebnis eines Systems werden. Er setzt sich der unphilosophischen naiven Weltanschauung, der Wissenschaft, der positiven Philosophie und dem religiösen Glauben entgegen. Seine Gegensätze in der Philosophie sind der Dogmatismus, der auf dem Vertrauen zur Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft beruht, und der Kritizismus, der die Grenzen der menschlichen Vernunft prüft, aber den korrekten Aufbau der Wissenschaft zum Ziel hat.

Entstanden ist der Skeptizismus innerhalb der griechischen Philosophie. Zur Theorie erhoben, ist er ihre Selbstauflösung geworden.

Anfänge skeptischer Denkweise finden wir schon bei den älteren griechischen Denkern, bei Herakleitos und Parmenides, bei Protagoras und Gorgias und den Megarikern.

Doch erst nach Aristoteles (384-322) trat der Skeptizismus in bewussten Gegensatz zum Dogmatismus, und zwar entwickelte er sich in drei Phasen: Es entstand

1. der ältere Skeptizismus des Pyrrhon v. Elis (zur Zeit Alexanders) und des Timon v. Phlius (325-235),

2. die mittlere und neuere Akademie, vertreten durch Arkesilaos (316-241) und Karneades (zw. 214 u. 129),

3. die jüngere Skepsis des Änesidemus (um 100 v. Chr.) und Sextus Empiricus (um 200 v. Chr.).

Das Mittelalter steht auf dem dogmatischen Standpunkte und schließt die skeptische Richtung aus.

Nach 1000jähriger Pause ist der Skeptizismus wiederum erneuert durch M. Montaigne (1533-92), Pierre Charron (1641-1603), Franz Sanchez (1562-1632), dann, außer durch einige kirchliche Männer, durch Pierre Bayle (1647 bis 1706) und endlich durch David Hume (1711-1776) und G. E. Schulze (1761-1833).
Vgl. C. F. Stäudlin, Gesch. und Geist d. Skeptizismus. 1795. Tafel, Gesch. u. Krit. d. Skeptizismus. 1834. Brodhard, Les Sceptiques grecques. Paris 1887. Raoul Richter, der Skeptizismus in der Philosophie. Leipzig 1904.


Timon v. Phlius stellte die dreifache Frage:
1. Wie sind die Dinge?
2. Wie haben wir uns zu ihnen zu verhalten?
3. Was für Erfolg kann unser Verhalten haben?

Auf diese Fragen gab er die Antworten:
1. Die Dinge sind unbeständig.
2. Wir dürfen unseren Wahrnehmungen und Vorstellungen nicht trauen.
3. Wir gelangen durch dieses Verhalten zur Nichtentscheidung (aphasia) und zur Gemütsruhe (ataraxia).

So begründete er das Prinzip der Skepsis, die Isosthenie (isostheneia tôn logôn), d.h. die Idee, dass die Gründe für jede Behauptung und für ihr kontradiktorisches Gegenteil gleich stark sind (vgl. Isosthenie).

Die mittlere Akademie war in ihrem Skeptizismus weniger radikal als Pyrrhon und Timon.

Die jüngeren Skeptiker stützten ihre Behauptung auf zehn skeptische Tropen oder Wendungen, die sie freilich schon den älteren Skeptikern zuschrieben und die dann auf fünf zusammengezogen, ja auf ein Dilemma gebracht wurden.

Während sich die antike Skepsis vor allem gegen die Gewissheit der sinnlichen Erkenntnis richtete, d.h. die Frage aufwarf, ob die Dinge in Wahrheit so beschaffen seien, wie sie sich den Sinnen darstellen, untersuchte die moderne Skepsis den ganzen Bau unseres Wissens. So wendete sich Hume (1711-1776), Kants Vorgänger, gegen den Begriff der Ursache und Substanzialität und damit gegen die gesamte Physik.

Der moderne Skeptizismus hat aber namentlich in Frankreich eine Hinneigung zur negativen Seite des Rationalismus, der nach seiner positiven Seite dogmatisch ist, gezeigt, so dass sich Rationalismus und Skeptizismus im Kampfe gegen den überlieferten Glauben trotz ihres inneren Gegensatzes verbinden konnten. Skeptisch-rationalistisch hat fast die gesamte vornehme Gesellschaft in Frankreich im 16., 17. und 18. Jahrhundert gedacht. Die Berechtigung der Skepsis gegenüber einem blinden Dogmatismus ist anzuerkennen; ja jeder Kritiker huldigt ihr teilweise. Aber als selbständige Richtung ist sie unfruchtbar und haltlos und muss durch den Kritizismus ersetzt werden.

Die Behauptung, es gäbe keinen Satz, der nicht bezweifelt werden könne, nicht einmal diesen Satz selbst ausgenommen, hebt sich selbst auf und führt, wie bei den alten Skeptikern, zum Indifferentismus, welcher Geistestod ist. Wendet sich die Skepsis kritisch gegen bestimmte Gedanken und Richtungen, so ist sie berechtigt; richtet sie' sich aber gegen den Verstand selbst, gegen seine Fähigkeit, irgend welche Wahrheit überhaupt zu finden, so ist sie haltlos und zeugt von Erschlaffung des Wissens- und Willenstriebes.

skeptische Tropen (gr. tropoi = Weisen, Wendungen) S. 581f.
heißen die Gründe, welche die antike Skepsis für den Zweifel anführte (Sext. Empir. hyp. Pyrrhon. I, 36 ff.). Sie sind entnommen:

1. von der Verschiedenheit der beseelten Wesen überhaupt, aus welcher eine verschiedene Auffassung der Objekte folge;
2. von der Verschiedenheit der Menschen untereinander;
3. von der verschiedenen Struktur der Sinneswerkzeuge;
4. von der Verschiedenheit unserer geistigen und körperlichen Zustände;
5. von der Verschiedenheit der Lage und Entfernungen und Orte;
6. von dem Vermischtsein des wahrgenommenen Dinges mit anderen;
7. von der Verschiedenheit der Erscheinung je nach Art der Zusammenfügung;
8. von der Relativität überhaupt;
9. von der Verschiedenheit der Auffassung je nach der Zahl der Wahrnehmungen;
10. von der Verschiedenheit der Bildung, der Sitten, der Gesetze, mythischen Vorstellungen und philosophischen Annahmen.

Übrigens erkannte schon Sextus Empiricus (c. 200 v. Chr.), dass sich diese 10 Tropen auf 8 reduzieren lassen.

Die jüngeren Skeptiker empfahlen durch 5 Tropen die Epoché (d.h. die Zurückhaltung des Urteils):

1. durch die Verschiedenheit der Ansichten über die nämlichen Objekte;
2. durch den Regress ins Unendliche, weil jede beweisende Behauptung immer wieder bewiesen werden müsse;
3. durch die Relativität;
4. durch die Willkürlichkeit der Prinzipien;
5. durch die Diallele, dass das, worauf der Beweis sich stützen solle, wieder durch das zu Beweisende gestützt werden müsse. –


Später wurden diese Sätze folgendermaßen zusammengezogen:

Nichts kann durch sich selbst gesichert werden, wie aus der Diskrepanz der Ansichten über alles Wahrnehmbare und Denkbare hervorgeht, daher auch nichts durch ein anderes, indem dieses selbst keine Sicherheit aus sich hat und, wenn es sie wiederum durch ein anderes gewinnen sollte, wir entweder auf einen regressus in infinitum oder auf eine Diallele geführt werden würden.
Vgl. D. Zimmermann, d. pyrrhon. Philos. 1841. Überweg, Grundriß d. Geschichte der Philosophie I, § 60.

Sklavenmoral S. 582
nennt Fr. Nietzsche (1844-1900) die bisher geltende jüdisch-christliche Sittenlehre, weil sie durch eine Erhebung der Sklaven gegen die Herren, die Arier, zustande gekommen sei.

Während die »Herrenmoral der blonden Bestie« lehrt: »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt«, gebietet die Sklavenmoral Nachsicht gegen Schwache, Nächsten- und Feindesliebe.

Daher fordert Nietzsche, der die Existenz »seiender Werte« leugnet, eine »Umwertung aller Werte«. Was bisher gut hieß, müsse böse heißen und umgekehrt. Aber diese brutale Herrenmoral, die sich auf den Entwicklungsgedanken des Darwinismus stützen und den Übermenschen züchten will, ist nicht eine Umwertung aller Werte, sondern nur eine Aufhebung derselben; denn sie bietet nichts Positives, nur eine Ersetzung der Moral durch Leben, Lebenssteigerung und Gewalt.
Der Versuch, sie in die Tat umzusetzen, ist noch nicht gemacht; und sie findet ihre theoretischen Verteidiger nur bei denen, die das absolut Neue dem Gesunden vorziehen.
Vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Lpz. 4. Aufl. 1895. Raoul Richter, Friedrich Nietzsche. Leipzig 1903.

Sollen S. 582ff.
bezeichnet die Abhängigkeit des Menschen von der praktischen Vernunft, also die Nötigung durch moralische Bestimmungsgründe oder die psychische Determiniertheit (vgl. Freiheit).

Die Existenz eines solchen Sollens offenbart sich sowohl in dem Vorwärtsstreben als auch in dem Pflichtgefühl, welches das bewusste Gefühl des Sollens ist.

Es ist nun eins der schwierigsten Probleme, woher im Menschen das Gefühl und Bewusstsein des Sollens, welches wir doch in jedem Menschen finden, stamme.

Das Sollen kommt nicht aus den natürlichen Trieben. Man kann wohl aus Furcht, Hoffnung, Selbstsucht oder Liebe handeln, aber zum Gehorsam verpflichtet fühlen wir uns dadurch nicht, sondern nur dadurch, dass sich das Befohlene irgendwie als Seinsollendes kundgibt.

Ein fremder Wille kann uns wohl äußerlich zwingen, aber nicht innerlich binden. Das Gefühl des Sollens setzt aber gerade die Gebundenheit in der Freiheit voraus.

Ohne Selbstbestimmung gibt es nur ein Müssen, kein Sollen! Die Existenz des Sollens bekundet sich auch in der Reue, die uns nach einer schlechten Tat lehrt, dass wir anders hatten handeln sollen, als wir gehandelt haben. Auch die Kantische Ableitung des Sollens befriedigt den Empiristen nicht.

Kant
sieht in dem Sollen einen synthetischen Satz a priori. Über den durch sinnliche Begierde affizierten Willen kommt noch die Idee eben desselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen, reinen, für sich selbst praktischen Willens hinzu, welche die oberste Bedingung des ersteren nach der Vernunft enthält. Das moralische Sollen ist ein eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligiblen Welt und wird nur sofern von ihm (dem Menschen) als Sollen gedacht, als er sich zugleich desselben bewusst ist (Kant, Grundleg, d. Metaphys. d. Sitten, III. Absch. Wie ist ein kategor. Imp. möglich?)

Wer aber auch Kant nicht beistimmt, muss doch zugeben, dass das Gefühl des Sollens existiert und die Grundlage für das sich im Individuum allmählich ausbildende Gewissen bildet, d.h. für das Bewusstsein und Wissen von dem, was wir in jedem Falle zu tun und zu lassen haben.

Das Gefühl des Seinsollenden begründet sowohl das Recht als auch die Moral, indem es uns unmittelbar durch Missfallen, Indignation und Abscheu bezeugt, was (nach unserer Meinung wenigstens) widerrechtlich und unsittlich ist, während wir beim Rechten und Guten, mag es an uns oder anderen erscheinen, Wohlgefallen empfinden. Beides kommt daher, dass Recht und Sittlichkeit mit unserem innersten Wesen harmoniert. Natürlich hängt seine besondere Gestaltung auch von den ethischen und juristischen Vorstellungen ab, die aus der Zeit hervorgehen. –

Hiernach entspringt das Gefühl des Sollens in der Menschheit etwa so: Bedürfnisse, Triebe, Begierden, Neigungen, Gewohnheiten bestimmen zunächst das menschliche Handeln. Beim Handeln setzt sich der Mensch Zwecke und strebt mit Bewusstsein diesen Zwecken zu. Durch Übung, Gewohnheit und Sitte werden die den Zwecken dienenden Handlungen, die dem Einzelnen und der Gemeinschaft nützlich sind, als gut, deren Gegenteil als schlecht bezeichnet. Die Gesetzgebung, Dichtung und Philosophie fixieren diese Erfahrungen als ethische Grundsätze, und Geschlecht auf Geschlecht lernt sie, wendet sie an, überliefert sie weiter und bildet sie aus. Dadurch entspringt in der Seele der zivilisierten Menschen jenes Gefühl des Sollens, welches sich im Allgemeinen als Gewissen, im speziellen als Pflichtgefühl für den einzelnen Fall (Beruf oder Tat) bezeichnen lässt.

Das Sollen lässt sich also für den Empiristen nicht aus religiöser Begründung, auch nicht aus äußerem Zwang, wohl aber aus der natürlichen Entwicklung der Menschheit ableiten.

Nietzsche (1844-1900) leugnet, dass ein Sollen überhaupt vorhanden und auf irgend eine Weise begründbar sei. Es findet aber tatsächlich seine Begründung aus dem sozialen Leben der Menschen. Aber im Einzelnen ist natürlich die besondere Ausgestaltung des Sollens und der Pflichten der Kritik unterworfen und keineswegs für alle Zeiten gleich maßgebend. Vergleiche Gesetz, Moralprinzip.

Somnambulismus S. 528
Schlafwandeln oder Schlafhandeln ist ein traumhafter Zustand, in welchem der Mensch in einseitiger Weise für Sinneseindrücke empfänglich ist und zu gleich Willenshandlungen ausführt. Manchmal scheinen einzelne Sinne im Schlafwandeln seltsam abgeschlossen gegen Reize von außen. Oft aber ist ein Hellsehen (clairvoyance) vorhanden, indem der Mensch Dinge bemerkt, die der gewöhnlichen Sinnestätigkeit entgehen.

Die Grade des Somnambulismus sind verschieden. Am häufigsten kommen motorische Funktionen im Traume in den Sprechorganen vor und rufen das Sprechen im Schlafe hervor. Manche Somnambulen gehen umher, andere verrichten mechanische, manche sogar geistige Beschäftigungen (Schriftstellerei, Komposition). Die Entstehung des Zustandes ist dunkel.

Früher führte man ihn auf den so genannten tierischen Magnetismus zurück, der durch den Magnetiseur in seinem Medium erzeugt werde. Heutzutage glaubt man die Ursache des Schlafwandelns in einer dauernden Fixierung eines glänzenden Gegenstandes oder im wiederholten Streichen des Gesichts gefunden zu haben, wodurch der Geist förmlich gelähmt und in Tiefschlaf (Hypnose) versenkt werde. Besonders Schelling (1775—1854) suchte dieses ganze Gebiet für die Philosophie zu verwerten; nach ihm gehört das Wachen dem idealsolaren, das magnetische Schlafleben dem real-tellurischen Pol an, deren jedes das gesamte Geistesleben umschließe. Ja, seine Schüler hielten das Hellsehen für völlige Entleiblichung und Versetzung in Gott (so Kerner, Jung-Stilling, Eschenmayer). Auch Schopenhauer, J. H. Fichte und Fortlage legen zu viel Gewicht auf diese Zustände; so nennt der erste z. B. den Schlafwandel »Wahrtraum«. Im Allgemeinen ist vieles, was vom Schlafwandeln und Schlafhandeln überliefert ist, übertrieben und ausgeschmückt; auch läuft Betrug und Selbsttäuschung mitunter, so dass alle Berichte und Schaustellungen mit Vorsicht aufzunehmen sind. Vgl. R. Heidenhayn, der sog. tier. Magnetismus. 1888. A. F. Weinhold, Hypnot. Versuche. 1888. G. H. Schneider, die psychol. Ursache der hypnotischen Erscheinungen. 1880. Wundt, Grundz. d. phsiol. Psychol. II. S. 449ff.


Sophist (gr. sophistês)
S. 584f.
hieß ursprünglich bei den Griechen jeder denkende Mensch, der sich durch seine Beschäftigung mit geistigen Dingen über das praktische Alltagsleben erhob.

Sophisten waren also geistig Gebildete, nicht bloß Weise, Philosophen, sondern auch Dichter, Künstler, Ärzte usw.

Seit Sokrates (469-399) aber änderte sich der Sprachgebrauch: mit dem Überhandnehmen des Parteihaders und der Aufklärung waren Männer willkommen, welche den Einzelnen durch Bildung und Redefertigkeit befähigten, sich im öffentlichen Leben geltend zu machen. Das taten die Sophisten. Daher genossen sie hohes Ansehen und wurden gut bezahlt. Sie trugen vorzüglich dazu bei, ihre Zeitgenossen gebildet, selbständig und aufgeklärt zu machen. Freilich erregte es auch Anstoß, dass sie Bezahlung nahmen; der Dünkel einzelner unter ihnen, die Prahlerei mit Kenntnissen und Beredsamkeit, die dreiste Rechthaberei und Betonung der Form stieß ernstere Männer ab, zumal manche Sophisten charakterlose Menschen waren.

Daher wurden sie von Sokrates, Platon und Aristoteles als verschmitzte Menschenjäger und feile Mäkler mit Kenntnissen geschildert, die durch Trugschlüsse den Verstand verwirrten und statt wahrer Wissenschaft nichtige Scheinweisheit verbreiteten.

Aus der Masse der Sophisten heben sich aber als wirkliche Philosophen ab: Protagoras aus Abdera, Gorgias aus Leontini, Hippias aus Elis und Prodikos aus Keos. Der gemeinsame Zug ihrer Philosophie liegt in der Ablenkung der Forschung von der Natur auf das Ich und in dem Gedanken, dass das einzelne Ich Richter über das Wahre und Gute sei.

Protagoras (480 bis 410) lehrte, dass der Mensch das Maß der Dinge sei, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind (pantôn chrêmatôn metron anthrôpos, tôn men ontôn hôs estin, tôn de ouk ontôn hôs ouk estin, Diog. Laert. IX, § 51),

Gorgias
(ca. 483-375) behauptete, dass überhaupt nichts sei, oder wenn etwas sei, dass es nicht erkannt, oder wenn es erkannt, dass es nicht mitgeteilt werden könnte
(Sextus Emp. adv. Math. VII, 65 ff.).

Hippias (um 430) sprach aus, dass das Gesetz ein Tyrann der Menschen sei und sie zu vielem wider ihre Natur zwinge (ho de nomos tyrannos ôn tôn anthrôpon polla para tên physin biazetai Plat. Prot. p. 337 D).

Prodikos (um 430) betrieb praktische Sittenlehre, indem er Mythen allegorisch ausdeutete.
Vgl. Wecklein, die Sophisten. 1865.Schanz, die Sophisten. 1867.

Sophistik S. 585
ist nach Aristoteles die Philosophie des Scheines, d.h. die Kunst, durch falsche Dialektik das Wahre mit dem Falschen zu verwirren und durch Disputieren, Widerspruch und Schönschwatzen Beifall und Reichtum zu erwerben; sophistisch heißt demnach trügerisch, Sophisterei ein verfängliches Räsonnement.

Spekulation (lat. speculatio) S. 587f. Siehe auch bei Eisler
eigentlich Betrachtung oder Anschauung, bezeichnet die Erforschung eines die gemeine Erfahrung übersteigenden Erkenntnisinhaltes. Je nach ihrem Standpunkte verstehen die Philosophen unter spekulativem Wissen und spekulativer Methode etwas anderes.

Die Neuplatoniker und Schelling (1775-1831) denken sich darunter ein von dem reflektierenden Denken unabhängiges geistiges Schauen überirdischer Dinge.

Hegel (1770-1854) dagegen nennt spekulativ oder positiv vernünftig das Denken, welches durch die dialektische Methode alle Widersprüche in immer höhere Einheiten aufhebt.

In dieser Bedeutung nennt Rosenkranz (1805-1879) die spekulative Methode die produktive Dialektik der Idee und Michelet (1801-1893) das Absolute selbst.

Herbart (1776-1841) sieht die spekulative Methode in der Bearbeitung der Begriffe und Ausscheidung der darin versteckten Widersprüche.

Ulrici (1806-1884) definiert die Spekulation als das produktive ergänzende und abrundende Schauen, womit aus den Teilen und Bruchstücken, die uns vorliegen, das Ganze einerwissenschaftlichen Weltanschauung herausgeschaut und von dieser erschauten Einheit (der Idee) die gegebenen Glieder geordnet und die fehlenden ergänzt werden. Diese Definition hat ihre Berechtigung, insofern die Phantasie ein wesentlicher Faktor des produktiven Philosophierens ist.

Die Norm des Spekulierens liegt natürlich in den Denkgesetzen und den Resultaten der Erfahrungswissenschaften.

Sphäre (gr. sphaira) S. 588
Kugel oder Kreis, bezeichnet logisch den Umfang eines Begriffs (Subjekts oder Prädikats) oder auch einer Wissenschaft.

Die Darstellung der Verhältnisse zwischen Begriffen und Urteilen durch Kreise rührt wahrscheinlich von Chr. Weise, Rektor in Zittau († 1708), her.

Kant (1724-1804) wendete Quadrate und Kreise zugleich an.

Sprache S. 591ff.
heißt im
weiteren Sinne jede Mitteilung innerer Zustände eines lebenden Wesens an andere durch Ausdrucksbewegungen oder Zeichen. So gibt es eine Gebärden-, Mienen-, Augen- und Lautsprache. Insoweit haben nicht nur Menschen, sondern auch manche höher organisierte Tiere eine Sprache.

Im
engeren Sinne ist aber Sprache die Äußerung und Mitteilung von Gefühlen, Gedanken und Willensregungen durch artikulierte Laute, Wörter und Wortverbindungen. Eine solche völlig entwickelte Lautsprache besitzt nur der Mensch, der in der Fähigkeit aktiver Apperzeption das Tier übertrifft, und bei dem die Verbindung der Stimm- und Gehörsnervenfasern innerhalb des Zentralorgans eine höher entwickelte als bei den Tieren ist. Die Lautsprache ist dem Menschen nicht angeboren, nicht also ein Geschenk Gottes, auch nicht von den Menschen erfunden, nicht also ein beabsichtigtes Werk des Menschen, sondern sie ist ein notwendiges Entwicklungsprodukt seines Geistes, das, einmal entstanden, zugleich auch das wichtigste Werkzeug der Ausbildung seiner Gedanken geworden ist.

Die Frage nach dem Ursprung der Sprache kann durch historische Forschung nicht zur Beantwortung gebracht werden. Sie muss vielmehr aus der Wirksamkeit derjenigen Faktoren gelöst werden, die auch jetzt noch in der lebendigen Sprache tätig sind.

Die Sprache ist zunächst ein psychophysisches Gebilde. Sie entwickelt sich nur bei Menschen, die den Gehörsinn besitzen. Der Taubgeborne lernt, trotzdem ihm die physische Fähigkeit dazu nicht abgeht, nicht auf natürliche Weise sprechen, weil er nicht hören kann. Das Gehör ist also die psychische Vorbedingung der Sprachentstehung.
Sprache ist die von Menschen produzierte und zugleich gehörte Summe von Lautvorgängen. Der Zusammenhang zwischen Gehör und Sprachvermögen ist ein um so wertvolleres Moment der menschlichen Organisation, als ein gleicher Parallelismus für das Gesicht nicht existiert.

Licht und Farben, die wir sehen, können wir mit unsern Organen nicht hervorbringen.

In der Lautsprache verbinden sich Laut und Bedeutung miteinander. Die Urschöpfung der Sprache ist also die Verbindung des Lautes mit der Bedeutung; aber zur Sprache wird diese Verbindung erst dadurch, dass sie von dem Sprechenden festgehalten und reproduziert und von anderen verstanden und gleichfalls reproduziert und so zu etwas Bleibendem und Wiederkehrendem wird.

Die ersten Sprachlaute sind Reflexe, Trieb- und Ausdrucksbewegungen, Äußerungen, bei denen Gefühl und Anschauung noch innerlich verbunden sind. Die Sprache ist auf dieser Stufe pathognomischer
[charakteristischer] Affektausdruck, also wesentlich interjektional [Empfindungslaut] (pathognomische Sprachperiode). Der Laut hat aber ferner in diesem Entwicklungspunkte eine innere Verwandtschaft zu dem, was ihn hervorgerufen hat. Die Lautbedeutung ist daher Onomatopöie, Nachahmung eines Schalls oder natürliche Wiedergabe der Empfindung eines anderen Sinnes durch eine verwandte Klangbildung.

Nachdem für den Sprechenden eine solche Verbindung zwischen dem Laut und der Bedeutung entstanden ist, ist ihre Reproduktion seitens des Sprechenden bei Wiederkehr gleichen Anlasses nach dem Gesetze der Assoziation verständlich; und ebenso ist für den Hörenden, der dieselbe Ursache der Verbindung des Lautes mit seiner Bedeutung miterlebt, das Verständnis und die Möglichkeit der Reproduktion gegeben.

So entstehen die ursprünglichsten Bestandteile der Sprache, die Sprachwurzeln, die zunächst nur Sinneswahrnehmungen bezeichnen können. Aus sinnlicher Bedeutung werden aber dann allmählich andere verwandte Bedeutungen gebildet, und es entwickelt sich, wobei sich das ursprüngliche Verhältnis zwischen Laut und Bedeutung natürlich löst, aus dem Konkreten das Abstrakte, indem eine Vorstellung durch die andere bereits vorhandene apperzipiert wird. Diese Stufen der etymologischen Sprachentwicklung und des Sprachgebrauchs, in denen Bedeutungswandel und Lautwandel die Lebensprozesse der Sprache sind, geben ihr erst den Reichtum an Worten und Bezeichnungen, dessen sich die entwickelten Sprachen erfreuen, machen aber das Wort zu einem mehr willkürlichen Zeichen des Gedankens. Und weiter bilden einzelne Sprachen durch Zusammensetzung, Ableitung und Flexion, wobei wiederum Laut und Bedeutungswandel innig ineinander greifen, den Ausdruck syntaktischer Beziehungen heraus, und es entsteht auf der Stufe des grammatischen Baues aus der Sprache die Möglichkeit, logische Beziehungen bequem zu denken und darzustellen. So muss die Sprache als Produkt der geistigen Entwicklung des Menschengeschlechts gelten, und Sprachforschung und Psychologie stehen in engster Verbindung miteinander.

Die geschichtliche Entwicklung der menschlichen Sprache hat bisher nicht zu der Herrschaft einer Gemeinsprache geführt. Nur eine Reihe von Einzelsprachen und Sprachfamilien sind im Laufe der Kulturentwicklung entstanden. Der Form nach unterscheidet man unter ihnen

isolierende oder einsilbige Sprachen [Sprachen, die die Beziehungen der Wörter im Satz nur durch die Wortstellung ausdrücken] (z.B. das Chinesische), d.h. solche, die nur Wurzeln besitzen und die Beziehungen derselben nicht zum Ausdruck bringen,

agglutinierende Sprachen
[Sprachen, die zur Ableitung und Beugungen (Affixe an den Wortstamm tretende kleinste sprachliche Gestaltungseinheit) an das unverändert bleibende Wort anfügen] (z.B. die finnisch-tatarischen Sprachen), d.h. solche, die den Ausdruck für Beziehungen durch Anfügung (Nachsetzung, Vorsetzung, Hineinsetzung) der Beziehungslaute an die Wurzel besitzen, und

flektierende Sprachen [Sprachen, die die Beziehungen der Wörter im Satz zumeist durch Flexion (Beugung) ausdrücken] (z.B. das Indogermanische), d.h. solche, in denen der Ausdruck der Beziehung sowohl durch Anfügungen als durch innere Veränderungen der Wurzeln erfolgt.

Die Erforschung der Sprache beginnt mit den Griechen; doch haben diese sich auf die eigene Sprache beschränkt und, indem sie wesentlich den logischen Gehalt der Sprache erfassten, nur die Terminologie für die Redeteile geschaffen, in denen sie fälschlich auch zugleich die Satzteile sahen. Die Anfänge der griechischen Sprachforschung liegen bei den Sophisten
(5. Jahrh. v. Chr.), von Bedeutung war Aristoteles (384 - 322), der Abschluss fällt den Stoikern zu.

Die Römer haben die griechische Terminologie auf die lateinische Sprache angewandt und, zum Teil mit groben Missverständnissen, ins Lateinische übersetzt.

In der Neuzeit ist die griechisch-römische Terminologie auf alle europäischen Sprachen übertragen worden.

Neue Prinzipien in der Sprachforschung tauchen nach den Griechen erst gegen
Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts bei den Deutschen auf. Es entsteht die philosophisch-historische Sprachwissenschaft. An der Spitze derselben steht Herders (1744 bis 1803) Abhandlung über den Ursprung der Sprache (verfasst 1770), in der er nachwies, dass der Mensch kraft des Charakters seiner Gattung, der Merkmale suchenden Besonnenheit, unterstützt von der ihn tönend umgebenden Natur, sich notwendig Sprache und Poesie habe erschaffen müssen.

Eine umfassende Sprachphilosophie schuf dann Wilhelm von Humboldt
(1767-1835) auf der Grundlage historischer Kenntnis der verschiedensten Sprachen und der Kantischen Philosophie. Ihm ist die Sprache der sich offenbarende und mitteilende menschliche Geist, der Übergang vom Geist zur Erscheinung, kein Werk, sondern Energie, in der der ganze Mensch energiert, und ihm dient die Sprachwissenschaft dazu, eine Charakteristik des Menschen bezüglich seiner idealen Fähigkeit und realen Leistung zu geben. Sein Hauptwerk ist das Werk über die Kawisprache, mit seiner Einleitung über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (erschienen 1836-1839). Die von Humboldt geschaffene Sprachphilosophie hat ihre Fortsetzer in Steinthal und Lazarus gefunden.

Während
W. v. Humboldt die neuere Sprachphilosophie begründete, erforschte Jacob Grimm (1785-1863) die historische Entwicklung der germanischen Sprachen und gab in seiner Deutschen Grammatik (seit 1819) das erste Beispiel einer geschichtlichen Behandlung des Sprachstoffes, und um dieselbe Zeit widmete sich Franz Bopp (1791-1867) dem Sprachstudium mit der Absicht, hierdurch in das Geheimnis des menschlichen Geistes einzudringen. Er wurde der Schöpfer der Sprachvergleichung und lieferte für den indogermanischen Sprachstamm den Nachweis der Verwandtschaft der einzelnen Sprachen und zugleich den ersten Nachweis der Entstehung grammatischer Formen. Was z.B. Deklination und Konjugation ist, hat Bopp zuerst im Wesen aufgehellt. Sein Hauptwerk, die vergleichende Grammatik (1. Aufl. 1833-1852, 2. Aufl. 1856-1861, 3. Aufl. 1868), hat den tiefsten Einfluss auf die Sprachforschung im 19. Jahrhundert ausgeübt, obwohl anfangs die klassische Philologie sich in grober Kurzsichtigkeit und Parteilichkeit gegen die Sprachvergleichung feindselig verhielt. Die von W. v. Humboldt, J. Grimm und Bopp gegebenen Gesichtspunkte der Sprachforschung sind anfangs gesondert voneinander, dann zusammenwirkend, die Linien geworden, auf denen sich alle Sprachwissenschaft fortentwickelt hat.

Dominierend ist die historisch-vergleichende Behandlung der Sprachen; aber auch die philosophische Grundlegung, freilich befreit von den Fesseln einseitiger Metaphysik, ist nicht zu entbehren und bildet heute kaum noch einen Gegensatz zur historischen Richtung. Kräftig einwirkend ist in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den neu gewonnenen Gesichtspunkten der Forschung der phonetische hinzugetreten, der erst der natürlichen Seite der Sprache die volle Aufmerksamkeit zugewandt hat. Von diesem Standpunkte aus betrachtet man die Laute darauf hin, wie sie akustisch wirken und wie sie durch die Artikulationsorgane hervorgebracht werden, und erklärt die Veränderungen in der Sprache aus den Modifikationen der Stellung der Sprachwerkzeuge.

Man fasst daher die Sprachgesetze als Naturgesetze auf. Die
Phonetik hat ihre wichtigsten Vertreter in Brücke (Grundzüge der Physiologie und Systematik der Sprachlaute. 1856), Merkel (Physiologie der menschlichen Sprache. 1866), Rumpelt (das nat. System d. Sprachlaute. 1869), G. Michaelis der zuerst an der Berliner Universität sprachphysiologische Vorlesungen hielt (Zeitschrift für Stenographie und Orthographie. 1853 ff.), Bell (Sounds and their relations. 1882; Visible Speech. 1867), Scherer, zur Gesch. d. deutschen Sprache, Trautmann (Sprachlaute. 1884-86), Sievers (Phonetik. 1876, 3. Aufl. 1885), Sweet (Handbook of Phonetics. Oxford 1877) usw. gefunden.

Aber auch der phonetische Gesichtspunkt ist nur eine Seite, und zwar nicht die höchste der Sprachbehandlung und hat sich den anderen beizuordnen, nicht überzuordnen, was ihm in der Gegenwart noch nicht immer gelingen will.
Vgl. Steinthal, Abriß der Sprachwissenschaft. 1872 ff.; Whitney, die Sprachwissenschaft (übersetzt von Jolly. 1874); L. Geiger, Ursprung und Entwicklung der menschlichen Sprache und Vernunft. 1868; Bleek, über den Ursprung der Sprache. 1868; Marty, über den Ursprung der Sprache. 1876; Noiré, der Ursprung der Sprache. 1887; H. Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte, 3. Aufl., 1898; H. Oertel, Lectures on the Study of Language. 1901; K. Bruchmann, die neueste Sprachphilosophie (Preuß. Jahr., Bd. XLI, S. 409-420); Wundt, Grundriß d. Psychol. 1905 § 21, 3.S. 367 ff.

Sprung (lat. saltus) S. 596
nennt man eine Lücke im Beweise (in concludendo vel demonstrando). Da jeder Beweis auf einer engen Verknüpfung seiner Glieder beruht, ist jeder Sprung ein Fehler. Auch auf dem naturwissenschaftlichen Gebiete wird der Sprung meist durch Hinweis auf das Gesetz der Stetigkeit abgewiesen, wonach es in der Natur nur allmähliche, aber nicht unvermittelte Übergänge gebe (in mundo non datur saltus). Die Mutationstheorie erkennt diesen Satz nicht ohne weiteres an. Vgl. Mutation.

Stein der Weisen (lat. lapis philosophorum) S. 600f.
hieß nach dem Glauben der Kabbalisten und Alchymisten das Mittel, Gold zu machen, den Krankheitsstoff aus dem Körper zu beseitigen und das Leben zu erneuern. Man nannte es auch das allgemeine Auflösungsmittel, das große Magisterium, die rote Tinktur oder das große Elixir. Nach dem mythischen Hermes Trismegistos nannte man die Goldmacherkunst auch die hermetische. Dieser Ausdruck kommt schon in dem Aristoteles untergeschobenen Buche »de practica lapidis philosophici« vor. Vgl. Schmieder, Geschichte der Alchymie. Halle 1832. F. Renau, Eau de Jouvence. Paris 1880.

Stetigkeit (lat. continuitas) S. 600 Siehe auch bei Eisler
heißt der ununterbrochene Zusammenhang äußerer oder innerer Vorgänge oder Größen. Stetige Größen sind solche, deren Teile nicht voneinander gesondert werden können, weil sie ineinander fließen. Daher scheinen sie in das Unendliche teilbar. Solche stetigen Größen sind Raum, Zeit und Bewegung. Obgleich der Begriff des Stetigen den scheinbaren Widerspruch in sich schließt, dass eine endliche Größe gedacht werden soll, die aus einer unendlichen Zahl von Teilen besteht, so kann man ihn doch mathematisch fixieren (Differentialrechnung).

Auch auf die Zahlen ist das Gesetz der Stetigkeit in der Weise übertragen worden, dass gezeigt worden ist, es lasse sich ein stetiger Übergang von einer ganzen Zahl zur nächstfolgenden herstellen (Dedekind). -

Das Gesetz der Stetigkeit (lex continui) verbietet sowohl vom logischen als auch vom metaphysischen Gesichtspunkte jeden Sprung.

Streben S. 605f.
heißt jede tierische oder menschliche Tätigkeit, die auf ein Ziel gerichtet ist, dessen Erreichung Hindernisse im Wege stehen.

Ein Streben entsteht überall da, wo ein mehr oder minder bewusster Wille in seiner Bahn gehemmt wird. Wir finden das Streben daher durch die ganze Welt des tierischen und menschlichen Lebens hin verbreitet, in dem überall verschiedene Kräfte in Wechselwirkung stehen.

Das Tier wie auch der Mensch strebt instinktiv nach Befriedigung seiner Triebe; unsere Sinne streben nach dem, was ihrer spezifischen Energie zusagt; so streben wir nach Erkenntnis, Glückseligkeit, den verschiedenen Gütern der Erde usf. Vergleiche Begierde, Wille, Trieb

Subjekt S. 606f.
heißt eigentlich der zugrunde liegende Gegenstand (gr. to hypokeimenon) vgl. Substanz. Demgemäß bezeichnet damit die Logik dasjenige Glied des Urteils oder Satzes, von dem der Denkprozess seinen Ausgang nimmt und dem eine Bestimmung gegeben werden soll. Das Subjekt schließt die Quantität des Urteils in sich ein, indem es den Umfang von Gegenständen angibt, von welchen das Urteil gilt. –

Sodann versteht man metaphysisch jetzt unter Subjekt das menschliche Ich, also ein vorstellendes erkennendes, fühlendes und handelndes Wesen im Gegensatz zum Objekt, d.h. dem Gegenstande des Erkennens, Fühlens und Handelns. Sofern das Subjekt sich selbst Gegenstand werden kann, heißt es Subjekt-Objekt. Vgl. Objekt.

subjektiv S. 607
heißt im weiteren Sinne alles dasjenige, was nur im Subjekt existiert; im engeren Sinne heißen so solche Gedanken und Empfindungen, welche bloß in der besonderen oder individuellen Natur des Vorstellenden und Empfindenden begründet sind, während die objektive Erkenntnis und Empfindung durch die Natur der Sache selbst bestimmt ist (vgl. Objekt).

Diese Bedeutung des Wortes ist übrigens erst in neuerer Zeit (innerhalb der Wolfschen Schule) aufgekommen; im Mittelalter (seit Duns Scotus 1265-1308) nannte man dasjenige subjektiv, was der Sache, dem Vorgestellten (subjectum) zukommt, objektiv (von obiicere = vorstellig machen) hingegen die Vorstellung davon. –

Unsere Subjektivität beweist dadurch ihre Macht, dass wir alle Dinge zunächst von dem Gesichtspunkt des eigenen Nutzens aus ansehen; niemand kann seine Subjektivität völlig verleugnen, selbst in wissenschaftlichen Fragen nicht. Nur einzuschränken vermag man ihren Einfluss durch allgemeine Gedanken, Gefühle und Interessen. Den theoretischen Subjektivismus vertreten die Sophisten (»der Mensch ist das Maß aller Dinge«), den praktischen die Egoisten (Stirner, Nietzsche).

In Geschmacks- und Glaubenssachen ist die Subjektivität am Platze, nicht aber in der Wissenschaft, die nach objektiver Wahrheit strebt. Vgl. Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipzig 1904, S. 11 ff.

Substanz (lat. substantia, gebr. seit Quintilianus [Inst. or. 3, 6, 8], gr. ousia, hypostasis, to hypokeimenon) S. 608ff.
heißt das Selbständige, das Fürsichbestehende gegenüber dem Unselbständigen, Anhaftenden (den Eigenschaften oder Akzidenzen) oder das Beharrende gegenüber dem Wechselnden (den Zuständen).

Der Substanzbegriff ist einer der schwierigsten und schwankendsten Grundbegriffe des Denkens. In der ältesten griechischen Philosophie spielt statt seiner der Begriff der hylê (des Stoffes) eine wichtige Rolle.

Dieser fängt an sich in der Lehre des Herakleitos (um 500 v. Chr.) vom Fluss der Dinge zu verflüchtigen.

Durch die Eleaten wird dagegen der Begriff des wahrhaft Seienden zuerst unabhängig von der Erfahrung logisch und im Gegensatz zum Begriffe des nur scheinbar Seienden geformt und damit der Substanzbegriff eingeleitet.

Platon (427 bis 347) sucht darauf das Substantielle (ousia) in den allgemeinen Begriffen oder Ideen in Absonderung von der Sinnenwelt.

Aristoteles (384-322), der die Idee in dem Stoffe, das Allgemeine im Einzelnen suchte, bringt es nicht zu einer festen abschließenden Definition der Substanz. Aristoteles nennt Substanz (ousia, to hypokeimenon) bald das Beharrende, den Träger der wechselnden Affektionen (symbebêkota) (Analyt. poster. I, 21 p. 83a 24 ff.), bald das Selbständige (Metaph. VI, 3 p. 1029a 8), bald die der Materie innewohnende Form (Metaph. IV, 8 p. 1017b 25), bald das Wesentliche (Metaph. VI, 3 p. 1029a 1), bald auch das Einzelding (Kategor. 5 p. 2a 18). Er unterscheidet endlich auch drei Substanzen, die Materie, die Gestalt und das Produkt beider (Metaph. VI, 3. p. 1029a 2).

Im Mittelalter schloss man sich in der Bestimmung des Substanzbegriffes entweder an Platon (Idee) oder an Aristoteles (Form) an.

Cartesius (1596-1650) definierte die Substanz als ein Ding, welches zu seiner Existenz keines anderen Dinges bedarf (per substantiam nihil aliud intelligere possumus, quam rem, quae ita existit, ut nulla alia re indigeat ad existendum), und nahm zwei Arten von Substanzen an, die unerschaffene, die allein dem Begriffe der Substanz genau entspricht, und die erschaffenen Substanzen, die nur der unerschaffenen zu ihrer Existenz bedürfen. Substanz im ersten Sinne ist nur Gott, das Wesen, das zu seiner Existenz durchaus keines anderen Wesens bedarf; Substanzen im zweiten Sinne sind die ausgedehnte und denkende Substanz, die zu ihrer Existenz nur der Mitwirkung Gottes bedürfen.

Spinoza (1632-1677), der dem Begriff der Substanz strengere Einheit geben wollte, ließ nur eine unendliche, ewige und notwendige Substanz gelten, welche in sich sei und durch sich begriffen werde, nämlich Gott. Denken und Ausdehnung galten ihm nur als Attribute Gottes.

Leibniz (1646-1716) bestimmte das Wesen der Substanz als tätige Kraft, als Vorstellung, und nahm eine unendliche Zahl von Substanzen (Monaden) an.

Locke (1632-1704) hat zuerst in der Neuzeit den Substanzbegriff, wie er vom Altertum und Mittelalter her überliefert war, scharf kritisiert und gezeigt, er bezeichne nichts als den gänzlich unbekannten Träger gewisser Eigenschaften.

Hume (1711-1776) löste dann den Substanzbegriff, ebenso wie den Kausalitätsbegriff völlig auf. Durch sinnliche Eindrücke werden nur Zustände und Möglichkeiten, nicht Substanzen wahrgenommen. Ebenso wenig gewinnen wir die Substanz durch innere Erfahrung. Das unbekannte Etwas, an dem die Eigenschaften haften sollen, ist nur eine Erdichtung der Einbildungskraft. Die beharrliche Gleichheit der Attribute rechtfertigt nicht die Annahme eines beharrenden Trägers derselben. Die Substanz ist nichts weiter als das Zusammensein der Eigenschaften.

Kant
(1724-1804) bestimmt den Substanzbegriff als Kategorie der Relation in Korrelation mit dem Begriff der Akzidenzen. Die Substanz ist für ihn das Beharrliche, der Träger der wechselnden Akzidenzen.

J. G. Fichte (1762-1814) leugnet die Realität der Substanz überhaupt, indem er behauptet, sie sei nur die Totalität der Glieder eines Verhältnisses.

Während Schelling (1775-1854) auf Spinozas pantheistischen Standpunkt bezüglich der Substanz zurückkehrt, ist für

Hegel (1770-1831) die Substanz oder das Absolute das Subjekt, welches in Wahrheit wirklich ist.

Herbart (1776 bis 1841) sah wieder, wie Locke, in der Inhärenz der Eigenschaften ein Problem; aber ersuchte dies Problem positiv zu lösen; die Substanz ist ihm das unbekannte Eine, dessen Setzung die verschiedenen Setzungen der Merkmale repräsentiere; sie ist das vermisste Subjekt, welches unserer Kenntnis fehlt, in der Natur aber nicht fehlen kann. So verschwindet bei näherer Betrachtung der Begriff der Sache, und der der Substanz tritt an ihre Stelle. Ähnlich wie Leibniz nimmt er dann als letzte Substanzen eine unendliche Vielheit von Realen an.

Schopenhauer (1788-1860) sieht in der Substanz nur eine Abstraktion der Materie, die jedoch zwecklos, ja fehlerhaft sei, weil dabei die heimliche Nebenabsicht unterlaufe, durch Erschleichung (subreptio) den Begriff der Seele als einer immateriellen Substanz zu gewinnen.

Wundt (geb. 1832) sieht in der Substanz den Begriff eines vom Subjekte unabhängigen Gegenstandes, dessen sich die Naturwissenschaft, welche die Dinge mittelbar in Abstraktion vom Subjekte betrachtet, als Hilfsbegriffs bedient.

Der Begriff Substanz hat also bisher keine allgemein anerkannte Bestimmung gefunden, sondern man versteht darunter entweder den Stoff, oder das seiende Ding, oder die Kraft, oder die Form, oder das Absolute, oder das Sein der Natur, oder das Sein des Geistes, oder man leugnet ihre Existenz ganz ab usw.

Trotzdem kann das Denken des Substanzbegriffs nur schwer entbehren und fasst ihn formal entweder als das Selbständige gegenüber dem Anhaftenden, oder als das Beharrliche gegenüber dem Wechselnden, also als den festen Ausgangspunkt in aller räumlichen Zerstreuung und in allem zeitlichen Wandel des Daseins. Der Mensch anthropomorphosiert, indem er begreift, und indem er sein ihm durch Erfahrung innerlich bekanntes eigenes Ich in die Welt hineinträgt, schafft er den Substanzbegriff, ohne den er nicht im Denken vorwärts kommt (vgl. Julius Schultz, die Bilder von der Materie 1905).

Durch bloße Wahrnehmung ist die Substanz nicht aufzufinden, sie ist vielmehr eine Begriffsform, durch die das Sein gedacht, nicht angeschaut wird. Ob ihr metaphysisch etwas entspricht und was ihr metaphysisch entspricht, ob ein Materielles, oder ein Geistiges, oder ein Absolutes, oder ein uns völlig Unbekanntes, oder ein Nichts, ist die Grundfrage der Metaphysik und eines der schwersten Probleme (vgl. Metaphysik).

Die Anhänger der Aktualitätstheorie glauben ohne die Substanz auskommen zu können.

Substrat (v. lat. substernere = unterbreiten gr. to hypokeimenon), S. 610
eigtl. Unterlage, Träger, heißt die Substanz in Bezug auf ihre Akzidenzen.

Subsumption (nlt. v. lat. sub = unter und sumere = nehmen), Unterordnung, S. 610
nennt man die Beziehung des Artbegriffs auf den Gattungsbegriff;

subsumieren heißt etwas unterordnen, einbegreifen. Vergleiche Begriff, Urteil, Schluss.

Sünde (eigtl. ahd. sunta, suntea = Verneinung, Verweigerung) S. 611
heißt jede unsittliche Handlung, insofern man sie als Übertretung eines göttlichen Gebotes ansieht, mag sie in Gedanken, Worten oder Werken, Mienen oder Gebärden, Taten oder Unterlassungen bestehen.

Sünde ist mithin dasselbe wie Unsittlichkeit, nur dass man dabei an Gott als den Urheber und Hüter des Sittengesetzes denkt. Man unterscheidet vorsätzliche und unvorsätzliche, wissentliche und unwissentliche, erbliche und erworbene, allgemeine und besondere, positive und negative Sünden (Begehung und Unterlassung), ferner Sünden aus Unwissenheit, Übereilung, Nachlässigkeit, Schwachheit, Vorsatz und Bosheit.
J. Müller, d. christl. Lehre v. d. Sünde. 5. Ausg. 1867. Martensen, Ethik. 1880.


Syllogismus (gr. syllogismos v. syllogizesthai) S. 612
heißt der Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere (s. Schluss). Syllogistik ist die Lehre von solchen Schlüssen; das syllogistische Verfahren oder die Deduktion steht der Induktion gegenüber.

Synthesis oder Synthese (gr. synthesis), S. 613f.
eigentlich Zusammenstellung, Verknüpfung, Verbindung, ist das Gegenteil von Analysis. Die Synthesis besteht in der unwillkürlichen oder willkürlichen Verknüpfung, die bei der Auffassung und Verarbeitung der sinnlichen Erscheinungen und unserer eigenen Seelenvorgänge stattfindet, wenn wir die Empfindungen zur Einheit der Anschauung und die Mannigfaltigkeit der einzelnen Merkmale zur Einheit des Begriffs verbinden.

Darum hat Kant das Ich die transzendentale synthetische Einheit der Apperzeption genannt; denn in ihm verschmelzen sich alle Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle und Bestrebungen des einzelnen Menschen zur Bewusstseinseinheit.

Das Maß der Aktivität bei den einzelnen Synthesen (ob Assoziation oder Apperzeption) zu bestimmen, ist Aufgabe der Psychologie.

Eine Synthesis findet bei der Wahrnehmung, bei der Reproduktion, bei der Betätigung des Gedächtnisses und der Phantasie statt.

Am meisten entwickelt sie sich aber beim wissenschaftlichen Denken, d.h. bei der Bildung von Begriffen, Urteilen und Schlüssen. –

Eine synthetische Erklärung ist dann möglich, wenn die Merkmale vor dem Begriffe, zu welchem sie verknüpft werden, bekannt sind und die Art ihrer Verknüpfung unzweifelhaft ist. Hier wird also der Begriff durch das zusammenfassende, konstruktive Denken (z.B. in der Mathematik) erst geschaffen, während die fertig und verbunden gegebenen empirischen Begriffe nur der analytischen Verdeutlichung, d.h. der Zerlegung in ihre Merkmale, unterliegen. –

Ein Urteil heißt synthetisch, wenn sein Prädikat nicht schon, wie beim analytischen, im Subjekt liegt.

So ist (nach Kant) z.B. ein analytisches Urteil: »Alle Körper sind schwer«, ein synthetisches: »Jede Veränderung hat eine Ursache.«

Analytische Urteile erläutern, synthetische erweitern unsere Erkenntnis. Hängt das synthetische Urteil von der Erfahrung ab, so ist es ein synthetisches a posteriori; geht es aus der Vernunft hervor, so ist es ein synthetisches a priori.

Kant knüpft seine gesamte Vernunftkritik an die Frage an: »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« -

Die synthetische Schlussreihe entwickelt, von Prinzipien fortschreitend, Folgerungen, während die analytische rückwärts von den Folgerungen zu den letzten Gründen emporsteigt.

Jenes nennt man auch die synthetische (progressive), dieses die analytische (regressive) Methode.

Jene geht vom Prinzip aus, diese vom Einzelfall; jene empfiehlt sich mehr bei einfacheren, diese bei komplizierteren Phänomenen; jene wird besonders von der Mathematik und der spekulativen Philosophie, diese von der Naturwissenschaft angewandt.

Eine besondere Bedeutung hat die Synthesis noch innerhalb der Methode bei den absoluten Idealisten (Fichte u. Hegel): Hier ist Synthesis die Vermittlung des Gegensatzes von Thesis und Antithesis, durch welche sich das Denken zu höheren Begriffen fortentwickelt.

Synthetismus S. 614f.
heißt diejenige Philosophie, welche Sein und Wissen, Reales und Ideales als ein ursprünglich Gesetztes und miteinander Verbundenes betrachtet und keins von beiden aus dem anderen ableiten will, weil beides zu trennen wegen der Einheit unseres geistleiblichen Wesens unmöglich sei. Dieser Standpunkt steht mithin sowohl dem Realismus, welcher alles Ideale aus dem Realen, als auch dem Idealismus, der alles Reale aus dem Idealen ableitet, gegenüber.

Zu den Synthetisten gehören die Identitätsphilosophen, und auch die Philosophie v. Hartmanns und Krugs ist Synthetismus. Vgl. Identitätsphilosophie.

System (gr. systêma) S. 615f.
heißt die geordnete Verknüpfung zusammengehöriger Dinge zu einem relativ in sich abgeschlossenen Ganzen. Die Möglichkeit solcher Verknüpfung beruht darauf, dass allem Einzelnen eines Gebietes gewisse Übereinstimmungen, Prinzipien oder Regeln zugrunde liegen. So spricht man vom Planeten-, Pflanzen-, Nervensystem usw.

Besonders ist jede reife Wissenschaft ein Ganzes von Erkenntnissen in Form des Systems.

Wissenschaftliche Lehren und Systeme verhalten sich wie Inhalt und Form. Dabei ist die Form keineswegs etwas Gleichgültiges oder nur didaktisch Wertvolles, sondern das feste Gerüst für die Wissenschaft, ohne welche diese nicht bestehen kann.

Das wissenschaftliche System repräsentiert die objektive Wirklichkeit, ihre Gliederung in seiner Gliederung widerspiegelnd.

Systematik ist überall da, wo ein Mannigfaltiges verwandter Gestaltungen oder Betätigungen bewusst auf die Einheit eines Begriffes bezogen wird.
Das systematische Verfahren (die Methode!) steht mithin im Gegensatz zum fragmentarischen, rhapsodischen und willkürlichen.

Die niedrigste Form des Systems ist die Klassifikation, die sich nur nach der logischen Über- und Unterordnung richtet. Höher steht die Systematik nach Grund und Folge; denn sie leitet das Mannigfaltige aus Prinzipien ab und begründet es so. Das Wesen des Systems besteht übrigens nicht darin, dass alle Lehrsätze aus einem Prinzip, sondern dass sie überhaupt aus Prinzipien abgeleitet werden. Alle Glieder müssen in logischem Zusammenhange miteinander stehen, so dass man von einem zum andern mit Notwendigkeit fortgetrieben wird. Es widerspricht auch nicht dem Wesen der Wahrheit oder der Wahheitsforschung, dass in derselben Wissenschaft verschiedene Systeme der Reihe nach aufgestellt werden. –

Die Systeme sind entweder künstliche oder natürliche.

Ein künstliches System ist die Anordnung eines wissenschaftlichen Gebiets nach mehr oder minder willkürlich herausgegriffenen Unterschieden äußerer Merkmale, wobei nicht sowohl der natürliche Zusammenhang der Einteilungsglieder als vielmehr der logische Aufbau der Einteilung nach den vom Menschen gewählten Einteilungsprinzipien die Hauptsache ist. Ein künstliches System kann daher scharfe Grenzen ziehen, ist aber nicht mehr verwendbar sobald das Einteilungsprinzip durch Beibringung neuer Tatsachen eine Abänderung oder Entwertung erfährt (z.B. Linnésches System).

Ein natürliches System ist dagegen eine Anordnung eines wissenschaftlichen Gebietes, die nicht Einzelheiten herausgreift, sondern sich auf sorgfältige Untersuchung und Berücksichtigung aller von der Natur gegebenen Verhältnisse des Zusammenhangs gründet, soweit sie nach dem jeweiligen Stand des Wissens bekannt sind. Ein solches System schafft nur selten so scharfe Grenzen wie ein künstliches. Dafür kann es sich aber den Fortschritten
der Wissenschaft viel leichter anpassen und Verbesserungen erleiden, ohne dass doch sein Bestand gefährdet ist. –
Systematisch heißt eine Erkenntnis, die durch Grundsätze gestützt, klar und vollständig ist.

Systematisch heißt der Beweis, welcher auf Grundsätze zurückgeht und mit ihnen folgerichtig in Zusammenhang steht.

Die Systematik oder Methodenlehre ist ein Teil der Logik.


Tat oder Handlung S. 618f.
ist ein Vorgang in der Außenwelt, welcher von einem sittlich vernünftigen Wesen ausgeht. Der Kausalzusammenhang zwischen der Tat und dem Ich des Täters wird durch die Vermittlung des Wollens hergestellt. Tätigkeit bezeichnet jede Art von Wirksamkeit, die von Menschen ihren Ausgang nimmt.

Tatsache (lat. res facti) S. 619
heißt alles Vorhandene oder Geschehende, das durch äußere oder innere Wahrnehmungen erfasst wird.

Tatsachen können nur anerkannt oder verworfen werden; dem Streit unterliegen sie selbst nicht; nur darüber kann Zweifel entstehen, ob sie geschehen seien oder nicht.

Daher der Satz: Tatsachen beweisen (facta loquuntur).

Bewusste Auffassung von Tatsachen heißt Empirie (Erfahrung).

Der Empirismus erkennt nichts an, was sich nicht mit Tatsachen belegen lässt. Die Erfahrung ist entweder eigene (Autopsie) oder fremde (Zeugnis). Auf fremder Erfahrung beruht der so genannte Zeugenbeweis, auf welchen sich alles historische Wissen zu stützen hat. Vergleiche Kritik, Prinzip, Empirie.

Tat tvam asi (sanskr. [...] = das bist du) S. 619 Siehe auch bei Eisler
ist ein Satz der Brahmalehre, der den Gedanken von der Subjektivität der Außenwelt ausdrückt.

Schopenhauer (1788-1860) sieht ihn für den Ausdruck des Kantischen Phänomenalismus an und zitiert ihn oft in »Welt als Wille und Vorstellung«.

Teil S. 619 Siehe auch bei Eisler
ist dasjenige, was mit anderem zusammen ein Ganzes bildet. Die Teile können entweder gleichartig (homogen) oder ungleichartig (heterogen) sein; jene sind nur nach ihrer Größe (quantitativ), diese auch nach ihren Merkmalen (qualitativ) verschieden. Jene heißen Aggregats-, diese Elementarteile. Vergleiche Zahl.

Teilbarkeit S. 619 Siehe auch bei Eisler
nennt man die allgemeine Eigenschaft der Körper, sich in Teile zerlegen zu lassen. Man unterscheidet mathematische und physische Teilbarkeit.
Jene kann ins Unendliche fortgesetzt werden, da sie nur in Gedanken vorgenommen wird; die physische dagegen hat in Wirklichkeit ihre Grenze.

Die Atomisten behaupten, fortgesetzte Teilung führe schließlich auf kleinste Teilchen (Atome, Korpuskeln, Elektrone), die zwar nicht bloß Raumpunkte seien, sondern noch gegebene und miteinander vergleichbare Massen hätten, zu deren fernerer Teilung aber keine Kräfte vorhanden seien. Die Atome usw. sind aber nicht Grundbestandteile der wirklichen Welt, sondern nur Hilfsbegriffe der physikalischen und chemischen Forschung. Vergleiche Stetigkeit. Grenzwert

Teleologie (franz. téléologie v. gr. teleios = zweckmäßig und logos = Lehre) S. 620ff. Siehe auch bei Eisler
heißt die Lehre von der Zweckmäßigkeit der Dinge. Von
Zweckmäßigkeit redet man da, wo man Zwecke erstrebt und verwirklicht sieht.
Eine jede Zweckreihe umfasst aber drei Glieder:

1. eine von irgendeiner Intelligenz vorgestellte und begehrte Wirkung einer Ursache,
2. eine tatsächlich in Aktion tretende Ursache, die, weil sie nicht den Anfang bildet, sondern in der Mitte zwischen zwei anderen steht, Mittel heißt, und
3. eine tatsächlich eintretende Wirkung dieser Ursache.

Nur da kann also von
Zweckmäßigkeit geredet werden, wo erstens eine Intelligenz und eine Idee dieser Intelligenz, zweitens eine Ursache und drittens eine Wirkung nachweisbar ist.

Auf dem ethischen Gebiete des menschlichen Handelns sind alle diese Bedingungen erfüllt, und wir gewinnen den
Begriff der Zweckmäßigkeit zuerst auf diesem Gebiete. Aber wir versuchen diesen Begriff auch auf die Natur zu übertragen und ihn sowohl für die Erfassung des Einzelnen in der Natur, namentlich innerhalb der Welt der Organismen, als auch für das Weltall als Ganzes zu verwerten.

An die unleugbare
Zweckerkenntnis beim menschlichen Handeln knüpft sich also der Gedanke einer zweckmäßigen Einrichtung der Natur im Großen und Kleinen, im Einzelnen und Ganzen, und einer Übereinstimmung der physischen und moralischen Welt, welche ohne eine alles beherrschende Intelligenz nicht möglich wäre.

Hierin besteht die
Teleologie, die sich also entweder zu der Lehre von der inneren Zweckmäßigkeit der einzelnen natürlichen Wesen, vor allem der Organismen, oder zu der Lehre von einem letzten Endzweck der Natur gestaltet und ihren Abschluss entweder in der Physikotheologie, dem Versuch, aus Zwecken der Natur auf die oberste Ursache der Natur zu schließen, oder in der Ethikotheologie (Moraltheologie), dem Versuch, aus den moralischen Zwecken vernünftiger Wesen in der Natur auf die letzte Ursache der Natur und ihrer Eigenschaften zu schließen, findet. (Vgl. Kant, Kr. d. U. § 85, S. 395.)

Der
Teleologie entgegengesetzt ist der Mechanismus, der in der Natur nur das Verhältnis von Ursache und Wirkung sucht. Der Mechanismus lehrt: »Alle Erzeugung materieller Dinge und ihrer Formen muss als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurteilt werden.«

Die
Teleologie lehrt: »Einige Produkte der materiellen Natur können nicht als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurteilt werden (ihre Beurteilung erfordert ein ganz anders Gesetz der Kausalität, nämlich das der Endursachen).« (Kant, Kr. d. U. § 70, S. 310.)

Die
teleologische Betrachtung der Dinge ist alt.

Der Gegensatz der
mechanistischen und der teleologischen Naturbetrachtung ist im Altertum durch die Systeme des Demokritos (um 460-360) und des Aristoteles (384-322) gegeben. Von Aristoteles ist die teleologische Weltauffassung auf die Kirchenväter und Scholastiker übergegangen, und dem Christentum des Mittelalters gilt die Welt als ein lebendiges Ganzes, in das sich alles Einzelne als Glied zweckmäßig einfügt.

Die Renaissance stürzt diese
Idee und macht der mechanistischen Weltauffassung wieder Platz.

Aber Descartes
(1596-1650) lässt zwar den Mechanismus innerhalb der Naturwissenschaft gelten, verwirft ihn jedoch als metaphysische Lehre.

Auch Berkeley
(1685-1753) erhebt Einwendungen gegen den Mechanismus, und Leibniz (1646-1716) ordnet die gesamte Natur mit ihrem Mechanismus als eine inadäquate Auffassung der Dinge einer begrifflich erkannten geistigen Welt von Seelenmonaden unter.

Kant
(1724-1804) erklärte den Zweckbegriff für ein Prinzip der Urteilskraft, sah aber in der teleologischen Naturbetrachtung nur ein regulatives, nicht ein konstitutives Prinzip der Forschung und bestritt auch die Berechtigung des teleologischen Gottesbeweises, stellte aber neben die Physikotheologie die Ethikotheologie.

Schelling
(1775 bis 1854) und Ulrici (1806-1884) haben die Teleologie von neuem aufgenommen, und Lotze (1817-1881) schließt sie wiederum von der Naturbetrachtung aus, lässt sie aber für die Metaphysik zu.

So ist die Stellungnahme der
Philosophie zur Teleologie eine verschiedene.

Der Realismus lehnt sie im Allgemeinen ab; der Pantheismus schwankt in seiner Haltung.

Der Idealismus steht
meist auf dem Standpunkt der Teleologie. Er kann sie kaum neben der kausalen Auffassung der Dinge ganz entbehren. Wenn neben vielem Zweckmäßigen sich auch Unzweckmäßiges in der Natur darbietet und vieles, was man zunächst nur aus Zwecken erklären zu können meinte, später mechanistisch erklärt worden ist, so ist es doch unzweifelhaft das Wesen unserer Vernunft, nach Zwecken zu handeln. So wenig wir nun wissen, ob es eine objektive Zweckmäßigkeit in der Natur gebe, so wenig lässt sich auch ihre Nichtexistenz nachweisen. Die Welt der Organismen aber und besonders der Menschen begreift sich leichter bei Zweckbetrachtung. So verschmäht der Idealismus, der die Welt als geistig ansieht, meist das Prinzip der Teleologie nicht.
Die Philosophie im Allgemeinen wird sich begnügen müssen, die Welt der Zwecke innerhalb des Menschentums anzuerkennen. Aber der Idealist wird geneigt sein, indem er die
Welt von seinem eigenen geistigen Inneren aus erfasst, auch in der Zweckmäßigkeit der Natur mindestens mit Kant ein regulatives Prinzip der Forschung, wenn nicht eine konstitutive Hypothese der Naturwissenschaft zu sehen. (Vgl. Zweck.) Vgl. Trendelenburg, Log. Untersuch. II, 1. E. v. Hartmann, Philos. des Unbewußten 3. Aufl. S. 51 f. Ulrici, Gott u. d. Mensch. 2. Aufl. 1866 S. 165. Kirchner, der Zweck des Daseins 1882. Fiske, Bestimmung des Menschen, a. d. Engl. V. F. Kirchner. Lpz. 1890. Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipzig 1904, S. 123-150.


Tetraktys (gr.) S. 627
nannten die Pythagoreer die 4 ersten Zahlen, aus deren Addition die Zahl 10 entsteht, die sie für die vollkommenste hielten, weil auch das Weltall 10 Sphären habe. Auch ihre Tafel fundamentaler Gegensätze zeigt 10 Paare. Vgl. A. Heinze, die metaphys. Grundlehren d. alt. Pythagoreer. 1871.

Theismus (Neubildung v. gr. theos = Gott) S. 627 Siehe auch bei Eisler
heißt diejenige philosophische Richtung, welche das Dasein eines außerweltlichen, intelligenten, persönlichen Schöpfers und Leiters der Welt behauptet. Ursprünglich bezeichnete Theismus allgemein nur die Lehre, dass es einen Gott gibt, und bildete den Gegensatz zum Atheismus; jetzt aber setzt man den Theismus in engerer Bedeutung dem Deismus und Pantheismus entgegen.

Theismus ist also diejenige Weltanschauung, welche auf dem Glauben an einen persönlichen, selbstbewussten und selbsttätigen Gott beruht, dessen Wesen, um wirklich zu sein, einer Welt nicht bedarf, von dem aber alles Vorhandene nach Entstehen und Bestehen abhängig ist.

Der Realismus innerhalb der Fragen der Teleologie, der die Zweckmäßigkeit in der organischen Welt als absichtlich anerkennt, führt nach Kant, wenn er die Zweckmäßigkeit von einem hyperphysischen Grunde ableitet, zum Theismus (Kr. d. U. II, § 72, S. 318-319).

Nachdem die Kantsche Philosophie durch den Pantheismus Fichtes, Schellings und Hegels verdrängt worden war, wurde die theistische Weltansicht durch die Schule von Ulrici und durch den jüngeren Fichte vertreten. Vergleiche Deismus, Pantheismus , Theologie. Fichte, Ü. d. Bedingungen d. spekul. Theism. 1835. Ulrici, Gott u. d. Natur. 1861. Wirth, d. spekul. Idee Gottes. 1845. H. Schwarz, Gott, Natur u. Mensch. 1857. C. H. Weisse, Idee d. Gottheit. 1845. Chalybäus, Wissenschaftslehre. 1846. R. Rothe, Ethik I. 1867. Frz. Hoffmann, Theism. u. Pantheism. 1861.

Theodizee (franz. théodicée v. gr. theos = Gott und dikaioun = rechtfertigen) S. 628ff. Siehe auch bei Eisler
heißt die Rechtfertigung Gottes gegen die Anklage, dass er am Übel und der Sünde in der Welt schuld sei. Der bewegende Gedanke der Theodizee ist, den Zweifel an der Existenz Gottes oder an der Gerechtigkeit und Güte Gottes zu beseitigen, den Übel und Sünde im Menschen erwecken. Daher ist der Kern der Theodizee so alt als das Denken der Menschen und kehrt in mythischer, poetischer und philosophischer Form bei allen Völkern wieder.

Im Alten Testament gehören dahin das Buch Hiob und die Psalmen (37. 49.), im Neuen Testament das 9. Kapitel des Römerbriefes.

Den Gnostikern und Manichäern gegenüber machten Origenes und Augustinus (de civitate dei) theodizeische Versuche.

Auch die Philosophie hat sich mit dieser Frage beschäftigt.

Zuerst tat dies Platon (427-347), der die Ideen und vor allem die Idee des Guten, Gott, als das wahrhaft Reale ansah und lehrte, dass um des Guten willen jedes Ding seine Existenz habe. Die Welt sei das Schönste von allem Entstandenen; sie sei von dem besten Werkmeister als Nachbild des höchsten Urbildes geschaffen. Gott sei nicht am Übel schuld (Tim. 42 D tês epeita - kakias hekastôn anaitios), er sei neidlos. Die Verähnlichung mit ihm, nicht die Lust, erklärte Platon für das höchste Gut. Niemand sei freiwillig böse; denn alles Wollen gehe seinem Wesen gemäß auf das Gute. –

Dieselbe Ansicht finden wir bei Aristoteles (384-322), dessen Standpunkt durchaus teleologisch ist. Er betrachtet Gott als die stofflose ewige Form, das erste selbst unbewegte Bewegende, die reine Aktualität, die sich selbst denkende Vernunft, die von allen geliebt wird und der sich alles zu verähnlichen strebt. Alle naturgemäße Bewegung ist zweckmäßig, doch stuft sich die Vollkommenheit je nach der näheren oder entfernteren Einwirkung Gottes ab. Die Organismen findet Aristoteles bewundernswert, schön und göttlich. Das Ziel menschlicher Tätigkeit, die Glückseligkeit, beruht auf vernünftigem oder tugendhaftem Verhalten, an das sich als Blüte naturgemäßer Vollendung die Lust knüpft. –

Die Stoiker untersuchten zuerst das Verhältnis Gottes zum Bösen. Alles geschieht gemäß der Heimarménê, welche die Vernunft im All, das strenge Kausalgesetz ist.

Kleanthes nimmt nur die bösen Taten aus, sie geschehen durch die Unvernunft der Schlechten, werden aber doch auch von Gott zum Guten gelenkt.
Chrysippos unterschied zwischen Haupt- und Nebenursachen. Die Vorsehung (d.h. die Notwendigkeit) ordnet alles; ihrer Logik kann man sich getrost anvertrauen. Gott ist der Vater aller, wohltätig und menschenfreundlich. Die Welt muss als im Ganzen tadellos und vollkommen bezeichnet werden. Dies gehe aus ihrer Gestalt hervor - sie ist kugelförmig! - und aus der Farbe, Größe und Mannigfaltigkeit der sie umgebenden Gestirne. Sie ist ferner durchaus zweckmäßig eingerichtet, nichts ist umsonst und nutzlos da, sondern jedes Ding ist für ein anderes geschaffen. Ein eigentliches Übel gibt es nicht in der Welt; denn alles rührt von Gott her; was im Einzelnen weniger gut erscheint, muss zur Mannigfaltigkeit und folglich zur Vollkommenheit des Ganzen beitragen. –

Die klassische Darstellung der Theodizee hat Leibniz (1646 bis 1716) 1710 gegeben; er widmete sie der Königin Sophie Charlotte und führte in ihr folgende Gedanken durch: Mit der moralischen Weltregierung Gottes scheinen die Übel in Widerspruch zu stehen; diese sind dreifacher Art:

1. das metaphysische, welches in der Unvollkommenheit der Kreaturen als solcher besteht;
2. das moralische Übel oder die Sünde;
3. das physische oder das Leiden der Kreaturen.

Die Kreaturen sind nach Leibniz' Auffassung idealer Natur und kraft dieser Natur in den ewigen Wahrheiten eingeschlossen. Dennoch ist das Übel nicht nur möglich, sondern, da die beste der Welten es in sich schließt, auch notwendig.

Das metaphysische Übel ist unvermeidlich, da es in der Endlichkeit der Schöpfung begründet liegt.

Das moralische Übel will Gott zwar nicht, aber es ist vorhanden; das physische will er nurbedingungsweise, nämlich als Strafe oder als Mittel, um größere Übel zu verhindern; auch zur Besserung und zur Vervollkommnung soll das physische Übel dienen. Das moralische Übel kann also nur als Bedingung, ohne welche das Gute nicht erreicht werden könnte, angesehen werden.

Gottes Tätigkeit geht nur auf Positives, das Böse aber ist etwas Negatives. Gott ist die Ursache der Vollkommenheit in der Natur und in den Wirkungen der Kreatur; aber ihre Beschränktheit ist die Ursache des Mangels ihrer Handlungen. Denn Gott konnte der Kreatur nicht alles mitteilen, ohne sie selbst zu Gott zu machen. –
Ein Zeitgenosse Leibnizens, Will. King, hat 1702 ebenfalls eine Theodizee (de origine mali) versucht. Die Welt, meint er, ist so vollkommen gemacht, als es der höchsten Macht, Weisheit und Güte möglich war. Gut und Übel sind relative Begriffe; gut ist, was sich selbst oder was anderem angemessen ist, übel dagegen, was irgend einen von Gott dem Wesen eingepflanzten Trieb täuscht und es zwingt, zu tun oder zu leiden, was es nicht will. Dieses Übel ist dreifach: Das Übel der Unvollkommenheit, das natürliche und das moralische Übel. Da vollkommene Kreaturen ein Widerspruch in sich sind, so wollte Gott lieber unvollkommene als keine. Über die Unvollkommenheit des Einzelnen können wir nicht urteilen, weil wir das Ganze nicht kennen. Nichts in der Welt ist überflüssig, aber jedes bedarf des ändern. In der Natur kann nichts anders geschehen, als es geschieht; es geschieht auch nichts anders, als es geschehen sollte; denn was nicht anders geschehen konnte, geschieht so, wie es geschehen sollte. Das Böse löst sich also in das Schädliche auf. Übeltäter werden gestraft, nicht weil sie es verdient haben, sondern um andere dadurch zu bessern.

Diese Theorie des Determinismus ist zwar hart, aber logischer als der Indeterminismus. Sie zieht einen Begriff der Freiheit vor, wonach diese die Dinge nicht wählt, weil sie gut sind, sondern die Dinge gut sind, weil die Freiheit sie wählt. Diese Freiheit besitzt Gott und hat sie den Menschen mitgeteilt. Wäre es aber nicht vorteilhafter gewesen, wenn Gott den Gebrauch der Freiheit lieber ganz verhindert hätte? Dies hätte er tun können, wenn er entweder kein freies Wesen geschaffen oder den freien Willen an der Wahl des Bösen gehindert oder den Menschen gegen alle Versuchung gesichert hätte. Alle drei Möglichkeiten waren aber Gottes unwürdig.
Vgl. Hegel, Phänomenologie. 1832. Blasche, das Böse im Einklang mit der Weltordnung. 1827. Schopenhauer, die Welt als Wille und Vorstellung. 1819. M. Carriere, die sittl. Weltordnung. 1877. H. Lotze, Mikrokosmus. 4. Aufl. 1884 ff.


Theologie (gr. theologia von theos = Gott und logos; = Lehre) S. 630f. Siehe auch bei Eisler
hieß bei den Griechen die Lehre von den Göttern und den göttlichen Dingen, und Theologe derjenige, der eine Theogonie dichtete, wie Hesiodos, oder über den Ursprung der Dinge durch die Götter spekulierte, wie Empedokles.

In der alten christlichen Kirche nannte man einen Theologen den, der die Gottheit des Logos verfocht, z.B. Johannes, Athanasius, Gregor von Nazianz.

Seit Abälard († 1142) bedeutet Theologie die gelehrte Darstellung der gesamten Religionswissenschaft.

Die Scholastik unterschied zwischen natürlicher und geoffenbarter Theologie.

Die Fakultätswissenschaft der Theologie, welche, wie besonders Schleiermacher (1768-1834) dargetan hat, eine Vereinigung von historischen, philologischen und philosophischen Kenntnissen ist und ihre dogmatische und ethische Seite hat, steht mit der Philosophie und ihrer Geschichte im Zusammenhang.
Vergleiche Katholizismus und Philosophie, Protestantismus und Philosophie.

Kant (1724-1804) teilt die Theologie, die Erkenntnis des Urwesens, in die aus Offenbarung (revelata) und aus bloßer Vernunft (rationalis) (Kr. d. r. V. S. 631). Die letztere ist entweder transzendental (Deismus), wenn Gott nach reinen Anschauungsbegriffen als Urwesen und Weltursache gedacht wird (Proleg. S. 171), oder natürlich (Theismus), wenn Gott analogisch-anthropomorphistisch nach Erfahrungsbegriffen als Welturheber erkannt wird (Proleg. S.173).

Der Deismus ist entweder Ontotheologie, d.h. Erkenntnis Gottes aus bloßen Begriffen (Kr. d. r. V. S. 592 ff.) oder Kosmotheologie, wenn Gott aus dem Dasein einer Welt überhaupt und ihrer Zufälligkeit erschlossen wird (Kr. d. r. V. S. 603ff.).

Der Theismus ist entweder Physikotheologie, d.h. die Erkenntnis Gottes als Urhebers der in der natürlichen Sinnenwelt vorhandenen Ordnung und Vollkommenheit (Kr. d. r. V. S. 620 ff.), oder Moraltheologie, d.h. die Erkenntnis Gottes aus der praktisch notwendigen sittlichen Ordnung der Welt (Kr. d. pr. V. S. 5, S. 223 ff.)
Vgl. R. Hagenbach, Encyklopädie d. theol. Wissenschaft. 9. Aufl. 1874.

Theophanie (gr. theophaneia = Erscheinung eines Gottes) S. 631 Siehe auch bei Eisler
heißt in der christlichen Lehre die Selbstoffenbarung Gottes in der Natur und in der menschlichen Vernunft.


Theorie (gr. theôria) S. 632f.
eigentlich Betrachtung, Beschauung, bezeichnet ursprünglich das Anschauen dessen, was nicht Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung ist, sodann allgemein die wissenschaftliche Erkenntnis und das Verständnis überhaupt.

Die Theorie steht also im Gegensatz einerseits zu der Erfahrung (Empirie), andrerseits zu der Praxis. Sie strebt zunächst im Gegensatz zur Erfahrung danach, die einzelnen Beobachtungen des Empirikers unter allgemeine Gesetze zu bringen, welche nicht erfahren werden können, sondern durch Nachdenken gefunden werden müssen. So spricht man von einer Theorie desEmpfindens, Denkens usw., von einer Theorie des Lichtes, der Bewegung, des Blutumlaufs, um anzudeuten, dass in gewisse Tatsachen der Psychologie, Physik, Physiologie usf. durch Aufstellung von Gesetzen Einheit, Zusammenhang und Klarheit gebracht werden kann.

Jede Theorie beruht auf einem Grundgedanken (Prinzip), den aufzustellen selten dem Studium, meist der glücklichen Kombination gelingt.
Fortwährend bedarf jede Theorie der Kontrolle durch die Erfahrung; solange sie mit dieser nicht vollständig stimmt, darf sie nur auf den Namen einer Hypothese Anspruch machen.

Eine Theorie ist mehr oder weniger tief, je nachdem sie sich mit näheren Erklärungsgründen beruhigt oder bis zu den letzten Prinzipien emporsteigt; immerhin ist sie mehr oder weniger philosophisch. –

Im Gegensatz zur Praxis (s. d.) bezeichnet Theorie die Erkenntnis an sich, ohne die Absicht, sie zu gewissen Zwecken zu verwenden.

Weil diese Anwendung oft recht schwierig ist und nicht gelingen will, sagt man wohl, es sei etwas in der Theorie (in thesi) richtig, aber in der Praxis (in praxi) falsch.

Kant (1724-1804) hat hierüber 1793 eine Abhandlung geschrieben, in der er die Verderblichkeit der Maxime, Theorie und Praxis zu trennen für Moral, Staats- und Völkerrecht nachweist. Und in der Tat, was theoretisch richtig ist, muss auch praktisch durchgeführt werden. Wo sich dies als unmöglich herausstellt, liegt es entweder an der Unvollständigkeit der Theorie, oder an der Ungesundheit der praktischen Verhältnisse, oder auch (und zwar meistens) an der Feigheit und Gleichgültigkeit der Menschen. –

In der Philosophie hat das Begriffspaar theoretisch und praktisch aber noch den besonderen Sinn, dass jenes als ein Prädikat der Erkenntnis an sich gilt, die kein anderes Interesse, als das wissenschaftliche hat, praktisch dagegen diejenige Beurteilung der Dinge heißt, welche den Wert oder Unwert der Dinge ins Auge fasst, ohne ihr Wesen und ihre Ursachen zu untersuchen.

Die praktische Philosophie hat diejenigen Begriffe aufzustellen, welche den Maßstab für unser Wollen und Handeln abgeben, besonders auf juristischem, ethischem, religiösem und ästhetischem Gebiet. Die zwei Hauptwerke Kants würden daher mit ihrem vollen Titel lauten: Kritik der reinen theoretischen Vernunft und Kritik der reinen praktischen Vernunft, während die von Kant gewählten Titel einen schiefen Gegensatz bilden. –

Die Ausdrücke theoretisch und praktisch erscheinen zuerst bei Aristoteles (384-322) als Gegensätze. Er unterscheidet die theoretische und praktische Vernunft (dianoia theôrêtikê - dianoia praktikê). Jene hat es mit der Erkenntnis der großen Welt und ihren ewigen Ordnungen, diese mit dem Wechsel und Wandel der menschlichen Dinge zu tun (Metaph, V, 1 p. 1025, b 25).

In der neueren Philosophie hat Ch. Wolf (1679-1754) die Unterscheidung theoretischer und praktischer Philosophie durchgeführt und wie Aristoteles der Theorie den Vorzug gegeben (Logica § 92).

Auch Kant (1724-1804) hält an dem Gegensatz fest, stellt aber die Lehre vom Primate der praktischen Vernunft über die theoretische auf und räumt damit den Intellektualismus des Altertums hinweg.

Ihm folgt J. G. Fichte (1762-1814), dem die praktische Vernunft die Wurzel aller Vernunft ist. In der Geschichte der Ausdrücke liegt die Geschichte des tieferen Problems, »ob der Welterkenntnis oder dem sittlichen Handeln die Führung unseres Lebens und die Beherrschung unserer Überzeugungen gebühre« (Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipzig 1904. S. 39 ff.) Vergleiche Praxis, Voluntarismus.

Theosophie (gr. theosophia von theos = Gott und sophia = Weisheit) S. 633f. Siehe auch bei Eisler
eigentlich Gottes-Weisheit, heißt diejenige religiöse Richtung, welche durch die Innigkeit ihrer religiösen Gefühle zur mystischen Vereinigung mit Gott und zu einer unmittelbaren Erkenntnis seines Wesens gelangen zu können meint.

Von der Theologie unterscheidet sie sich dadurch, dass sie die Erkenntnis Gottes nicht auf dem Wege des vermittelten Erkennens, sondern durch die Intuition, d.h. durch die Phantasie und das Gefühl, anstrebt. Sie ist eine Art der Mystik. Ihre Erzeugnisse, wenn auch voll tiefsinniger Ideen, sind mehr Bilder als Begriffe, mehr Ahnungen als Erkenntnisse; vieles in ihr muss als krause Phantastik bezeichnet werden.

Theosophisch war der Neuplatonismus und die Gnosis; Theosophen waren Kaspar Schwenckfeld († 1561), Valentin Weigel (†1588), Jakob Böhme († 1624), St. Martin (†1804) und Franz v. Bader († 1841).


These (gr. thesis) S. 634
oder Thesis heißt ein Satz, der des Beweises bedarf, also eine Behauptung; in thesi heißt: im Satz, in der Regel, im Allgemeinen.

Nach Hegels (1770-1831) dialektischer Methode erhebt sich der fortschreitende Begriff aus Thesis und Antithesis zur Synthesis.

Thetik nennt Kant (1724-1804) einen Inbegriff dogmatischer Lehren; thetisch heißt dogmatisch. Vergleiche Antinomie.

total (lat. totus = ganz) S. 642f.
völlig, ist der Gegensatz von partial [anteilig].

Totalität des Urteils bezeichnet die Universalität oder Allheit seines Subjektes.

Einem Kunstwerk schreibt man Totalität zu, wenn es alle Beziehungen der Idee, welche es darstellt, zur Anschauung bringt. Um jene zu beurteilen, muss man daher diese ordentlich kennen.

Trägheit S. 643
heißt in der Mechanik und Physik die Eigenschaft der Materie, kraft deren sie im Zustande der Ruhe oder Bewegung, in welchem sie sich befindet, beharrt, wenn keine entgegenwirkende Kraft auf sie einwirkt. Das Gesetz der Trägheit (lex inertiae) lautet:

»Ein ruhender Körper fährt fort zu ruhen, wenn nicht eine Ursache ihn bewegt, und ein bewegter Körper fährt fort, sich in gleicher Richtung und Geschwindigkeit zu bewegen, wenn nicht eine Ursache diese Richtung oder Geschwindigkeit ändert oder aufhebt.«

Da nun die einwirkende Kraft eine Rückwirkung von dem anderen Körper erleidet, so hat man diesen Widerstand als Kraft der Trägheit (vis inertiae) bezeichnet.
Erst die neuere Naturwissenschaft hat dieses Gesetz aufgestellt; dem Aristoteles war es unbekannt. –

Im moralischen Sinne ist Trägheit die Unlust zur Arbeit und die Neigung, sich nicht anzustrengen.

Nach J. G. Fichte (1762 bis 1814) ist die Trägheit das Radikalböse im Menschen.

Transzendent, transzendental, Transzendenz S. 646ff.
sind die Bezeichnungen für zwei verwandte, aber doch sehr verschiedene Begriffe. Beide kommen von lat. transscendo, überschreite, her. Das Transzendente ist dasjenige, was unsere Erfahrung überhaupt überschreitet, eine transzendente Erkenntnis sucht also das Wesen der Dinge, die Dinge an sich zu erfassen, was uns immer nur hypothetisch möglich ist.

Kant (1724-1804) bezeichnet als transzendent daher dasjenige, von dem wir auch nicht einmal den Begriff hinreichend bestimmen können, weil ungewiss sei, ob ihm irgend ein Gegenstand in der Welt entspreche. Dazu rechnet er Aussagen über das Wesen der Seele, der Welt, Gottes usf. Hierher würden also alle metaphysischen und spekulativen Lehren zu rechnen sein. Vgl. Kr. d. r. V., S. 296; 643. Proleg. S. 105-106. -

Ganz etwas anderes bedeutet transzendental. Kant bezeichnet als transzendental alle Erkenntnis a priori, die sich nicht mit den Dingen selbst, sondern mit der Erkenntnis derselben, sofern sie a priori möglich sein soll, beschäftigt. So ist Transzendentalphilosophie dasselbe wie Erkenntnistheorie innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft (vgl. Kr. d. r. V., Einleitung S. 1-16); transzendentale Ästhetik und Logik ist die Untersuchung unserer sinnlichen und begriffsmäßigen Erkenntnis, soweit sie unabhängig von der Erfahrung ist; transzendentaler Idealismus (der Gegensatz zum empirischen) ist die Lehre, nach welcher wir alle Erscheinungen insgesamt als bloße Vorstellungen und nicht als Dinge an sich anzusehen und demgemäß Raum und Zeit nur für sinnliche Formen unserer Anschauung, nicht aber für gegebene Bestimmungen oder Bedingungen der Objekte, für Dinge an sich zu betrachten haben.

Der transzendentale Realismus sieht dagegen Raum und Zeit als etwas unabhängig von unserer Sinnlichkeit Gegebenes an, stellt mithin die äußeren Erscheinungen als unabhängige Dinge an sich vor.

Der transzendentale Idealist ist also ein empirischer Realist, während der transzendentale Realist empirischer Idealist sein muss. Denn wenn die äußeren Dinge unabhängig von ihm existieren, so kann er nie wissen, ob irgend einer Vorstellung von ihm ein wirkliches Ding entspreche. Das Wirkliche, welches den Erscheinungen zugrunde liegt, bleibt mithin für Kant ein X.

Der Gegensatz zum Transzendentalen ist das Empirische, der Gegensatz zum Transzendentalen ist das Immanente. Es gibt transzendentale Begriffe und empirische Begriffe.

Ein transzendenter Gott ist erhaben, gesondert von der Welt, außer und über ihr; ein immanenter Gott befindet sich in ihr. –

Durch seinen Begriff der transzendentalen Freiheit sucht Kant Determinismus und Indeterminismus zu. versöhnen. Die sittliche Freiheit soll mit ihrem Ursprung außer, mit ihren Wirkungen aber innerhalb der Reihe empirischer Bedingungen stehen. Die Wirkung wäre ihrer Ursache nach frei, als Erscheinung aber dem Kausalnexus und der Notwendigkeit unterworfen. Der Mensch hätte die Fähigkeit, eine Kette von neuen Wirkungen hervorzurufen, ohne dass sein Wille kausal bestimmt wäre. Diese Auffassung ist jedoch künstlich und darum unhaltbar. –

In der Mathematik versteht man unter transzendenten Zahlen im Gegensatz zu den algebraischen Zahlen (die Wurzeln einer Gleichung von der Form a[n]zn a[n-1]z n-1 + ... + a[1]z1 + a[0] = 0 sind) seit Leibniz (1686) solche irrationale Zahlen, »die durch keinerlei Gleichungen bestimmten Grades erklärt werden, vielmehr über jede algebraische Gleichung hinausgehen«. Vgl. Job. Tropfke, Geschichte der Elementarmathematik. Leipzig 1902. Bd. II, S. 161-163.
Vergleiche: Freiheit, Determinismus, intelligibel.

Transzendenz der Gegensatz von Immanenz, bedeutet logisch das Hinausgehen über die Erfahrung, theologisch Gottes Erhabenheit über die Welt.

Traum/Träumen S. 647ff.
Träumen heißt die Tätigkeit der Seele im Schlafen. Vielleicht träumen wir während des ganzen Schlafes, jedenfalls aber oft gegen Morgen, kurz vor dem Erwachen. Das Eigentümliche des Traumes ist: Die Sinne funktionieren, aber die Sinnenreize sind mehr zentrale und entstammen weniger der Außenwelt, so daß man nicht wirkliche Wahrnehmungen hat, sondern phantastische Illusionen und Halluzinationen.

Die Vorstellungen treten bunt und regellos auf, unkontrolliert durch die Wirklichkeit und die Arbeit der Apperzeption, und nur durch die assioziativen Gesetze der Reproduktion bestimmt. Die Schranken von Raum und Zeit verschwinden, unsere Kräfte scheinen zu wachsen, wir glauben z.B. fliegen zu können, hören uns beredt sprechen, wissen viel mehr als sonst, versetzen uns in die entferntesten Gegenden, unterhalten uns mit Abgeschiedenen, hören wunderbare Musik, schauen herrliche Landschaften usw.; oder wir haben schwere Beängstigungen, sind im heftigen Streit mit Nahestehenden, begehen Verbrechen, deren wir uns selbst anklagen, sind Gefahren ausgesetzt, können zu einem bestimmten Ziel nicht gelangen, sind mitten in der Gesellschaft mangelhaft bekleidet usw.; aber alles dies ist Illusion und sensorische Funktion; unsere äußeren Willenshandlungen fehlen dagegen meist ganz.

Der Traum als Ganzes hat stets etwas Seltsames, Barockes an sich; denn die Einheit des Bewußtseins ist locker; er wirft Personen und Sachen, Zeiten und Örter durcheinander, läßt sie plötzlich eintreten und wieder verschwinden, zerlegt unser Ich in zwei oder mehrere Teile, verschiebt, ja verzerrt unsere Vorstellungen; er befreit uns von den Rücksichten des Wachens und kombiniert oft merkwürdig treffend. Daher fällt uns im Traum manchmal eine Lösung einer schwierigen Aufgabe ein; im Traum kommt auch unsere Innerste Psyche zu Worte; uralte Erinnerungen und Wünsche, Hoffnungen und Gewissensbisse, Neigungen und Leidenschaften werden darin laut. Daher kann er eine erschütternde und mahnende Bedeutung für den haben, den er heimsucht. –

So ist der Traum ein eigenes, illusionäres Leben, das sich neben das Leben im Wachen stellt und diesem gelegentlich den Rang streitig macht. Daher das poetische Doppelmotiv, das Leben als einen Traum, den Traum als ein Leben darzustellen (Calderon, Grillparzer).

Die Grundlagen, auf denen die Träume beruhen, sind: Körperliche Reize (Druck, Wärme, Kälte, Magenbeschwerden, Atembeschwerden u. dergl.), Nervenreize, sowohl äußere wie innere (Gerüche, Geräusche), wobei die Phantasie die kühnsten Deutungen vornimmt, Empfindungs- und Vorstellungsreste vom vorhergehenden Tage, unsere ganze Stimmung in physiologischer, psychischer und ethischer Hinsicht. –

Ein besonderes Traumorgan mit Schopenhauer anzunehmen, ist überflüssig.
Vergleiche: Somnambulismus, Hypnose
Strümpell, Nat. n. Entstehung d. Träume, Lpz. 1874. Spitta, Schlaf- und Traumzustände d. Seele, Tübingen 1878. Wundt, Grundriß d. Psychol., Leipzig 1905, § 18, 7, S. 335 ff.

Treue S. 649
ist die feste Gesinnung und Zuverlässigkeit eines Menschen im Verkehr mit anderen. Sie findet ihren Platz überall, wo der Mensch Pflichten unterworfen ist, ein gegebenes Wort zu halten hat, und vor allem im Verkehr der Ehe und der Freundschaft. Ein treuer Mensch erfüllt seine Pflichten unaufgefordert, rechtfertigt das in ihn gesetzte Vertrauen und bemüht sich, die Erwartungen, die andere von ihm haben, zu erfüllen. Ein treuer Mensch bricht nie sein Wort, die Ehe ist ihm heilig, und an dem einmal gewählten Freunde hält er unverbrüchlich fest.

Treue ist ohne Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit, ohne Gewissenhaftigkeit und Selbstzucht nicht möglich.

Auf die Treue, die »jedem Menschen wie der nächste Blutsfreund« ist (Schiller, »Wallensteins Tod« I, 6), sind wir alle angewiesen im Staat, im Verkehr, in der Ehe, in der Freundschaft usf.

Demgemäß sagt die Bibel: ginou pistos achri thanatou, kai dôsô soi ton stephanon tês zôês (Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben, Apokal. 2, 10), und das einfache herzliche Wort Höltys bleibt ebenso berechtigte Mahnung: »Üb' immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab!« wie Walthers Wort wahr bleibt: er saelic man, si saelic wîp, der herzen einander sint mit triuwen bî. Berühmte Vorbilder der Treue sind die dreihundert Lakedaimonier in den Thennopylen.

Trieb S. 649f.
heißt das der Art nach bestimmte, dem Objekt nach unbestimmte Streben, welches ein Individuum vom ersten Moment seines Daseins an nötigt, das ihm Unentbehrliche aufzusuchen. Durch Triebe unterscheiden sich das Tier und der Mensch von der Pflanze; sie haben eine Empfindung ihres Bedürfnisses und die freie Beweglichkeit, das, wodurch jenes befriedigt wird, aufzusuchen und zu ergreifen. Unbewusst, aber zweckmäßig leitet der Trieb das Tier und den Naturmenschen; klar ist dabei nur die Unlust und der Drang sie zu beseitigen, unklar, auf welche Weise es zu geschehen habe. Doch liegt im Organismus der Weg im Allgemeinen vorgezeichnet. Denn die durch Unlust gereizten Empfindungsnerven lösen in den motorischen Nerven gewisse Reflexbewegungen aus, welche zur Befriedigung des Bedürfnisses führen. Die Triebe gehören zu dem, was der Anlage nach vererbt wird.

Sämtliche Triebe lassen sich zusammenfassen als Selbsterhaltungstrieb und als Gattungstrieb.

Der Selbsterhaltungstrieb schließt den Nahrungs- und Schutztrieb, der Gattungstrieb den Geschlechtstrieb, die elterlichen und sozialen Triebe in sich ein.
Zu den sozialen Trieben gehören unter anderen die sittlichen Triebe und der Nachahmungstrieb. (Wundt, Grundz. d. phys. Psych. II S. 410 ff.)

Trugschluss (gr. sophisma) S. 651f.
heißt ein formal unrichtiger Schluss, der mit der Absicht, einen anderen zu täuschen, gemacht wird, während Fehlschluss (Paralogismus) einen falschen Schluss bezeichnet, bei dem wir uns wider Willen selbst täuschen.

Beide beruhen auf Fehlern in der Begriffsvergleichung (vgl. Schluss) oder auf Mehrdeutigkeit ein und desselben Begriffs, besonders des Mittelbegriffs. Zu jenen gehören: der Schluss mit negativem Untersatz in der ersten Figur, mit affirmativen Prämissen in der zweiten, mit allgemeinem Schlusssätze in der dritten Figur und der Schluss vom Folgesatz auf den vorhergehenden bei kategorischer und hypothetischer Schlussform.

Die Fehler der zweiten Art teilte schon Aristoteles ein in solche secundum dictionem (para tên lexin) und extra dictionem (exô tês lexeôs).
Zu jenen rechnet man die, welche beruhen

a) auf Homonymie (Verwechslung verschiedener Bedeutungen desselben Wortes),

b) auf Prosodie (Verwechslung ähnlich klingender, aber anders akzentuierter Worte)
,

c) auf Amphibolie (Missdeutung doppelsinniger syntaktischer Formen),

d) auf Verwechslung verschiedener Flexionsformen und Redeteile.

Beispiele sind zu
a) Ein Arzt erklärt, einen Erschlagenen habe der Schlag getroffen,
b) Ein Weib nur zu besitzen ist seiner Leidenschaft Ziel.
c) 5 ist 2 und 3, also zugleich gerade und ungerade,
d) In Platons »Gorgias« steht: »Hast du einen Hund? - Ja. Hat er Junge? Ja. - Ist er der Vater der Jungen? Ja. Also dein Hund ein Vater und dein Vater ein Hund!«

Außerdem zählt Aristoteles noch. sieben Arten von Begriffsverwechslungen (extra dictionem) auf:

1. Fallacia ex accidente (para to symbebêkos), Verwechslung des Merkmals, z.B.: Nicht wahr, Phädon ist nicht Sokrates? Nein. - Aber Phädon ist doch ein Mensch? Ja. - Und Sokrates doch auch? Ja. - So ist also Phädon doch Sokrates.

2. Fallacia a dicto secundum quid ad dictum. simpliciter (to hapolôs ê mê haplôs), wenn Nebenbestimmungen übersehen oder verwechselt werden. Vgl. z.B. den »Verhüllten« des Eubulides und den Sorites.

3. Ignoratio elenchi (hê tou elenchou agnoia), d.h. die Nichtbeachtung des Widerspruches.

4. Fallacia consequentis (para to epomenon), der bejahende Schluss von der Folge auf den Grund.

5. Petitio principii (para to en archê lambanein), bei welcher der Schlusssatz schon in den Prämissen vorausgesetzt wird.

6. Fallacia de non causa ut causa (to mê aition hôs aition tithenai), d.h. Annahme eines falschen Erklärungsgrundes, wie bei falschen Hypothesen.

7. Fallacia plurium interrogationum (to ta pleiô erôtêmata hen poiein), die verfängliche Verbindung mehrerer Fragen, z.B. : Sind die Planeten näher an der Erde oder weiter von ihr als die Sonne?

Alle Trugschlüsse der zweiten Art enthalten eine mehr oder minder versteckte Quaternio terminorum (Vierzahl von Hauptbegriffen) oder einen Sprung im Schließen (saltus in concludendo).

Merkwürdigerweise sind manche Sophismen dieser Art von den Alten für unauflöslich gehalten worden, z.B. der Krokodilschluss und der Lügner, über den der Stoiker Chrysippos sechs verschiedene Bücher geschrieben und Philetas sich zu Tode studiert haben soll. Dieses Sophisma des Eubulides lautet: Wenn jemand sagt, er lüge eben jetzt, lügt ein solcher, oder sagt er die Wahrheit? Oder: Alle Kreter sind Lügner. Du, der du das sagst, bist aber selbst ein Kreter, also hast du gelogen, also sind nicht alle Kreter Lügner usw.

Ähnlich ist der Satz: Keine Regel ohne Ausnahme - dieser ist selbst eine Regel, folglich hat auch er Ausnahmen, folglich gibt es eine Regel ohne Ausnahme. -
Vgl. Aristoteles' Schrift peri tôn sophistikôn elenchôn. . Cajus, Antibarbarus Logicus. 1851.

Tugend (lat. virtus, gr. aretê), S. 652ff.
eigentlich
Tauglichkeit, Tüchtigkeit, ist die sittliche Beschaffenheit des menschlichen Wollens und Handelns. Während das Ziel des sittlichen Handelns das sittliche Gut, die Verbindlichkeit hingegen danach zu streben die Pflicht ist, bezeichnet die Tugend die Kraft des Menschen, sich und sein Handeln den sittlichen Pflichten und Zielen gemäß zu gestalten.

Nach
Sokrates (469-399), welcher meinte, die Tugend sei lehrbar und niemand tue freiwillig das Böse, gibt es im Wesentlichen nur eine Tugend, die Weisheit (Intellektualismus).

Ähnlich lehrte Platon
(427-347), der im Anschluss an seine Seelenlehre vier Kardinaltugenden aufstellte, die Tugend sei die Tauglichkeit der Seele zu dem ihr zukommenden Werke.

Aristoteles
(384-322) betrachtete die aus der natürlichen Anlage durch wirkliches Handeln herausgebildete Fertigkeit zu vernunftmäßiger Tätigkeit des Menschen als Tugend; die Tugenden teilte er in ethische und dianoëtische.
Die ethische Tugend definierte er als diejenige dauernde Willensrichtung, welche die uns entsprechende Mitte einhält, d. i. die Unterwerfung der Begierde unter die Vernunft. So ist Tapferkeit die Mitte zwischen Feigheit und Verwegenheit, Mäßigkeit die Mitte zwischen Genusssucht und Stumpfsinn, Freigebigkeit die Mitte zwischen Verschwendung und Kargheit.
Die höchste der ethischen Tugenden ist die Gerechtigkeit, welche im weiteren Sinne jene alle umfasst, im engeren auf das Angemessene in Hinsicht auf Gewinn und Nachteil geht. Letztere ist entweder distributiv, sofern sie Besitztümer und Ehren zu verteilen hat, oder kommutativ, sofern sie es mit Verträgen und mit dem Ausgleich zugefügten Unrechts zu tun hat.
Die dianoëtische Tugend dagegen ist das richtige Verhalten der theoretischen Vernunft teils an sich, teils in Bezug auf die niederen psychischen Funktionen; diese Tugenden sind: Vernunft, Wissenschaft, Kunst und praktische Einsicht.

Nach den Stoikern ist die Tugend und das höchste Gut dasselbe; beides besteht im natur- und vernunftmäßigen Leben. Daher trägt auch die Tugend ihren Lohn in sich selbst. Da somit ihre Grundlage die Vernunft ist, scheint sie den Stoikern unverlierbar; auch gibt es nach ihrer Auffassung zwischen Tugend und Laster kein Mittleres. Doch ist die Tugend stets zugleich theoretisch und praktisch.
Demgemäß stellte die Stoa die
vier Kardinaltugenden auf: Einsicht, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Besonnenheit, die sie wieder in Unterarten schied, z.B. die Tapferkeit in: Ausharren, Unverzagtheit, Seelengröße, Mut und Arbeitsliebe. (Diog. Laert. VII, § 81 ff.)

Nach Epikuros
(341-270) ist die Haupttugend die richtige Einsicht bei der Abwägung von Lust und Unlust, die sich an eine Handlung knüpfen kann. Die Tugend ist also der einzig mögliche, aber auch ganz sichere Weg zur Glückseligkeit. (Diog. Laert. X, § 138.)

Plotinos
(205-270), der die Tugend mit Platon als Verähnlichung mit Gott bezeichnet, unterscheidet bürgerliche, reinigende und vergöttlichende Tugenden. –
Augustinus
(353-430) definiert die Tugend als Gehorsam und Liebe gegen Gott, die dieser in uns ohne unser Zutun hervorbringt; sie entfalte sich zu den vier heidnischen Kardinaltugenden, zu denen aber beim Christen noch drei theologische: Glaube, Liebe und Hoffnung träten.

Petr. Lombardus († 1160) lehrte ebenso, nur bestimmt er die Tugend als die richtige Beschaffenheit des auf das Gute gerichteten Willens.

Abälard
(1079-1142), sein Zeitgenosse, nennt die Tugend den zur bleibenden Eigenschaft gefestigten guten Willen.

Thomas von Aquino
(1225-1274) kombiniert die Ideen des Aristoteles, Augustinus und Plotinos, indem er im ganzen zehn Tugenden aufstellt:
a) intellektuelle oder dianoëtische Tugenden, nämlich Weisheit, Wissenschaft und Erkenntnis;
b) moralische, nämlich die vier antiken
Kardinaltugenden, die als rein moralische, politische, reinigende, erhebende und vorbildliche erscheinen;
c) die drei theologischen. –

Melanchthon
(1497-1660), der Verfasser der ersten protestantischen Ethik, fasst die Tugend als die Neigung, der richtigen Vernunft zu gehorchen.

Ähnliches lehrt Cartesius = Descartes
(1596 bis 1650) da, wo er einmal Ethisches berührt.

Spinoza
(1632-1677) kommt durch eine eigentümliche Ableitung auf einen der stoischen Lehre verwandten Standpunkt. Da nach ihm alles das gut ist, was uns nützt, so ist Tugend die Fähigkeit, das unserer Natur Entsprechende zu tun.

Dies aber ist die Erkenntnis Gottes; diese lehrt mich nicht nur mit meiner eigenen Natur, sondern auch mit derjenigen anderer in Übereinstimmung zu sein.

Ähnliche Lehren finden sich bei Leibniz
(1646-1716): Da die Weisheit die Wissenschaft der Glückseligkeit ist, diese aber nur in dauernder Lust beruht, welche aus unserer oder fremder Vollkommenheit entspringt, so ist die Tugend eine gewisse Kraft des Geistes, welche uns zur Ausführung des als recht Erkannten treibt.

Chr. Wolf
(1679 bis 1754) zog diese Sätze dahin zusammen, dass er sagte, die Tugend sei die Fertigkeit, seinen Zustand immer vollkommener zu machen.

Kant
(1724-1804) definierte: »Tugend ist die moralische Stärke des Menschen in Befolgung seiner Pflicht, die niemals zur Gewohnheit werden, sondern immer ganz neu und ursprünglich aus der Denkungsart hervorgehen soll« (Anthrop. § 10 S. 35), und: »Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht« (Metaph. d. Sitten II, S. 28).

Ähnlich fasst J. G. Fichte
(1762-1814) die Tugend als den ein für allemal sittlichen Charakter.

Hegel
(1770 bis 1831) definiert sie als sittliche Virtuosität; sie ist Einsicht und Charakter.

Herbart
(1776-1841) sagt, Tugend bedeute den inneren Wert derjenigen Person, welche die sämtlichen Regeln des Handelns kenne und beobachte.

Nach Schopenhauer
(1788-1860), welcher die Tugend nicht für lehrbar ansieht, geht sie zwar von der Erkenntnis aus, aber nicht von der abstrakten, sondern der intuitiven, so dass sie gewissermaßen wie das Genie angeboren ist.

Formal lässt sich die
Tugend definieren als die Kraft der sittlichen Gesinnung und Betätigung des Menschen. Inhaltlich empfängt sie im einzelnen ihre Bestimmung aus den Beziehungen des Menschen zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen und zu Gott aus der Erfahrung heraus. Über die Einteilung der Tugenden s. Kardinaltugenden. Vgl. Pflicht, höchstes Gut.

Tugendlehre S. 655
heißt derjenige Teil der Ethik, welcher von den Tugenden handelt, oder, wie Kant (1724-1804) sagt, die Wissenschaft von den notwendigen sittlichen Gesetzen eines freien Willens unter den subjektiven empirischen Hindernissen.

Tugendpflichten (lat. officia honestatis) S. 655
sind nach der älteren Ethik solche Pflichten, die bloß dem freien Selbstzwange, nicht dem anderer Menschen entstammen. Vergleiche Pflicht.

Tuismus (nlt., abgeleitet von tu = du) S. 655
heißt soviel als Altruismus.

Übermensch S. 657 Siehe auch bei Eisler
nennt in Goethes Faust (I) der Erdgeist Faust.

Nietzsche (1844-1900) sieht in der Züchtung des Übermenschen das Endziel der menschlichen Entwicklung.

Mit dem Begriff Übermensch wird in der Gegenwart in Ernst und Scherz viel Unfug getrieben. Es ist eins der Modewörter des Modernen geworden.


übernatürlich (lat. supernaturalis) oder hyperphysisch (gr.) S. 657
bezeichnet den Gegensatz von natürlich, mithin

1. das Ungewöhnliche, welches von dem Alltäglichen abweicht, z.B. eine besondere Steigerung und Vereinigung physischer oder geistiger Kräfte, wie in Goethe u. a.;

2. das von den bisher bekannten Naturgesetzen Abweichende;

3. das Geistige, Übersinnliche, Göttliche. Vgl. Natur, Gesetz, Wunder.

übersinnlich S. 657
bedeutet

1. dasjenige, was mit den Sinnen nicht erfasst werden kann;

2. was über die Sinnenwelt überhaupt hinausgeht, also das Geistige, die Welt der Ideen.

Überzeugung (lat. persuasio) S. 658
heißt die durch eigenes Urteilen gewonnene Einsicht oder das auf
Gründe gestützte Fürwahrhalten. Das Fürwahrhalten hat verschiedene Grade, welche man als Wähnen, Meinen, Glauben und Wissen bezeichnet. Nur von dem, was durch subjektiv und objektiv zureichende Gründe gestützt wird, können wir fest überzeugt sein; und nur was wir uns durch eigenes Nachdenken erarbeitet haben, wird als unumstößliche Überzeugung allen Einwürfen trotzen. Denn die Überzeugung ist nicht bloß Sache der Einsicht oder gar des Gefühls, sondern zum großen Teil auch des Willens. Kommt schon keine Erkenntnis zustande ohne Anwendung des Willens, so ist erst recht eine Überzeugung vor allem das Werk der sittlichen Persönlichkeit, welche im allgemeinen den Wert der Wahrheit zu schätzen weiß und insbesondere diese oder jene Wahrheit als für sie wertvoll ergreift. Darum ist jede Weltanschauung der Ausdruck des betreffenden Charakters, der sie verteidigt. –
Der Plural Überzeugungen bedeutet Wahrheiten oder Grundsätze.

Umfang (lat. ambitus, gr. sphaira) S. 658f.
eines Begriffs heißt die Gesamtheit derjenigen Gegenstände, die in sein Gebiet fallen, von denen er also als Prädikat gebraucht werden kann.

Die Einteilung des Umfangs eines Begriffs nennt man Divisio. Ein Begriff hat Umfang, sofern er andere Begriffe unter sich befasst, z.B. der Begriff des Tieres den des Affen, Löwen, Hundes usw. Je mehr Begriffe ein Begriff unter sich befasst, desto weiteren Umfang hat er. Jene stehen zu ihm im Verhältnis der Unterordnung (subordinatio); Begriffe, welche demselben höheren untergeordnet sind, heißen nebengeordnet (koordiniert).

Der höhere Begriff ist abstrakter und hat weniger Inhalt als der untergeordnete und konkretere.

Umfang und Inhalt eines Begriffs stehen daher im umgekehrten Verhältnis zueinander. Einzelbegriffe haben den kleinsten Umfang, weil sie sich nur auf ein Individuum beziehen, aber den größten Inhalt, weil ein Individuum stets mehr Merkmale hat als eine Art oder Gattung.

Wechselbegriffe
(notiones aequipollentes oder reciprocae) nennt man die, deren Umfänge miteinander identisch sind; identische dagegen solche, deren Umfang und Inhalt zusammenfällt. Vergleiche Begriffe, Merkmal, konträr, disjunkt. –

Auch Urteilen schreibt man einen Umfang zu, sofern sie sich auf mehr oder weniger Objekte beziehen. Doch ist der Umfang des Urteils in Wirklichkeit nur der Umfang seines Subjektes. Den größten Umfang hat das allgemeine, geringeren das partikuläre, den geringsten das singuläre Urteil. Vergleiche Begriff, Urteil.

unbegreiflich S. 660
nennt man das, was die Schranken des menschlichen Erkenntnisvermögens überschreitet. Gerade je weiter jemand in der Erkenntnis der Dinge fortschreitet, desto mehr wird er bereit sein, zuzugestehen, dass es Unbegreifliches gibt.

So behauptet Sokrates zu wissen, dass er nichts wisse.

Nikolaus v. Cues (1401-1464) rühmte die docta ignorantia, d.h. die Erkenntnis der Unwissenheit, und der Physiologe E. Dubois-Reymond (1818-1896) hat in bezug auf die sieben Welträtsel ausgesprochen: Ignorabimus (wir werden es nicht wissen). Vgl. Ignorabimus.

unbewusste Vorstellungen S. 660f.
(d.h. in der Seele vorhandene, aber nicht zum Bewusstsein kommende) Vorstellungen werden von Descartes (1596-1650), der das Denken zum Wesen der Seele erhob, abgewiesen.

Locke (1632-1704) verneinte sie ebenfalls in seiner Bekämpfung der angeborenen Begriffe. In der Seele oder im Verstande sein heißt nach ihm soviel als verstanden oder gewusst werden. Niemand kann daher nach seiner Auffassung eine Vorstellung haben, ohne von ihr zu wissen.

Leibniz (1646-1716) dagegen weist den unbewussten Vorstellungen in seinem System einen wichtigen Platz zu; jedem Vorgang im Leibe, auch dem ganz unbewussten, entspricht ein solcher in der Seele. Die Seele kann überhaupt nicht untätig sein; sie muss daher unbewusste Vorstellungen haben; an sie grenzen die »kleinen« Vorstellungen, die den Grund der scheinbar willkürlichen Tätigkeit bilden, an diese erst die bewussten Vorstellungen. Vergleiche Okkasionalismus, angeboren, a priori).

Kant (1724-1804) spricht von dunklen Vorstellungen, deren wir uns unmittelbar nicht bewusst sind (Anthrop. § 5 S. 16).

J. G. Fichte (1762-1814) nimmt eine produktive Einbildungskraft an, durch deren unbewusste Tätigkeit Widerstände und Hemmungen im Ich entstehen, so dass dadurch der Schein einer selbständigen Natur außerhalb des Ichs hervorgerufen wird.

Herbart (1776-1841) steht auf ähnlichem Standpunkte wie Leibniz.

Auch die neuere Psychologie hat die unbewussten Vorstellungen eifrig verteidigt als die Form, in der sich die organisch - vitalen Funktionen der Seele vollziehen.

Am weitesten geht hierin E. v. Hartmann; er sieht in dem Unbewussten das in allen Dingen wirksame Absolute und leitet das Bewusstsein aus der »Stupefaktion« des unbewussten Willens über die von ihm nicht gewollte und doch vorhandene Existenz von Vorstellungen ab. Auch fasst er die unbewusste Vorstellung anthropologisch so allgemein, dass er solche nicht nur im Hirne, sondern auch im Rückenmark und den Ganglien annimmt. -
Vergleiche Vorstellung, Bewusstsein. –

Unbewusst werden tatsächlich fortwährend bewusste psychische Inhalte im Flusse des psychischen Geschehens, sowohl Gebilde von Vorstellungen und Gefühlen, als auch ihre einzelnen Elemente. Sie können verschwinden und sukzessiv wieder hervortreten. Mit der Bezeichnung »unbewusst« wird eben die Möglichkeit ihres Wiederauftretens, also eine Existenz-Anlage (Disposition) bezeichnet.

Unding S. 661
ist ein Begriff einer Sache, die entweder nicht als existierend (non ens) oder überhaupt nicht gedacht werden kann (nonsens). Vergleiche Nichts.

unendlich (infinitus) S. 661ff. Siehe auch bei Eisler
nennt man dasjenige, was nach Zahl, Raum, Zeit, Bewegung oder Masse ohne Schranken ist.

Es ist, wie Kant (1724-1804) sagt, ein Quantum, dessen Größe sich durch keine vollendete Synthesis seiner Teile messen lässt, oder eine Größe, deren Verhältnis zu einer jeden beliebig anzunehmenden Einheit sich durch keine Zahl adäquat bestimmen und ausdrücken lässt.

Unendlich sind Dinge nicht an sich, sondern nur dem Begriffe nach, sofern sie in einer abgeschlossenen und fertigen Konstruktion nicht zusammengefasst werden können. Kann zu einer Größe immer noch etwas hinzugedacht werden, so entsteht das unendlich Große (das Zeichen ¥ rührt von dem englischen Mathematiker Wallis [1616-1703] her, der es 1655 einführte), kann stets noch etwas fortgedacht werden, das unendlich Kleine (e).

Das Unendliche ist nie in der Anschauung fertig, sondern nur im Begriff als Aufgabe gegeben und besteht in der Idee der Möglichkeit einer unbeschränkten Wiederholung eines Vorganges.

Der Begriff des Unendlichen wurzelt zunächst in der Zahlenreihe, bei der ein Abschluss nicht zu finden ist. Es ergibt sich sodann, bei der Entwicklung der Zeitvorstellung. Unsere Phantasie bildet z.B. vor- und rückwärts, in die Zukunft wie in die Vergangenheit eine unendliche Zeitreihe, aus welcher sich die Ewigkeit als ein Schema, welches das Nacheinander in eine Anschauung zu bringen sucht, entwickelt. Auf drei Arten pflegt man sich die Ewigkeit vorzustellen: als stetige Gegenwart (als nunc stans), als leere unendliche Zeitfolge oder als endlich volle, aber unendlich rekurrente Zeitreihe.

Die erste Vorstellung finden wir bei den Neuplatonikern und Scholastikern, bei Descartes (1596-1650) und Spinoza (1632-1677), ja selbst Kant (1724-1804) bezeichnet die Ewigkeit als das Ende aller Zeit.

Die letzte Art der Vorstellung finden wir bei den meisten alten Völkern,

während die zweite z.B. von Leibniz (1646 bis 1716) vertreten wird, der die Ewigkeit als etwas Objektives, die endliche Zeit hingegen als eine subjektive Vorstellung ansieht. An die Vorstellung der unendlichen Zeitreihe schließt sich leicht die des unendlichen Raumes, obgleich diese noch unvollziehbarer ist als jene, weil wir nach drei Dimensionen zu gehen haben und selber dadurch den Eindruck des Grenzenlosen zerstören. Daher greift die Phantasie gern zur unendlichen Zeitreihe zurück und hält denjenigen Raum für unendlich, den auszumessen eine unendliche Zeit nötig sein würde.

Schon Hobbes und Locke haben darauf hingewiesen, dass wir eigentlich gar keine Vorstellung des unendlichen Raumes, sondern nur einen Begriff der Unendlichkeit des Raumes besitzen. Vergleiche Raum.

Übrigens ist ein Regress ins Unendliche (in infinitum) (s. d.) wohl zu unterscheiden von einem solchen ins Unbestimmte (in indefinitum).

In der Philosophie ist oft Unendliches und Absolutes verwechselt worden.

So stellt Hegel (1770-1831) der gewöhnlichen »schlechten Unendlichkeit« die wahre gegenüber, wonach der Begriff als das allein Reale in sich selbst seine eigene Negation erzeuge, in sein Gegenteil umschlage und somit seine Endlichkeit aufhebe.

Aristoteles (384-322) definiert das Unendliche (Unbegrenzte, apeiron) als dasjenige, was der Größe nach nicht bestimmt werden kann, was nie fertig und ganz ist, was sich nicht, so begrenzen lässt, dass nicht immer ein Teil davon außerhalb läge (Phys. III, 6 p. 207a 1: hou aei ti exô esti, tout' apeiron estin). Das Unbegrenzte ist nach Aristoteles nur ein Mögliches, aber nicht ein Wirkliches; Körper und Zahl sind nicht unendlich; die Welt ist ein Vollendetes und Ganzes. Aber die Zeit und Bewegung ist ohne Anfang und Ende, und die Zahl lässt sich ins Unendliche vermehren; das Unendliche ist also kein Fertiges, sondern nur ein Werdendes, ein Mögliches. -

Descartes (1596-1650) unterschied zwischen dem Unbestimmten (indefinitum) und dem Unendlichen (infinitum). Unbestimmt nannte er dasjenige, an dem man in gewisser Beziehung keine Grenze erkennt (in quibus sub aliqua ratione finem non agnosco), unendlich dasjenige, an dem überhaupt keine Grenzen existieren (in quo nulla ex parte limites inveniuntur).

Locke (1632-1704) erklärt: Endlich und unendlich werden von der Seele als Besonderungen der Größe genommen und zunächst in ihrer ersten Bedeutung nur den Dingen beigelegt, welche aus Teilen bestehen und durch Abnahme oder Hinzufügung selbst des kleinsten Teiles der Verminderung oder Vergrößerung fähig sind.

Wundt
(geb. 1832) erklärt, dass der absolute Unendlichkeitsbegriff überhaupt nur in der Form eines von den erzeugenden Operationen völlig abstrahierenden Postulates gedacht werden kann. Vgl. Kurt Geißler, Die Grundzüge und das Wesen des Unendlichen. Leipzig 1902.


unterscheiden S. 666
bildet eine der Grundtätigkeiten des Denkens. Das Subjekt unterscheidet sich selbst vom Objekt, es unterscheidet sich von seinen Vorstellungen, sondert diese wieder in räumliche und zeitliche, unterscheidet Empfindung, Anschauung und Wahrnehmung, Vorstellung, Gedanken; das Bilden von Begriffen usw. beruht hauptsächlich auf dem Unterscheiden.

Unterscheidung führt zur Klarheit. Dies hebt besonders H. Ulrici (1806-84), System der Logik, 1862, hervor. Vergleiche Synthesis.

Untugend S. 666
nennt man die einer Tugend widerstreitende Gewöhnung. Untugend ist also nicht bloß Mangel an Tugend, sondern positive Schlechtigkeit.

Dem Laster gegenüber ist Untugend der geringere Grad der Schlechtigkeit

Ursache und Wirkung (causa) S. 667ff.
heißt diejenige Sache, deren Dasein das Dasein einer anderen, oder derjenige Vorgang, dessen Eintritt den Eintritt eines anderen, der Wirkung, notwendig macht (causa essendi seu fiendi).

Beide, Ursache und Wirkung, stehen miteinander in fester Verbindung (Kausalnexus); die Wirkung steht zur Ursache im Verhältnis der Abhängigkeit, die Ursache zur Wirkung im Verhältnis der Herrschaft.

Wir schließen, dass B die Ursache für die Veränderung an A sei, sobald wir bemerken, dass aus abc (=A) abd geworden ist, nachdem B zu A hinzugetreten war, und dies in jedem Falle. Der Grund für diese Veränderung, schließen wir, kann nicht in A enthalten sein; denn von selbst wird abc nie zu abd, sondern nur durch B. Nicht dass die eine Wahrnehmung der andern folgt, macht diese zur Ursache jener, sondern, dass, wenn B mit A zusammenkommt, an A das c dem d weicht, macht B zur Ursache des d.

So betrachten wir auch nicht die Nacht als Ursache des Tages, sondern die Stellung der Sonne zur Erde. B wird zur Ursache vielmehr erst, sobald es zu A so hinzukommt, dass wir ihm eine Kraft zuschreiben, welche von ihm ausgelöst wird und das d hervorruft. Aber dieses Eingeschlossensein des d, das doch gar nicht an B, sondern an A zur Erscheinung kommt, hat etwas Unbegreifliches. Vergleiche Möglichkeit, Kraft.

Weil nun aber die Erfahrung das gleiche Kausalitätsverhältnis zweier Dinge stets wiederkehren sieht, ergibt sich als ein Grundgesetz unseres Denkens der Satz: »Kein Ding ohne Ursache«, oder »Alles, was geschieht (anhebt zu sein), setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt« (Kant, Kr. d. r. V. S. 189).

Stehen doch schon die Begriffe, welche im Satze der Identität und des Widerspruchs verwendet werden, in gegenseitiger Beziehung und Verknüpfung. Sie rufen einander hervor, wie die Ideenassoziation beweist.

Ferner glauben wir unser Ich als die schöpferische Ursache für alle seine Vorstellungen erkennen zu können. In der Außenwelt freilich nehmen wir die Ursachen selbst nie wahr, sondern nur die Wirkungen; aus ihnen erschließen wir jene. Aber an uns selbst meinen wir fort und fort den Kausalzusammenhang zwischen Reiz und Empfindung, Unlust und Trieb, Vorstellen und Fühlen, Wollen und Handeln beobachten zu können.

Diese Anschauung einer sich äußernden psychischen Kraft übertragen wir dann auf die Außenwelt: Im Bernstein, sagen wir, schlummert die Kraft, Papierstückchen anzuziehen, im Gifte der Tod, im Pulver die Expansivkraft usw. Dieselben Erscheinungen, meinen wir, müssen auch dieselben Ursachen haben: deshalb reden wir von gewissen Naturkräften und Gesetzen, denen wir Allgemeinheit und Notwendigkeit zuschreiben, ohne meist zu beachten, dass diese »ewigen« Naturgesetze oft genug von Erscheinungen durchbrochen oder durch uns selbst erweitert und geändert werden. –

Es bleiben aber überhaupt im Begriffe der Ursache unlösbare Schwierigkeiten: Wie kann ein Ding in einem anderen Veränderungen hervorrufen, d.h. ihm eine Qualität aufdrängen, die in ihm selbst gar nicht ist? Verwirft man diesen äußeren Einfluss (influxus physicus) und fasst die Ursachen als innere auf, so erscheint das Ding als seine eigene Ursache und Wirkung. Daher haben manche Philosophen alle Veränderung überhaupt zu leugnen gesucht, andere haben sie auf die jedesmalige Einwirkung Gottes (Okkasionalismus) oder wie Leibniz auf eine von Gott prästabilierte Harmonie zurückgeführt, wonach Gott ein für allemal die Veränderungen in den Dingen so geordnet habe, dass sie durcheinander hervorgebracht zu sein scheinen. Im Grunde hat auch die Identitätsphilosophie die Kausalität geleugnet. So kommt die Philosophie mit dem Begriff der Ursache nicht recht zu Rande. Wir stehen vielmehr mit dem Kausalitätsbegriff an einer Grenze unserer Erkenntnis.

Wir bedürfen des Begriffs Ursache und Wirkung zum Aufbau unseres Wissens und können ihn doch nicht ableiten und rechtfertigen. Er erscheint wie eine Anthropomorphosierung der Welt durch den Menschen.

Auch das psychisch Geschehene in uns gibt uns keine volle Aufklärung über das Wesen der Kraft und Ursache.

Verursachung und Begründung (vgl. Grund) sind voneinander zu scheiden und nicht miteinander zu verwechseln; Verursachung ist ein Verhältnis in der Wirklichkeit, Begründung ein Verhältnis der menschlichen Gedanken. Nur wer der Theorie huldigt, dass aus reiner Vernunft Erkenntnis der Tatsachen zu schöpfen sei, also der Rationalist, wird beide einander gleichsehen, wie dies Spinoza (1632-1677) getan hat, für den die Formel sequi = causari gilt.
Schon Platon und Aristoteles stellten es als ein Postulat unserer Vernunft auf, dass man nichts ohne Grund annehme.

Aristoteles (384-322) zählt vier Prinzipien auf: Stoff, Form, Ursache und Zweck.

Dass nichts ohne Ursache geschehe (nihil fieri sine causa), lehrten auch Epikuros und Lucretius.

Doch erst Cartesius (1596-1650) nimmt das Kausalitätsgesetz (nihil ex nihilo fit) in den Zusammenhang der rationalistischen Weltanschauung auf
(vgl. Cartesianismus)

und erst Leibniz (1646-1716) formuliert den logischen Grundsatz, dass wir keinen Satz als wahr, kein Faktum als wirklich annehmen ohne einen zureichenden Grund (principe de la raison déterminante ou suffisante).

Doch schon Wolf (1679 bis 1754), sein Schüler, identifiziert Grund und Ursache, wie vor ihm Spinoza.

Kant (1724-1804) ringt wieder nach Scheidung beider und erreicht sie zum Teil in seinem Kritizismus.

Schopenhauer (1788-1860) handelt zwar von einem vierfachen Grunde, dem des Werdens, des Erkennens, des Seins und des Handelns (»Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde« 1813), gibt aber zu, dass diese vier Gestalten auf die üblichen zwei hinauslaufen. –

Hume (1711-1776) hat zuerst behauptet, der Begriff der Kausalität sei ganz subjektiv und unberechtigt, da er infolge der Beobachtung einer gleichen Aufeinanderfolge von Ereignissen in uns nur durch Gewohnheit entstehe (post hoc, ergo propter hoc); er habe also für die Erkenntnis und das Verhältnis der Dinge selbst keine Bedeutung. Doch widerspricht sich Hume insofern, als er die Sukzession der Ereignisse für die Ursache erklärt, dass die Erwartung in uns erzeugt werde und durch Gewohnheit der Begriff der Ursache in uns entstehe.

Ganz im Gegensatz dazu behauptet Kant (1724-1804), dass der Begriff Kausalität unserem Geiste ursprünglich und unabhängig von dem Inhalte der Erfahrung (a priori) als Stammbegriff, Kategorie, angehöre; doch handelt es sich für ihn bei dem a priori nur um den allgemeinen Denkbegriff. In jedem einzelnen Falle entscheidet nach Kants Auffassung über die Ursächlichkeit allein die Erfahrung.

Ihm ist Kausalität, allgemein genommen, ein Begriff, eine Denkform. Trotzdem hat er die Dinge an sich für die Ursache des Stoffes der Erfahrung, d.h. der sinnlichen Empfindung, erklärt und somit Ursache in doppelter Bedeutung bezüglich der Dinge an sich und bezüglich der Dinge für uns genommen, ein verborgener Widerspruch, auf den Jacobi (1743-1819) hinwies, und der Fichte (1762-1814) veranlasste, über Kant zum konsequenteren Idealismus hinauszugehen.

Hume's negierende Auffassung des Kausalitätsbegriffs hat vor allem St. Mill (1706 bis 1873) erneuert und ausführlich zu begründen versucht. –
Vgl. Cornelius, über die Bedeutung des Kausalprinzips. 1867. A. Fick; die Welt als Vorstellung. 1870. W. Schuppe, das menschliche Denken. 1870. Strümpell, der Kausalitätsbegriff. 1871.
Vergleiche Kausalität, Kategorien.

Ursprung (lat, origo, gr. archê) S.670 Siehe auch bei Eisler
heißt das erste in einer Reihe auseinander entstandener Dinge oder die erste Erscheinung, womit eine Sache angefangen hat.

Mit dem Ursprunge der verschiedenen Einzeldinge sowie des Kosmos beschäftigt sich die Metaphysik.

Ursprünglich bedeutet bald den Ursprung einer Sache betreffend, bald anfänglich, bald wesentlich.

Urtatsache S.670 Siehe auch bei Eisler
heißt im Allgemeinen jede Tatsache, mit welcher eine Reihe von Begebenheiten beginnt; im engeren Sinne gibt es deren zwei: das Bewusstsein, von welchem alles Denken und Sein (in subjektiver Auffassung) ausgeht, und das Dasein, die Wirklichkeit.

J. G. Fichte (1762-1814), der die zweite dieser Urtatsachen leugnet, sieht in der Urtatsache des Bewusstseins eine Urtathandlung und bestimmt sie so: »Das Ich setzt ursprünglich schlechthin sein eigenes Sein.« Daraus leitet er die Antithesis des empirischen Bewusstseins ab: »Dem Ich wird schlechthin entgegengesetzt ein Nicht-Ichund folgert aus beiden die Synthesis: »Das Ich setzt im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen.«


Urteil (lat. iudicium, gr. apophansis, als Glied des Schlusses, propositio, protasis genannt) S. 670ff.
heißt die sich im Denken vollziehende Verbindung zweier Begriffe, bei welcher der eine Begriff durch den anderen bestimmt wird. Alles Denken ist Urteilen, sowohl das Unterscheiden der Merkmale, wie das Bilden der Begriffe und Schlüsse, mag man seinen Gedanken in einem Satze aussprechen oder nicht. Jedes Urteil besteht aus 3 Stücken:

dem Subjekt (S), dem zu bestimmenden Begriff,

dem Prädikat (P), dem Begriff, durch welchen das Subjekt bestimmt wird, und

der Kopula, d.h. der Verbindung zwischen beiden.

Beilegen, Unterscheiden, Zusammenfassen, Unterordnen und Gleichsetzen sind die wesentlichen Akte des Urteilens.

Platon (427-347) definierte das Urteil (logos) als diejenige Verbindung von Substantiven und Verben, die der Verbindung von Ding und Handlung entspräche,
Aristoteles (384 bis 322) als eine Vorstellungsverbindung (apophansis), in welcher Wahrheit oder Nichtwahrheit sei, oder als einen bejahenden oder verneinenden Satz, der eins auf das andere bezieht.

Ähnliche Definitionen finden wir bei Leibniz (1645-1716) und Wolf (1679 bis 1764).

Kant (1724-1804) sagt, ein Urteil sei die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen.

Herbart (1776-1841) sieht das Urteil als die Entscheidung darüber an, ob zwei Begriffe zueinander passen oder nicht.

Nach Hegel (1770-1831) soll es die Urteilung, d.h. Selbstdiremption des Begriffs selbst, d.h. ein objektiver Vorgang der Dinge sein.

Schleiermacher (1768-1834) betonte die Beziehung des subjektiven Elements im Urteil auf das Objektiv-Reale. Dem Urteil soll das System der gegenseitigen Einwirkung der Dinge entsprechen.

Ähnliches lehren Ritter, Trendelenburg, Lotze und Überweg.

Das Urteil als formal-logische Funktion braucht allerdings mit dem Inhalt, d.h. der Wahrheit der Aussage, nichts zu tun zu haben, es bleibt formell richtig, auch wenn es dem realen Sein widerspricht. Eine Logik, die aber nicht rein formal ist, fordert eine solche bestimmtere Urteilsdefinition.

Eingeteilt werden die Urteile meist nach den Gesichtspunkten der Quantität, d.h. nach dem Umfange des Subjekts, der Relation, d.h. nach der Beziehung von Subjekt und Prädikat, der Qualität, wonach dem Subjekt etwas zu- oder abgesprochen wird, und nach der Modalität, d.h. nach der Beziehung des Inhalts des Urteils zur Wirklichkeit.

Kant unterscheidet

nach der Quantität: einzelne, besondere und allgemeine,
nach der Qualität: bejahende, verneinende und unendliche,
nach der Relation: kategorische, hypothetische und disjunktive,
nach der Modalität: problematische, assertorische und apodiktische Urteile.

Nach der hergebrachten Logik unterscheidet man durch Kombination von Quantität und Qualität

1. allgemein bejahende Urteile (alle S sind P),
2. allgemein verneinende (kein S ist P),
3. partikulär bejahende (einige S sind P),
4. partikulär verneinende (einige S sind nicht P).

Indem dann von affirmo die Vokale a und i als Bezeichnungen für allgemeine und partikuläre Bejahung, von nego e und o als solche für allgemeine und partikuläre Verneinung genommen wurden, machte Mich. Psellus um 1050 folgende Gedächtnisverse:

Asserit a, negat e, sed universaliter ambo,
Asserit i, negat o, sed particulariter ambo.


Diese übersetzte Gottsched († 1766) herzlich schlecht so:

Das a bejahet allgemein, das e sagt zu allem Nein,
Das i bejahet, doch nicht von allen, so lässt auch o das Nein erschallen.


Kant unterschied ferner

analytische Urteile (d.h. Urteile, in denen das Prädikat durch Zergliederung der Merkmale des Subjekts gefunden werden kann) und
synthetische Urteile (d.h. Urteile, in denen das Prädikat zu dem Subjektsbegriffe etwas noch nicht darin Liegendes hinzufügt) sowie
Urteile a priori (d.h. reine Vernunfturteile) und
Urteile a posteriori (d.h. Erfahrungsurteile).

Eine Logik, die auf den Erkenntniswert der Urteile eingeht, hat mindestens Wahrnehmungsurteile, Subsumptionsurteile, Definitionen, Kausalitätsurteile und mathematische Urteile zu unterscheiden. Die ersten bringen das Tatsächliche zum Ausdruck, die zweiten dienen der Ordnung der Begriffe untereinander, die dritten dienen der Begriffsbestimmung, die vierten verbinden die Tatsachen untereinander, die fünften schaffen die Zahlen- und die Größenbestimmungen. Demgegenüber hat die Einteilung der Urteile in der formalen Logik nur sehr geringen Erkenntniswert. –

Der Umfang eines Urteils ist nach der Schullogik gleich demjenigen seines Subjektbegriffs, da hier jedes Urteil in der Subsumption von S unter P besteht.
Wo S und P reziproke Begriffe sind, kann ein Urteil umgekehrt werden; solche Urteile heißen reziprokabel oder äquipollent.

Zwei Urteile, von denen das eine allgemein, das andere partikulär ist und das eine verneint, das andere bejaht, heißen einander kontradiktorisch entgegengesetzt.

Konträr oder diametral entgegengesetzt heißen das allgemein bejahende und allgemein verneinende,
subkonträr das partikulär bejahende und das partikulär verneinende;
subalternierend heißt das Urteil, welches ein Prädikat auf die ganze Sphäre des Subjektbegriffs bejahend oder verneinend bezieht, und
subalterniert das dazu gehörige, welches das Prädikat nur auf einen unbestimmten Teil derselben Sphäre bezieht.

Zusammengesetzte Urteile bestehen aus mehreren koordinierten oder subordinierten Urteilen.

Kopulative Urteile haben nur ein Prädikat, aber mehrere voneinander verschiedene Subjekte; ihre negative Form bilden die remotiven Urteile.

Konjunktive Urteile haben bei gleichen Subjekten disparate Prädikate.

Divisive Urteile zerlegen den Umfang eines Gattungsbegriffs in mehrere Arten.

Disjunktive Urteile stellen entgegengesetzte Aussagen gegenüber. -
Vgl. Herbart, Einl. i. d. Phil. 1813. Ulrici, Logik. 1852. Schleiermacher, Dialektik. 1839. Lotze, Log. 1874. Sigwart, Log. 1881, 2. Aufl. 1889-93. Drobisch, Neue Darstell, d. Log. 1863. W. Wundt, Log. 1880, 2. Aufl. 1893-95. Überweg, System d. Log. 6. Aufl. Bonn 1882.

Urteilskraft
S. 673
heißt das Vermögen, Urteile zu bilden, oder, wie Kant (1724-1804) sagt, das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, oder sich das Besondere als unter dem Allgemeinen enthalten vorzustellen. Kant unterscheidet eine bestimmende (logische) und eine reflektierende Urteilskraft; der ersteren ist das Allgemeine, unter welches das Besondere gefasst wird, gegeben die letztere schafft sich das allgemeine Prinzip (die Zweckmäßigkeit) selbst. Die reflektierende Urteilskraft ist entweder ästhetisch, wenn die Zweckmäßigkeit subjektiv gefasst wird, oder teleologisch, wenn sie objektiv als Naturzweckmäßigkeit gefasst wird. Die subjektive Zweckmäßigkeit ist entweder Zweckmäßigkeit des Objektes für das Subjekt (Schönheit) oder Zweckmäßigkeit des Subjektes für das Objekt (Erhabenheit). (Kant, Kritik der Urteilskraft, Einleitung S. XI - LVI.)

Utilitarismus (von lat. utilis = nützlich) S. 673f.
nennt man die von Jeremy Bentham (1748-1832) begründete ethische Nützlichkeitstheorie. Der Zweck der gesellschaftlichen Einrichtungen, meint Bentham, könne nur sein die »Maximation« des Wohlseins und die »Minimation« des Übels. Auf den Grundsatz des Nutzens, welcher jeden leite, gründet er seine Moral (Deontology). Nutzen bedeute die Eigenschaft einer Sache, wodurch sie uns vor einem Übel bewahrt oder uns ein Gut verschafft. Ein Übel ist Schmerz, ein Gut Lust.

Man hat danach ein moralisches Budget aufzustellen, um bei allen Lustregungen Gewinn und Nachteil abwägen zu können. Dabei erweist sich der Egoismus als nachteilig; denn es ist vor der Welt jedenfalls vorteilhafter, uneigennützig als eigennützig zu erscheinen: da aber stetes Heucheln sowohl unerträglich als auch gefährlich ist, so empfiehlt es sich, uneigennützig zu werden. Die erste Tugend ist daher die Klugheit, aus der dann Mäßigung und Selbstbeherrschung entspringen. Die reinsten Freuden verschaffen wir uns durch möglichst intensive Beförderung des Wohls aller. –

Anhänger Benthams waren Dumont, Beneke, Bowring, J. Stuart Mill. Vgl. Bentham, Deontology. 1834. Sidgwick, the Methods of Ethics 1878. Beneke, Grundsätze der Zivil- und Kriminalgesetzgebung nach Bentham. 1830.

Utopien (gr. s. a. Nirgendheime) S. 674
oder Staatsromane nennt man phantastische Ausmalungen einer idealen gesellschaftlichen Zukunft.

Platon (427-347) will in seinem »Staate« Privateigentum und Privathäuslichkeit beseitigen.

Freie Nachbildungen sind Thomas Morus' »Utopia« (1516) und Campanellas »Sonnenstaat« (1623).

Bacons »Atlantis« (1625) schließt sich an Platons »Kritias oder Athen und Atlantis 9000 Jahre vor Solon« an.

Dann folgt Fénélon mit seinen »Aventures de Télémaque« (1700) und J. J. Rousseau (1754) mit seiner Schrift »Ursprung und Gründe für die Ungleichheit der Menschen«.

Morelly beschrieb 1768 »la République des Philosophes« und verwarf in »L'homme flottant« das Eigentum, Mercier schwärmt 1770 vom Jahre 2440, und schon Brisson erklärt 1780, also 60 Jahre vor Proudhon, dass Eigentum Diebstahl sei (la propriété c'est le vol). -

Cabet beschrieb 1842 in »Voyage en Icarie« sein Paradies der Gütergemeinschaft. –

Phantastische Schriften sind noch: Bellamy 1883 »A Looking backward from the year 2000«, Hertzka, »Freiland«. 1890, derselbe »Entrückt in die Zukunft«. 1895, Donelly, »Caesar's Column, sensational story of the 20th century«1892 u.a.m.

Veränderung (lat. mutatio, gr. alloiôsis) S. 675f.
nennt man den Wandel der Qualität oder der Form eines Dinges bei dem Beharren seiner Substanz.

Die Veränderung kommt darin zum Ausdruck, dass an demselben Ort im Raum, an demselben Objekte jetzt ein Zustand und darauf ein anderer, und zu einer und derselben bestimmten Zeit hier dieser Zustand und dort jener ist.

Jede wahrnehmbare Veränderung hat eine Menge kleiner, unscheinbarer Veränderungen zur Voraussetzung, bevor sie in Erscheinung tritt.

Die Eleaten leugneten die Veränderung überhaupt; das wahrhaft Seiende könne nicht werden, sei ohne Bewegung und Veränderung, den ganzen Raum erfüllend.

Herakleitos (um 600 v. Chr.) dagegen behauptete, dass alles Wirkliche sich in beständigem Flusse befände (panta rhei).

Platon (427-347) verband die Lehre der Eleaten und des Herakleitos, indem er die Ideen für ewig und unveränderlich ansah, der Natur aber fortwährende Veränderung zuschrieb.

Aristoteles (384-322) sah in der Veränderung eine Art der Bewegung, eine Art der Verwirklichung des Möglichen, und zwar war ihm die Veränderung die qualitative Bewegung (kinêsis kata to poion De cael. I, 3, p.270a 27. Phys. VIII, 7, p. 260a 27 kinêsis kata pathos).

Jede Veränderung entsteht durch das Zusammentreffen eines Wirkenden und Leidenden (Phys.III, 3, p. 202b 25), setzt aber eine Ortsbewegung voraus (Phys. VIII, 7, p. 260b 1 ff.).

Nach Kants (1724-1804) Erklärung bringt das Zugleichsein des Stehenden in der Zeit mit dem Wechselnden den Begriff der Veränderung hervor (Kr. d. r. V., II. Aufl., Vorrede, S. XLI). »Veränderung ist eine Art zu existieren, welche auf eine andere Art zu existieren ebendesselben Gegenstandes erfolgt. Daher ist alles, was sich verändert, bleibend und nur sein Zustand wechselt. Da dieser Wechsel also nur die Bestimmungen trifft, die aufhören oder auch anheben können, so können wir, in einem etwas paradox scheinenden Ausdruck sagen: nur das Beharrliche (die Substanz) wird verändert, das Wandelbare erleidet keine Veränderung, sondern einen Wechsel, da einige Bestimmungen aufhören und andere anheben. Veränderung kann daher nur an Substanzen wahrgenommen werden, und das Entstehen oder Vergehen schlechthin, ohne dass es bloß eine Bestimmung des Beharrlichen betreffe, kann gar keine mögliche Wahrnehmung sein, weil eben dieses Beharrliche die Vorstellung von dem Übergänge aus einem Zustande in den ändern, und von Nichtsein zum Sein möglich macht, die also nur als wechselnde Bestimmungen dessen, was bleibt, empirisch werden können« (Kr. d. r. V., S. 187-188).

Herbart (1776 bis 1841) versuchte im Anschluss an die eleatische Lehre aus den Widersprüchen im Begriff der Veränderung (einzelne Merkmale beharren, andere wechseln) nachzuweisen, dass es im Seienden keinen inneren Wechsel gebe, weil ursprüngliche Selbstbestimmung und absolutes Werden unmöglich sei, dass es aber auch keinen abgeleiteten Wechsel geben würde, insofern die Einwirkung von Ursachen nur unter der Voraussetzung einer ursprünglich nach außen gerichteten Tätigkeit erfolgen könnte. Dann aber würde es gar keinen Wechsel geben, was der Erfahrung widerspricht. Daher sucht Herbart ihn ohne eine ursprünglich nach außen gerichtete und ohne eine ursprünglich innere Tätigkeit zu erklären, nämlich durch die Theorie der Selbsterhaltungen, welche zwischen den Realen stattfinden und das einzige wirkliche Geschehen ausmachen sollen. Vgl. Herbart, Allg. Metaphys. 1828.

Verantwortlichkeit S. 676
Siehe Zurechnung

Vernunft und Verstand S. 678f.
nennt man allgemein die geistige Anlage des Menschen. Beide Ausdrücke werden oft in gleicher Bedeutung gebraucht. Wo man sie scheidet, bedeutet Vernunft gewöhnlich die höhere geistige Anlage des Menschen überhaupt, Verstand die Fähigkeit des logischen Denkens oder der Bildung der apperzeptiven Verbindungen.

Seit Aristoteles (384-322) unterscheidet die Philosophie in unserem Geiste ein mehr aktives (Vernunft) und ein mehr passives
Vermögen (Verstand).

Die schärfste Gegenüberstellung von
Vernunft und Verstand rührt aber erst von Kant (1724-1804) her. Verstand ist nach ihm das Vermögen der Begriffe, deren oberste die Kategorien sind, Vernunft das der Ideen oder des Unbedingten. Auch scheidet Kant theoretische, praktische Vernunft und Urteilskraft. Doch gebraucht auch Kant, wie schon der Titel seiner Hauptwerke beweist, den Begriff Vernunft in der allgemeinen Bedeutung des geistigen Vermögens a priori des Menschen, so dass der Verstand dann nur als eine Seite der Vernunft erscheint. Aus der Scheidung Kants entwickelte sich die Ansicht, dass die Vernunft es mit dem Übersinnlichen, Ewigen und Absoluten, der Verstand dagegen nur mit der Zusammenfassung des empirisch Gegebenen zu tun habe.

Die Vernunft galt also als Quelle und Bürgschaft übernatürlicher Erkenntnisse, so bei Jacobi (1743-1819) und den Identitätsphilosophen.

Schelling (1776-1864) bezeichnet sie als das
Vermögen, die absolute Einheit der endlichen Dinge in dem Unendlichen und Absoluten anzuschauen (intellektuelle Anschauung!).

Hegel (1770-1831) lässt sie sich über den abstrakten
Verstand durch das dialektische oder negativ-vernünftige Moment zum spekulativen Vermögen erheben, das die Einheit der endlichen Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auffasst.

Ähnliches, wenn auch nüchterner, lehrten J. H. Fichte, Ulrici und Frohschammer; nach ihnen hat der Verstand es bloß mit der sinnlichen Erscheinungswelt, die
Vernunft mit dem Übersinnlichen zu tun. –

Die Scheidung ist aber kaum aufrecht zu erhalten. Unsere Erkenntnis des Sinnlichen ist methodisch dieselbe wie die des
Übersinnlichen. In beiden zeigen sich dieselben Grundgesetze unseres Geistes. Die Ideen sind nicht im Wesen von den Begriffen verschieden, sondern sind nur weitere umfassende Gedanken zur Ordnung und Grundlegung des Wissens.

Ein über die Anlage zur apperzeptiven Gedankenbildung hinausgehendes
geistiges Vermögen ist nicht nachzuweisen. Vergleiche Nous, Denken, Idee, Verstand.

Vernunftglaube S. 679
heißt der Gegensatz zum Offenbarungsglauben. Der Vernunftglaube versucht alle religiöse Überzeugung lediglich aus der Vernunft abzuleiten.

Kant (1724-1804) glaubte einen solchen Glauben mit den Ideen von Gott, sittlicher Freiheit des Menschen und Unsterblichkeit der Seele aus Postulaten der praktischen Vernunft und zwar im besonderen aus der Idee des höchsten Gutes gewinnen zu können. Kant, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. 1793. Fichte, Kritik aller Offenbarung. Königsberg 1792.

Verstand (intelligentia) S. 680
heißt bei Kant (1724-1804) das Vermögen der Spontaneität oder das Vermögen der Begriffe und Vorstellungen, der Urteile und Erkenntnisse, das Vermögen, das Mannigfaltige einer Empfindung zusammenfassen, das Vermögen der diskursiven Erkenntnis. Vergleiche Vernunft.

Verworren S. 680
ist der Gegensatz zu deutlich. Verworren heißt eine Vorstellung, wenn der Vorstellende sie nicht genügend in ihren einzelnen Merkmale erfasst hat . Von der Verworrenheit zur Deutlichkeit führt also die Entwicklung und Zergliederung.

Vision (lat. visio, gr. horama) S. 680 Siehe auch bei Eisler
heißt eine Art der Halluzination, bei der der Mensch Gestalten sieht oder Stimmen hört, welche objektiv nicht vorhanden sind. Die Vision entspringt meist aus psychischen, bisweilen aus körperlichen Ursachen. Zu den letzteren gehört: Blutandrang nach dem Gehirn oder Blutmangel in demselben, Vergiftung, Krankheit des Hirns, des Herzens, Hypochondrie, Hysterie, Epilepsie u. dgl.

Die psychischen Ursachen sind Affekt, Phantasie und Interesse. Daher stellen sich die Visionen, welche man Träume im Wachen nennen kann meist bei aufgeregtem Zustande ein. Manche Menschen können sogar willkürlich Visionen herbeiführen. Ihr Wesen besteht darin, daß Phantasmen nach außen projiziert und für wirkliche Wahrnehmungen eines Sinnes gehalten werden. Am meisten sind Gesicht und Gehör der Vision ausgesetzt, und Visionen kommen selbst bei völlig erblindeten und tauben Menschen vor. Wie ansteckend solche Affektionen sind, zeigen die Hexenvisionen des Mittelalters, die Visionen der Puritaner, Jansenisten und Spiritisten. Selbst ganz gesunde Naturen, wie Cellini, Goethe, J. Moser, Nicolai, J. Paul, W. Scott, haben Visionen erlebt. Vgl. Halluzination.


Vollkommenheit S. 684 Siehe auch bei Eisler
heißt die äußere Vollständigkeit oder die innere Vollendung eines Dinges, das dasjenige geworden ist, was es nach seinem Wesen werden konnte. Man kann die quantitative Vollkommenheit von der qualitativen sondern: jene ist die äußere Vollständigkeit, d.h. die Allheit der Teile, welche zusammen ein Ding aufmachen; diese ist die innere Vollendung und das Zusammenstimmen aller Teile in einem Ganzen.

Auch kann man formale und materiale Vollkommenheit scheiden, je nachdem mehr die Form oder der Stoff des Dinges ins Auge gefasst wird; ebenso stehen einander die physische, geistige und moralische Vollkommenheit gegenüber. Vgl. F. Kirchner, Über d. Zweck d. Daseins. Berlin 1882.
Siehe auch bei Eisler

Voluntarismus (Lehre von der Bedeutung des Willens) S. 684ff.
nennt man seit kurzer Zeit die Ansicht, dass die Willensvorgänge eine typische, für die Auffassung aller psychischen Vorgänge maßgebende Bedeutung haben. Das Wort ist von Tönnies (1883) gebildet, von Fr. Paulsen (geb. 1846) in dem Sinne ausgeprägt, dass es die Auffassung bezeichnet, der Wille sei der ursprüngliche und in gewissem Sinne konstante Faktor des Seelenlebens, und von Wundt (geb. 1832) in die psychologische Forschung aufgenommen und weiter verbreitet.

Die voluntaristische Psychologie behauptet, dass das Wollen mit den ihm eng verbundenen Gefühlen und Affekten einen ebenso unveräußerlichen Bestandteil der psychologischen Erfahrung ausmache wie die Empfindungen und Vorstellungen, und dass nach Analogie des Willensvorganges alle anderen psychischen Prozesse aufzufassen seien als ein fortwährend wechselndes Geschehen in der Zeit, nicht als eine Summe beharrender Objekte.

Die voluntaristische Psychologie steht also im Gegensatz zu der intellektualistischen, die den Versuch macht, alle psychischen Vorgänge aus den Vorstellungen oder intellektuellen Vorgängen abzuleiten (Wundt, Grundr. d. Psych., Einleitung § 2 S. 14-18).

Allgemein (metaphysisch) gefasst, ist der Voluntarismus der Gegensatz zum Intellektualismus. Der letztere gibt dem Intellekte den Vorzug vor dem Willen, der erstere dem Willen den Vorrang vor dem Intellekte und sieht in dem Weltprozess eine dynamische Entwicklung, oder, tiefer gefasst, eine Folge von Willensvorgängen.

Er setzt philosophisch ein mit Kants (1724-1804) Lehre vom Primate der praktischen Vernunft über die theoretische Vernunft und vom absoluten Werte des guten Willens und ist von Fichte (1762-1814) konsequent durchgebildet; er ist auch durch Schopenhauer (1788-1860) vertreten, der den Willen als das Ansich der Welt gedacht hat.

Aber der Voluntarismus hat sich nach der Auffassung des Wesens des Willens in zwei Richtungen gespalten. Insofern er unter dem Wollen ein dunkles, triebartiges, unbewusstes Vorgehen sieht, wie dies bei Schopenhauer der Fall ist, führt er zu einer Hingebung an starke Eindrücke der Dinge, zu möglichst unreflektiertem Empfinden und Anschauen; insofern er im Wollen, wie das der Auffassung Kants und Fichtes entspricht, ein tätiges, zweckvoll vordringendes, schöpferisches Wirken sieht, betrachtet er das ethische Handeln und den Aufbau einer neuen Wirklichkeit als seine Aufgabe.

Überwunden hat der Voluntarismus den Intellektualismus bisher keineswegs, sondern höchstens eingeschränkt. Kants moralischer Glaube, als Frucht des Voluntarismus, hat keine allgemeine Bedeutung erlangt, und der Voluntarismus birgt die nicht zu unterschätzende Gefahr in sich, der Unwissenheit und der Feindschaft gegen die Bildungsbestrebungen zum Deckmantel dienen zu können.

Der Ausdruck Voluntarismus ist übrigens nicht gerade glücklich gewählt, da voluntas (lat.) mehr Neigung und Wunsch als charaktervolles Wollen bezeichnet. Es sind darum auch andere Bezeichnungen für denselben Begriff, wie Ethelismus, Thelismus, Theletismus, Thelematismus usw. vorgeschlagen.
Vgl. R. Eucken Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipz. 1904. S. 38 ff.


Vorstellung (repraesentatio) S. 686
heißt das aus den Empfindungen und Wahrnehmungen durch Assoziation und Reproduktion des Gleichartigen und Verwandten gewonnene allgemeine psychische Gebilde. Die Wahrnehmungen setzen die Anwesenheit des Objektes voraus; die Vorstellungen kommen und gehen, ohne dass die Objekte derselben gegenwärtig sind. Sie bilden die Grundlage der Begriffe, die aus ihnen durch logische und apperzeptive Gestaltung hervorgehen. Die Vorstellungen sind entweder gleich oder ungleich, letztere wieder vergleichbar oder disparat.-

Leibniz (1646-1716) und Herbart haben allerdings den Begriff Vorstellung in viel weiterer Bedeutung genommen und ordnen ihm alle psychischen Vorgänge unter. Doch geschah dies kaum mit Recht.

Nach Herbart (1776-1841) sind die Vorstellungen sogar Kräfte und hemmen und fördern einander, sie steigen und sinken, verschmelzen sich oder widerstreben einander, drängen sich in der Enge des Bewusstseins, bis die schwächere unter die »Schwelle des Bewusstseins« sinkt und die stärkere steigt. Jede strebt wieder zur früheren Klarheit zu gelangen, wodurch ein stetes Schwanken und Schweben der Vorstellungen erzeugt werde. Diese ganze »Statik und Mechanik« der Vorstellungen ist aber unhaltbar. Herbart betrachtet in ihr das Bewusstsein wie einen ideellen Raum, in welchem sich die Vorstellungen durch eigene Kräfte selbständig bewegen. Das ist jedoch eine falsche Übertragung mechanischer Vorgänge auf das Seelenleben, die durch nichts gerechtfertigt ist. Den Wechsel der Vorstellungen veranlassen ganz andere Einflüsse: Reize, Empfindungen und Interessen. Über die Gesetze der Reproduktion, über Gedächtnis und Phantasie.

Vorurteil S. 686f.
nennt man ein Urteil, das jemand über eine Sache fällt, bevor er sie geprüft hat. Vorurteile sind unzulässig; aber nicht jedes Vorurteil ist falsch; nur kann man von seiner Wahrheit nicht eher überzeugt sein, als bis man es gründlich untersucht hat.

Die Vorurteile sind oft die schlimmsten Quellen und Bollwerke des Irrtums. Die Philosophie darf sie nicht dulden, und ein philosophischer Kopf sollte keine Behauptung annehmen oder nachsprechen, die er nicht selbst durchdacht hat.

Die Vorurteile haben mancherlei Ursprung: Erziehung, Gewöhnung, Familie, Stand, Sprache, Geschäft, Volk, Landesbrauch, Mangel der menschlichen Natur usw., mit einem Worte die Achtung vor fremden Autoritäten. Dazu kommt Egoismus, Trägheit und Faulheit, Oberflächlichkeit, Parteiwut usw. Vgl. Irrtum.

Die erste philosophische Darstellung der Vorurteile (Idole) hat Bacon (1661-1626) gegeben (vgl. Idol).

Neuerdings hat Reinhold Hoppe (Die Elementarfragen der Philosophie nach Widerlegung eingewurzelter Vorurteile. 1897. S. 13-24) die Lehre von den Vorurteilen systematisch behandelt. Er nennt neun Vorurteile:

1. dass das höchste Kriterium der Gewissheit sei, dass man nicht anders denken könne;
2. dass das anerkannte Wissen verbürgt sei;
3. dass Sein und Denken ursprünglich voneinander getrennt beständen und einen Gegensatz bildeten;
4. dass das Ziel der Erkenntnis sei, die Wirklichkeit im Geiste zu reproduzieren;
5. dass, wenn alles Sein nur ein gedachtes wäre, die ganze Welt nicht wirklich sein würde;
6. dass alles, was ist und geschieht, eine Ursache hat;
7. dass, wenn auf eine Frage die Antwort gesucht und nicht gefunden worden sei, sie ein Problem bilde;
8. dass die Formulierung in Worten unser Denkvermögen begrenze und repräsentiere;
9. dass die Sicherheit der Erkenntnis auf ihrem Anfang beruhe und nur auf absolut sicheres Wissen ein höchstens ebenso sicheres Wissen gebaut werden könne.

Wahrhaftigkeit S. 688
ist der Trieb, die Wahrheit zur Geltung zu bringen in Wort und Werk, in Miene und Gebärde. Das Streben nach Wahrhaftigkeit darf als natürlich gelten, wird aber durch Feigheit, Eitelkeit und Selbstsucht sehr oft verdrängt. Poetische Vorbilder der Wahrhaftigkeit sind Neoptolemos in Sophokles' Philoktetes und Iphigenie bei Goethe.

Wahrheit S. 688f.
wird theoretisch in doppeltem Sinne gebraucht, im logischen oder formalen und im materiellen oder inhaltlichen Sinne.

Die (formale) logische Wahrheit ist die Übereinstimmung unserer Gedanken mit sich selbst und mit den allgemeinen Denkgesetzen(vgl. Richtigkeit). Sie liegt nur in der Form, nicht in dem Inhalt der Erkenntnis.

Die materielle (inhaltliche) Wahrheit hingegen besteht in der Angemessenheit unserer Gedanken für die Gegenstände. Dass diese von selbst beim natürlichen Denken vorhanden sei, ist die Ansicht des »gesunden Menschenverstandes«. Das tiefere Nachdenken kommt aber bald auf die Frage nach der Bürgschaft für die Wahrheit, nach ihren Kriterien. Hierbei kann man den skeptischen, kritischen, dogmatischen und den Standpunkt der absoluten Philosophie unterscheiden.
Die Skepsis stellt die Möglichkeit eines wahren Wissens überhaupt in Abrede.

Der Kritizismus leugnet die Gültigkeit unserer Erkenntnis vor ihrer Prüfung und über die Grenzen der Erfahrung hinaus; die Dinge an sich bleiben uns unbekannt.
Der Dogmatismus dagegen setzt ohne weiteres voraus, dass unsere Begriffe dem Wesen der Dinge entsprechen. Noch weiter in der Richtung geht die absolute Philosophie, indem sie, unter Voraussetzung der absoluten Einheit von Denken und Sein, behauptet, der Begriff sei selbst das wahrhaft Reale. -

Eine ganz andere Art von Wahrheit tritt uns bei der Gültigkeit der praktischen Ideen entgegen. Hier handelt es sich nicht um die Angemessenheit des Gedankens für das Sein, sondern im Gegenteil um Übereinstimmung des Seins mit der Idee. Das sittliche, ästhetische, religiöse Tun hat sich nach der Idee zu richten. Diese Wahrheit kann man die ideale Wahrheit nennen.

Wahrnehmung (perceptio) S. 689
nennt man die unmittelbare Bewusstseinserfassung eines Gegebenen durch die Sinne. Die Wahrnehmung entsteht nur bei Gegenwart eines wirklichen Objekts. Man unterscheidet äußere und innere Wahrnehmung. Jene ist die unmittelbare Erkenntnis des neben- und nacheinander Existierenden, welche auf Grund objektiver Verhältnisse durch unsere Sinne zustande kommt, diese fasst unsere psychischen Erlebnisse vom Standpunkt des Selbstbewusstseins mit materieller Richtigkeit auf. Auf der Verbindung der äußeren und inneren, der sinnlichen und der psychischen Wahrnehmung beruht ein großer Teil aller Erkenntnis. Im Wesentlichen deckt sich also der Begriff der Wahrnehmung mit dem der Anschauung (s. d.). Will man beide unterscheiden, so kann dies mit Wundt (geb. 1832) so geschehen, dass man bei dem Ausdruck Wahrnehmung mehr die Auffassung des Gegenstandes nach seiner wirklichen Beschaffenheit, bei dem Ausdruck Anschauung dagegen vorzugsweise die dabei vorhandene Tätigkeit unseres Bewusstseins im Auge hat. Vgl. Wundt, Grundz. der phys. Psych. II, S. 1.

Wahrscheinlichkeit (probabilitas) S. 689f.
heißt der mittlere Grad der Gewissheit. Die Wahrscheinlichkeit liegt zwischen der Wirklichkeit und Möglichkeit und schließt den Eintritt des Gegenteils nicht aus. Sie hat selbst verschiedene Grade der Gewissheit, je nach dem Gewicht der Gründe, auf denen sie beruht.

Man unterscheidet mathematische und philosophische Wahrscheinlichkeit; jene nennt man auch die reale, diese die logische Wahrscheinlichkeit. Jene bezieht sich auf Verhältnisse des gewöhnlichen Lebens und wird bestimmt durch das Verhältnis der Anzahl der einer Erwartung günstigen Fälle zur Anzahl aller möglichen Fälle, wenn alle Fälle gleich möglich sind.

Die einfachsten Fälle der Wahrscheinlichkeit kommen z.B. beim Spiel (Karten, Lotto u. dgl.) vor. So fragt man, wie wahrscheinlich es ist, in einem Zahlenlotto eine Ambe zu erraten. In den 90 Nummern liegen 4005 Amben; 5 Nummern werden jedes Mal gezogen, in denen 10 Amben liegen. Hier habe ich also von 4005 Fällen 10 Fälle für und 3995 gegen mich. Die Wahrscheinlichkeit verhält- sich also zur Gewissheit wie 10:4005 oder sie ist, die volle Gewissheit = 1 gesetzt, = 10/4005. Die Wahrscheinlichkeit, mit zwei Würfeln einen Pasch zu werfen, ist = 1/6 der Gewissheit; für einen bestimmten Pasch aber = 1/36.
Voraussetzung der Wahrscheinlichkeitsrechnung ist, dass alle Fälle ganz gleichartig sind und dass man sie übersehen und ihr Größenverhältnis bestimmen kann. Daher wird im Allgemeinen nur der Unternehmer eines Geschäfts (für Leibrenten, Witwenkassen, Lotterien) gewinnen, der Einzelne aber stets aufs unsichere hin wagen.

Mit der einfachen mathematischen Berechnung kann sich in anderen Fällen auch die Erfahrung zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit verbinden.
So lehrt z.B. die Erfahrung, dass sich die Geburten von Knaben zu der von Mädchen wie 22 zu 21 verhalten, folglich wird die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mutter bei der Geburt einen Knaben zur Welt bringen werde, sich ebenso verhalten. –

Bei der philosophischen Wahrscheinlichkeit schließt man entweder geradezu von der Vielheit der Fälle auf die Einheit der Regel und sucht also die Regel selbst zu begründen, oder man setzt doch voraus, wiewohl nicht mit voller Gewissheit, dass die Regel allgemein gelte. Hier hat man das Bewusstsein, es gebe feste Regeln der Entscheidung, wenn man sie auch noch nicht kennt, und hier schließt man nicht auf Grund der Größe, sondern durch Induktion, Analogie und Hypothese.

Weisheit S. 691 Siehe auch bei Eisler
ist die Anwendung der besten Mittel zur Erreichung guter Absichten. Sie besteht in einem Wissen des Wahren, welches aber nicht in der Theorie bleibt, sondern praktisch wird und die Gesinnung und Handlungsweise veredelt. Nicht Gelehrsamkeit und Bildung gehört dazu, aber praktische Lebensklugheit, Einsicht in das wahrhaft Gute und guter Wille.

In ihrem letzten praktischen Ziele will die Philosophie Weisheitslehre sein.


Welt (v. mhd. werlt, ahd. weralt, eigentlich das Zeitalter, s. a. saeculum) S. 691 Siehe auch bei Eisler
bezeichnet die Gesamtheit dessen, was ist (Universum). Mit den Fortschritten der Astronomie haben sich die Vorstellungen von der Größe und Einrichtung des Weltgebäudes (Kosmos = Schmuck, Ordnung, mundus) geändert.

Die Lehre von dem Ursprung, dem Wesen, der Dauer und dem Ende der Welt entwickelt die Kosmologie.

Früher schied man die sichtbare (mundus sensibilis) von der übersinnlichen (mundus intelligibilis); die Naturphilosophen des 16. Jahrhunderts stellten dem Makrokosmos (der Welt) den Menschen als Mikrokosmos gegenüber.

Schopenhauer
(1788-1860) sieht in der Welt einerseits Willen (Ding an sich), andrerseits ist ihm die Welt unsere Vorstellung (Welt der Erkenntnis).
Vergleiche Metaphysik,

Weltanschauung
S. 692
heißt die Gesamtansicht, die jemand von Gott, Welt und Menschen hat.

Das theoretische Ziel der Philosophie ist, uns eine Weltanschauung zu geben.

Weltordnung S. 692
heißt die physische und sittliche Gesetzlichkeit des Weltalls, welche J. G. Fichte (1762-1814) gleich Gott setzte.

Weltseele S. 692 Siehe auch bei Eisler
nannte Platon (Tim. p. 34) und nach ihm die Stoa, Schelling u. a. das belebende Prinzip der Welt.


Wesen (lat. essentia, gr. ousia, ahd. wesan, mhd. wesen) S. 692
bedeutet zunächst das Sein im Gegensatz zum Dasein (existentia). Jedes Vorhandene muss irgend welche Bestimmtheit haben, um zu existieren. Jede Existenz setzt eine Essenz oder ein Wesen voraus. Damit hängt die zweite Bedeutung des Wortes zusammen, wonach unter Wesen das Bleibende, Beharrliche, das Ding an sich verstanden wird im Gegensatz zu den wechselnden Eigenschaften und zur Erscheinung. Das Wesentliche an einer Sache ist in dieser Bedeutung das Notwendige. Endlich bedeutet Wesen ein einzelnes Ding, und man spricht von mehreren Wesen derselben Art. Vergleiche Begriff.

Widerlegung (lat. refutatio) S. 692
heißt der Nachweis von der Unrichtigkeit einer Behauptung. Man widerlegt, indem man entweder den logischen Widerspruch oder die materiale Unwahrheit aufzeigt. Dies kann durch direkten oder indirekten Beweis, durch Deduktion oder Induktion, durch absolute Beweise oder Wahrscheinlichkeitsschlüsse geschehen.

Um sachlich zu widerlegen, hat man den Streitpunkt fest im Auge zu behalten, die Behauptungen des Gegners klar aufzufassen, sich über die Prinzipien mit ihm auseinanderzusetzen, sich vor Verdrehung und Konsequenzmacherei zu hüten und nicht bloß die Gründe des Gegners aufzuheben, sondern den Gegenbeweis zu geben. Vergleiche Irrtum, Kritik.

Widerspruch (lat. contradictio) S. 126 Siehe auch bei Eisler
Principium contradictionis heißt der Satz des Widerspruchs. Er lautet:

»Ein und derselbe Begriff kann nicht das nämliche zugleich sein und nicht sein.«
Er ist also die Umkehrung des Identitätsgesetzes.

Der Satz des Widerspruchs hat nicht bloß subjektive, sondern auch objektive Gültigkeit: Widersprechendes kann nicht zusammen sein, ohne sich zu beschränken und aufzuheben.

Hegel (1770-1831) hatte Unrecht, wenn er sagte, alles Existierende sei der daseiende Widerspruch.

Aus dem Satze des Widerspruchs folgt der Satz vom »ausgeschlossenen Dritten« -

Contradictio in adjecto
,
der Widerspruch im Beigelegten, entsteht, wenn von einem Subjekt ein Prädikat ausgesagt wird, das ihm direkt widerspricht, z.B. der
eckige Kreis, das hölzerne Eisen.

Wille/Wollen S. 693
heißt allgemein das mit Einsicht verbundene Streben. Während der Trieb blind, die Begierde nur zielbewusst ist, gesellt sich beim Wollen noch die Einsicht in die Erreichbarkeit des Begehrten hinzu. Erreichbar aber ist etwas, wenn es den Endpunkt einer Kausalreihe bildet, deren Anfang von uns selbst in Bewegung gesetzt und zur Ursache aller folgenden Glieder gemacht werden kann. Vom Begehren unterscheidet das Wollen sich also durch die Stetigkeit seiner Akte, durch die Überlegung und die Zuversicht, dass es Erfolg haben werde. Ohne die Vorstellung des Begehrten, die Erfahrung und die Einsicht in die Mittel kommt kein Wollen zustande. Das Wollen entspringt also aus dem Wissen und Können. Man kann, was man will, wenn man will, was man kann. Kein Verständiger wird wollen, was er sich bewusst ist, schlechterdings nicht zu können oder zu dürfen. Die Gegenstände des Wollens aber sind unendlich verschieden, gut und schlecht; daher gibt es einen sittlichen und einen unsittlichen Willen; und je nach dem Gebrauch und der Überzeugung von der eigenen Kraft gibt es ein verständiges und törichtes, ein festes und schwankendes Wollen.

Immer aber bleibt der Wille des Menschen innerstes Eigentum, so dass Schopenhauers Idee (1788-1860. Die Welt als Wille und Vorstellung. 1819), ihn als das Ding an sich, als das Wesen der Welt überhaupt, zu bezeichnen, nur mit vollständiger Verschiebung des Begriffes des Willens zu einem unvernünftigen blinden Streben möglich war.

Vom Willen kann auch weder beim Tiere noch beim Säugling die Rede sein, sondern nur beim Menschen, der soweit gereift ist, dass er Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung erworben hat; bei ihm treten immer mehr an die Stelle der Begierde nach Lust alle die mannigfachen Interessen, die ihm das Leben eingepflanzt hat, und die vielseitige Überlegung der Mittel nebst einer gewissen Mechanik des Wollens. -

Das Wollen betätigt sich nach außen durch Handlungen, nach innen durch Impulse. In jener Hinsicht zeigt sich sein Einfluss auf das Leben, in dieser sein Einfluss auf das Nachdenken, Wahrnehmen, Aufmerken, Sichbesinnen und auf das künstlerische Schaffen.

Auf der Möglichkeit, verschiedene Interessen zugleich zu erwägen und durch die wichtigste bestimmt zu werden, beruht die praktische Freiheit des Willens, die Möglichkeit der Willensbildung und Erziehung, ja des Fortschrittes der ganzen Menschheit. Vergleiche Freiheit, Determinismus, Voluntarismus.

Willkür (liberum arbitrium) S. 694
heißt die niedrigste Stufe der Freiheit, nämlich die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Möglichkeiten beliebig und ohne sittliche Gründe zu wählen. Dass der Mensch dabei ganz indeterminiert sei, ist nur ein Schein, welcher aus dem Zugleichsein mehrerer Bestimmungsgründe in unserm Innern entspringt. Wer die Freiheit des Willens und des Wesens der Willkür in der Indeterminiertheit sieht, verwechselt das Unvermögen des Beobachters, das Resultat der Überlegung vorherzubestimmen, mit einem jede Vorherbestimmung ausschließenden Vermögen im Wählenden. Wählen aber heißt das einem besser Scheinende vorziehen; da dies nur auf Grund einer Überlegung geschehen kann, setzt die Wahl gerade die Motivation durch äußere Gründe oder die innere Entscheidung voraus; wer aber unter willkürlich handeln grundlos handeln versteht, der hat kein Recht, noch von sittlichem, freiem Tun überhaupt zu sprechen. Vgl. Indeterminismus, Äquilibrismus.

Wirklichkeit S. 694
heißt nach der gewöhnlichen Auffassung das in der Außenwelt Daseiende, in Raum und Zeit Vorhandene. Aber die Philosophie hat frühzeitig erkannt, dass die Gegenstände der äußeren Wahrnehmung durch ihre Eigenschaften (Farben, Töne usf.) nicht das metaphysisch Wirkliche darstellen. Daher hat der Kritizismus den Dingen an sich allein die Wirklichkeit beigelegt, und der konsequente Idealismus hat schließlich die Wirklichkeit der Außenwelt überhaupt geleugnet, so dass Hegel den Satz aussprechen konnte: »Was vernünftig ist, ist wirklich, und was wirklich, ist vernünftig«, womit dem Gedanken, dem Begriff die wahre Wirklichkeit zugesprochen wurde. Vergleiche Realität, Objekt.

Man wird die Schwierigkeiten im Begriffe des Wirklichen lösen, wenn man das Wirkliche zwar nur in den Vorstellungen des Bewusstseins, aber in dem an unseren Vorstellungen sucht, was unseren Sinnen und dadurch unserem Bewusstsein ohne unseren Willen gegeben ist.

Wirkung (effectus), s. Ursache.

Wissen S. 694
nennt man die auf subjektiv und objektiv zureichende Gründe gestützte Überzeugung. Diese Gründe können entweder aus der Sinnesanschauung (Empirie) oder aus Zeugnissen (historisches Wissen) oder aus dem Zusammenhang von Zahl, Größe und Gestalt (mathematisches Wissen) oder aus Schlüssen (philosophisches Wissen) geschöpft sein. Vgl. Glauben, Meinen, Überzeugung.

Wissenschaft S.695
bedeutet material in subjektivem Sinne das Wissen des Einzelnen, in objektivem den durch Schrift und Lehre überlieferten Schatz des Wissens der Menschheit, formal den nach logischen Regeln geordneten Inbegriff von Lehrsätzen. In material-objektivem und formalem Sinne zugleich ist sie das vollständige Ganze gleichartiger, nach Prinzipien geordneter Erkenntnisse. Vollständigkeit, Einheit, Systematik und Klarheit sind die Hauptseiten der Wissenschaft.

Das bloße gedächtnismäßige Wissen heißt dagegen Gelehrsamkeit und ist nicht echte Wissenschaft; man kann ein ganz gelehrter, dabei aber doch ein unwissenschaftlicher Mensch sein.

Jede Wissenschaft dagegen hat irgend ein Problem als ihren Stoff und ein Prinzip, wonach sie alles Einzelne beurteilt.

Die letzten Grundsätze aber, aus denen die Einzelwissenschaft ihren Stoff ableitet, untersucht die Philosophie; sie liefert ihr auch die Methoden. Der Versuch, alle Wissenschaften als ein System darzustellen, führt zur Enzyklopädie.

Wissenschaftslehre S. 695
nannte J. G. Fichte (1762-1814) die Philosophie, indem er sie als die Lehre von demjenigen Wissen betrachtete, welches die notwendigen Tathandlungen des Geistes umfasst und dadurch den Grund für alle besonderen Wissenschaften legt, die ihrerseits die freien oder willkürlichen Handlungen des Geistes zum Inhalt haben. Vgl. J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. 1794.

Wunder (miraculum) S. 696
bedeutet zunächst alles, worüber man sich wundert; derartiges gibt es für die naive, unwissende Menschheit schon unendlich vieles; aber darüber hinaus wird gerade derjenige, welcher Natur und Geschichte am meisten kennt, viel Wunderbares finden, und der Philosoph wundert sich über Dinge, die dem gewöhnlichen Menschenverstande keinen Anstoß bereiten.

Andrerseits setzt es die höchste Weisheit voraus, sich über nichts mehr zu wundern, wie es das Horazische »nil admirari« fordert. –

Im kirchlichen Sprachgebrauch bezeichnet Wunder ein Ereignis, welches den Naturgesetzen zuwiderläuft und mit dem Gott durch unmittelbare Fügung die Ordnung des Weltalls durchbricht. –

Von Wundern wird auch noch im gewöhnlichen Sprachgebrauch in dem Sinne geredet, dass bisweilen eine ungewöhnliche Steigerung von Naturkräften hervortritt, so z.B. wenn ein Genie wie Goethe erscheint.
Vergeiche Natur, übernatürlich, Offenbarung

Zahl S. 697ff. Siehe auch bei Eisler
heißt die durch die synthetische Tätigkeit des Bewusstseins hergestellte Zusammenfassung gleichartiger Gegenstände (Einheiten) zu einer die Teile und das Ganze ausdrückenden Verbindung.

Die Zahl ist nicht die Anschauung oder die Vorstellung oder der Begriff eines empirischen Objektes, und sie enthält auch keine Bestimmung der Substanz oder der Beschaffenheit eines Objektes.

Im Zahlbegriff fehlt aber auch ferner jede Beziehung auf ein Nach- und Nebeneinander, auf Raum und Zeit oder auf ein kausales Verhältnis. In ihm liegt nur die begriffliche Zusammensetzung des Ganzen aus seinen gleichartigen Teilen.

Das Zählen als psychischer Akt ist zwar eine sukzessive Verbindung unterschiedener gleichartiger Teile, und die Zahlenreihe ist ohne ein Nacheinander unmöglich; aber in der fertigen Zahl liegt die Sukzession nicht. So wenig die Nadel, die das Kleid genäht hat, ein Teil des fertigen Gewandes ist, ebenso wenig ist die Zeit, die zum Zählen gehört, ein Teil des fertigen Zahlbegriffs. Die Zahl ist vielmehr abstrakter als alle Zeit- und Raumbegriffe.

Kant (1724-1804) hat daher eine falsche Lehre aufgestellt, wenn er behauptet hat, dass die Zahl Zeitanschauung in sich einschließe und dass die Arithmetik die Wissenschaft der reinen Zeit sei, wie die Geometrie die Wissenschaft des reinen Raumes ist. Gerade auf der Unabhängigkeit der Zahl von Zeit und Raum beruht die allgemeine Verwendbarkeit der Zahl.

Arithmetik ist die relativ reinste mathematische Vernunftwissenschaft.

Nur bei der Erwerbung des Zahlbegriffes bedarf das Kind der Erfahrung und Anschauung. Der erworbene Zahlbegriff entwickelt sich dann aber nach seinen eigenen Gesetzen auf das reichste weiter. –

Die Zahl ist entweder bestimmt (1, 2, 3 usw.) oder allgemein (a, b, c usw.).

Durch die Rechnungsarten entwickelt sich eine Fülle von Zahlarten: positive, negative, ganze, gebrochene, rationale, irrationale, reelle, imaginäre, algebraische, transzendente usw., und es gipfelt der Zahlbegriff jetzt in dem Begriff der komplexen Zahl a ± ib.

Um die Klärung über das Wesen der Zahl haben sich in neuerer Zeit besonders verdient gemacht: Weierstraß, Dedekind, Cantor und Kronecker.
Die Wissenschaft von der Zahl ist die Arithmetik. Sie ist ihrem Wesen nach nicht analytisch wie die Logik, sondern synthetisch und beruht auf einer Art schöpferischer Kraft des Bewusstseins, die Kant nicht ganz richtig mit den Namen »Konstruktion in der Anschauung« bezeichnete. Ihr Verfahren besteht in einer rekurrierenden Schlussweise, die in eine einzige Formel eine unendliche Anzahl von Syllogismen zusammendrängt und auf eine Geisteskraft hinweist, welche der unendlichen Wiederholung ein und desselben Schrittes fähig ist, wenn dieser Schritt einmal als möglich erkannt ist. Die Arithmetik kommt also durch Konstruktionen, nicht aber durch Konstruktionen in der Anschauung, vorwärts und konstruiert schrittweise immer verwickeltere Kombinationen, um alle möglichen Formen der Zusammensetzung eines Ganzen aus einen Teilen zu entwickeln.

An das Zählen schließt sich die Addition, an diese die Multiplikation und an diese die Potenzierung an. Rückwärtszählen, Subtrahieren, Dividieren (Teilen und Messen), Radizieren und Logarithmieren bilden die inversen Operationen. Aus diesen Operationen erwächst alle Gestaltung des Zahlbegriffs. Die Arithmetik ist unter allen mathematischen Wissenschaften die unentbehrlichste, allgemeinste und grundlegendste.

Pythagoras hat der Zahl sogar metaphysische Bedeutung zu geben versucht und in ihr das Wesen der Dinge gesehen. Doch geschah dies zu Unrecht; denn die Zahl ist ein Begriffsgebilde aber nicht das Ding an sich. Vgl. C. Michaëlis, Über Kants Zahlbegriff. Berlin 1884. Über Stuart Mills Zahlbegriff. Berlin 1888. Max Simon, Didaktik und Methodik des Rechnen-, Mathematik- und Physik-Unterrichts. München 1895. H. Graßmann, Lehrbuch der Arithmetik. 1861. Dedekind, Was sind und was sollen die Zahlen? Braunschweig 1888. v. Helmholtz, Zählen und Messen, erkenntnistheoretisch bearbeitet. 1887. (Wiss. Abhandl. Bd. 3, S. 356 ff.). Kronecker, Über den Zahlbegriff (Crelles Journal Bd. 101). Tannery, Leçons d'arithmétique thèorique et pratique. Paris 1894. H. Poincaré, Science et hypothèse, deutsch von F. und L. Lindemann. Leipzig 1904 (I. Zahl und Größe).


Zeit S. 699
Siehe Raum, Ewigkeit, unendlich.

Zirbeldrüse (glanspinealis, glandula, conarium) S. 699
einen ovalen rötlichgrauen weichen Körper von der Größe eines Kirschkerns, der auf dem vorderen Hügelpaar der Vierhügel im Gehirn ruht und der im Inneren den so genannten Hirnsand enthält. (vgl. acervulus cerebri), betrachtete Descartes (1596-1650) als den Sitz der Seele, weil sie keines der paarigen Organe sei (Passions de l'âme I, 31). Die jetzige Forschung hat in der Zirbeldrüse ein rudimentäres Auge nachgewiesen.

Zorn S. 699
ist die zum heftigsten Affekt gesteigerte Unlust über ein empfundenes Unrecht. Der Zorn gehört zu den sthenischen Affekten und hat großen Einfluss auf das Leibesleben. Das arterielle Gefäßsystem- wird im Zorne aufgeregt, der Puls wird hart, voll und groß, das Gesicht rot und aufgetrieben, die Stirn gerunzelt, die Augen treten hervor, der Körper gerät in heftige Bewegung, die Galle wird stärker abgesondert. Sobald der Paroxysmus der Leidenschaft zu Ende ist, tritt Abspannung ein.

Je nach Temperament und Erziehung ist die Neigung zum Zorn verschieden; das Heilsame wäre, nie in Zorn zu geraten; denn der Zorn hat für den ganzen Organismus die nachteiligsten Wirkungen: Gallenfieber, Entzündung der Leber, des Herzens, des Gehirns, ja Manie ist oft die Folge. Bekämpft wird der Zorn durch Einsicht und Selbstbeherrschung.


Zufall (casus) S. 699f. Siehe auch bei Eisler
nennt man alles, was durch keine Gründe und Ursachen bedingt zu sein scheint, also das Unbeabsichtigte und das Unerklärliche. Der Begriff des Zufalls ist jedoch ein bloß subjektiver; denn tatsächlich ist alles Wirkliche durch Ursachen bedingt. Aber ein Kausalzusammenhang kann für uns unter Umständen dunkel und unbekannt oder auch unbeabsichtigt sein.

Zufällig heißt demnach dasjenige Ereignis, welches aus einem System von Ursachen entspringt, das nicht in der Macht des Wollenden oder der Kenntnis des Auffassenden liegt, z.B. eine Folge, die weder von uns beabsichtigt noch auch vorhergesehen ist. Der Zufall, so aufgefasst, spricht sowohl im Leben des einzelnen als auch in der Geschichte der Völker seine Rolle. Vergleiche Geschichte.


Zurechnung (imputatio) S. 700
besteht in einem Urteil, durch welches ausgesprochen wird, dass eine bestimmte Tat eine bestimmte Person zum Urheber habe. Der Kausalnexus zwischen Urheber und Tat wird aber durch das Wollen hergestellt, das aus dem Ich hervorgeht. Daher hat man bei der Abwägung, ob eine Tat jemandem zuzurechnen sei, die doppelte Frage aufzuwerten: ist die Tat aus dem Wollen des betreffenden Menschen und ist das Wollen aus dem Bewusstsein desselben hervorgegangen? Die Bejahung der ersten Frage ergibt die Zurechenbarkeit der Tat, die der zweiten die Zurechnungsfähigkeit des Subjekts. Jene Zurechnung ist die faktische, diese die rechtlich-moralische Zurechnung.

Hat z.B. jemand im Wahnsinn oder auf Befehl eines Vorgesetzten etwas getan, so muss ihm zwar der Erfolg als seine Tat zugeschrieben, aber er kann keine Schuld dafür beigemessen werden.

Die Zurechnung hat verschiedene Stufen.

Sie ist unmittelbar, wenn jemand eine Tat selbst getan hat (physische Urheberschaft); sie ist mittelbar, wenn er einen anderen dazu angestiftet hat (intellektuelle Urheberschaft). Sie ist vollständig oder unvollständig, je nachdem die Handlung die allein hinreichende Ursache des Erfolges war oder nicht. Demgemäß bemisst sich auch die Schuld der Teilnehmer. Vor allem kommt es darauf an, ob der Mensch Einsicht und Vorsatz hatte. Alles, was der Täter als direkte oder indirekte Folge seiner äußeren oder inneren Handlung voraussehen musste, ist zurechenbar, was er nicht voraussehen konnte, ist unzurechenbar; was er voraussehen konnte und nicht vorausgesehen hat, wird strafbar, wenn er es hätte voraussehen sollen.

Die Zurechnungsfähigkeit hängt ab vom Kennen und Wollen, vom Wissen des Sollens und vom Begehren des Gewussten.

Unzurechnungsfähig sind also Kinder, Wahnsinnige, Kranke, Taubstumme (z.B. betreffs des Eides), Hypnotisierte usw. Alles Gesagte gilt natürlich nicht nur für Taten, sondern auch für sträfliche Unterlassungen. Vgl. J. Hoppe, d. Zurechnungsfähigk. 1877. G. Rümelin, Reden und Aufsätze. 1881.

Zweck (lat. finis, gr. telos; im Deutschen bedeutet das mhd. zwec soviel als Nagel aus Holz oder Eisen, dann Nagel im Mittelpunkt der Zielscheibe und schließlich Zielpunkt, Ziel) S. 700f.
nennt man eine vorgestellte und begehrte Wirkung (vgl. Ursache). Der Begriff des Zweckes ist also aus dem Kausalitätsbegriffe abgeleitet, ist also nicht eine Kategorie des Denkens.

Man unterscheidet Zwecksetzung und Zweckverwirklichung.

Zur Zwecksetzung gehört dreierlei:

a) die Vorstellung einer Wirkung,
b) der Wunsch, dieselbe aus dem Reiche der Idee in das der Wirklichkeit zu setzen,
c) die Vorstellung der Ursache (Mittel), welche dazu führt.

Zur Zweckverwirklichung gehört:

a) die Idee einer Wirkung,
b) die Auslösung einer Ursache (Mittel), c)
der Eintritt einer Wirkung (verwirklichter Zweck).

Der Zweckbegriff ist also nur unter Voraussetzung einer die Kausalitätsverhältnisse kennenden und ins Werk setzenden Intelligenz möglich.

Der Zweck heißt Finalursache (causa finalis), weil er die Ursache ist, dass man die Mittel wolle.

Der Finalnexus ist die durch Mitwirkung des Denkens und Wollens vollzogene Erweiterung des Kausalnexus um ein Glied; in der objektiven Kausalreihe von zwei Gliedern ist die Ursache das erste, die Wirkung das zweite, in der subjektiven und objektiven Zweckreihe von drei Gliedern ist die Idee der Wirkung das erste, die wirkliche Herbeiführung der Ursache das zweite und die reale Wirkung erst das dritte.

Zweck ist daher nach Kant (1724 bis 1804) »der Begriff von einem Objekt, sofern er zugleich den Grund der Wirklichkeit dieses Objektes enthält« (Kritik der Urteilskraft. Einleitung S. XXVI).

Wer also den Zweck begehrt, muss auch die Ursache, die weil sie zwischen Zweck und Wirkung liegt, Mittel heißt, wollen; doch geht der Zweck der Auswahl der Mittel voran, und erst das Begehren des Zweckes verursacht das Begehren des Mittels; dieses verursacht das begehrte Objekt; dieses endlich verursacht die Empfindung der Befriedigung.

Manches begehrt man freilich auch als Zweck, während man die Mittel nicht will. So lebt mancher Mensch, obwohl er die Gesundheit liebt, so, dass er krank werden muss. Oft setzt sich auch andrerseits, was man nur als Mittel begehrte, als Zweck fest. Dies tritt besonders beim Gelde hervor.
Vergleiche Teleologie, Mittel.

Zweckmäßigkeit S. 701
Siehe Teleologie.

Zweifel S. 701f.
heißt derjenige Gemütszustand, in dem man durch einander entgegenstehende Gründe an der Entscheidung einer Frage gehindert wird.

Der Zweifel ist entweder ein Zustand intellektueller oder ein Zustand ethischer Art. Sein Gegenteil ist demgemäß entweder die Gewissheit oder die Entschlossenheit oder das Vertrauen.

Der Zweifel ist unbequem in der Praxis des Lebens und lahmt die Kräfte des Geistes; aber in der Wissenschaft ist der Zweifel der Vater der Forschung. Denn nur wer verschiedene Möglichkeiten erkennt und sich dadurch hin und her getrieben fühlt, sucht nach Instanzen der Entscheidung.

Daher empfahl schon Epicharmos (5. Jahrhundert) den Zweifel: naphe kai memnas' apistein; arthra tyta tôn phrenôn, und auch

Aristoteles (384-322) betrachtete ihn als Quelle der Weisheit;

Cartesius (1596-1660) empfiehlt dem Philosophen bei Beginn seiner Arbeit den methodologischen Zweifel an allem. Verschieden von dem von ihm geforderten Zweifel ist der skeptische Zweifel, welcher das Endresultat der sich selbst aufgebenden Philosophie ist und auf das Streben nach Erkenntnis verzichtet. Vergleiche Skepsis, Wahrscheinlichkeit, Wahrheit.

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