Bernd Wilhelm Heinrich von Kleist (1777 - 1811 Freitod)
Deutscher Dichter. Der Sohn eines preußischen Majors trat nach Besuch des Gymnasiums 1792 in die preußische Armee ein, nahm 1793 — 95 am Rheinfeldzug teil, gab aber 1799 die militärische Laufbahn auf, um in Frankfurt (Oder) Kameralwissenschaft (Lehre von der ertragsreichsten Gestaltung der Staatseinkünfte) und Jura zu studieren. 1800 kehrte er nach Berlin zurück, wo ihn das Studium Kants und Fichtes in eine schwere Krise stürzte: Kleist glaubte die Scheinhaftigkeit des Erkenntnisvermögens zu erkennen. Er begriff, dass der wahre Daseins-Zweck der menschlichen Erkenntnis verschlossen ist und damit zur Glaubens-Sache wird. Aber »wenn niemand den Zweck seines Daseins und seine Bestimmung kennt, wenn die menschliche Vernunft nicht hinreicht, sich selbst und die Seele und das Leben und die Dinge außer sich selbst zu begreifen, wenn man seit Jahrtausenden noch zweifelt, ob es ein Recht gibt — — kann Gott von solchen Wesen Verantwortlichkeit fordern?« Unausgesprochene Konsequenz : Wenn Gott aber keine Verantwortlichkeit fordern kann, dann kann er auch keine Pflicht verlangen und niemanden wegen irgendeiner Schuldigkeit belangen. 1811 schied Kleist mit der befreundeten Henriette Vogel freiwillig aus dem Leben. Kleist stand mit seinen Werken (Novellen, Kurzgeschichten, Komödien und Tragödien) außerhalb von Klassik, Romantik und philosophischem Idealismus, wenn auch Elemente dieser Richtungen durchaus bei ihm zu erkennen sind. Kleist hat keine Aufführung seiner Dramen (z. B. »Prinz von Homburg«) erlebt. Seine Komödie »Der zerbrochne Krug« wurde 1808 in Weimar in einer missglückten Inszenierung Goethes aufgeführt. Trotz Ludwig Tiecks Bemühungen war Kleist lange Zeit verkannt und wurde erst um 1900 als einer der genialsten deutschen Dichter wiederentdeckt. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Die Bestimmung unseres irdischen Lebens
Die Vervollkommnung als Zweck der Schöpfung
Kann Gott Verantwortlichkeit fordern?
Es kann kein böser Geist sein, der an der Spitze der Welt steht
Die
Bestimmung unseres irdischen Lebens
(oder worin die »ächte«
Aufklärung des Weibes besteht)
Alle echte Aufklärung des Weibes besteht am Ende wohl nur darin, meine
liebe Freundinn: über die Bestimmung seines irdischen
Lebens vernünftig nachdenken zu können.
Über die Bestimmung unseres ewigen Daseins nachzudenken, auszuforschen,
ob der Genuss der Glückseeligkeit (wie Epikur meinte) oder die Erreichung
der Vollkommenheit (wie Leibniz glaubte) oder die Erfüllung der trocknen
Pflicht (wie Kant versichert) der letzte Zweck des Menschen sei, das, liebe
Freundinn, ist selbst für Männer unfruchtbar und oft verderblich.
Solche Männer begehen die Unart, die ich beging, als ich mich im Geiste
von Frankfurt nach Stralsund, und von Stralsund wieder im Geiste nach Frankfurt versetzte. Sie leben in der Zukunft, und vergessen darüber was die Gegenwart
von ihnen fordert.
Urteile selbst, wie können wir beschränkte Wesen, die wir von der
Ewigkeit nur ein so unendlich kleines Stück, unser spannenlanges Erdeleben
übersehen, wie können wir uns getrauen, den Plan, den die Natur für
die Ewigkeit entwarf, zu ergründen? Und wenn dies nicht möglich ist,
wie kann irgend eine gerechte Gottheit von uns verlangen, in diesen ihren ewigen
Plan einzugreifen, von uns, die wir nicht einmal im Stande sind, ihn zu denken?
Aber die Bestimmung unseres irdischen Daseins,
die können wir allerdings unzweifelhaft herausfinden, und diese zu erfüllen,
das kann daher die Gottheit auch wohl mit Recht von uns fordern.
Es ist möglich, liebe Freundin, dass mir Deine Religion hierin widerspricht
und dass sie Dir gebietet, auch etwas für Dein künftiges Leben
zu tun. Du wirst gewiss Gründe für Deinen Glauben haben, so
wie ich Gründe für den meinigen; und so fürchte ich nicht, dass
diese kleine Religionszwistigkeit unsrer Liebe eben großen Abbruch tun
wird. Wo nur die Vernunft herrschend ist, da vertragen sich auch die Meinungen
leicht; und da die Religionstoleranz schon eine Tugend ganzer Völker geworden
ist, so wird es, denke ich, der Duldung nicht sehr schwer werden, in zwei liebenden
Herzen zu herrschen.
Wenn Du Dich also durch die Einflüsse Deiner früheren Erziehung gedrungen
fühltest, durch die Beobachtung religiöser Zeremonien auch etwas
für Dein ewiges Leben zu tun, so würde ich weiter nichts als Dich
warnen, ja nicht darüber Dein irdisches Leben zu vernachlässigen.
Denn nur gar zu leicht glaubt man, man habe Alles getan, wenn man die ernsten Gebräuche der Religion beobachtet, wenn man
fleißig in die Kirche geht, täglich betet, und jährlich 2mal
das Abendmal nimmt.
Und doch sind dies Alles nur Zeichen eines Gefühls, das auch ganz anders
sich ausdrücken kann. Denn mit demselben Gefühle, mit welchem Du bei
dem Abendmale das Brot nimmst aus der Hand des Priesters, mit demselben Gefühle,
sage ich, erwürgt der Mexikaner seinen Bruder vor dem Altare seines Götzen.
Ich will Dich dadurch nur aufmerksam machen, dass alle diese religiösen
Gebräuche nichts sind, als menschliche Vorschriften,
die zu allen Zeiten verschieden waren und noch in diesem Augenblicke an allen
Orten der Erde verschieden sind. Darin kann also
das Wesen der Religion nicht liegen, weil es ja sonst höchst schwankend
und ungewiss wäre. Wer steht uns dafür, daß nicht in Kurzem
ein zweiter Luther unter uns aufsteht, und umwirft, was jener baute.
Aber in uns flammt eine Vorschrift — und die muss göttlich sein,
weil sie ewig und allgemein ist; sie heißt: erfülle
Deine Pflicht; und dieser Satz enthält die Lehren aller Religionen.
Alle anderen Sätze folgen aus diesem und sind in ihm gegründet, oder
sie sind nicht darin begriffen, und dann sind sie unfruchtbar und unnütz.
Dass ein Gott sei, dass es ein ewiges Leben, einen Lohn für die
Tugend, eine Strafe für das Laster gebe, das alles sind Sätze, die
in jenem nicht gegründet sind, und die wir also entbehren können.
Denn gewiss sollen wir sie nach dem Willen der Gottheit selbst entbehren
können, weil sie es uns selbst unmöglich gemacht hat, es einzusehen
und zu begreifen. Würdest Du nicht mehr tun, was Recht ist, wenn der Gedanke
an Gott und Unsterblichkeit nur ein Traum wäre? Ich nicht.
Daher bedarf ich zwar zu meiner Rechtschaffenheit
dieser Sätze nicht; aber zuweilen, wenn ich meine
Pflicht erfüllt habe, erlaube ich mir, mit stiller Hoffnung an einen
Gott zu denken, der mich sieht und an eine frohe Ewigkeit, die meiner wartet;
denn zu Beiden fühle ich mich doch mit meinem Glauben hingezogen, den mein
Herz mir ganz zusichert und mein Verstand mehr bestätigt, als widerspricht.
Aber dieser Glaube sei irrig, oder nicht, — gleichviel! Es warte auf mich
eine Zukunft, oder nicht — gleichviel! Ich erfülle für dieses
Leben meine Pflicht, und wenn Du mich fragst: warum?
so ist die Antwort leicht: eben weil es meine Pflicht
ist.
Ich schränke mich daher mit meiner Tätigkeit ganz für dieses
Erdeleben ein. Ich will mich nicht um meine Bestimmung nach dem Tode kümmern,
aus Furcht darüber meine Bestimmung für dieses Leben zu vernachlässigen.
Ich fürchte nicht die Höllenstrafe der Zukunft, weil ich mein eignes
Gewissen fürchte, und rechne nicht auf einen Lohn jenseits des Grabes,
weil ich ihn mir diesseits desselben schon erwerben kann.
Dabei bin ich überzeugt, gewiss in den großen ewigen Plan der
Natur einzugreifen, wenn ich nur den Platz ganz erfülle, auf den sie mich
in dieser Erde setzte. Nicht umsonst hat sie mir diesen gegenwärtigen Wirkungskreis angewiesen und gesetzt ich verträumte diesen und forschte
dem zukünftigen nach — ist denn nicht
die Zukunft eine kommende
Gegenwart, und soll ich denn auch diese Gegenwart wieder verträumen?
Doch ich kehre zu meinem Gegenstande zurück. Ich habe Dir diese Gedanken
bloß zur Prüfung vorgelegt. Ich fühle mich ruhiger und sicherer,
wenn ich den Gedanken an die dunkle Bestimmung der Zukunft ganz von mir entferne,
und mich allein an die gewisse und deutliche Bestimmung für dieses Erdeleben
halte.
Ich will Dir nun meinen ersten Hauptgedanken erklären.
Bestimmung unseres irdischen Lebens heißt
Zweck desselben, oder die Absicht, zu welcher uns Gott auf diese Erde gesetzt
hat. Vernünftig darüber nachdenken heißt
nicht nur diesen Zweck selbst deutlich kennen, sondern auch in allen Verhältnissen
unseres Lebens immer die zweckmäßigsten Mittel zu seiner Erreichung
herausfinden.
Das, sagte ich, wäre die ganze wahre Aufklärung des Weibes und die
einzige Philosophie, die ihr ansteht.
Deine Bestimmung, liebe Freundin, oder überhaupt die Bestimmung des Weibes
ist wohl unzweifelhaft und unverkennbar; denn welche andere kann es sein, als
diese, Mutter zu werden, und der Erde tugendhafte Menschen
zu erziehen?
Und wohl Euch, dass Eure Bestimmung so einfach und beschränkt ist!
Durch Euch will die Natur nur ihre Zwecke erreichen, durch uns Männer auch
der Staat noch die seinigen, und daraus entwickeln sich oft die unseligsten
Widersprüche.
Für Wilhelmine v. Zenge. 16.
September 1800
Die
Vervollkommnung als Zweck der Schöpfung
Ich hatte schon als Knabe (mich dünkt am Rhein durch eine Schrift von Wieland)
mir den Gedanken angeeignet, daß die Vervollkommnung der Zweck der Schöpfung
wäre. Ich glaubte, dass wir einst nach dem Tode von der Stufe der
Vervollkommnung, die wir auf diesem Sterne erreichten, auf einem andern weiter
fortschreiten würden, und dass wir den Schatz von Wahrheiten, den
wir hier sammelten, auch dort einst brauchen könnten. Aus diesen Gedanken
bildete sich so nach und nach eine eigne Religion, und das Bestreben, nie auf
einen Augenblick hieniden still zu stehen, und immer unaufhörlich einem
höhern Grade von Bildung entgegenzuschreiten, ward bald das einzige Prinzip
meiner Tätigkeit. Bildung schien mir das
einzige Ziel, das des Bestrebens, Wahrheit der
einzige Reichtum, der des Besitzes würdig.— Ich weiß nicht,
liebe Wilhelmine, ob Du diese zwei Gedanken: Wahrheit und Bildung, mit einer
solchen Heiligkeit denken kannst, als ich — Das freilich würde doch
nötig sein, wenn Du den Verfolg dieser Geschichte meiner Seele verstehen
willst. Mir waren sie so heilig, dass ich diesen beiden Zwecken, Wahrheit
zu sammeln, und Bildung mir zu erwerben, die kostbarsten Opfer brachte. An
Wilhelmine v. Zenge. 22. März 1801
Kann Gott
Verantwortlichkeit fordern?
. . . — gesetzt, Rousseau hätte in der Beantwortung der Frage, ob
die Wissenschaften den Menschen glücklicher gemacht haben, recht, wenn
er sie mit nein beantwortet, welche seltsamen Widersprüche würden
aus dieser Wahrheit folgen! Denn es mussten viele Jahrtausende vergehen,
ehe so viele Kenntnisse gesammelt werden konnten, wie nötig waren, einzusehen,
dass man keine haben müsste. Nun also müsste man alle
Kenntnisse vergessen, den Fehler wieder gut zu machen; und somit finge das
Elend wieder von vorn an. Denn der Mensch hat ein unwidersprechliches Bedürfnis
sich aufzuklären. Ohne Aufklärung ist er nicht viel mehr als ein Tier.
Sein moralisches Bedürfnis treibt ihn zu den Wissenschaften an, wenn
dies auch kein physisches täte. Er wäre also, wie Ixion, verdammt,
ein Rad auf einen Berg zu wälzen, das halb erhoben, immer wieder in den
Abgrund stürzt. Auch ist immer Licht, wo Schatten ist, und umgekehrt. Wenn
die Unwissenheit unsre Einfalt, unsre Unschuld und alle Genüsse der friedlichen
Natur sichert, so öffnet sie dagegen allen Gräueln des Aberglaubens
die Tore — Wenn dagegen die Wissenschaften uns in das Labyrinth des Luxus
führen, so schützen sie uns vor allen Gräueln des Aberglaubens.
Jede reicht uns Tugenden und Laster, und wir mögen am Ende aufgeklärt
oder unwissend sein, so haben wir dabei so viel verloren, als gewonnen.
— Und so mögen wir denn vielleicht am Ende tun, was wir wollen,
wir tun recht Ja, wahrlich, wenn man überlegt, dass wir ein Leben
bedürfen, um zu lernen, wie wir leben müssten, dass wir
selbst im Tode noch nicht ahnden, was der Himmel mit uns will, wenn niemand
den Zweck seines Daseins und seine Bestimmung kennt, wenn die menschliche Vernunft
nicht hinreicht, sich und die Seele und das Leben und die Dinge um sich zu begreifen,
wenn man seit Jahrtausenden noch zweifelt, ob es ein Recht gibt — — kann Gott von solchen Wesen Verantwortlichkeit fordern?
Man sage nicht, dass eine Stimme im Innern uns heimlich und deutlich anvertraue,
was Recht sei. Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinem Feinde zu vergeben,
ruft dem Seeländer zu, ihn zu braten und mit Andacht isst er ihn auf.
— Wenn die Überzeugung solche Taten rechtfertigen kann, darf man
ihr trauen? — Was heißt das auch, etwas Böses tun, der Wirkung
nach? Was ist böse? Absolut
böse? Tausendfältig verknüpft und verschlungen
sind die Dinge der Welt, jede Handlung ist die Mutter von Millionen andern,
und oft die schlechteste erzeugt die beßten — Sage mir, wer auf
dieser Erde hat schon etwas Böses gethan? Etwas, das böse wäre
in alle Ewigkeit fort —? Und was uns auch
die Geschichte von Nero, und Attila, und Cartouche, von den Hunnen, und den
Kreuzzügen, und der spanischen Inquisition erzählt, so rollt doch
dieser Planet immer noch freundlich durch den Himmelsraum, und die Frühlinge
wiederholen sich, und die Menschen leben, genießen, und sterben nach wie
vor. — Ja, thun, was der Himmel sichtbar, unzweifelhaft von uns fordert,
das ist genug — Leben, so lange die Brust sich hebt, genießen, was
rundum blüht, hin und wieder etwas Gutes thun, weil das auch ein Genuß
ist, arbeiten, damit man genießen und wirken könne, Andern das Leben
geben, damit sie es wieder so machen und die Gattung erhalten werde —
und dann sterben — Dem hat der Himmel ein Geheimniß eröffnet,
der das thut und weiter nichts. Freiheit, ein eignes Haus, und ein Weib, meine
drei Wünsche, die ich mir beim Auf und Untergange der Sonne wiederhole,
wie ein Mönch seine drei Gelübde! O um diesen Preis will ich allen
Ehrgeiz fahren lassen und alle Pracht der Reichen und allen Ruhm der Gelehrten
— Nachruhm! Was ist das für ein seltsames Ding, das man erst genießen
dem Tode noch äfft! Denn wer kennt die Namen der Magier und ihre Weisheit?
Wer wird nach Jahrtausenden von uns und unserm Ruhme reden? Was wissen Asien,
und Afrika und Amerika von unsern Genien? Und nun die Planeten —? Und
die Sonne —? Und die Milchstraße —? Und die Nebelflecke —?
Ja, unsinnig ist es, wenn wir nicht grade für die Quadratruthe leben, auf
welcher, und für den Augenblick, in welchem wir uns befinden. Genießen!
Das ist der Preis des Lebens! Ja, wahrlich, wenn wir seiner niemals froh werden,
können wir nicht mit Recht den Schöpfer fragen, warum gabst Du es
mir? Lebensgenuß seinen Geschöpfen zu geben, das ist die Verpflichtung
des Himmels; die Verpflichtung des Menschen ist es, ihn zu verdienen. An
Wilhelmine v. Zenge. 15. August 1801
Es
kann kein böser Geist sein, der an der Spitze der Welt steht
Welch eine Kurzsichtigkeit, o du edler Mensch, gehört dazu, hier, wo Alles
mit dem Tode endigt, nach etwas zu streben. Wir begegnen uns, drei Frühlinge
lieben wir uns: und eine Ewigkeit fliehen wir wieder auseinander. Und was ist
des Strebens würdig, wenn es die Liebe nicht ist! Ach, es muß noch
etwas Anderes geben, als Liebe, Glück, Ruhm & x, y, z, wovon unsre
Seelen nichts träumen
Es kann kein böser Geist sein, der an der Spitze der Welt steht; es ist
ein bloß unbegriffener! Lächeln wir nicht auch, wenn die Kinder weinen?
Denke nur, diese unendliche Fortdauer! Myriaden von Zeiträumen, jedweder
ein Leben, und für jedweden eine Erscheinung, wie diese Welt! Wie doch
das kleine Sternchen heißen mag, das man auf dem Syrius, wenn der Himmel
klar ist, sieht? Und dieses ganze ungeheure Firmament nur ein Stäubchen
gegen die Unendlichkeit! O Rühle, sage mir, ist dies ein Traum? Zwischen
je zwei Lindenblättern, wenn wir Abends auf dem Rücken liegen, eine
Aussicht, an Ahndungen reicher, als Gedanken fassen, und Worte sagen können.
Komm, laß uns etwas Gutes thun, und dabei sterben! Einen der Millionen
Tode, die wir schon gestorben sind, und noch sterben werden. Es ist, als ob
wir aus einem Zimmer in das andere gehen. Sieh, die Welt kommt mir vor, wie
eingeschachtelt; das kleine ist dem großen ähnlich. So wie der Schlaf,
in dem wir uns erholen, etwa ein Viertel oder Drittel der Zeit dauert, da wir
uns, im Wachen, ermüden, so wird, denke ich, der Tod, und aus einem ähnlichen
Grunde, ein Viertel oder Drittel des Lebens dauern. Und grade so lange braucht
ein menschlicher Körper, zu verwesen. Und vielleicht giebt es für
eine ganze Gruppe von Leben noch einen eignen Tod, wie hier für eine Gruppe
von Durchwachungen (Tagen) einen. An O.A.Rühle
v. Lilienstern. 31.August 1806
Aus: Heinrich von Kleist, Sämtliche Briefe
Herausgegeben von Dieter Heimböckel
Reclams Universalbibliothek Nr. 9768 (S.131-134, 212, 270-272, 370)
© 1999 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
Verlages