Hermann Kutter (1863 - 1931)

Schweizer Theologe und evangelischer Pfarrer in Zürich, der nicht nur mitreißende Predigten hielt, sondern auch eine dynamisch-theozentrische Theologie entwickelte, die den Weg für die Dialektische Theologie ebnete. Zusammen mit Ragaz war er zudem ein führender Vertreter des Religiösen Sozialismus in der Schweiz. Kutter bejahte die an sich eher atheistische Sozialdemokratie, weil er sie als tätigen Ausdruck des lebendigen Gotteswillens zur Überwindung des sozialen Elends interpretierte.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis

Der lebendige Gott
Nach dir, Herr, verlanget mich
Siehe, ich mache alles neu
Vom Mitmenschen
  Über das Problem des Unbedingten

Der lebendige Gott
Gott ist der, auf den es ankommt. Nicht der, zu dem man schöne Gebete hinauf schickt. Gott ist kein Kirchen- und kein Staatsgott, nein, Gott ist Gott. Gott «will seine Ehre keinem andern geben». An keine Gottesidee, an keine Prinzipien, an keine Begriffe, an keine geistigen Fürstentümer, Mächte und Gewalten, seine Lebendigkeit verlieren. Er ist nicht Gottesidee, er ist Gott.

Er will nicht von außen die Welt regieren — nach unserem Zwecke. Er mag nichts wissen von einer Religion, die ihn dazu gebrauchen möchte. Er will sich nicht erbeten lassen von gottlosen Menschen. Er hat es übergenug, daß die Völker zu ihm ihre Hände erheben — für ihre Wünsche. Er ist kein Gott dieser Welt. Kein Götze. Er ist Gott, und wir sollen uns nach ihm richten.

Gott ist die Macht, nicht der Staat, nicht irgendeine irdische Größe.

Und entscheidend wichtig ist jetzt, ob der Staat das versteht. Denn wenn er es jetzt versteht, wo er den andern voran zu handeln berufen ist, so kann auch das Entscheidende geschehen, das, daß alle mit ihm von sich selbst frei werden und sich im gemeinschaftlichen höheren Leben finden.

Denn Gott allein ist die Freiheit, wie er alle anderen großen Ideen ist. Gott haben heißt Freiheit und alles andere besitzen.

Gott ist die Freiheit deswegen, weil in ihm alle die Spannungen aufhören, welche die von Gott losgerissenen Ideen in des Menschen Geist auslösen, der unselige und aussichtslose Kampf sich zur Ruhe, zum Frieden der im Leben wieder zu sich selbst gekommenen Vernunftskräfte verwandelt. Gott ist das, was die Ideen alle nur wollen und in verzehrender Leidenschaft anstreben. Gott ist das Sein von allem Sein. In ihm versinkt das falsche Sein, der Schein.

Gott erkennen heißt erkennen, daß es keine Wichtigkeiten, keinen Ernst, keine Unerforschlichkeiten, keine eherne Notwendigkeiten gibt. Die ehernen Notwendigkeiten sind nur, sozusagen, erstarrte Gotteskräfte. Es gibt nur eine Notwendigkeit: die selige Notwendigkeit des Lebens in Gott. Die Menschen sind nur darum unfrei, weil sie so ernst sind. Und sie sind nur darum so ernst, weil sie verdinglicht und verbegrifflicht sind. Dinge und Begriffe sind ernst. Heiter ist der Geist. Gott haben heißt haben, als hätte man nicht, heißt spielen, heißt den Humor zum Meister des Lebens erheben. Gott haben heißt erwachen aus schwerem Traum. Unser gottentfremdetes Leben ist ein Traum. Die Völker träumen. Von eigener Größe, von Volkstum. Volksehre, Rasse, Nation, Staat, von Herrschaft — von Göttern aller Art; aber wenn sie erwachen, so verfliegen die Träume. Dann sehen sie in die volle Klarheit ihres Lebens hinein. Dann sehen sie das Licht. Im Lichte Gottes. S.23-25

Nach dir, Herr, verlanget mich
Wer‘s verlangt, der lebt. Das Geschöpf lebt im Verlangen, im Nehmen, wie der Schöpfer im Geben. Wenn im Frühling draußen das Leben erwacht, was ist es anderes als ein tausendfältiges Verlangen? Jedes Blättchen, jedes Gräschen, jedes Blümchen, das Schmettern der Buchfinken, das Flöten der Meisen, der Gesang der Amsel, der Jubel des Schwarzkopfes, das Zirpen der Grillen. das Huhu der Unken — alles ist Verlangen. Warum? Weil die Liebe wieder erwacht ist.

Verlangen ist nicht Todesnot, Verlangen ist Lebensfreude. Der Tod kennt kein Verlangen. Und wenn‘s dich nach Gott verlangt, Menschenkind, so verstopf die Röhren nicht, sonst stirbst du. An verstopften Röhren geht der Brunnen zugrunde, am unterdrückten Verlangen das Menschenherz; im Kerker haust der Tod, die auf gesprengten Pforten erschließen das Leben.

Leben heißt: hinauswollen, ans Licht wollen, streben, schaffen, nie am Ende sein, weiter, weiter; heißt in sich hineintrinken, heißt getränkt werden und wieder dürsten, gesättigt sein und wieder hungern, ein ewiger Kreislauf, ein immerwährendes Nehmen und Bitten, ein Hände ausstrecken und ein Empfangen, ein Beschenktwerden und Weiterschenken. Aber so gesättigt sein, daß du nie wieder begierig wirst, kannst du nur in Gott. Nach Geld und Gut kannst du begierig sein, aber du kannst nicht satt werden an ihnen. Bei Gott aber heißt‘s: «Ich will schauen dein Antlitz in Gerechtigkeit, ich will satt werden. wenn ich erwache an deinem Bilde» (Psalm 17. 15).

Vom ewigen Leben bekommt man nie genug: das eben ist das ewige Leben: Verlangen und satt werden und satt werden und Verlangen. Wenn dich also anfängt zu verlangen, so schäm dich nicht, «tue deinen Mund weit auf», sagt die Bibel, «so will ich ihn füllen»; meine nicht, du werdest sentimental oder hintersinnig, wie die toten Eiszapfen von Menschen glauben, wenn sie der Frühling anrührt, nein, halte dran, du mußt ja ins Ewige hineinwachsen. Das ist deine Bestimmung. Und wenn du ein gläubiges Gotteskind bist, und es kommt wieder — oder vielleicht zum ersten Male recht das Verlangen, das Seufzen und Sehnen über dich, so erschrick nicht und denk nicht: das ist der immer noch nicht überwundene alte Mensch, o nein, betäub‘s nicht mit frommem Morphium, schlag‘s nicht tot, trag‘s an die Sonne, glaub nicht, du seist kein rechter Christ, wenn dir das Herz bebt vor Verlangen, nein, gib ihm Luft und Ausgang und sprich‘s aus: «Nach dir, Herr, verlanget mich». Denk an den Apostel Paulus im Philipperbrief (Kap. 3, 8—14). S. 56-58

Siehe, ich mache alles neu
«Siehe, ich mache alles neu» — das ist der Ruf, der von Jesus Christus in die Welt erschollen ist. Das Evangelium ist eine prinzipielle Neuschöpfung, keine Lehre oder Medizin für die alte Welt. Keine Kulturerscheinung neben anderen, keine Religion, nicht Christentum, weder Katholizismus noch Protestantismus, nein, eine neue Welt. Es läßt sich nicht in das Vorhandene eingliedern, es zerbricht das Vorhandene. Es kann keiner Macht untertan werden, im Gegenteil: es unterwirft sich selbst alle Mächte. Staat, Gesellschaft, Volkstum. Nationalität — alles durchdringt es mit seinem lebendigen Geiste, um es seinen eigenen Zwecken dienstbar zu machen.

Ein christlicher Staat oder ein christliches Volk im Sinne des Evangeliums ist ein falscher Begriff, es hat auch noch nie solche christliche Staaten oder Völker gegeben und wird sie nie geben. Höchstens könnte man von einem staatlich geformten oder einem in verschiedenen Völkern zum Ausdrucke kommenden Evangelium reden, wenn im Prinzip des Evangeliums nicht von vornherein Größeres und Umfassenderes vorläge, als der staatliche oder der volkstümliche Verband. Das Evangelium hat seine eigenen Triebkräfte und entwickelt sich aus sich selbst. Seine Wurzeln liegen in der Ewigkeit und seine Äste streben durch alle zeitlichen Schranken hindurch wieder der Ewigkeit entgegen. Sein Wesen ist von Ewigkeit zu Ewigkeit. Darum ist es unerklärbar und unfaßbar. Darum nie verbraucht, nie fertig. Darum so neu wie vor 2000 Jahren, als es in die Welt trat. S. 95f.

Vom Mitmenschen
Und das heißt vor allem: nicht nur helfen (das Helfen ist selbstverständlich; da haben die Christen vor vielen Weltmenschen nicht einmal etwas voraus!), nicht bekehren wollen (o gottlose Frömmigkeit — die Frömmigkeit für andere!), nein, nichts von alledem, was wir getrieben, sondern begreifen und anerkennen! Mit den Menschen uns freuen und mit ihnen weinen. Schätzen, was in der Welt Großes und Schönes ist. Wissenschaft und Kunst, alle die technischen Fortschritte mit lebendigem Interesse begleiten — um Gottes willen nicht immer zu allem nein sagen, wenn es nicht das Gepräge unseres Christentums an sich trägt! Sondern ja und noch einmal, und siebenmal, und siebzigmal ja sagen!

Damit bejaht man das Böse gar nicht, wie die ungläubigen Gläubigen immer angsten, im Gegenteil, man verneint das Böse mit Ja. Das Ja ist die Luft, in dem es gerade nicht wachsen kann. Wie die Nachtpflanzen stirbt es an der Sonne des Ja ab. Sag‘ ja zu einem Menschen, bekenne dich zu ihm, laß ihn gelten, kritisiere nicht an ihm herum, schweig zu seinem Bösen und sprich, ja sprich von seinem Guten — so wirst du die Erfahrung machen, daß er von selbst das Böse läßt. Er hält es einfach in dieser herrlichen Luft nicht aus, ohne daß seine Lungen gesund werden. Es packt ihn, es kommt eine Krisis über ihn; entweder rennt er dir ganz draus, oder du hast ihn für immer gewonnen. Wenigstens vergißt er dir es nie, daß du ihn hast gelten lassen.

Gelten lassen — das ist ja gerade das Evangelium! Gelten lassen zuerst, und dann mit der Zeit auch belehren und abwehren, warum nicht, aber niemals umgekehrt, wie wir‘s immer machen: Wenn wir einen Menschen uns brav zurechtgescholten haben, dann endlich lassen wir ihn auch gelten! Da lesen sie das Evangelium und sehen das nicht. Wie hat denn Jesus, ich bitte euch, einen Gichtbrüchigen, einen Levi, einen Zachäus, eine Sünderin behandelt? Ist er deswegen weniger der Heilige Gottes, ist er es nicht gerade deswegen gewesen? Und sind wir deswegen weniger seine Jünger, wenn wir die Mitmenschen, wie sie sind, vor allem gelten lassen, sind wir‘s nicht gerade erst dann? S.303-305
Aus: Jakob Studer, Für alle Tage, Ein christliches Lesebuch, Fretz & Wasmuth Verlag AG. Zürich


Über das Problem des Unbedingten
Wir leben und weben im Unbedingten, unsere Ideen und Gedanken schöpfen ihre Folgerichtigkeit aus der Funktion des Unbedingten – aber wir und sie sind nicht selbst unbedingt, sondern Geschöpfe des Unbedingten. Wir dürfen wohl Anfänge, Prinzipien usw. aufstellen, aber wir müssen uns immer gegenwärtig halten, dass diese Anfänge und Prinzipien nicht unbedingt sind, dass wir sie nur darum aufstellen können, weil sie schon am Anfang stehen! Ganz ebenso setzen wir die Dinge ins Unbedingte hinein – sie wären sonst keine Dinge –, aber wir müssen uns davor in Acht nehmen, sie selbst unbedingt zu machen. Was ist die ganze Kritik der reinen Vernunft anderes als die für alle Zeiten geltende Verwahrung gegen diese »Subreption«
[= Erschleichung im Sinne des Ziehens (bewusst) fehlerhafter Beweisschlüsse durch Heranziehung von Voraussetzungen, die nicht auf Tatsachen beruhen], wie Kant sagt?

Worin besteht der grundlegende Fehler der Metaphysik? Darin, dass sie, sozusagen, die im Strom der unbedingten Funktion schwimmenden Anschauungsformen und Denkbegriffe zu unbedingten Weisheiten erhebt. Ein doppelter Irrtum! Einmal erfasst das Denken alles substantiell vermöge der Notwendigkeit, in welcher sich der Verstand befindet, objektiv zu denken – auch seine eigenen Handlungen –, und dann fasst es diese unbedingt gültigen Denkbegriffe infolge seiner Sonnennähe beim Unbedingten als absolute Wesenheiten, wenn es von einer absoluten Ursache, von einem absoluten Sein, einer absoluten Materie, von absoluten Dingen, Prinzipien, Substanzen usw. spricht.

So entstanden und entstehen immer noch – die Götzen. Oder wie haben wir uns die Götter des Heidentums zu erklären, wenn nicht als Verabsolutierung und gleichzeitig Verobjektivierung von Ideen? Was sind die religiösen Wahnvorstellungen, die wissenschaftlichen Vorurteile anderes als Verabsolutierung von Dingen und Gedanken? Und der ganze Jammer der Menschheit – die Kriege, die Grausamkeiten, Hass, Zank, Neid, Bosheit aller Art – wurzelt er nicht in politischem, sozialem oder privatem Götzentum? Was gibt zum Beispiel dem schönen Wort Vaterland seinen gefährlichen Beigeschmack, um deswillen die Menschen jederzeit bereit sind, wie Raubtiere übereinander herzufallen? Das Unbedingte, das wir in die Bedeutung des Wortes legen. Warum quälen die Menschen einander zu Tod? Weil jedes Einzelnen Wille und Meinung eine Unbedingtheit ist, und Unbedingtheiten haben nicht Platz nebeneinander.

Der Mensch ist aus dem Zentrum in die Peripherie gerückt. Die rotierende Bewegung desselben hat ihn mit in ihren Wirbel gerissen, und nun klammert er sich an die Dinge fest, um einen Punkt zu bekommen, wo er stehen kann, nachdem er den einzigen Standpunkt verloren. Mit Leidenschaft kämpft ein jeder um das bisschen Platz, auf das er sich hinaufgerettet, als wäre da Halt und Festigkeit zu gewinnen, und will es nicht sehen, dass dieser Standpunkt mit allen andern vom Rad der Natur herumgeschleudert wird.

Das ist im Bild das Schicksal der Menschheit. Sie ist vom Schwindel ergriffen und taumelt herum, weil sie das Bedingte zum Unbedingten gemacht, den Schöpfer in die Kreatur verlegt hat. Krampfhaft umklammert sie ihre vergänglichen Gebilde, mit unbedingter Liebe, weil sie ja vom Unbedingten herkommt. Jetzt ist das Unbedingte nicht mehr die unbewegliche Mitte, um die sich alles dreht, nein, jetzt strömen seine aufbrechenden Kräfte durch die Sinne und Gedanken des Menschengeistes, nun wird Sinnlichkeit, Verstand, Vorstellung, Glauben, Meinen, Wissen, Wunsch und Begierde, Wille und Gefühl, Prinzipien, Systeme, Wissenschaft, Kunst, alles, alles unbedingt. Und das ist der Tod. Die unbedingte Macht des Todes ist nichts anderes als die unbedingte Falschheit des falschen Unbedingten. Und vorher, ihm voraus, als sein Herold, der unbedingte tödliche Ernst, der vom Bedingten unbedingt besessenen Menschen.

Ist es nicht die Tragik ihres Lebens, dass sie mit verzweifeltem Ernst festhalten wollen, was doch nicht festzuhalten ist? Um des Nichtigen willen machen sie sich das bisschen Erdenleben gegenseitig zur Hölle. Die Völker gehen unter, nachdem sie um Schatten gekämpft, die Gesellschaft ist in beständigem Aufruhr, der jeden Augenblick vulkanartig ausbrechen kann, um der lächerlichen Selbstverständlichkeit willen, dass, wo Magen sind, auch Brot sein muss. Niemand und nichts hindert sie daran, glücklich zu sein, das tut nur der unbedingte Wahnsinn, als müsste Gold und Silber ewigen Wert haben, als müsste der Augenblick Ewigkeit sein.

Niemand zwingt sie in die Blutströme des Krieges hinein, aber sie sind trunken von der Verehrung ihres eigenen doch so eng begrenzten Wesens, sie taumeln im Größenwahn daher und schlagen in blinder unbedingter Zerstörungswut aufeinander los. Was ist der Grund ihres Elendes? Die falschen Unbedingtheiten! Sie handeln in der Weltgeschichte und im Leben des Einzelnen, ganz und gar nicht das Endliche und Bedingte. Nicht die Dinge und Güter sind Gegenstand heißer Sehnsucht, sondern die unbedingten Dinge und die unbedingten Güter. Wenn die Dinge nur Dinge wären, so wäre unser Leben ein Spiel, während es jetzt Zuchthausarbeit ist. Der Anblick seiner erschütternden und sinnlosen Gebärden beweist besser als jede Theorie, dass es eine Ewigkeit gibt; denn sie ist es ja gerade, die diese Gebärden hervorruft. Der Mensch kann nicht anders, er muss unbedingt orientiert sein; ergibt er sich dem Bedingten, so macht er es unbedingt; lebt er nicht im Unbedingten, so lebt es in ihm.

Gewiss es gibt einen unbedingten Ernst, den Ernst des Unbedingten. Aber eben deswegen, weil dieser Ernst existiert, ist der Ernst im Bedingten Torheit. Das ist der Grund, warum der prinzipielle Ernst oder der Prinzipienernst, der ja in nichts anderem besteht als in dem Ernst des Unbedingten auf das Bedingte angewendet, so zerstörend und verderblich wirkt, dem Dynamit vergleichbar, der die ihn umgebenden Bande zersprengt. Je ernster wir dagegen das Unbedingte nehmen, desto heiterer erscheint uns die Welt. Denn nun wird sie frei von dem Fluch des Götzentums und erscheint sie, wie sie ist. Aber Du kannst sie gar nicht heiter nehmen, solange du Deinen Ernst nicht im Unbedingten, sondern im Bedingten hast; so verwandelt sich deine Heiterkeit in Spottlust, Sarkasmus und jenen Witz, der immer etwas totschlägt, wenn er schlägt. Und unversehens bricht aus Deinem verzwungenen Lachen die Verzweiflung auf, der falsche Ernst, der alles zerreißt, womit er spielen will. Er kann ja gar nicht spielen, denn dazu braucht es den Ernst der Ewigkeit. Ewigkeitsernst schafft eine heitere fröhliche Zeitlichkeit. Denn sie wächst aus ihm heraus wie der Baum aus dem schöpferischen Geheimnis des Bodens – aber siehe da! traurig ernst streckt der Baum seine kahlen Äste gen Himmel, wenn ihm der Boden entzogen wird.

Und doch ist Trost mitten in den Schrecken des Zerstörungsernstes immerdar ganz in der Nähe. Er lagert vor unserer Tür und tritt sogleich befreiend und freudespendend zu uns herein, sobald wir ihm die Türe öffnen. Es braucht nur eins: Verlege den unbedingten Ernst dahin, wo er hingehört, in die Wurzel Deines Lebens, nicht in die Krone. Nimm Deine Sachen und Prinzipien nicht ernst, sie sind nicht ernst. Wirf Deine Götzen fort und gib Gott die Ehre. Wenn es das Unbedingte gibt – und dass es lebt, das spürst Du jeden Augenblick, sobald Du Dich darauf besinnst –, was kannst Du dann noch anderes sein als ein fröhliches Menschenkind mitten in Deinen zu Spielsachen gewordenen Sachen?

Aber nun doch die Frage: Wie steht es mit der Wahrheit unserer Erkenntnis, wenn alles nur ein heiteres Spiel sein soll, wenn, wie wir oben gehört, unser Wissen kein eigentliches Wissen ist? Heißt das nicht, dass die Wahrheit wohl droben im unzugänglichen Licht des Unbedingten wohnt, aber uns nie zuteil wird, da wir ihren Strahl ja doch nicht auszuhalten vermöchten? Wir sollten in lauter Bildern reden, aber die Sache selbst sollten wir nie zu verstehen bekommen? Muss das nicht wieder der Verzweiflung rufen, die wir soeben verabschiedet, nicht zwar darüber, dass wir die Wahrheit in den Dingen suchen, aber darüber, dass dies nicht möglich sein soll? »Ich sehe, dass wir nichts wissen können« – ist das nicht ein Ernst, viel gefährlicher als der Ding-Ernst, weil der letztere doch noch wenigstens Illusionen hegt, an die er sich klammern kann, während der Ernst, von dem wir jetzt reden, mit der Wahrheit auch ihre holden Gaukelbilder endgültig von der Seele verbannt, die Illusionen? Ein Mensch, der gar keine Illusionen mehr hat, vom Sein und Schein der Wahrheit verlassen, – ist das nicht das Traurigste, was es gibt?

Aber diese Frage selbst ist aus dem Missverständnis des taumelnden, vom rotierenden Rad umgetriebenen Menschengeistes, als wäre er imstande, die Wahrheit in die Gefäße seiner Prinzipien einzuschließen, als wäre es möglich, die Triebkraft eines Baumes in seien Blätter zu wickeln. Wir fragen nach der Wahrheit und vergessen in dem Augenblick das Entscheidende, um nun unerbittlich in den Abgrund des Zweifels hinunterzustürzen, nämlich die Tatsache, dass die Möglichkeit dieser unserer Frage schon von der gesuchten Wahrheit dargereicht worden ist. In der Tat: Wenn wir nach Wahrheit fragen, sind wir da außerhalb der Wahrheit und schreiten in ihrem Paradiesgarten nur von außen entgegen? Wer lehrt denn auf diesem sonderbaren Weg unsere Füße die richtigen Schritte tun, wer macht, dass wir eine Richtung innehalten, und wer schenkt Geist, Herz und Sehkraft zum Anschauen? Ist es nicht vielmehr so, dass wir schon innerhalb der Wahrheit uns befinden, wenn wir nach Wahrheit fragen? Könnten wir das, wenn wir nicht schon von ihr berührt wären? Hat Plato nicht tausendmal recht, wenn er das Wissen Erinnerung nennt, an eine Welt, nach der man nur darum fragt, weil sie schon da ist, und die einem die Frage selbst auf die Zunge legt?

Aber nun könnte man entgegnen: »Zugegeben auch, wir können nicht anders Wahrheit suchen als in ihr selbst, so haben wir sie eben noch nicht gefunden, sonst suchten wir sie nicht. Was hilft uns eine Wahrheit sozusagen hinter unserem Rücken? Wir wollen sie mit unseren Augen von vorne sehen, wir wollen ihr in das entschleierte Angesicht blicken.« Wohl! Aber was heißt nun das? Eines ist ja ohne weiteres gewiss und von Allen zu allen Zeiten zugegeben: den letzten einen Grund von allen wird unser Geist nie erkennen. Aber, so heißt der Einwand weiter, das ist’s ja auch gar nicht, was wir wollen, »die Sterne, die begehrt man nicht« – nein, wir wollen erkennen:

»Was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
Schau’ alle Wirkenskraft und Samen,
Und tu’ nicht mehr im Leeren kramen.«

Goethe

Wir wollen in ein lückenloses System Dinge und Gedanken so zusammenfassen, dass die eine und selbe Identität erkannt wird, wenn das Farbenspiel der unübersehbaren Einzelheiten in tausend und Millionen Funken aufblitzt!

In diesem Faustschen Erkenntnisdrang liegt zweierlei: eine Unmöglichkeit und eine Aussicht.

Also erstens die Unmöglichkeit. Was für eine Kraft hält die Welt im Innersten zusammen? Was ist ihre Wirkungskraft und Samen? Solltest Du sie in der Welt der Vorstellungen auffinden können, kämen sie Dir da nicht wieder bloß als eine letzte Vorstellung entgegen? Aber wie willst Du Vorstellung durch Vorstellung erklären, wenn das, was Vorstellung ist, selbst unerklärlich ist? Gewiss ist: Das einzig Erkennbare sind die Gestalten, die in Anschauung und Verstand eingehen. Erkennen heißt Dinge erkennen. Du begriffest Wirkungskraft und Samen gar nicht, wenn sie Dir nicht als Vorstellung eines Objektes geboten würde. Verstehen heißt also immer nur eine Vorstellung durch die andere erklären. Weiter kommst Du nie. Noch einmal: Wie sollte es Dir gelingen, mit Vorstellungen das zu begreifen, was Vorstellungen schafft? – Also niemals Wahrheit? – Gewiss! Niemals die Wahrheit, wenn Du mit Deinem Wissen erfassen willst, was die Welt im Innersten zusammenhält, aber Wahrheiten als Bilder, die die Wahrheit Dir schenkt. Ins Bilderbuch der Wahrheit sich vertiefen, das heißt menschliches Erkennen. Wäre die Wahrheit offenbar, so gäbe es keine Wahrheiten.

Es gibt nur Vorstellungen im Unbedingten einerseits und das Unbedingte selbst andererseits – sonst nichts. Was wir Prinzip, Sein, Gesetz, Ursache, Substanz, Kraft usw. nennen, alle diese abstrakten Einheiten und Allgemeinheiten sind, sozusagen, nur eine Anleihe, die wir beim Unbedingten machen. Das in ihnen funkelnde Unbedingte ist es, was ihnen ihre prinzipielle Macht verleiht. Nimm’ Dich in Acht, erhebe sie nicht zu eigener Unbedingtheit, sonst sinkst Du wieder in den Wahn des Götzentums. Es gibt keine Prinzipien, kein oberstes Sein, kein Allerweltsgesetz, keine erste Ursache usw. Das alles sind Verstandeskategorien und Vernunftideen, die sozusagen als weitester Kreis das Unbedingte einschließen, als Kreis, in welchen das nach dem Bilde des Schöpfers gemachte Ich sein Denken ergießt und in den es die Welt fasst. Sie ertragen es schon nicht mehr, als Objekte vorgestellt zu werden, denn in ihnen zuckt und wetterleuchtet ununterbrochen der Blitz des Unbedingten. Sie sind die Funktionen des Unbedingten im Ich, womit es sich die Objekte auferbaut. Es braucht die Allgemeinheiten, sonst vermöchte es die einzelnen Gebilde und Gestalten nirgendshin zu stellen, sich nicht vorzustellen, die Abstraktheiten sind sozusagen der Schauplatz, auf dem es seine Gebäude errichtet.

Aber nicht nur das, nein, sie sind auch der Weg zum Unbedingten, oder, um ein anderes Bild zu gebrauchen, die perspektivischen Linien, welche von den Vorstellungen zum Augenpunkt des Unbedingten führen. Sie sind das Mittel, die Objekte im Unbedingten zu verstehen und auf das Unbedingte einzustellen. Und hierin besteht die Aussicht, von der wir gesprochen.

Eben das ist die Aufgabe der Philosophie und der Wissenschaften, den unerschöpflichen Umkreis der Objekte in das letzte Gesetz des Identischen einbeziehen und sie in den obersten Zusammenhang bringen zu suchen. Die Wahrheit finden wir nie, aber wir finden die Perspektiven auf sie und finden Wahrheiten durch sie. Wenn die Objekte Funktionen des Unbedingten sind, sollten sie da nicht auch Wahrheit enthalten? Ja, jetzt dürfen wir sogar von einer und derselben Fläche reden, auf der wir die größten Gegensätze: das Transzendente und das Empirische, friedlich zusammenstellen; denn nun ist es die Fläche des alles tragenden Irrationalen und Unbedingten. Es ist Wahrheit, wenn wir Vorstellungen kombinieren und auf den Augenpunkt des Unbedingten einstellen, denn sie leben alle aus der Wahrheit des Unbedingten. Und wir hätten sie alle nicht, wenn wir die Wahrheit erreichten. Würde sie uns doch wie ein fressendes Feuer sogleich verzehren. In der Tat: Die Wahrheit erreichen hieße nichts anderes als an der Unmöglichkeit sterben, das Unbedingte in die von ihm selbst gesetzten einzuschließen.

Freue Dich also, dass es Grenzen gibt, Du lebtest und erkenntest sonst nicht. Grenzen, die die Wahrheit um Dich gezogen hat. Die Wahrheit selbst suchen wollen ist nichts anderes als Deine alte Sucht, das Unbedingte in Dir selbst zu entdecken und in Deinen Objekten, und das, was nur unter und hinter Dir im Geheimnis verborgen liegt, vor Deine beschränkten Augen hinzustellen. Damit wir überhaupt erkennen und begreifen können, muss es ein Unbegriffenes geben, sonst würden wir ins Leere greifen.

Bild ist alles. Es muss so sein, weil wir im Unbedingten leben und denken. Unsere Vorstellungsbilder ergründen wollen heißt sie entweder zu selbständigen Unbedingheiten machen - und das ist der Tod, oder sie im Unbedingten wiedererkennen und vom Unbedingten geschenkt bekommen – und das ist das Leben. Denn die Objekte sind Realitäten nur, weil sie im Unbedingten wurzeln. Willst Du darüber zürnen, dass sie keine eigene Realität haben? Sie haben sie ja gerade nur darum, weil das Unbedingte sie ist. Der Realismus hat recht – aber er hat nur im Unbedingten recht. Denn die begrenzten Vorstellungen des Unbedingten sind die Realität der Dinge. Und der Idealismus hat recht, – wenn er bis zum Unbedingten vordringt.

Bild ist alles, umschlossen von der Wahrheit. Willst Du es Deinem Schöpfer übel nehmen, dass er Dir die Wahrheit nicht in weite Ferne gerückt als Ziel einer vergeblichen Wanderung, sondern so fest um Dich herumgezogen hat, dass Du ohne sie überhaupt nicht denken und leben kannst? Aber unter einer Bedingung hat er es getan: Dass Du Dich bescheidest und die Grenze Deines Lebens nicht überschreitest, dass Du die Anfänge nicht wissen willst, sondern in den Anfängen wissen willst.

Und daraus folgt nun was? Etwa Resignation, Ergebung in ein unerbittliches Schicksal? Nein, das Gegenteil! Erst jetzt, da das Götzentum des unbedingten Wissen-Wollens gestürzt ist, das wie eine finstere Wolke über unserem Geiste gelegen, das uns in die ebenso nutzlose wie qualvolle Anbetung der Göttin Illusion gezwungen, fängt die wahre wissenschaftliche Arbeit an. Das Faustsche Wort: Ich sehe, dass wir nichts wissen können, ist recht verstanden, der Aufgang des Lichtes in der Finsternis. Unser im Nebel der Illusionen ruhlos umhertappendes Wissen kommt nie zu klarer, freudiger, freier Entfaltung aus Angst, sich immer wieder in neue Prinzipien, Weltauffassungen und Gesetze zu verlieren, aus Angst vor dem Gespenst des Unbedingten in den Kammern des Bedingten, bis ihm das Licht aufgeht: ich sehe, dass wir nichts wissen können! Nämlich so wissen, wie wir gewähnt: unbedingt!

Nun erkennt die Wissenschaft folgendes: Unbedingt und Wissen befinden sich nicht auf derselben Fläche, nicht in derselben Dimension, wie sie im Finstern tappend gemeint, nein, das Unbedingte trägt das Wissen, es macht es allererst möglich – und eben deswegen kann dasselbe nicht unbedingt sein. Es zerteilen sich die trägen Nebelmassen, und sichtbar wird: Hier das Objekt und da das Unbedingte. Wir sehen klar: Alle Prinzipien, Axiome, Grundsätze, Gesetze usw. sind Bauplätze, die das Unbedingte uns angewiesen; Hypothesen, Ideen, Baupläne; Objekte das Material – und nun bauen wir.

Wissen
heißt nun Objekte zu Monumental- oder Privatbauten bis herab zum kleinen lauschigen Winkel zusammenfügen in unerschöpflicher Mannigfaltigkeit. Nur dürfen sie nicht auf den Sand trügerischer Identitäten aufgebaut sein. So steht unser Wissen immerdar in Beziehung zum Unbedingten, von der Illusion befreit, es in die Mauern seiner Bauwerke selbst verlegen zu können, befreit von aller Angst des vom Unmöglichen genarrten Stümpers! Jetzt ist es Meister geworden, nachdem es das Divide et impera verstanden, frei auch vom Fanatismus unbedingter Rechthaberei, nachdem es erkannt hat, dass alles in einem und demselben Geheimnis ruht.

Jetzt finden sich die Forscher gegenseitig unter der Sonne heiterer Freude, weil der Ernst er Ewigkeit wie der unermessliche Himmelsbogen die Erkenntnis ermöglichende Grenze um ihr Wissen gezogen hat.

Philosophie, Idealismus, Wissenschaft stehen nun dem gewöhnlichen Menschenverstand nicht mehr unversöhnlich und spöttisch entgegen, sondern sie machen seine Ansprüche erst möglich, indem sie ihn auf die Grundlage des Unbedingten stellen.

Alles bekommt seinen Zweck in sich selbst und strebt nicht mehr nach einem imaginären Ziel. Die gerade eindimensionale Stange zerbricht an dem Mauerkreis, den die Wahrheit rund um uns gezogen. Darin bestand eben die Illusion des in gerader Linie vorwärts in die Unendlichkeit stürmenden Wissensdranges, dass er ein Teil der Unendlichkeit selbst zu sein wähnte: die Gerade im unendlichen Kreisbogen! Aber nun ist alles Kreis im Kreis, das bedingte, um seiner selbst willen strebende Wissen ein Abbild des um seiner selbst willen vorhandenen Unbedingten.

Aber der Kreis ist das Bild des Spiels. Wissen heißt spielen. Und Spielen heißt das Unbedingte verstanden haben.
S. 35-45
Aus: Hermann Kutter, Über das Problem des Unbedingten. Vortrag gehalten in der Kantgesellschaft Basel, Januar 1928. Chr. Kaiser Verlag / München