Selma Ottilia Lovisia Lagerlöf (1858 - 1940)

Schwedische Schriftstellerin, die 1909 den Nobelpreis erhielt. Selma war eine Vertreterin der schwedischen Neuromantik. Ihre Romane und Novellen enthalten sowohl phantastische wie auch realistische Elemente. In ihren Stoffen, die sie aus heimatlichen Sagen und Märchen schöpft, knüpft sie trotz eindringlicher psychologischer Figurenschilderung durchaus an die bodenständige mündliche Erzähltradition an. Eines ihrer bekanntesten Werke dürfte das in den Jahren 1907/1908 veröffentlichte Märchen »Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgerson mit den Wildgänsen« sein. Weitere Hauptwerke sind u. a. »Gösta Berling« (1891), »Jerusalem« (1901/1902), »Die Löwensköld-Trilogie« (1925-1928). Die folgenden Erzählungen sind dem Buch »Christuslegenden« entnommen.

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Inhaltsverzeichnis
Die heilige Nacht
In Nazareth
Unser Herr und der heilige Petrus

Die heilige Nacht
… Es war an einem Weihnachtstag alle waren zur Kirche gefahren außer Großmutter und mir. Ich glaube, wir beide waren im ganzen Haus allein. Wir hatten nicht mitfahren können, weil die eine zu jung und die andere zu alt war. Und alle beide waren wir betrübt, dass wir nicht zum Mettegesang fahren und die Weihnachtslichter sehen konnten.

Aber wie wir so in unserer Einsamkeit saßen, fing Großmutter zu erzählen an.

»Es war einmal ein Mann«, sagte sie, »der in die dunkle Nacht hinausging, um sich Feuer zu leihen. Er ging von Haus zu Haus und klopfte an: >Ihr lieben Leute, helft mir!< >Mein Weib hat eben ein Kindlein geboren, und ich muss Feuer anzünden, sie und den Kleinen zu erwärmen.<

Aber es war tiefe Nacht, so dass alle Menschen schliefen, und niemand antwortete ihm.

Der Mann ging und ging. Endlich erblickte er in weiter Ferne einen Feuerschein. Da wanderte er dieser Richtung zu und sah, dass das Feuer im Freien brannte. Eine Menge weißer Schafe lagen rings um das Feuer und schliefen, und ein alter Hirt wachte über der Herde. Als der Mann, der Feuer leihen wollte, zu den Schafen kam, sah er, dass drei große Hunde zu Füßen des Hirten ruhten und schliefen. Sie erwachten alle drei bei seinem Kommen und sperrten ihre weiten Rachen auf, als ob sie bellen wollten, aber man vernahm keinen Laut. Der Mann sah, dass sich die Haare auf ihrem Rücken sträubten, er sah, wie ihre scharfen Zähne funkelnd weiß im Feuerschein leuchteten, und wie sie auf ihn losstürz­ten. Er fühlte, dass einer nach seiner Hand, und dass einer sich an seine Kehle hängte. Aber die Kinnladen und die Zähne, mit denen die Hunde beißen wollten, gehorchten ihnen nicht, und der Mann litt nicht den kleinsten Schaden.

Nun wollte der Mann weitergehen, um das zu finden, was er brauchte. Aber die Schafe lagen so dicht nebeneinander, Rücken an Rücken, dass er nicht vorwärts kommen konnte. Da stieg der Mann auf die Rücken der Tiere und wanderte über sie hin dcm Feuer zu. Und keins von den Tieren wachte auf oder regte sich.«


Soweit hatte Großmutter ungestört erzählen können, aber nun konnte ich es nicht lassen, sie zu unterbrechen »Warum regten sie sich nicht Großmutter?« fragte ich.

»Das wirst du nach einem Weilchen schon erfahren«, sagte Großmutter und fuhr mit ihrer Geschichte fort. »Als der Mann fast beim Feuer angelangt war, sah der Hirt auf. Es war ein alter, mürrischer Mann, der unwirsch und hart gegen alle Menschen war. Und als er einen Fremden kommen sah, griff er nach seinem langen, spitzigen Stabe, den er in der Hand zu halten pflegte, wenn er seine Herde hütete, und warf ihn nach ihm. Und der Stab fuhr zischend gerade auf den Mann los, aber ehe er ihn traf, wich er zur Seite und sauste, an ihm vorbei, weit über das Feld.«

Als Großmutter soweit gekommen war, unterbrach ich sie abermals. »Großmutter, warum wollte der Stock den Mann nicht schlagen?« Aber Großmutter ließ es sich nicht einfallen, mir zu antworten, sondern fuhr mit ihrer Erzählung fort.

»Nun kam der Mann zu dem Hirten und sagte zu ihm: >Guter Freund, hilf mir und leih mir ein wenig Feuer. Mein Weib hat eben ein Kindlein geboren, und ich muss Feuer machen, um sie und den Kleinen zu erwärmen.< Der Hirt hätte am liebsten nein gesagt, aber als er daran dachte, dass die Hunde dem Manne nicht hatten schaden können, dass die Schafe nicht vor ihm davongelaufen waren und dass sein Stab ihn nicht fällen wollte, da wurde ihm ein wenig bange, und er wagte es nicht, dem Fremden das abzuschlagen­, was er begehrte. >Nimm, soviel du brauchst<, sagte er zu dem Manne.

Aber das Feuer war beinahe ausgebrannt. Es waren keine Scheite und Zweige mehr übrig, sondern nur ein großer Gluthaufen, und der Fremde hatte weder Schaufel noch Eimer, worin er die roten Kohlen hätte tragen können.

Als der Hirt dies sah, sagte er abermals: >Nimm soviel, du brauchst!< Und er freute sich, dass der Mann kein Feuer wegtragen konnte. Aber der Mann beugte sich hinunter, holte die Kohlen mit bloßen Händen aus der Asche und legte sie in seinen Man­tel. Und weder versengten die Kohlen seine Hände, als er sie berührte, noch versengten sie seinen Mantel, ­sondern der Mann trug sie fort, als wenn es Nüsse oder Äpfel gewesen wären.«

Aber hier wurde die Märchenerzählerin zum drittenmal unterbrochen. »Großmutter, warum wollte die Kohle den Mann nicht brennen?«

»Das wirst du schon hören « , sagte Großmutter, und dann erzählte sie weiter.

»Als dieser Hirte,der ein so böser, mürrischer Mann war, dies alles sah, begann er sich bei sich selbst zu wundern: >Was kann dies für eine Nacht zu sein , wo die Hunde die Schafe nicht beißen, die Schafe nicht er­schrecken, die Lanze nicht tötet und das Feuer nicht brennt?< Er rief den Fremden zurück und sagte zu ihm: >Was ist dies für eine Nacht? Und woher kommt es, dass alle Dinge die Barmherzigkeit zeigen? <

Da sagte der Mann:
>Ich kann es nicht sagen, wenn du selber es nicht siehst. < Und er wollte seiner Wege gehen, um bald ein Feuer anzünden und Weib und Kind wärmen zu können.

Aber da dachte der Hirt, er wolle den Mann nicht ganz aus dem Gesicht verlieren , bevor er erfahren hätte, was dies alles bedeute. Er stand auf und ging ihm nach, bis er dorthin kam, wo der Fremde daheim war. Da sah der Hirt, dass der Mann nicht einmal eine Hütte hatte, um darin zu wohnen, sondern er hatte sein Weib und sein Kind in einer Berggrotte liegen, wo es nichts gab als nackte, kalte Bergwände.


Aber der Hirt dachte, dass das arme unschuldige Kindlein in der Grotte erfrieren würde, und obgleich er ein harter Mann war, wurde er davon doch ergriffen und beschloss dem Kinde zu helfen. Und er löste sein Ränzel von der Schulter und nahm daraus ein weiches, weißes Schaffell hervor. Das gab er dem fremden Manne und sagte, er möge das Kind darauf betten.

Aber in demselben Augenblick, in dem e r zeigte, dass auch er barmherzig sein konnte, wurden ihm die Augen geöffnet, und er sah, was er vorher nicht hatte sehen, und hörte, was er vorher nicht hatte hören können.

Er sah, dass rund um ihn ein dichter Kreis von kleinen, silberbeflügelten Englein stand. Und jedes von ihnen hielt ein Saitenspiel in der Hand, und alle sangen sie mit lauter Stimme, dass in dieser Nacht der Heiland geboren wäre, der die Welt von ihren Sünden erlösen solle.

Da begriff er, warum in dieser Nacht alle Dinge so froh waren, dass sie niemand etwas zuleide tun wollten. Und nicht nur rings um den Hirten waren Engel, sondern er sah sie überall. Sie saßen in der Grotte, und sie saßen auf dem Berge, und sie flogen unter dem Himmel. Sie kamen in großen Scharen über den Weg gegangen, und wie sie vorbeikamen, blieben sie stehen und warfen einen Blick auf das Kind.


Es herrschte eitel Jubel und Freude und Singen und Spiel, und das alles sah er in der dunklen Nacht, in der er früher nichts zu gewahren vermocht hatte. Und er wurde so froh, daß seine Augen geöffnet waren, dass er auf die Knie fiel und Gott dankte.«

Aber als Großmutter soweit gekommen war, seufzte sie und sagte: »Aber was der Hirte sah, das könnten wir auch sehen, denn die Engel fliegen in j e der Weihnachtsnacht unter dem Himmel, wenn wir sie nur zu gewahren vermögen.«

Und dann legte Großmutter ihre Hand auf meinen Kopf und sagte: »Dies sollst du dir merken, denn es ist so wahr, wie dass ich dich sehe und du mich siehst. Nicht auf Lichter und Lampen kommt es an, und es liegt nicht an Mond und Sonne, sondern was not tut, ist, dass wir Augen haben, die Gottes Herrlichkeit sehen können.«
S.7-11
Selma Lagerlöf: Christuslegenden, Nymphenburger Verlagshandlung München.


In Nazareth
Einmal zu der Zeit, da Jesus erst fünf Jahre alt war, er auf der Schwelle vor seines Vaters Werkstatt Nazareth und war damit beschäftigt, aus einem Klümpchen geschmeidigen Tons, das er von dem Töpfer ­auf der anderen Seite der Straße erhalten hatte, Tonkuckucke zu verfertigen. Er war so glücklich wie nie zuvor, denn alle Kinder des Viertels hatten Jesus gesagt, dass der Töpfer ein mürrischer Mann sei, der sich weder durch freundliche Blicke noch durch honig­süße Worte erweichen ließe, und er hatte niemals gewagt, etwas von ihm zu verlangen.

Aber siehe da, er wusste kaum, wie es zugegangen war: er hatte nur auf seiner Schwelle gestanden und sehnsüchtig den Nachbarn betrachtet, wie er da an seinen Formen arbeitete, und da war er aus seinem Laden gekommen und hatte ihm so viel Ton geschenkt, dass er gereicht hätte, um einen Weinkrug daraus zu fertigen.

Auf der Treppenstufe vor dem nächsten Hause saß Judas, der hässlich und rothaarig war und das Gesicht voller blauer Flecke und die Kleider voller Risse atte, die er sich bei seinen beständigen Kämpfen mit den Gassenjungen zugezogen hatte. Für den Augenblick war er still, er reizte niemand und balgte sich nicht, sondern arbeitete an einem Stück Ton, in gleicher Weise wie Jesus. Aber diesen Ton hatte er sich nicht selbst verschaffen können: er traute sich kaum, lern Töpfer unter die Augen zu treten, denn dieser beschuldigte ihn, dass er Steine auf sein zerbrechliches Gut zu werfen pflege, und hätte ihn mit Stockhieben verjagt; Jesus war es, der seinen Vorrat mit ihm geteilt hatte.

Wie die zwei Kinder ihre Tonkuckucke fertig machten, stellten sie sie in einem Kreise vor sich auf. Sie sahen so aus, wie Tonkuckucke zu allen Zeiten ausgesehen haben, sie hatten einen großen roten Klumpen als Füße, um darauf zu stehen, kurze Schwänze, keinen Hals und kaum sichtbare Flügel.

Aber wie das auch sein mochte, alsbald zeigte sich ein Unterschied in der Arbeit der kleinen Kameraden. Judas' Vögel waren so schief, dass sie immer umpurzelten, und wie er sich auch mit seinen kleinen harten Fingern mühte, er konnte ihre Körper doch nicht niedlich und wohlgeformt machen. Er sah zuweilen verstohlen zu Jesus hinüber, um zu sehen, wie der es anstellte, dass seine Vögel so gleichmäßig und glatt wurden wie die Eichenblätter in den Wäldern auf dem Berge Tabor.

Mit jedem Vogel, den Jesus fertig hatte, wurde er glücklicher. Einer deuchte ihn schöner als der andre, und er betrachtete sie alle mit Stolz und Liebe. Sie sollten seine Spielgefährten werden, seine kleinen Gesclrwister, sie sollten in seinem Bette schlafen, mit ihm Zwiesprache halten, ihm ihre Lieder singen, wenn seine Mutter ihn allein ließ. Er hatte sich nie so reich gedünkt, niemals mehr würde er sich einsam oder verlassen fühlen können.

Der hochgewachsene Wasserträger ging vorbei, gebeugt unter seinem schweren Sack, und gleich nach ihm kam der Gemüsehändler, der mitten zwischen den großen leeren Weidenkörben auf dem Rücken seines Esels baumelte. Der Wasserträger legte seine Hand auf Jesus' blondlockigen Kopf und fragte ihn nach seinen Vögeln, und Jesus erzählte, dass sie Namen hätten und dass sie singen könnten. Alle seine kleinen Vögelchen wären aus fremden Ländern zu ihm gekommen und erzählten ihm Dinge, von denen nur sie und er wüssten. Und Jesus sprach so, dass der Wasserträger wie der Gemüsehändler lange ihre Verrichtungen vergaßen, um ihm zu lauschen.

Als sie weiterziehen wollten, wies Jesus auf Judas. »Seht, was für schöne Vögel Judas macht!« sagte er. Da hielt der Gemüsehändler gutmütig seinen Esel an und fragte Judas, ob auch seine Vögel Namen hätten und singen könnten. Aber Judas wusste nichts hierüber, er schwieg eigensinnig und hob die Augen nicht von seiner Arbeit; der Gemüsehändler stieß ärgerlich einen seiner Vögel mit dem Fuße weg und ritt weiter. So verstrich der Nachmittag, und die Sonne sank so tief, dass ihr Schein durch das niedrige Stadttor hereinschreiten konnte, das sich, mit einem römischen Adler geschmückt, am Ende der Straße erhob. Dieses Sonnenlicht, das um die Neige des Tages kam, war ganz rosenrot, und als wäre es aus Blut gemischt, gab es seine Farben allem, was ihm in den Weg kam, während es durch das schmale Gässchen rieselte. Es malte die Gefäße des Töpfers ebenso wie die Planke, die unter der Säge des Zimmermanns knirschte, und das weiße Tuch, das Marias Gesicht umgab. Aber am allerschönsten blinkte der Sonnenschein in den kleinen Wasserpfützen, die sich zwischen den großen holprigen Steinfliesen, die die Straße bedeckten, angesammelt hatten. Und plötzlich steckte Jesus seine Hand in die Pfütze, die ihm zunächst war. Es war ihm eingefallen, dass er seine grauen Vögel mit dem glitzernden Sonnenschein anmalen wollte, der dem Wasser, den Hausmauern, kurz allem ringsum eine so schöne Farbe verliehen hatte.

Da war es dem Sonnenlicht eine Freude, sich auffangen zu lassen wie die Farbe aus einem Malertiegel, und als Jesus es über die kleinen Tonvögelchen strich, da lag es still und bedeckte sie vom Kopfe bis zum Fuße mit diamantenähnlichem Glanze.

Judas, der hie und da einen Blick hinüber zu Jesus warf, um zu sehen, ob dieser mehr und schönere Vögel mache als er, stieß einen Ausruf des Entzückens aus, als er sah, wie Jesus seine Tonkuckucke mit Sonnenschein bemalte, den er aus den Wassertümpeln der Gasse auffing. Und Judas tauchte seine Hand auch in das leuchtende Wasser und suchte das Sonnenlicht aufzufangen.

Aber das Sonnenlicht ließ sich nicht von ihm fangen. Es glitt zwischen seinen Fingern hindurch, und wie hurtig er sich auch mühte, die Hände zu regen, um es zu greifen, es entschlüpfte ihm doch, und er konnte seinen armen Vögeln kein bisschen Farbe schaffen.

»Warte, Judas!«
sagte Jesus. »Ich will kommen und deine Vögel malen.«

»Nein«, sagte Judas, »du darfst sie nicht anrühren. Sie sind gut genug, wie sie sind.«

Er stand auf, während seine Stirn sich furchte und seine Lippen sich aufeinanderpressten.
Und er setzte seinen breiten Fuß auf die Vögel und verwandelte sie einen nach dem andern in kleine abgeplattete Lehmklumpen.

Als seine Vögel alle zerstört waren, ging er auf Jesus zu, der dasaß und seine kleinen Tonvögel streichelte, die wie Juwelen funkelten. Judas betrachtete sie eine Weile schweigend, aber dann hob er den Fuß und trat einen von ihnen nieder.

Als Judas den Fuß zurückzog und den ganzen kleinen Vogel in grauen Lehm verwandelt sah, empfand er eine solche Wollust, dass er zu lachen begann, und er hob den Fuß, um noch einen zu zertreten.

»Judas«, rief Jesus, »was tust du? Weißt du nicht, sie sind lebendig und können singen?«

Aber Judas lachte und zertrat noch einen Vogel. Jesus sah sich nach Hilfe um. Judas war groß, und Jesus hatte nicht die Kraft, ihn zurückzuhalten. Er schaute nach seiner Mutter aus. Sie war nicht weit weg, aber ehe sie herankäme, konnte Judas schon alle seine Vögel zerstört haben.

Die Tränen traten Jesus in die Augen. Judas hatte schon vier seiner Vögel zertreten, es waren nur noch drei.

Er war seinen Vögeln gram, dass sie so stille standen und sich niedertreten ließen, ohne auf die Gefahr zu achten.

Jesus klatschte in die Händ, um sie zu wecken, und rief ihnen zu: »Fliegt, fliegt!«

Da begannen die drei Vögel ihre kleinen Flügel zu regen, und ängstlich flatternd vermochten sie sich auf den Rand des Daches zu schwingen, wo sie geborgen waren.

Aber als Judas sah, dass die Vögel auf Jesus' Wort die Flügel regten und flogen, da fing er zu weinen an. Er raufte sein Haar, wie er es die Alten hatte tun sehen, wenn sie in großer Angst und Sorge waren, und warf sich Jesus zu Füßen.

Und da lag Judas und wälzte sich vor Jesus im Staube wie ein Hund und küsste seine Füße und bat, dass er seinen Fuß erheben und ihn niedertreten möge, wie er mit den Tonvögeln getan hatte.

Denn Judas liebte Jesus und bewunderte ihn und betete ihn an und hasste ihn zugleich.

Aber Maria, die die ganze Zeit über das Spiel der Kinder mit angesehen hatte, stand jetzt auf und hob Judas empor und setzte ihn auf ihren Schoß und liebkoste ihn.

»Du armes Kind!« sagte sie zu ihm. »Du weißt nicht, dass du etwas versucht hast, was kein Geschöpf vermag. Vermiss dich nicht mehr, solches zu tun, wenn du nicht der unglücklichste aller Menschen werden willst! Wie sollte es wohl dem von uns ergehen, der es unternähme, mit ihm zu wetteifern, der mit Sonnenschein malt und dem toten Lehm den Odem des Lebens einhaucht?«
S. 67 - 72
Selma Lagerlöf: Christuslegenden, Nymphenburger Verlagshandlung München.


Unser Herr und der heilige Petrus

Es war um die Zeit, als unser Herr und der heilige Petrus eben ins Paradies gekommen waren, nachdem sie während vieler Jahre der Betrübnis auf Erden um­hergewandert waren und manches erlitten hatten.

Man kann sich denken, dass dies eine Freude für Sankt Petrus war. Man kann sich denken, dass es ein ander Ding war, auf dem Berge des Paradieses zu sitzen und über die Welt hinauszusehen, denn als Bettler von Tür zu Tür zu wandern. Es war ein ander Ding, in den Lustgärten des Paradieses umherzuschlendern, als auf Erden einherzugehen und nicht zu wissen, ob man in stürmischer Nacht Obdach bekäme oder ob man genötigt sein würde, draußen auf der Landstraße in Kälte und Dunkel weiterzuwandern.

Man muss nur bedenken, welche Freude es gewesen sein muss, nach solcher Reise endlich an den rechten Ort zu kommen. Er hatte wohl nicht immer so sicher sein können, dass alles ein gutes Ende nehmen würde. Er hatte es nicht lassen können, bisweilen zu zweifeln und unruhig zu sein, denn es war ja für Sankt Petrus, den Armen, beinahe unmöglich gewesen, zu begreifen, wozu es dienen solle, dass sie ein so schweres Dasein hatten, wenn unser Herr und Heiland der Herr der Welt war.

Und nun sollte nie mehr die Sehnsucht kommen und ihn quälen. Man darf wohl glauben, dass er froh darüber war.

Nun konnte er förmlich darüber lachen, wieviel Betrübnis er und unser Herr hatten erdulden und mit wie wenig sie sich hatten begnügen müssen.

Einmal, als es ihnen so übel ergangen war, dass er gemeint hatte, es kaum länger ertragen zu können, hatte unser Herr ihn mit sich genommen und begonnen, einen hohen Berg hinanzusteigen, ohne ihm zu sagen, was sie dort oben zu tun hätten.

Sie waren an den Städten vorübergewandert, die am Fuße des Berges lagen, und an den Schlössern, die höher oben waren. Sie waren über die Bauernhöfe und Sennhütten hinausgekommen, und sie hatten die Steingrotte des letzten Holzhauers hinter sich gelassen.

Sie waren endlich dorthin gekommen, wo der Berg nackt, ohne Pflanzen und Bäume, stand und wo ein Eremit sich eine Hütte erbaut hatte, um in Not geratenen Wandersleuten beispringen zu können.

Dann waren sie über die Schneefelder gegangen, wo die Murmeltiere schlafen, und hinauf zu den wilden, zusammengetürmten Eismassen gelangt, bis zu denen kaum ein Steinbock vordringen kann.

Dort oben hatte unser Herr einen kleinen Vogel mit roter Brust gefunden, der erfroren auf dem Eise lag, und er hatte den kleinen Dompfaffen aufgehoben und eingesteckt. Und Sankt Petrus erinnerte sich, dass er neugierig gewesen war, ob dieser Vogel ihr Mittagbrot sein würde.

Sie waren eine lange Strecke über die schlüpfrigen Eisstücke gewandert, und es wollte Sankt Petrus bedünken, als wäre er dem Totenreiche nie so nah gewesen, denn ein todeskalter Wind und ein todes­dunkler Nebel hüllten sie ein, und weit und breit fand sich nichts Lebendes. Und doch waren sie nicht höher gekommen als bis zur Mitte des Berges. Da hatte er unsern Herrn gebeten, umkehren zu dürfen.

»Noch nicht«, sagte unser Herr, »denn ich will dir etwas weisen, was dir den Mut geben wird, alle Sorgen zu tragen.«

Und sie waren durch Nebel und Kälte weitergewandert, bis sie eine unendlich hohe Mauer erreicht hatten, die sie nicht weiterkommen ließ.

»Diese Mauer geht rings um den Berg«, sagte unser Herr, »und du kannst sie an keinem Punkte übersteigen. Auch kann kein Mensch etwas von dem erblicken, was dahinter liegt, denn hier ist es, wo das Paradies anfängt, und hier wohnen die seligen Toten den ganzen Berghang hinauf.«

Da hatte der heilige Petrus es nicht lassen können, ein misstrauisches Gesicht zu machen. »Dort drinnen ist nicht Dunkel und Kälte wie hier«, sagte unser Herr, »sondern dort ist grüner Sommer und heller Schein von Sonnen und Sternen.« Aber Sankt Petrus vermochte ihm nicht zu glauben.

Da nahm unser Herr den kleinen Vogel, den er vorhin auf dem Eisfelde gefunden hatte, und bog sich zurück und warf ihn über die Mauer, so dass er ins Paradies hineinfiel.

Und gleich darauf hörte der heilige Petrus ein ju­belndes, fröhliches Zwitschern und erkannte den Gesang eines Dompfaffen und verwunderte sich höchlich.

Er wendete sich an unsern Herrn und sagte: »Lass uns wieder auf die Erde hinuntergehen und alles dulden, was erduldet werden muss, denn nun sehe ich, dass du wahr gesprochen hast und dass es einen Ort gibt, wo das Leben den Tod überwindet.«

Und sie waren den Berg hinuntergestiegen und hatten ihre Wanderung aufs neue begonnen.

Dann hatte Sankt Petus lange Jahre nichts mehr vom Paradiese gesehen, sondern war nur einhergegangen und hatte sich nach dem Lande hinter der Mauer gesehnt. Und jetzt war er endlich dort und brauchte sich nicht mehr zu sehnen, sondern konnte den ganzen Tag mit vollen Händen Freude aus niemals versiegenden Quellen schöpfen.

Aber der heilige Petrus war kaum vierzehn Tage Paradiese, als es geschah, dass ein Engel zu unserm Herrn kam, der auf seinem Stuhle saß, sich siebenmal vor ihm neigte und ihm sagte, es müsse ein schweres Unglück über Sankt Petrus gekommen sein. Er wolle weder essen noch trinken, und seine Augen wären rotgerändert, als hätte er seit mehreren nicht geschlafen.

Sobald dies unser Herr vernahm, erhob er sich und ging und suchte Sankt Petrus auf.

Er fand ihn fern an der äußersten Grenze des Paradieses. Er lag auf dem Boden, als wäre er zu er­mattet, um stehen zu können, und hatte seine Kleider zerrissen und Asche auf sein Haupt gestreut.

Als unser Herr ihn so betrübt sah, setzte er sich neben ihn auf den Boden und sprach zu ihm, wie er getan hätte, wenn sie noch in der Betrübnis dieser Welt umhergewandert wären.

Was ist es, was dich so traurig macht, Sankt Petrus?« fragte ihn unser Herr. Aber der Schmerz übermannte Sankt Petrus so sehr, dass er nichts zu antworten vermochte.

»Was ist es, was dich so traurig macht, Sankt Petrus?« fragte unser Herr abermals. Als unser Herr die Frage wiederholte, nahm Sankt Petrus seine Goldkrone vom Kopfe und warf sie unserm Herrn zu Füßen, als wollte er sagen, dass er fürderhin keinen Teil mehr haben wolle an seiner Ehre und Herrlichkeit. Aber unser Herr begriff wohl, dass Sankt Petrus zu verzweifelt war, um zu wissen, was er tat, und so zeigte er ihm keinen Zorn. »Du musst mir doch endlich sagen, was dich quält«, sagte er ebenso sanftmütig wie zuvor und mit noch größerer Liebe in der Stimme. Jetzt aber sprang Sankt Petrus auf, und da sah unser Herr, dass er nicht nur betrübt war, sondern auch zornig.

»Ich will Urlaub aus deinen Diensten haben«, sagte Sankt Petrus. »Ich kann nicht einen Tag länger im Paradiese bleiben.«

Aber unser Herr suchte ihn zu beschwichtigen, was er früher oft hatte tun müssen, wenn Sankt Petrus aufgebraust war.

»Ich will dich wahrlich nicht hindern, zu gehen«,
sagte er, »aber erst musst du mir sagen, was dir hier nicht gefällt.«

»Ich kann dir sagen, dass ich mir bessern Lohn versprach, als wir beide drunten auf Erden jede Art Elend erduldeten«
, sagte Sankt Petrus. Unser Herr sah, dass Sankt Petrus' Seele von Bitterkeit erfüllt war, und er fühlte keinen Groll gegen ihn.

»Ich sage dir, dass du frei bist, zu ziehen, wohin du willst«,
sagte er, »wenn du mich nur wissen lässt, was dich betrübt.«

Da endlich erzählte Sankt Petrus, warum er unglücklich war. »Ich hatte eine alte Mutter«, sagte er, »und sie ist vor ein paar Tagen gestorben.«

»Jetzt weiß ich, was dich quält«, sagte unser Herr. »Du leidest, weil deine Mutter nicht hierher ins Paradies gekommen ist.«

»So ist es«, sagte Sankt Petrus, und zugleich überwältigte ihn der Schmerz so sehr, dass er zu jammern und zu schluchzen anfing.

»Ich meine doch, ich hätte es wohl verdient, dass sie herkommen dürfte«
, sagte er.

Als aber unser Herr erfahren hatte, was es war, worüber der heilige Petrus trauerte, wurde er gleichfalls betrübt. Denn Sankt Petrus' Mutter war nicht so gewesen, dass sie ins Himmelreich hätte kommen können. Sie hatte nie an etwas andres gedacht, als Geld zu sammeln; und armen Leuten, die vor ihre Türe gekommen waren, hatte sie niemals auch nur einen Groschen oder einen Bissen Brot gegeben. Aber unser Herr verstand es wohl: Sankt Petrus konnte es unmöglich wünschen, dass seine Mutter so geizig gewesen war, dass sie die Seligkeit nicht genießen konnte.

»Sankt Petrus«, sagte er, »woher weißt du, dass deine Mutter sich bei uns glücklich fühlen würde?«

»Sieh, das sagst du nur, damit du mich nicht zu erhören brauchst«, sagte Sankt Petrus. »Wer sollte sich im Paradiese nicht glücklich fühlen?«

»Wer nicht Freude über die Freude andrer fühlt, kann hier nicht glücklich sein«,
sagte unser Herr. »Dann sind noch andre hier als meine Mutter, die nicht hineinpassen«, sagte Sankt Petrus, und unser Herr merkte, dass er damit ihn im Sinne hatte.

Und er war tief betrübt, weil Sankt Petrus von einem so schweren Kummer getroffen war, dass er nicht mehr wusste, was er sagte. Er blieb eine Weile stehen und wartete, ob Sankt Petrus nicht bereute und einsähe, dass seine Mutter nicht ins Paradies gehörte, aber der wollte gar nicht zu Vernunft kommen.

Da rief unser Herr einen Engel zu sich und befahl ihm, zur Hölle hinunterzufahren und die Mutter des heiligen Petrus ins Paradies heraufzuholen.

» Lass mich dann auch sehen, wie er sie heraufholt«,
sagte Sankt Petrus. Unser Herr nahm Sankt Petrus an der Hand und führte ihn auf einen Felsen hinaus, der auf der einen Seite kerzengerade und jäh abfiel. und er zeigte ihm, dass er sich nur ein klein wenig über den Rand zu beugen brauchte, um gerade in die Hölle hinunterzusehen .

Als Sankt Petrus hinunterschaute, konnte er im Anfang nicht mehr unterscheiden, als wenn er in einen Brunnen hinabgesehen hätte. Es war, als öffne sich ein unendlicher, schwarzer Schlund unter ihm. Das erste, was er deutlich unterschied war der Engel, der sich schon auf den Weg in den Abgrund gemacht hatte. Er sah, wie er ohne jede Furcht in das große Dunkel hinuntereilte und nur die Flügel ein wenig ausbreitete, um nicht zu heftig zu fallen.

Aber als Sankt Petrus seine Augen ein bisschen daran gewöhnt hatte, fing er an, mehr und immer mehr zu sehen. Er begriff zunächst, dass das Paradies auf einem Ringberge lag, der eine weite Kluft ein­schloss, und in der Tiefe dieser Kluft hatten die Verdammten ihre Wohnstatt. Er sah, wie der Engel eine lange Weile fiel und fiel, ohne in die Tiefe hinunterzukommen. Er war ganz erschrocken darüber, dass es ein so weiter Weg war.
» Möchte er doch nur wieder mit meiner Mutter heraufkommen!« sagte er.

Unser Heiland blickte nur mit großen traurigen Augen auf Sankt Petrus. »Es gibt keine Last, die mein Engel nicht heben könnte «, sagte er.

Es ging so tief hinein in den Abgrund, dass kein Sonnenstrahl dorthin dringen konnte, sondern schwarze Schatten dort herrschten. Aber nun war es, als hätte der Engel mit seinem Fluge ein wenig Klar­heit und Licht hingebracht, so dass es Sankt Petrus möglich wurde, zu unterscheiden, wie es dort unten aussah.

Da war eine unendliche, schwarze Felsenwüste, scharfe, spitzige Klippen deckten den ganzen Grund, und zwischen ihnen blinkten Tümpel von schwarzem Wasser. Kein grünes Hälmchen, kein Baum, kein Zeichen des Lebens fand sich da.

Aber überall auf die scharfen Felsen waren die unseligen Toten hinaufgeklettert. Sie hingen über den Felsenspitzen, die sie in der Hoffnung erklettert hat­ten, sich aus der Kluft emporschwingen zu können, und als sie gesehen hatten, dass sie nirgend hinzukommen vermochten, waren sie dort oben verblieben, vor Verzweiflung versteinert.

Sankt Petrus sah einige von ihnen sitzen oder liegen, die Arme in ewiger Sehnsucht ausgestreckt, die Augen unverwandt nach oben gerichtet. Andre hat­ten die Hände vors Gesicht geschlagen, wie um das hoffnungslose Grauen um sich nicht sehen zu müssen. Sie waren alle reglos, keiner von ihnen bewegte sich. Manche lagen, ohne sich zu rühren, in den Wasser­tümpeln, ohne zu versuchen, herauszukommen.

Das Entsetzlichste war, dass ihrer eine solche Menge waren. Es war, als bestünde der Grund der Kluft aus nichts anderem als aus Leibern und Köpfen.

Und Sankt Petrus ward von einer neuen Unruhe gepackt. »Du wirst sehen, er findet sie nicht«, sagte er zu unserm Herrn.

Unser Herr sah ihn nur mit demselben betrübten Blick an wie zuvor. Er wusste wohl, dass Sankt Petrus sich wegen des Engels nicht zu beunruhigen brauchte.

Aber für Sankt Petrus hatte es noch immer den Anschein, als ob der Engel seine Mutter unter der großen Menge von Unseligen nicht gleich finden könnte. Er breitete die Flügel aus und schwebte über dem Abgrund hin und her, indes er sie suchte.

Auf einmal gewahrte einer der unseligen Verdammten unten im Abgrunde den Engel. Und er sprang auf und streckte die Arme zu ihm empor und rief: »Nimm mich mit, nimm mich mit!«

Da kam auf einmal Leben in die ganze Schar. Alle Millionen und Millionen, die unten in der Hölle verschmachteten, sprangen in demselben Augenblick auf und hoben ihre Arme und riefen den Engel an, er möchte sie hinauf zu dem seligen Paradiese führen.

Ihre Schreie drangen bis zu unserm Herrn und Sankt Petrus hinauf, und ihre Herzen bebten vor Schmerz, als sie es hörten.

Der Engel hielt sich schwebend hoch über den Verdammten, aber wie er hin und her glitt, um die zu entdecken, die er suchte, stürmten sie alle ihm nach, dass es aussah, als würden sie von einer Windsbraut dahingcfegt.

Endlich hatte der Engel die erblickt, die er holen sollte. Er faltete die Flügel auf dem Rücken zusammen und schoss hinab wie ein Pfeil. Und Petrus schrie in frohem Erstaunen auf, als er ihn den Arm um seine Mutter schlingen und sie emporheben sah.

»Selig seist du, der mir die Mutter zuführt!« sagte er. Unser Herr legte seine Hand warnend auf des heiligen Petrus Schulter, als wollte er ihn abhalten, sich zu früh der Freude hinzugeben. Aber Sankt Petrus war nahe daran, vor Glück zu weinen, weil seine Mutter gerettet war, und er konnte nicht verstehen, dass sie noch etwas trennen könnte. Und noch größere Freude bereitete es ihm, zu sehen, dass einige der Verdammten, so hurtig der Engel auch gewesen war, als er seine Mutter emporhob, doch noch behender waren, so dass sie sich an sie, die erlöst werden sollte, hängten, um zugleich mit ihr ins Paradies geführt zu werden.

Es waren ihrer etwa ein Dutzend, die sich an die alte Frau gehängt hatten, und Sankt Petrus dachte, dass es eine große Ehre für seine Mutter wäre, so vielen Unglücklichen aus der Verdammnis zu helfen.

Der Engel tat auch nichts, um sie zu hindern. Er schien von der Bürde gar nicht beschwert, sondern stieg nur und stieg, und er regte die Schwingen nicht mühsamer, als wenn er ein totes Vögelchen zum Himmel getragen hätte.

Aber da sah Sankt Petrus, wie seine Mutter anfing, die Unseligen von sich loszureißen, die an ihr festhingen. Sie packte ihre Hände und löste deren Griff, so dass einer nach dem andern hinuntertaumelte in die Hölle. Sankt Petrus konnte hören, wie sie baten und sie anflehten, aber die alte Frau schien es nicht dulden zu wollen, dass ein andrer außer ihr selbst selig werde. Sie machte sich von einem nach dem andern frei und ließ sie hinab ins Elend stürzen. Und wie sie stürzten, wurde der ganze Raum von Wehrufen und Verwünschungen erfüllt.

Da rief Sankt Petrus und bat seine Mutter, sie solle doch Barmherzigkeit zeigen, aber sie wollte nichts hören, sondern fuhr fort, wie sie begonnen hatte.

Und Sankt Petrus sah, wie der Engel immer lang­samer und langsamer flog, je leichter seine Bürde wurde, und da wurde Sankt Petrus von solcher Angst gepackt, dass ihm seine Beine den Dienst versagten und er auf die Knie sinken musste.

Endlich war nur eine einzige übrig, die sich an Sankt Petrus' Mutter festhielt. Es war eine junge Frau, die ihr am Halse hing und dicht an ihrem Ohr flehte und bat, sie möchte sie mit in das gesegnete Paradies lassen. Da war der Engel mit seiner Bürde so weit gekommen, dass Sankt Petrus schon die Arme ausstreckte, um die Mutter zu empfangen. Es deuchte ihn, der Engel brauchte nur noch ein paar Flügelschläge zu machen, um oben auf dem Berge zu sein.

Aber da hielt der Engel auf einmal die Schwingen ganz still, und sein Gesicht wurde düster wie die Nacht.

Denn jetzt streckte die alte Frau die Hände nach rückwärts und ergriff die andre, die an ihrem Halse hing, bei den Armen und riss und zerrte, bis es ihr glückte, die verschlungenen Hände zu trennen, so dass sie auch von der letzten befreit wurde.

Als die Unselige fiel, sank, der Engel mehrere Klafter tiefer, und es sah aus, als vermöchte er nicht mehr die Schwingen zu heben.

Mit tiefbetrubten Blicken sah er auf die alte Frau hinunter, sein Griff um ihren Leib lockerte sich, und er ließ sie fallen, als sei sie eine allzu schwere Bürde für ihn, jetzt, da sie allein geblieben war.

Dann schwang er sich mit einem einzigen Flügelschlage ins Paradies hinauf.

Aber Sankt Petrus blieb lange auf derselben Stelle liegen und schluchzte, und unser Herr stand still neben ihm.

»Sankt Petrus«,
sagte unser Herr endlich, »nimmer hätte ich geglaubt, dass du so weinen würdest, nachdem du ins Paradies gkommen warst.«

Da erhob Gottes alter Diener sein Haupt und antw ortete: »Was ist das für ein Paradies, wo ich mciner Licbsten Jammer höre und meiner Mitmenschen Leiden sehe?«

Aber unsres Herrn Angessicht verdüsterte sich in tiefstem Schmerze. »Was wollte ich lieber, als euch allen ein Paradies von eitel hellem Glück zu bereiten?« sagte er. »Begreifst du nicht, dass ich um dessentwillen zu den Menschen hinunterging und sie lehrte, ihre Nächsten zu lieben wie sich selbst. Solange sie dies nicht tun, gibt es keine Freistatt, weder Himmel noch auf Erden, wo Schmerz und Betrübnis sie nicht zu ereilen vermöchten.«
S. 160 - 171
Selma Lagerlöf: Christuslegenden, Nymphenburger Verlagshandlung München.