Pierre Simon de Laplace (1749 - 1827)
Französischer Mathematiker und Astronom, der eine sehr detaillierte Darstellung der Bewegungsvorgänge der Himmelskörper und des Wassers der Ozeane gab und eine von der Kantschen abweichende Lehre der Entwicklung des Sonnensystems aufstellte Laplace entwickelte eine Theorie der Kapillarität, untersuchte die Schallausbreitung in Gasen und bildete die Wahrscheinlichkeitsrechnung fort. Er begründete die Potentialtheorie, entwickelte die Laplacesche Differentialgleichung und die Laplace-Transformation, eine Integral-Transformation. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Ideen zur Kosmosgonie Über die Wahrscheinlichkeit |
Von den Täuschungen bei der Abschätzung Von den verschiedenen Mitteln, sich der Gewißheit zu nähern |
Ideen
zur Kosmosgonie
Obgleich die Elemente des Planetensystems willkürlich
sind, haben sie doch Beziehungen untereinander, welche uns über ihren Ursprung aufklären können. Wenn man sie aufmerksam betrachtet, ist man erstaunt,
zu sehen, wie sich alle Planeten von Westen nach Osten und fast in derselben
Ebene um die Sonne bewegen, wie die Monde um ihre Planeten in demselben Sinn
und ungefähr in derselben Ebene wie die Planeten wandern, wie endlich die
Sonne, die Planeten und die Monde, deren Rotationsbewegungen man beobachtet
hat, sich um sich selbst drehen, in dem Sinne und ungefähr in der Ebene
ihrer Projektionsbewegungen. Die Monde zeigen in dieser Beziehung eine bemerkenswerte
Eigentümlichkeit. Ihre Rotationsbewegung ist genau ihrer Revolutionsbewegung
gleich, so dass sie beständig dieselbe Hemisphäre ihrem Planeten
zukehren. Wenigstens bemerkt man das am Mond, an den vier Monden des Jupiter
und dem letzten Mond des Saturn, den einzigen Monden, deren Rotation man bis
jetzt erkannt hat.
So außerordentliche Erscheinungen sind nicht unregelmäßigen
Ursachen zuzuschreiben. Wenn man ihre Wahrscheinlichkeit berechnet, findet man,
dass mehr als 200000 Milliarden gegen eins zu wetten ist, dass sie
nicht die Wirkung des Zufalls sind, was eine Wahrscheinlichkeit ergibt, die
viel größer ist als die der meisten historischen Erscheinungen, an
denen wir nicht zweifeln. Wir müssen also mindestens mit derselben Zuversicht glauben, dass eine ursprüngliche Ursache den Planetenbewegungen ihre
Richtung gegeben hat. Eine andere ebenso bemerkenswerte Erscheinung des Sonnensystems
ist die geringe Exzentrizität der Planeten- und Mondbahnen, während
die der Kometen sehr langgezogen sind und die Kreisläufe dieses Systems
durchaus keine Zwischenstufen zwischen einer großen und kleinen Exzentrizität aufweisen. Wir sind gezwungen, auch hierin die Wirkung einer regelmäßigen
Ursache zu sehen: der Zufall hätte den Bahnen aller Planeten sicher keine
fast kreisrunde Form gegeben; die Ursache, welche die Bewegungen dieser Körper
bestimmt hat, muss sie also kreisförmig gemacht haben. [...]
Was auch die wahre Ursache sein mag, sicher ist, daß die Elemente des
Planetensystems derart angeordnet sind, dass es sich der größten
Beständigkeit erfreuen muss, wenn fremde Ursachen nicht störend
eingreifen. Schon dadurch, dass die Bewegungen der Planeten und Monde fast
kreisförmig und in demselben Sinne gerichtet sind und in fast gleichen
Ebenen vor sich gehen, schwankt dieses System nur um einen mittleren Zustand,
von dem es sich nur sehr wenig entfernt. Die mittleren Rotations- und Revolutionsbewegungen
dieser verschiedenen Körper sind gleichförmig und ihre mittleren Entfernungen
von den Brennpunkten der Hauptkräfte, die sie in Bewegung setzen, sind
konstant; alle säkularen Abweichungen sind periodisch. [...]
Die Natur scheint alles am Himmel zu dem Zwecke angeordnet zu haben, um die
Dauer des Planetensystems zu sichern, und zwar nach Plänen, ähnlich
denjenigen, die sie so wunderbar auf der Erde zwecks Erhaltung der Individuen
und der Dauer der Arten zu befolgen scheint.
Hauptsächlich der Anziehungskraft der großen mitten ins Planetensystem
und die Mondsysteme gestellten Körper ist die Stetigkeit dieser Systeme
zuzuschreiben, welche die gegenseitige Einwirkung aller dieser Körper und
die fremden Anziehungskräfte unaufhörlich zu stören streben.
Wenn die Einwirkung des Jupiter aufhören wurde, so würden seine Monde,
die wir um ihn in wunderbarer Ordnung wandern sehen, sich sofort zerstreuen,
indem die einen um die Sonne sehr langgezogene Ellipsen beschreiben würden,
die andern sich auf unbestimmte Weite in hyperbolischen Bahnen entfernen würden.
So zeigt uns die aufmerksame Betrachtung des Sonnensystems die Notwendigkeit
einer sehr mächtigen Zentralkraft, die das Zusammenwirken eines Systems
und die Regelmäßigkeit seiner Bewegung aufrechterhält. Diese
Betrachtungen allein wurden die Einrichtung des Sonnensystems erklären,
wenn der Mathematiker seinen Blick nicht noch weiter hinaus richten und in den
ursprünglichen Naturgesetzen die Ursache der Erscheinungen suchen mußte,
die durch die Ordnung des Weltalls am meisten verdeutlicht werden. So gehen
die Stetigkeit der Pole der Erde und die des Gleichgewichts der Meere, die beide
für die Erhaltung der Organismen unerläßlich sind, einfach aus
der Rotationsbewegung und der allgemeinen Schwere hervor. Durch die Rotation
ist die Erde abgeplattet worden und ihre Revolutionsachse ist die eine ihrer
Hauptachsen geworden; dies macht das Klima und die Dauer des Tages unveränderlich.
Kraft der Schwere haben sich die dichtesten Erdschollen dem Mittelpunkt der
Erde genähert, dessen mittlere Dichte so die der Gewässer übertrifft,
welche ihn bedecken; dies genügt, um die Stetigkeit des Gleichgewichts
der Meere zu sichern und die Gewalt der Fluten zu zügeln.
Diese und andere ähnlich zu erklärende Erscheinungen berechtigen zu
der Ansicht, daß alle von diesen Gesetzen abhängen, und zwar durch
mehr oder weniger verborgene Beziehungen, deren Unkenntnis man jedoch klugerweise
lieber eingestehen sollte als ihnen Ursachen unterzuschieben, die durch das
alleinige Bedürfnis erdacht sind, unsre Beunruhigung über den Ursprung
der Dinge, die uns interessieren, zu beschwichtigen. Ich kann nicht umhin hier
zu bemerken, wie weit sich Newton
in diesem Punkte von der Methode entfernt hat, die er anderswo
so glücklich anwandte. Seit der Veröffentlichung seiner Entdeckungen
über das Weltensystem und das Licht untersuchte dieser große Mathematiker,
welcher in andersartige Spekulationen vertieft war, aus welchen Beweggründen
der Schöpfer der Natur dem. Sonnensystem die Einrichtung gegeben habe,
von der wir sprachen. Nachdem er in der Skolie am Schlusse seiner »Prinzipien«
die eigentümliche Erscheinung der Planeten- und Mondbewegung im selben
Sinn, ungefähr in derselben Ebene und in fast kreisförmigen Bahnen
auseinandergesetzt hat, fügt er hinzu: »Alle
diese so, regelmäßigen Erscheinungen haben durchaus keine mechanischen
Ursachen, da ja die Kometen sich in allen Teilen des Himmels und in sehr exzentrischen
Bahnen bewegen. ... Diese wunderbare Anordnung der Sonne,
der Planeten und Kometen kann nur das Werk eines intelligenten und allmächtigen
Wesens sein.«
Er bringt am Schluß seiner Optik denselben Gedanken vor, von dessen Richtigkeit
er sich noch mehr überzeugt hätte, wenn er das gekannt hätte,
was wir dargelegt haben, nämlich daß die Bedingungen der Anordnung
der Planeten und Monde genau dieselben sind, welche deren Stetigkeit sichern. Ein blindes
Schicksal, sagt er, könnte niemals so alle Planeten in Bewegung
setzen, von einigen kaum merklichen Ungleichmäßigkeiten abgesehen,
welche von der gegenseitigen Einwirkung der Planeten und Kometen herrühren
können, und die wahrscheinlich durch eine lange Zeitfolge sich vergrößern
werden, bis endlich dies System notwendigerweise von seinem Schöpfer wieder
in Ordnung gebracht werden muß. Aber kann diese Anordnung der Planeten
nicht selbst eine Wirkung der Gesetze der Bewegung sein? Und
kann die höchste Intelligenz, die Newton dazwischentreten läßt,
sie nicht von einer allgemeineren Erscheinung abhängig gemacht haben? Eine
solche ist nach unsrer Vermutung die einer nebelhaften Materie, welche in verschiedenartigen
Anhäufungen in dem unendlichen Himmelsraum zerstreut ist. Kann man nun
noch versichern, daß die Erhaltung des Planetensystems zu den Zwecken
des Schöpfers der Natur gehört?
Die gegenseitige Anziehung der Körper dieses Systems kann dessen Stetigkeit
nicht ungünstig beeinflussen, wie Newton voraussetzt; aber gäbe es
im Himmelsraum kein anderes fluidum als das Licht, so müssten sein Widerstand
und die Verringerung, die seine Aussendung in der Sonnenmasse hervorruft, schließlich
die Anordnung der Planeten zerstören, und um sie aufrechtzuerhalten, würde
zweifellos eine Reform notwendig werden. Aber deuten soviel Arten ausgestorbener
Tiere, deren Organisation Cuvier mit seltenem Scharfsinn in den zahlreichen
von ihm beschriebenen Überresten hat wiedererkennen können, nicht
darauf hin, daß in der Natur eine Tendenz herrscht, selbst die anscheinend
beständigsten Dinge zu verändern? Die Größe und Wichtigkeit
des Sonnensystems dürfen durchaus nicht den Anlaß geben, es von diesem
Gesetze auszunehmen; denn sie stehen nur im Verhältnis zu unsrer Kleinheit,
und dieses System, so gewaltig es uns erscheint, ist doch nur ein unmerklicher
Punkt im Weltall. Durchblättern wir die Geschichte der Fortschritte des
menschlichen Geistes und seiner Irrtümer; wir werden dort beständig
die Zweckursachen bis zu den Grenzen seines Wissens hinausgerückt sehen.
Diese Ursachen, welche Newton an die Grenzen des Sonnensystems versetzt, wurden
selbst zu seiner Zeit in die Atmosphäre verlegt, um die Meteore zu erklärt
sie sind also in den Augen des Philosophen nur da Ausdruck der Unkenntnis der
wahren Ursachen, über die wir noch nicht hinausgekommen sind. In dem Streit
mit Newton über die Erfindung der Infinitesimalrechnung kritisierte
Leibniz lebhaft das Dazwischentreten
der Gottheit, um das Sonnensystem in Ordnung zu bringen. Er sagt: »Das
heißt sehr engherzige Begriffe von der Weisheit und Macht Gottes haben.«
Newton erwiderte
mit einer ebenso lebhaften Kritik der prästabilierten
Harmonie von Leibniz, welche er für
ein andauerndes Wunder erklärte. Die Nachwelt hat diese grundlosen Hypothesen
verworfen; aber sie hat den mathematischen Arbeiten dieser beiden großen
Geister die vollste Gerechtigkeit widerfahren lassen; die Entdeckung der allgemeinen
Schwere und die Anstrengungen ihres Urhebers, die himmlischen Erscheinungen
damit in Verbindung zu bringen, werden stets den Gegenstand der Bewunderung
und Dankbarkeit ihm gegenüber bilden.
Kröner, Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 46, Die Kant-Laplace’sche Theorie, (S.195-201)
Ideen zur Weltentstehung von Immanuel Kant und Simon Laplace
Eingeleitet und herausgegeben von Heinrich Schmidt (Jena) Veröffentlichung
auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages,
Stuttgart
Über die Wahrscheinlichkeit
Alle Ereignisse, selbst jene, welche wegen ihrer Geringfügigkeit
scheinbar nichts mit den großen Naturgesetzen zu tun haben, folgen aus
diesen mit derselben Notwendigkeit wie die Umläufe der Sonne. In Unkenntnis
ihres Zusammenhangs mit dem Weltganzen ließ man sie, je nachdem sie mit
Regelmäßigkeit oder ohne sichtbare Ordnung eintraten und aufeinanderfolgten,
entweder von Endzwecken oder vom Zufall abhängen; aber diese vermeintlichen
Ursachen wurden in dem Maße zurückgedrängt, wie die Schranken
unserer Kenntnis sich erweiterten, und sie verschwinden völlig vor der
gesunden Philosophie, welche in ihnen nichts als den Ausdruck unserer Unkenntnis
der wahren Ursachen sieht.
Die gegenwärtigen Ereignisse sind mit den vorangehenden durch das evidente
Prinzip verknüpft, daß kein Ding ohne erzeugende Ursache entstehen
kann. Dieses Axiom, bekannt unter dem Namen des
Prinzips vom zureichenden Grunde, erstreckt sich auch auf
die Handlungen, die man für gleichgültig hält. Der freieste Wille
kann sie nicht ohne ein bestimmendes Motiv hervorbringen; denn wenn er unter
vollkommen ähnlichen Umständen das eine Mal handelte und das andere
Mal sich der Handlung enthielte, dann wäre seine Wahl eine Wirkung ohne
Ursache: sie wäre dann, wie Leibniz sagt, der blinde Zufall der Epikurärer.
Die gegenteilige Meinung ist eine Täuschung des Geistes, der die flüchtigen
Gründe, welche die Wahl des Willens bei gleichgültigen Dingen bestimmen,
aus dem Auge verliert und sich einredet, daß der Wille sich durch sich
selbst und ohne Motive bestimmt hat.
Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Weltalls
als die Wirkung seines früheren und als die Ursache des folgenden Zustands
betrachten.
Eine Intelligenz, welche für
einen gegebenen Augenblick alle in der Natur wirkenden Kräfte sowie die
gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Elemente kennte und überdies
umfassend genug wäre, um diese gegebenen Größen der Analysis
zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten
Weltkörper wie des leichtesten Atoms umschließen; nichts würde
ihr ungewiß sein, und Zukunft wie Vergangenheit würden ihr offen
vor Augen liegen. Der menschliche Geist bietet in der Vollendung, die er der
Astronomie zu geben verstand, ein schwaches Abbild dieser Intelligenz dar.
Seine Entdeckungen auf dem Gebiete der Mechanik und Geometrie, verbunden mit
der Entdeckung der allgemeinen Gravitation, haben ihn in Stand gesetzt, in demselben
analytischen Ausdruck die vergangenen und zukünftigen Zustände des
Weltsystems zu umfassen. Durch Anwendung derselben Methode auf einige andere
Gegenstände seines Wissens ist er dahingelangt, die beobachteten Erscheinungen
auf allgemeine Gesetze zurückzuführen und Erscheinungen vorauszusehen,
die gegebene Umstände herbeiführen müssen. Alle diese Bemühungen
beim Aufsuchen der Wahrheit wirken dahin, ihn unablässig jener Intelligenz
näher zu bringen, von der wir uns eben einen Begriff gemacht haben, der
er aber immer unendlich ferne bleiben wird. Dieses dem Menschen eigentümliche
Streben erhebt ihn über das Tier, und seine Fortschritte auf diesem Gebiete
unterscheiden die Nationen und Jahrhunderte und machen ihren wahren Ruhm aus.
[...]
Die Wahrscheinlichkeit steht in Beziehung zum Teil zu dieser [unserer] Unwissenheit,
zum Teil zu unseren Kenntnissen. Wir wissen, daß von drei oder mehreren
Ereignissen eines eintreten muß, doch veranlaßt uns nichts, zu glauben,
daß eines eher als die anderen eintreten wird. In diesem Zustande der
Unentschiedenheit ist es uns unmöglich, etwas Gewisses über das Eintreffen
auszusagen. Es ist indessen wahrscheinlich, daß ein aus diesen aufs Geratewohl
herausgegriffenes Ereignis nicht eintreffen wird, wenn wir mehrere gleichmögliche
Fälle erkennen, welche sein Eintreten ausschließen, während
nur ein einziger dieser Fälle es begünstigt.
Die Theorie des Zufalls ermittelt die gesuchte Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses
durch Zurückführung aller Ereignisse derselben Art auf eine gewisse
Anzahl gleich möglicher Fälle, d. s. solcher, über deren Existenz
wir in gleicher Weise unschlüssig sind, und durch Bestimmung der dem Ereignis
günstigen Fälle. Das Verhältnis dieser Zahl zu der aller möglichen
Fälle ist das Maß dieser Wahrscheinlichkeit, die also nichts anderes
als ein Bruch ist, dessen Zähler die Zahl der günstigen Fälle
und dessen Nenner die Zahl aller möglichen Fälle ist.
S.1-4 [...]
Von
den Täuschungen bei der Abschätzung
Ich rechne auch noch unter die Zahl der Täuschungen die Anwendung, die
Leibniz und Daniel Bernoulli von der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die Summierung
der Reihen gemacht haben. Wenn man den Bruch, dessen Zähler Eins und dessen
Nenner Eins plus einer Variablen ist, in eine nach Potenzen dieser Variabeln
geordnete Reihe entwickelt, so ist leicht einzusehen, daß für die
Variable Eins der Bruch ½ und die Reihe plus Eins, minus Eins, plus Eins,
minus Eins, usw. wird. Faßt man die beiden ersten Glieder zusammen, die
beiden folgenden und so fort, so transformiert man die Reihe in eine andere,
deren jedes Glied null ist. Grandi, ein italienischer Jesuit, hatte daraus auf
die Möglichkeit der Schöpfung geschlossen; denn da die Reihe stete
gleich 1/2 ist, so sah er diesen Bruch aus einer unendlichen Anzahl von Nullen
oder aus dem Nichts entstehen. Ebenso glaubte Leibniz in seiner binären
Arithmetik, in der er nur die beiden Zeichen Null und die Einheit verwendete,
das Bild der Schöpfung vor sich zu haben. Da nämlich Gott durch Eins
und das Nichts durch die Null dargestellt werden könne, stellte er sich
vor, daß das höchste Wesen aus dem Nichts alle Wesen hervorgebracht
hätte, gerade so wie die Einheit mit der Null alle Zahlen in diesem arithmetische
Systeme erzeugt. Dieser Gedanke gefiel Leibniz so sehr, daß er ihn dem
Jesuiten Grimaldi, dem Präsidenten des Tribunals für Mathematik in
China, mitteilte, in der Hoffnung, daß diese Versinnbildung der Schöpfung
den damaligen Kaiser, der die Wissenschaften besonders liebte, zum Christentume
bekehren würde. Ich führe diesen Zug nur an, um zu zeigen, bis wohin
die Vorurteile der Kindheit die größten Männer irreführen
können.
Leibniz, der sich immer von einer eigentümlichen und sehr ungezügelten
Metaphysik leiten ließ, überlegte, daß die Reihe plus Eins,
minus Eins, plus Eins, usw. Eins oder Null wird, je nachdem man bei einer ungeraden
oder geraden Anzahl von Gliedern stehen bleibt; und da man im Unendlichen keinerlei
Grund hat, die gerade oder ungerade Zahl zu bevorzugen, so muß man nach
den Regeln der Wahrscheinlichkeit die Hälfte der Ergebnisse bezüglich
dieser beiden Arten von Zahlen, d. h. von Null oder Eins, nehmen, was 1/2 als
Wert der Reihe gibt. Daniel Bernoulli hat seitdem diese Begründungsweise
auf die Summierung der aus periodischen Gliedern gebildeten Reihen ausgedehnt.
Aber alle diese Reihen haben eigentlich gar keine Werte, sie erhalten nur dann
einen Wert, wenn ihre Glieder mit den aufeinanderfolgenden Potenzen einer Variabeln,
die kleiner als Eins ist, multipliziert werden. Dann sind diese Reihen immer
konvergent, wie klein man auch den Unterschied zwischen dieser Variabeln und
Eins annimmt, und es ist leicht zu zeigen, daß die von Bernoulli vermöge
der Wahrscheinlichkeitsregel angegebenen Werte gerade die Werte der erzeugenden
Brüche der Reihen sind, wenn man in diesen Brüchen die Variable gleich
1 annimmt. Diese Werte sind auch die Grenzen, denen die Reihen in dem Maße
sich mehr und mehr nähern, als die Variable sich der Eins nähert.
Aber wenn die Variable genau gleich Eins ist, dann hören die Reihen auf
konvergent zu sein; sie erhalten dann nur insofern Werte, als man sie irgendwo
abbricht. Die merkwürdige Beziehung dieser Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung
zu den Grenzen der Werte der periodischen Reihen setzt voraus, daß die
Glieder dieser Reiben mit allen aufeinanderfolgenden Potenzen der Variabeln
multipliziert werden. Aber diese Reihen können aus der Entwicklung einer
unendlichen Anzahl verschiedener Brüche sich ergeben, bei denen das nicht
stattfindet. So kann z. B. die Reihe 1–1+1- ... aus der Entwicklung eines
Bruches entstehen, dessen Zähler die Einheit mehr der Variabeln, und dessen
Nenner dieser Zähler vermehrt um das Quadrat der Variabeln ist. Setzt man
die Variabeln der Einheit gleich, so verwandelt sich diese Entwicklung in die
vorgelegte Reihe, und der erzeugende Bruch wird gleich 2/3; die Regeln der Wahrscheinlichkeit
würden also dann ein falsches Resultat geben, was beweist, wie gefährlich
es wäre, ähnliche Beweisführungen anzuwenden, insbesondere in
den mathematischen Wissenschaften, die durch die Strenge ihres Verfahrens in
hervorragender Weise ausgezeichnet sein sollen.
Wir werden naturgemäß zu den Glauben gebracht, daß die Ordnung,
nach der wir die Dinge auf der Erde sich erneuern sehen, zu allen Zeiten existiert
hat und immer existieren wird. In der Tat, wenn der gegenwärtige Zustand
des Weltalls dem früheren, der ihn hervorgebracht hat, durchaus ähnlich
wäre, so würde er seinerseits einen gleichen Zustand hervorbringen;
die Aufeinanderfolge dieser Zustände würde dann also ewig sein. Ich
habe durch Anwendung der Analyse auf das Gesetz der allgemeinen Schwere erkannt,
daß die Rotations- und Umlaufsbewegungen der Planeten und Trabanten und
die Lage ihrer Bahnen und ihrer Äquatoren nur periodischen Ungleichheiten
unterworfen sind. Durch einen Vergleich der Theorie der Säkulargleichung
des Mondes mit den alten Verfinsterungen fand ich, daß seit Hipparch sich
die Dauer des Tages nicht um ein Hundertstel einer Sekunde geändert, und
die mittlere Temperatur der Erde sich nicht um ein Hundertstel eines Grades
vermindert hat. So scheint die Beständigkeit der bestehenden Ordnung durch
die Theorie und durch Beobachtungen zugleich erwiesen sein. Aber diese Ordnung
wird gestört durch mannigfache Ursachen, die wohl eine aufmerksame Prüfung
erkennen läßt, die man aber der Berechnung nicht unterwerfen kann.
S.131-133
Aus: Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit
von Simon de Laplace herausgegeben von R. v. Mises
Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften Band 233
© Verlag Harri Deutsch, Thum und Frankfurt am Main 1998
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Harri
Deutsch Verlages
Von
den verschiedenen Mitteln, sich der Gewißheit zu nähern.
Induktion, Analogie, auf Tatsachen gegründete und unablässig durch
neue Beobachtungen berichtigte Hypothesen, ein angeborenes glückliches
Taktgefühl, das durch zahlreiche Vergleiche seiner Angaben mit der Erfahrung
gestärkt worden ist; das sind die hauptsächlichsten Mittel, um zur
Wahrheit zu gelangen.
Wenn man eine Reihe gleichartiger Gegenstände mit Aufmerksamkeit betrachtet,
so nimmt man unter ihnen und in ihren Veränderungen Beziehungen wahr, die
in dem Maße, als die Reihe sich verlängert, mehr und mehr offenbar
werden, und die schließlich durch beständige Ausdehnung und Verallgemeinerung
zu dem Prinzipe hinführen, von dem sie sich ableiten. Aber oft sind diese
Beziehungen von so viel fremdartigen Umständen verhüllt, daß
es eines großen Scharfsinnes bedarf, um sie herauszufinden und zu diesem
Prinzipe aufzusteigen: eben darin offenbart sich aber das wahre wissenschaftliche
Genie. Die Analysis und Naturphilosophie verdanken ihre wichtigsten Entdeckungen
diesem fruchtbaren Mittel, das man Induktion nennt. Newton verdankte ihr sein
Binomialtheorem und sein Prinzip der allgemeinen Gravitation. Es ist schwierig,
die Wahrscheinlichkeit der Ergebnisse der Induktion abzuschätzen, die sich
darauf gründet, daß gerade die einfachsten Beziehungen die allgemeinsten
sind, was durch die Formeln der Analysis bewahrheitet wird und sich in den Naturerscheinungen,
in der Kristallisation und in den chemischen Verbindungen wiederfindet. Diese
Einfachheit der Beziehungen wird aber gar nicht staunenswert scheinen, wenn
man erwägt, daß alle Wirkungen der Natur nur die mathematischen Resultate
einer kleinen Zahl von unabänderlichen Gesetzen sind.
Die Induktion genügt jedoch, obwohl sie zur Entdeckung der allgemeinen
Prinzipien der Wissenschaften führt, noch nicht, um dieselben in aller
Strenge aufzustellen. Man muß sie immer durch Beweise oder entscheidende
Experimente bestätigen, denn die Geschichte der Wissenschaften zeigt uns,
daß die Induktion manchmal zu ungenauen Ergebnissen geführt hat.
Ich will als Beispiel ein Theorem von Fermat über die Primzahlen anführen.
Dieser große Geometer, der über deren Theorie tiefe Betrachtungen
angestellt hatte, suchte eine Formel, die nur Primzahlen enthielte und direkt
eine Primzahl geben sollte, die größer als irgend eine angebbare
Zahl wäre. Die Induktion brachte ihn auf den Gedanken, daß 2, zu
einer Potenz erhoben, die selbst eine Potenz von 2 ist, plus Eins eine Primzahl
bilde. So bildet 2 zum Quadrat erhoben mehr 1 die Primzahl 5; 2 auf die zweite
Potenz von 2 erhoben, also 16 plus 1 die Primzahl 17. Er fand, daß dies
noch zutraf für die 8. und 16. Potenz von 2 vermehrt um die Einheit: und
diese Induktion ließ ihn, gestützt auf mehrere arithmetische Betrachtungen,
dieses Resultat als allgemein ansehen. Er gab jedoch zu, daß er es nicht
bewiesen hatte. In der Tat hat Euler erkannt, daß dies für die 32.
Potenz von 2 zu bestehen aufhört, die um die Einheit vermehrt 4294967297
gibt, eine Zahl, die durch 641 teilbar ist.
Wir schließen durch Induktion, falls verschiedene Ereignisse, z. B. Bewegungen,
beständig und schon seit langer Zeit durch eine einfache Beziehung verbunden
erscheinen, daß sie fortwährend derselben unterworfen sein werden;
und wir schließen daraus vermittelst der Wahrscheinlichkeitstheorie, daß
dieses Verhältnis nicht dem Zufall, sondern einer regelmäßigen
Ursache zuzuschreiben sei. S.155f.
Aus: Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit
von Simon de Laplace herausgegeben von R. v. Mises
Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften
© Verlag Harri Deutsch, Thum und Frankfurt am Main 1998
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Harri
Deutsch Verlages