Karl Kardinal Lehmann (1936 - )

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Überall da ist Jesus Christus gegenwärtig, wo es Schmerz und Leid gibt

Lassen wir nur das ganze, das offenkundige und das stille Leid der Welt und der Kreatur vor uns kommen: angefangen beim Weinen des Kindes, bis hin zum Schmerz und zur Ausweglosigkeit unheilbarer Krankheit, den Tragödien gescheiterter und gebrochener Beziehungen, dem Schicksal der Arbeitslosigkeit und dem damit verbundenen Gefühl, in einer Gesellschaft überflüssig zu sein, der Bedrohung der Menschen in den vielen Krisengebieten unserer Erde — in diesen Tagen in besonderer Weise wieder auf dem Balkan, dem Verlust eines geliebten Menschen und der Unfassbarkeit vor dem blind-wütigen »Schicksal« der durch die Natur oder die Technik verursachten Katastrophen.
Überall da ist Jesus Christus gegenwärtig. In allem ist er uns vorausgegangen. Im Grunde gibt es eigentlich nichts Menschenunwürdiges, das er nicht selbst erfahren hätte: grundlose Verhaftung, Verrat aus dem eigenen Kreis, unmenschliche Verhöre und grausam-sadistische Folterungen, Meineide, Zynismus der Gewalt gegenüber dem Schwächeren, politisches Herumschachern, gaffendgeile Sensationslüsternheit beim Tod eines Menschen, den Schrei der Gottverlassenheit. Wer erkennt in diesem Schicksal Jesu nicht den geschlagenen und geprügelten, zu Tode gehetzten und zusammengebrochenen Menschen? »Ecce homo!«: »Sehet, was für ein Mensch! — Seht, was ist der Mensch?« Was bringt der Mensch alles fertig, und wie kann man ihn zugrunde richten!?

Das Geschick Jesu Christi mahnt auch noch an anderes. Es ist das Leiden des Gerechten. »Ich finde keine Schuld an ihm«, sagt Pilatus nach mehrfachem Verhör. Trotz Einsicht in die Unschuld des Angeklagten wird im Blick auf Jesus Recht verletzt und Menschenwürde mit Füßen getreten. Er passt nicht in das Schema der gewohnten Welt. »Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben.«
Niemand hatte einen wirklichen Grund, ihn zu hassen. An Jesus wird darum in hervorragender Weise so etwas wie Schuld offenbar. Angesichts dieses Gerechten zeigt sich das Übermaß von Gewalttätigkeit, Bosheit, Gemeinheit und Brutalität. Niemand ist davon ausgenommen. Man kann es sich mit der Schuld am Tod Jesu leicht machen und es einfach bei der Schuld einiger in der Vergangenheit belassen. Aber auch wir müssen uns fragen, wo wir schuldig geworden sind. Wir suchen so leicht andere, denen wir die Verantwortung aufbürden. Man zuckt mit den Achseln: »Es ließ sich leider nicht vermeiden«, Betriebsunfall, Sachzwänge, man verweist auf unaufhaltsame Prozesse, auf »Schuld« in der Vergangenheit. An Jesu Christi Bildnis kommt es zutage, dass auch wir selbst Täter des Bösen sind, jeden Tag. Vor seiner Passion zerrinnen alle unsere heimlichen und offenen Unschuldsbeteuerungen. Wir haben für alles Ent-Schuldigungen und Alibis gefunden.
Das Bild des Kreuzes widerstrebt noch anderen Tendenzen. Wir sehen unsere Geschichte und unser Tun oft als großen »Fortschritt« an — gewiss ist er das auch. Aber wie oft unterschlagen wir die Opfer, die »auf der Strecke bleiben«, wehren uns, die Nachtseite unserer Fortschritte in Erinnerung zu bringen? Aber sind Geschichte und Geschichtsschreibung nur die Dokumentation des Erfolgs, der Rücksichtslosigkeit der jeweils Stärkeren, des Glücks der Durchgekommenen und des Vergessens derer, die nicht siegten? Das Bild des gekreuzigten, ungerecht hingerichteten Jesus bringt dieses stille und oft sprachlose Leid in lebendige Erinnerung. All dies gehört zu unserer Weltgeschichte, jedoch werden diese kleinen und großen Geschichten von Kreuz und Leid dort nur nebenbei oder gar nicht erzählt. Aber unzählige Menschen haben die schwierige Wirklichkeit ihres Lebens und die unverdiente Not ihrer Zeit nur dadurch bestanden, das sie inmitten ihres Leidens Mut und Geduld, die Schmerzen zu ertragen und das Unrecht zu überstehen, dem gekreuzigten Bruder Jesus und einem Blick auf sein Bild verdanken.

Wir brauchen dieses Zeichen, damit wir unsere volle Wirklichkeit sehen und annehmen: dass es Schuld, Trauer, Trostlosigkeit, Verzweiflung und gar den Tod unter uns gibt. Machen wir uns nichts vor über uns selbst. »Ecce homo!«: »Seht, welch ein Mensch — seht, was der Mensch ist!« Doch dieses Bildnis allein gibt nicht bloß einen realistischen Blick für das Widerwärtige, sondern gewährt auch Befreiung und Erlösung mitten in Schmerz und Tod: Er nahm die Schuld und die Sünde der Welt auf sich, stellvertretend für unsere ständigen Entschuldigungen und Fluchtversuche. Der Gerechte wurde zwar dem Verbrecher gleichgemacht, aber Gott der Herr lässt seinen Gerechten nicht im Stich. In Jesus ist dies für uns und alle Menschen endgültig wahr geworden.

Die Weltgeschichte kann viele schreckliche Geschichten erzählen — vielleicht noch grausigere Untaten als die Geschichte dieses Jesus von Nazareth. Diese ist aber eine Geschichte, die uns entspricht und uns doch überschreitet. Wir erkennen darin unser eigenes Leiden wieder und erblicken in ihr zugleich die Zeichen der Hoffnung: Hier ist einer, der das Elend der Welt nicht weglügt, der dableibt, wenn alle anderen sich aus dem Staub machen, der dem, der Schuld bekennt, wirklich alles nachsehen und vergeben kann, der den letzten Feind des Menschen besiegt hat: den Tod.

Aus: Karl Lehmann, Mut zum Umdenken
© Verlag Herder Freiburg 2.Auflage 2003 ( S. 180-168)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehnigung des Verlags Herder