Wladimir Iljitsch Lenin, eigentlich Uljanow (1870 – 1924)
Russischer
kommunistischer Revolutionär, Politiker und Gründer der Sowjetunion.
Lenin war Sohn eines in den Adel aufgestiegenen
Schulinspektors und einer Gutsbesitzertochter. Nach seinem Jura-Studium war er Anwalt in St. Petersburg. 1897-1900 wurde er nach Sibirien verbannt, danach (1900-05)
war er in der Emigration, u. a. in London, wo er 1903 nach der Spaltung der russischen Sozialdemokratie Führer der Bolschewiki wurde. 1905 nahm er an der russischen Revolution teil, danach 1907-17 erneute Emigration. 1917 errichtete er nach Sturz der Regierung Kerenski die Diktatur der bolschewistischen Partei und trat als Vorsitzender des Rates
der Volkskommissare an die Spitze des Staates und setzte sich für die
Annahme des Friedens von Brest-Lisowsk (März
1918) ein. Seine Regierung ist gekennzeichnet durch große Härte und Terrormaßnahmen bei der Durchsetzung insbesondere der politischen
und wirtschaftlichen Ziele, war aber im Frühjahr 1921 gezwungen, den Kriegskommunismus durch eine mildere Neue Ökonomische
Politik zu ersetzen. Als bedeutendster Theoretiker des Kommunismus entwickelte
er die marxistische Theorie zum Leninismus weiter. Durch die von ihm mitbegründete Komintern wirkte er maßgebend
auch auf die revolutionären Bewegungen in anderen europäischen
Staaten ein. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Sozialismus
und Religion Gegen alle Formen des Idealismus Materialistische Erklärung der Religion |
Gegen
die Gottsucherei Maxim Gorkis Der Narr in Christo: Tolstoi |
Sozialismus
und Religion
Die heutige Gesellschaft ist ganz auf der Ausbeutung der ungeheuren Massen der
Arbeiterklasse durch eine verschwindend kleine, zu den Klassen der Grundbesitzer
und Kapitalisten gehörende Minderheit einer Bevölkerung aufgebaut.
Es ist eine sklavenhaltende Gesellschaft, denn die »freien« Arbeiter,
die ihr ganzes Leben lang für das Kapital schuften, »haben Anrechtrecht« lediglich auf solche Existenzmittel, die zum Unterhalt von Sklaven, die Profit
erzeugen, zur Sicherung und Verewigung der kapitalistischen Sklaverei notwendig
sind ...
Die Religion ist eine Art des geistigen Druckes, der überall
und allenthalben auf den Volksmassen lastet, die durch ewige Arbeit für
andere, durch Not und Vereinsamung niedergedrückt werden. Die Ohnmacht
der ausgebeuteten Klassen im Kampfe gegen ihre Ausbeuter erzeugt ebenso unvermeidlich
den Glauben an ein besseres Leben nach dem Tode, wie die Ohnmacht des Wilden
in seinem Kampfe mit der Natur den Glauben an Götter,
Teufel, Wunder und dergleichen hervorruft. Denjenigen, der sein Leben
lang arbeitet und Not leidet, lehrt die Religion Demut und Geduld hienieden,
und sie vertröstet ihn mit Hoffnungen auf himmlischen Lohn.
Diejenigen aber, die von fremder Arbeit leben, lehrt die Religion Wohltätigkeit
hienieden, womit sie ihnen eine recht billige Rechtfertigung ihres ganzen Ausbeuterdaseins
gibt und zu annehmbaren Preisen Eintrittskarten zur himmlischen Seligkeit verkauft. Die Religion ist Opium fürs Volk. Die Religion ist eine Art geistiger Fusel,
in dem die Sklaven des Kapitals ihre Menschenwürde und ihren Anspruch auf
eine halbwegs menschenwürdige Existenz ersäufen.
Doch der Sklave, der sich seiner Sklaverei bewußt geworden ist und sich
zum Kampf für seine Befreiung erhoben hat, hat bereits zur Hälfte
aufgehört, Sklave zu sein. Der moderne klassenbewußte Arbeiter, von
der Großindustrie erzogen und durch das städtische Leben aufgeklärt,
wirft mit Verachtung die religiösen Vorurteile von sich, überläßt
den Himmel den Pfaffen und bürgerlichen Frömmlern und erkämpft
sich ein besseres Leben hier auf Erden...
Erklärung der Religion zur Privatsache — in diesen Worten wird gewöhnlich
das Verhältnis der Sozialisten zur Religion ausgedrückt. Doch muß
man die Bedeutung dieser Worte genau definieren, damit sie keine Mißverständnisse
hervorrufen können. Wir fordern, daß die Religion Privatsache sei
dem Staat gegenüber, können aber keinesfalls die Religion unserer
eigenen Partei gegenüber als Privatsache betrachten. Der Staat soll mit
der Religion nichts zu tun haben, die Religionsgemeinschaften dürfen mit
der Staatsmacht nicht verknüpft sein. Jeder muß vollkommen frei sein,
sich zu jeder beliebigen Religion zu bekennen oder auch gar keine Religion anzuerkennen,
das heißt Atheist zu sein, was ja in der Regel jeder Sozialist auch ist.
Alle durch das religiöse Bekenntnis bestimmten Unterschiede in den Rechten
der Staatsbürger sind völlig unzulässig. Selbst die Erwähnung
der Konfessionszugehörigkeit der Staatsbürger in offiziellen Dokumenten
muß unbedingt ausgemerzt werden. Keine Zuwendungen an eine Staatskirche,
keine Zuwendungen von Staatsmitteln an kirchliche und religiöse Gemeinschaften,
die vielmehr völlig freie, von den Behörden unabhängige Vereinigungen
gleichgesinnter Bürger werden müssen. Nur die restlose Erfüllung
dieser Forderungen kann jener schändlichen und verfluchten Vergangenheit
ein Ende machen, wo die Kirche im Hörigkeitsverhältnis gegenüber
dem Staate und die russischen Bürger im Hörigkeitsverhältnis
gegenüber der Staatskirche waren, wo mittelalterliche Inquisitionsgesetze
bestanden und Anwendung fanden (die bis auf den heutigen
Tag in unseren Strafgesetzen und -verordnungen erhalten geblieben sind), die Glauben oder Unglauben verfolgten, das Gewissen der Menschen vergewaltigten
und Staatspöstchen und Staatspfründen mit der Verteilung dieses oder
jenes Staatskirchenfusels verknüpften. Vollständige Trennung der Kirche
vom Staat — das ist die Forderung, die das sozialistische Proletariat
an den heutigen Staat und die heutige Kirche stellt.
Für die Partei des sozialistischen Proletariats ist die Religion keine
Privatsache. Unsere Partei ist ein Bund der klassenbewußten vorgeschrittenen
Kämpfer für die Befreiung der Arbeiterklasse. Ein solcher Bund kann
und darf sich gegenüber dem Fehlen des Klassenbewußtseins, gegenüber
der Unwissenheit und dem Irrsinn des religiösen Glaubens nicht gleichgültig
verhalten. Wir fordern die vollständige Trennung der Kirche vom Staat,
um gegen den religiösen Nebel mit rein geistigen und nur geistigen Waffen,
mit unserer Presse, mit unserem Wort, kämpfen zu können. Aber wir
haben unseren Bund, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands, unter
anderem gerade auch für einen solchen Kampf gegen jede religiöse Verdummung
der Arbeiter gegründet. Für uns ist der ideologische Kampf keine Privatsache,
sondern eine Angelegenheit der ganzen Partei, des gesamten Proletariats .
Unser Programm beruht ganz auf wissenschaftlicher, und zwar materialistischer
Weltanschauung. Die Erläuterung unseres Programms schließt daher
notwendig auch die Klarlegung der wahren historischen und ökonomischen
Wurzeln des religiösen Nebels ein. Unsere Propaganda schließt notwendigerweise
auch die Propaganda des Atheismus ein; die Herausgabe entsprechender wissenschaftlicher
Literatur, die bisher von der absolutistisch-feudalen Staatsmacht streng verboten
war und verfolgt wurde, muß jetzt einen Zweig unserer Parteiarbeit bilden.
Wir werden jetzt wahrscheinlich den Rat befolgen müssen, den Engels einmal
den deutschen Sozialisten erteilte: die französische atheistische und Aufklärungs-literatur
des 18. Jahrhunderts zu übersetzen und in Massen zu verbreiten...
Durch keine Broschüren, durch keine Propaganda kann man das Proletariat
aufklären, wenn es nicht durch seinen eigenen Kampf gegen die finsteren
Gewalten des Kapitalismus aufgeklärt wird. Die Einheitlichkeit dieses wirklichen
revolutionären Kampfes der unterdrückten Klasse für die Schaffung
eines Paradieses auf Erden ist uns wichtiger als die Einheitlichkeit der Meinungen
der Proletarier über das Paradies im Himmel.
Das ist der Grund, warum wir in unserem Programm nichts über unseren Atheismus
verlautbaren und nichts verlautbaren dürfen; das ist der Grund, warum wir
den Proletariern, die noch diese oder jene Überbleibsel der alten Vorurteile
bewahrt haben, die Annäherung an unsere Partei nicht verbieten und nicht
verbieten dürfen ...
Das revolutionäre Proletariat wird es durchsetzen, daß die Religion
für den Staat wirklich Privatsache wird. Und unter diesem vom mittelalterlichen
Moder gesäuberten politischen Regime wird das Proletariat einen großzügigen,
offenen Kampf für die Beseitigung der wirtschaftlichen Sklaverei, dieser
wahren Quelle der religiösen Verdummung der Menschheit, aufnehmen. (S.258-261)
Aus: Lenin Aus den Schriften 1895-1923. Herausgegeben
von Hermann Weber dtv dokumente 457 . Deutscher Taschenbuch Verlag, München
Gegen
alle Formen des Idealismus
Unparteilichkeit in der Philosophie ist
nichts anderes als schnöde maskierter Lakaiendienst für den Idealismus
und Fideismus [Gottesglaube] ...
Viertens kann man nicht umhin, hinter der erkenntnistheoretischen Scholastik
des Empiriokritizismus den Parteienkampf in der Philosophie zu sehen, einen Kampf, der in letzter Instanz
die Tendenzen und die Ideologie der feindlichen Klassen der modernen Gesellschaft
zum Ausdruck bringt. Die neueste Philosophie ist genau so parteilich, wie die
vor zweitausend Jahren. Die kämpfenden Parteien sind dem Wesen der Sache
nach, das man durch gelehrt-quacksalberische neue Namen oder durch geistesarme
Unparteilichkeit zu verhüllen sucht, der Materialismus und der Idealismus.
Der letztere ist nur eine verfeinerte, raffinierte Form des Fideismus, der in
voller Rüstung gewappnet dasteht, über gewaltige Organisationen verfügt
und nach wie vor unausgesetzt auf die Massen einwirkt, wobei er sich das geringste
Schwanken im philosophischen Denken zunutze macht. Objektiv, klassenmäßig
besteht die Rolle des Empiriokritizismus ausschließlich in Handlangerdiensten
für die Fideisten in deren Kampf gegen den Materialismus überhaupt
und gegen den historischen Materialismus insbesondere.
W. I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus
(1908); LW, Bd. 14, 1970, S. 360 u. S. 363
Auch enthalten in: Konfessionen des Marxismus, Quellentexte. Herausgegeben von
Gerhard Isermann. Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen S.60f.
Materialistische
Erklärung der Religion
Marxismus ist Materialismus. Als solcher steht er der Religion ebenso schonungslos
feindlich gegenüber wie der Materialismus der Enzyklopädisten des
18. Jahrhunderts oder der Materialismus Feuerbachs.
Das steht außer Zweifel. Aber der dialektische Materialismus von Marx
und Engels geht weiter als jener der Enzyklopädisten
und Feuerbachs, denn er wendet die materialistische Philosophie auf das Gebiet
der Geschichte, auf das Gebiet der Gesellschaftswissenschaften an. Wir
müssen die Religion bekämpfen. Das ist das Abc des gesamten
Materialismus und folglich auch des Marxismus. Aber der Marxismus ist kein Materialismus,
der beim Abc stehen geblieben ist.
Der Marxismus geht weiter. Er sagt: Man muß verstehen, die Religion zu bekämpfen, dazu aber ist es notwendig, den Ursprung, den
Glauben und Religion unter den Massen haben, materialistisch zu erklären.
Den Kampf gegen die Religion darf man nicht auf abstrakt-ideologische
Propaganda beschränken, darf ihn nicht auf eine solche Propaganda
reduzieren, sondern er muß in Zusammenhang gebracht werden mit der konkreten
Praxis der Klassenbewegung, die auf die Beseitigung der
sozialen Wurzeln der Religion abzielt. Warum findet die Religion in den
rückständigen Schichten des städtischen Proletariats, in breiten
Schichten des Halbproletariats und auch in der Hauptmasse der Bauernschaft noch
Boden? Wegen der Unwissenheit des Volkes, antwortet der bürgerliche Fortschrittler,
der Radikale oder der bürgerliche Materialist.
Also, nieder mit der Religion, es lebe der Atheismus,
die Verbreitung atheistischer Anschauungen ist unsere Hauptaufgabe.
Der Marxist sagt: Das ist falsch. Eine solche Auffassung
ist oberflächliche, bürgerlich beschränkte Kulturbringerei. Eine
solche Auffassung erklärt die Wurzeln der Religion nicht gründlich
genug, nicht materialistisch, sondern idealistisch. In den modernen kapitalistischen
Staaten sind diese Wurzeln hauptsächlich
sozialer Natur. Die soziale Unterdrückung
der werktätigen Massen, ihre scheinbar völlige Ohnmacht gegenüber
den blind waltenden Kräften des Kapitalismus, der den einfachen arbeitenden
Menschen täglich und stündlich tausendmal mehr entsetzlichste Leiden
und unmenschlichste Qualen bereitet als irgendwelche außergewöhnlichen
Ereignisse wie Kriege, Erdbeben usw. - darin liegt heute die tiefste Wurzel
der Religion. »Die Furcht hat die
Götter erzeugt«.
Die Furcht vor der blind wirkenden Macht des Kapitals, blind, weil ihr Wirken
von den Volksmassen nicht vorausgesehen werden kann und dem Proletarier und
dem Kleineigentümer bei jedem Schritt ihres Lebens den »plötzlichen«,
»unerwarteten«, »zufälligen« Ruin, den Untergang,
die Verwandlung in einen Bettler, einen Pauper [Armer], eine Prostituierte, den Hungertod zu bringen droht und auch tatsächlich
bringt - das ist jene Wurzel
der heutigen Religion, die der Materialist vor
allem und am meisten beachten muß, wenn er nicht ein Abc-Schütze
des Materialismus bleiben will. Keine Aufklärungsschrift
wird die Religion aus den Massen austreiben, die, niedergedrückt
durch die kapitalistische Zwangsarbeit, von den blind waltenden, zerstörerischen
Kräften des Kapitalismus abhängig bleiben, solange diese Massen nicht
selbst gelernt haben werden, diese Wurzel
der Religion, die Herrschaft des Kapitals
in all ihren Formen vereint, organisiert, planmäßig,
bewußt zu bekämpfen.
W. I. Lenin: Über das Verhältnis der Arbeiterpartei
zur Religion; in: Proletari, Nr. 45, vom 26. 5. 1909; LW, Bd. 15, 1970, S. 407
f.
Auch enthalten in: Konfessionen des Marxismus, Quellentexte. Herausgegeben von
Gerhard Isermann. Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen S.61-63
Gegen
die Gottsucherei Maxim Gorkis
Lieber Alexej Maximowitsch!
Was stellen Sie bloß an? Einfach entsetzlich, wahrhaftig!
Gestern las ich in der »Retsch« Ihre
Antwort auf das »Geheul« wegen
Dostojewski und wollte mich schon freuen, aber heute trifft die Zeitung
der Liquidatoren ein, und dort ist ein Absatz Ihres
Artikels abgedruckt, der in der »Retsch«
fehlte.
Dieser Absatz lautet:
»Die >Gottsucherei< aber
muss eine Zeitlang« (nur
eine Zeitlang?) »eingestellt werden - das
ist eine nutzlose Beschäftigung: es gibt nichts zu suchen, wo man nichts
hingelegt hat. Wer nicht säet, wird auch nicht ernten. Ihr habt keinen
Gott, ihr habt ihn noch« (noch!) »nicht
erschaffen. Götter sucht man nicht - man erschafft sie; das Leben wird nicht erdacht, sondern erschaffen«.
Daraus ergibt sich, dass Sie nur »eine Zeitlang«
gegen »Gottsucherei« sind!! Daraus
ergibt sich, dass Sie nur deshalb
gegen die Gottsucherei sind, um sie durch die Gottbildnerei
zu ersetzen!!
Nun, ist es denn nicht entsetzlich, dass so etwas bei Ihnen herauskommt?
Die Gottsucherei unterscheidet sich von der Gottbildnerei oder von der Gottmacherei
oder der Götterschafferei u. dgl. m. nicht um ein Tüpfelchen mehr,
als sich ein gelber Teufel von einem blauen unterscheidet. Von Gottsucherei
zu sprechen, nicht um gegen alle Teufel und Götter,
gegen jede geistige Leichenschändung aufzutreten (jeder Gott ist Leichenschändung, mag es auch der allerreinste, idealste,
nicht zu suchende, sondern zu erschaffende Gott sein, das ist einerlei),
sondern um eine blauen Teufel einem gelben vorzuziehen,
das ist hundertmal schlimmer als überhaupt nichts zu sagen.
W. I. Lenin: Brief an Alexij Maximowitch Peschkow,
genannt Gorki, vom 14. 11. 1913; LW, Bd. 35, 1971, S. 98 f.
Auch enthalten in: Konfessionen des Marxismus, Quellentexte. Herausgegeben von
Gerhard Isermann. Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen S.63
Der
Narr in Christo: Tolstoi
In den Werken, Anschauungen, Lehren, in der Schule Tolstois
sind tatsächlich schreiende Widersprüche enthalten.
Einerseits ein genialer Künstler, der nicht nur unvergleichliche Bilder
aus dem russischen Leben, sondern auch erstklassige Werke der Weltliteratur
geschaffen hat.
Anderseits ein Gutsbesitzer, der sich als Narr in Christo
gefällt.
Einerseits ein wunderbar starker, unmittelbar und aufrichtiger Protest gegen
gesellschaftliche Verlogenheit und Heuchelei, anderseits ein »Tolstoianer«,
d. h. ein verschlissener, hysterischer Jammerlappen, russischer Intellektueller
geheißen, der sich öffentlich an die Brust schlägt und sagt: »Ich bin schlecht, ich bin ekelhaft, aber ich lasse
mir die sittliche Selbstvervollkommnung angelegen sein: ich esse kein Fleisch
mehr und nähre mich jetzt von Reiskoteletts«.
Einerseits schonungslose Kritik an der kapitalistischen Ausbeutung, Entlarvung
der Gewalttaten der Regierung, der Justiz- und Staatsverwaltungskomödie,
Enthüllung der ganzen Tiefe der Widersprüche zwischen dem Anwachsen
des Reichtums sowie der zivilisatorischen Errungenschaften und dem Anwachsen
der Armut, der Verwilderung und der Qualen der Arbeitermassen;
anderseits eine verzückt-wahnsinnige Predigt des »Verzichts
auf« gewaltsamen »Widerstand gegen das Böse«.
Einerseits nüchternster Realismus, Herunterreißen jeglicher Masken;
anderseits Predigt eines der abscheulichsten Dinge,
die es überhaupt auf der Welt gibt, nämlich der Religion, das Bestreben, die Pfaffen mit behördlicher Bestallung zu ersetzen durch
Pfaffen aus sittlicher Überzeugung, d. h. Kultivierung der raffiniertesten
und deshalb besonders widerwärtigen Pfäfferei.
W. I. Lenin: Leo Tolstoi als Spiegel der russischen
Revolution; in: Proletari, Nr. 35, 24. 9. 1908; LW, Bd. 15, 1970, S. 198
Auch enthalten in: Konfessionen des Marxismus, Quellentexte. Herausgegeben von
Gerhard Isermann. Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen S.61