Michael Jurjewitsch Lermontow (1814 – 1841 Duell)

  Russischer Dichter und Offizier, der wegen eines Gedichts über den Tod Alexander Puschkins 1837 in den Kaukasus versetzt wurde. Lermontows Lyrik ist stark ich-bezogen und neigt zu dämonisierender Selbststilisierung (»Mein Dämon«). Sein Vorbild in thematischer und technischer Hinsicht ist Lord Byron.

Siehe auch Wikipedia
 

Inhaltsverzeichnis

Nein, ich bin nicht Byron (1832)
Mein Dämon (1829)
Der Tod (1830)
Der Engel (1831)
Wie der Geist der Verzweiflung und des Bösen (1831)
  Der Tod des Dichters (1837)
… und im Himmel sehe ich Gott (1837)
Kosakisches Wiegenlied (1838)
Gebet (1839)
Der Prophet (1841)

Nein, ich bin nicht Byron (1832)
Nein, ich bin nicht Byron, ich bin ein anderer,
ein noch unbekannter Auserwählter,
wie er ein von der Welt gejagter Wanderer,
jedoch mit einer russischen Seele.
Ich habe früher begonnen, werde früher enden,
mein Verstand wird nicht viel vollbringen;
in meiner Seele liegt, wie im Ozean,
die Last zerschlagener Hoffnungen.
Wer, mürrischer Ozean,
vermag deine Geheimnisse zu ergründen? Wer
vermöchte der Menge meine Gedanken mitzuteilen?

Ich bin ein Gott — oder niemand! S.59

Mein Dämon (1829)
Eine Ansammlung von Asche ist sein Element.
Zwischen rauchigen Wolken dahintreibend,
liebt er schicksalhafte Stürme,
den Schaum der Flüsse und das Rauschen dichter Wälder.
In gelben, abgefallenen Blättern
steht sein regloser Thron;
auf ihm, zwischen erstorbenen Winden,
sitzt er finster und verzagt.
Er flößt Mißtrauen ein,
die reine Liebe hat er verachtet,
jegliche Gebete verwirft er,
gleichgültig blickt er auf Blut,
den Klang hoher Empfin¬dungen
erstickt er mit der Stimme der Leidenschaften,
und die Muse sanfter Eingebung
ängstigt sich vor seinen unirdischen Augen
. S.9

Der Tod (1830)
Gerissen ist die Kette des jungen Lebens,
beendet ist der Weg, die Stunde schlug, es ist Zeit heimzukehren,
Zeit dorthin zu gehen, wo es keine Zukunft gibt,
weder Vergangenheit noch Ewigkeit, noch Jahre;
wo es weder Erwartungen noch Leidenschaften,
weder bittere Tränen noch Ruhm, noch Ehren gibt;
wo die Erinnerung einen tiefen Schlaf schläft
und das Herz im engen Hause des Grabes
nicht fühlt, daß der Wurm an ihm nagt.
Es ist Zeit. Ich bin müde von den irdischen Sorgen.
Verlocken mich vor dem Ende denn erneut
der Lärm geistloser Vergnügungen,
die Foltern nutzloser Gedanken,
die selbstsüchtige Menge,
die vor Klugheit dumm ist,
die hinterlistige Liebe der Mädchen?
Will ich wirklich wieder leben,
um in der Seele wie früher zu leiden
und genauso viel zu lieben? Allmächtiger Gott,
du wußtest: ich konnte nicht länger leiden;
wenn mich auch die ganze Hölle ergreifen wird,
wenn ich auch Qualen leiden werde, ich bin froh, ich bin froh,
und seien es auch doppelt so viele wie in vergangenen Tagen —
aber nur fort, fort von den Menschen
. S.33

Der Engel (1831)
Über den mitternächtlichen Himmel flog ein Engel,
und er sang ein stilles Lied;
und der Mond und die Sterne und die Wolken in Scharen
lauschten jenem heiligen Lied.

Er sang von der Seligkeit unschuldiger Geister
unter den Zelten paradiesischer Gärten;
er sang vom großen Gott, und sein Lob
war nicht geheuchelt.

Er trug eine junge Seele in den Armen
für die Welt der Trauer und der Tränen;
und der Klang seines Liedes blieb in der jungen Seele
wortlos, doch lebendig.

Und sie quälte sich lange auf der Welt,
von einem wunderbaren Wunsch erfüllt;
und die langweiligen Lieder der Erde
konnten ihr die Klänge des Himmels nicht ersetzen
. S.51

Wie der Geist der Verzweiflung und des Bösen (1831)
Wie der Geist der Verzweiflung und des Bösen,
so hast du meine Seele umfangen;
ach, warum kannst du sie
mir nicht ganz nehmen?

Meine Seele ist dein ewiger Tempel;
wie die Gottheit, so ist in ihm dein Bild;
nicht vom Himmel, nur von ihm
erwarte ich meine Rettung
. S.55

Der Tod des Dichters (1837)
Umgekommen ist der Dichter! Als Sklave der Ehre
ist er gefallen, verleumdet vom Gerücht,
mit Blei in der Brust und dem Durst nach Rache,
beugend sein stolzes Haupt! ...
Die Seele des Dichters hatte
die Schmach kleinlicher Kränkungen nicht mehr ertragen,
er hatte sich erhoben gegen die Meinungen der Gesellschaft,
allein wie schon immer... und er wurde getötet!
Getötet‘ wozu jetzt das Weinen,
der unnütze Chor leerer Lobeshymnen
und das klägliche Gestammel der Rechtfertigung?
Das Urteil des Schicksals wurde vollstreckt!
Habt ihr nicht eben noch auf infame Weise
seine freie, kühne Begabung gejagt
und den kaum verborgenen Brand
zum Spaß angefacht?
Nun, so vergnügt euch denn ... er vermochte die letzten
Peinigungen nicht zu ertragen:
Einer Fackel gleich erloschen ist der herrliche Genius,
verwelkt ist der triumphale Kranz.

Kaltblütig hat sein Mörder
den Schlag geführt ... eine Rettung gab es nicht:
Gleichmäßig schlägt das leere Herz,
die Pistole zittert nicht in der Hand.
Und was ist daran auch so erstaunlich? ... aus der Ferne,
Hunderten anderen Flüchtlingen gleich,
wurde er auf der Jagd nach Glück und Karriere
nach dem Willen des Schicksals zu uns verschlagen,
lächelnd verachtete er frech
Sprache und Sitte des fremden Landes,
konnte ihn, der unser Ruhm war, nicht verschonen;
vermochte in jenem blutigen Augenblick nicht zu begreifen,
wogegen er seine Hand erhob!

Und er wurde getötet — und aufgenommen vom Grab,
wie jener unbekannte, doch liebenswürdige Sänger,
eine Beute gefühlloser Eifersucht,
besungen von ihm mit so wunderbarer Kraft,
von einer erbarmungslosen Hand gefällt, wie auch er.

Warum nur trat er aus den friedlichen Wonnen und der aufrichtigen Freundschaft
ein in diese neidische Welt, so bedrückend
für ein freies Herz und feurige Leidenschaften?
Warum reichte er nichtswürdigen Verleumdern die Hand,
warum schenkte er lügnerischen Worten und Schmeicheleien Glauben,
er, der doch von jungen Jahren an die Menschen durchschaut hatte?

Und sie nahmen ihm den einstigen Kranz — eine Dornenkrone,
mit Lorbeer umwunden, setzten sie ihm auf:
Doch verborgene Nadeln verletzten
roh seine ruhmreiche Stirn;
vergiftet wurden seine letzten Augenblicke
durch das hinterhältige Geflüster höhnischer Ignoranten,
und er starb mit dem vergeblichen Durst nach Rache,
mit dem geheimen Verdruß betrogener Hoffnungen.
Verstummt sind die Klänge seiner wunderbaren Lieder,
sie werden nie mehr erklingen: Düster und eng ist die Heimstatt des Sängers,
und auf seinen Lippen liegt ein Siegel.

Ihr aber, ihr hochmütigen Nachkommen
eurer für ihre notorische Schurkerei berühmten Väter,
die ihr mit sklavischem Fuß jene erledigt habt,
die von den durch die Laune des Schicksals gekränkten Geschlechtern übriggeblieben waren!
Ihr, die ihr am Thron steht als gierige Schar,
Henker von Freiheit, Genie und Ruhm!
Ihr verbergt euch hinter dem schützenden Gesetz,
vor euch müssen Gericht und Wahrheit, muß alles schweigen ...
Doch gibt es ein göttliches Gericht, ihr Lieblinge des Lasters!
Es gibt ein furchteinflößendes Gericht: Es erwartet euch;
das wird nicht weich beim Klang des Goldes,
und die Gedanken und Taten kennt es im voraus.
Vergebens werdet ihr dann eure Zuflucht bei der Verleumdung suchen:
Noch einmal wird sie euch nicht helfen,
und mit all eurem schwarzen Blut werdet ihr nicht fortwaschen

das gerechte Blut des Dichters! S.67f.

… und im Himmel sehe ich Gott (1837)
Wenn die gelb werdende Flur wogt,
der kühle Wald beim Säuseln des Windes rauscht
und sich die himbeerfarbene Pflaume im Garten verbirgt
unter dem wonnigen Schatten eines grünen Blattes;

wenn mir, vom duftigen Tau benetzt,
am rötlichen Abend oder in goldener Morgenstunde,
unter dem Strauch hervor das silberne Maiglöckchen
freundlich mit dem Köpfchen zunickt;

wenn die eisige Quelle eilig durch die Schlucht rinnt
und. den Gedanken in einen wirren Traum versenkend,
mir eine geheimnisvolle Sage zuraunt
über ein friedliches Land, aus dem sie herbeieilt —

dann wird die Unruhe meiner Seele besänftigt, dann
schwinden die Falten auf meiner Stirn —
und ich kann das Glück auf der Erde begreifen,
und im Himmel sehe ich Gott ...
S.83

Kosakisches Wiegenlied (1838)
Schlafe, mein schöner Knabe,
eiapopeia.
Still schaut der helle Mond
in deine Wiege.
Ich werde Märchen erzählen,
ein Lied singen;
du aber schlummere mit geschlossenen Äuglein,
eiapopeia.

Über die Steine strömt der Terek,
plätschert die trübe Welle;
der böse Tschetschene kriecht ans Ufer,
er schärft seinen Dolch;
aber dein Vater ist ein alter Krieger,
im Kampfe gestählt:
Schlafe, mein Kleiner, sei ruhig,
eiapopeia.


Es wird eine Zeit kommen,
da wirst du selbst das Kriegerleben kennenlernen;
kühn wirst du den Fuß in den Steigbügel setzen
und das Gewehr nehmen.
Ich werde den Kampfsattel
mit Seide besticken ...
Schlafe, mein liebes Kind,
eiapopeia.

Aussehen wirst du wie ein Held
und das Herz eines Kosaken haben.
Ich werde dich begleiten gehen —
du wirst abwinken ...
Wieviel bittere Tränen werde ich heimlich
In jener Nacht vergießen!
Schlafe, mein Engel, friedlich und süß,
eiapopeia.

Ich werde mich in Trauer verzehren,
ohne Trost warten;
ich werde den ganzen Tag beten,
in den Nächten Karten legen;
ich werde denken, daß du Sehnsucht spürst
im fremden Land ...
Schlafe, solange du keine Sorgen kennst,
eiapopeia.

Ich werde dir ein heiliges Ikonenbild
auf den Weg geben:
Stelle es vor dich hin,
wenn du zu Gott betest;
und wenn du dich zu einem gefährlichen Kampf rüstest,
denke an deine Mutter …
Schlafe, mein schönes Kindlein,
eiapopeia
. S.89f.

Gebet (1839)
Zieht sich in einem schweren Augenblick des Lebens
das Herz vor Gram zusammen,
so spreche ich aus dem Ge¬dächtnis
ein wunderbares Gebet.

Der Klang dieser lebendigen Worte
enthält eine heilsame Kraft,
in ihnen weht ein unbegreiflicher,
heiliger Zauber.

Es ist, als falle einem eine Last von der Seele,
der Zweifel ist fern —
man glaubt und man weint,
und es wird einem so leicht, so leicht.
S.93

Der Prophet (1841)
Seit der ewige Richter
mir die Allwissenheit des Propheten verlieh,
lese ich in den Augen der Menschen
ganze Seiten von Bosheit und Laster.

Zu verkünden begann ich der Liebe
und der Wahrheit reine Lehren:
Da warfen alle meine Nächsten
wie rasend Steine auf mich.

Ich streute mir Asche aufs Haupt,
arm und bloß lief ich fort von den Städten
und lebe jetzt in der Wüste,
wie die Vögel, von der Gabe göttlicher Speise;

ich bewahre das ewige Vermächtnis,
gehorsam ist mir dort die irdische Kreatur,
und die Sterne hören auf mich
und spielen freudig mit ihren Strahlen.

Bahne ich mir aber rasch
meinen Weg durch die laute Stadt,
dann sagen die Alten zu den Kindern
mit selbstgefälligem Lächeln:

»Seht mal: Das diene euch als Beispiel!
Er war stolz, vertrug sich nicht mit uns.
Dieser Dummkopf wollte uns weismachen,
daß durch seinen Mund Gott spreche!

Schaut ihn nur an, Kinder:
Wie unwirsch er ist, wie dürr und bleich!
Seht nur, wie nackt und arm er ist,
und wie alle ihn verachten!«
S.127f.
Aus: Michael Lermontow, Gedichte, Russisch/Deutsch Übersetzt von Kay Borowsky und Rudolf Pollach. Anmerkungen von Kay Borowsky. Nachwort von Johanna Renate Döring-Smirnov
Reclams Universalbibliothek Nr. 3051. © 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages