Friedrich Christian Lesser (1692 – 1754)
Deutscher (evangelischer) Prediger, Hobby-Naturforscher und Historiker, der dem Pietismus nahe stand. Lesser ist Hauptvertreter der physikotheologischen Bewegung, für die – neben der heiligen Schrift - die aufmerksame Betrachtung und Erforschung der Natur, die als wunderbarer Spiegel und lebendiges Buch Gottes angesehen wird, ein probates Mittel für die Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis ist.

Siehe auch Wikipedia

Die Natur als Spiegel der Herrlichkeit Gottes
Es hat sich der Große GOTT in zwei Büchern offenbaret, deren das eine ist das Buch der Heiligen Schrift, das andere das Buch der Natur. Ob nun zwar jenes eine vollkommen genug, GOttes Eigenschaften und den Weg der Seligkeit daraus erkennen zu lernen, dieses aber darzu keinesweges hinlänglich; so hat sich dennoch der weise Schöpfer in denen Werken der Natur nicht unbezeigt gelassen, so daß ein aufmerksamer Betrachter derer Wunder GOttes in denselben kann dadurch aufgemuntert werden, die Tugenden GOttes zu erkennen und zu preisen.

Wenn wir die ganze Natur ansehen, so ist sie, wie Basilius M. Hexaem. Homil. XI saget, nichts anders als ein Buch mit Buchstaben geschrieben, welches öffentlich die Herrlichkeit GOttes beweiset und preiset, und dessen sonst große verborgene und unsichtbare Majestät verkündiget. Ein Buch GOttes, in welchem wir fleißig lesen sollen. Sie ist ein Katechismus, der uns die ersten Buchstaben von der Erkenntnis Gottes lehrt; ein Brief, in welchem die Eigenschaften GOttes teils mit leserlichen, teils mit unleserlichen Buchstaben angeschrieben worden. Ja, die ganze Natur ist eine Schule, in welcher uns aus diesem großen Buche täglich Lectiones aufgegeben werden, GOtt daraus zu erkennen.

Es ist aber dies Buch nicht hinlänglich genug, uns so viele Erkenntnis GOttes, als zu unserer Seligkeit gehöret, beizubringen, dieweil es von dem großen Erlösungs-Werke, so durch Jesum Christum geschehen ist, uns keine Nachricht gibt, auf welchem doch der Grund unserer Seligkeit beruhet. Gleichwohl aber hat es diesen Nutzen, daß es uns überhaupt von der Existenz GOttes und dessen Eigenschaften unterrichtet, und uns antreibet, eine hinlänglichere Erkenntnis zu suchen.... Eine jegliche Kreatur ist gleichsam eine Leiter, auf deren Spalen [Sprossen] wir immer weiter zu göttlichen Dingen aufsteigen. Der Tempel zu Jerusalem hatte 3 Teile: den Vorhof, das Heilige, und Allerheiligste. ... Die Natur ist gleichsam der Vorhof, in welchen alle Menschen gehen können, zu schauen die Werke des HErrn. Gehet der Mensch hier mit reiflicher Erwägung durch, so gelanget er in das Heiligtum der Heiligen Schrift, in dem er noch mehr siehet, hütet und lernet, bis er endlich durch einen seligen Tod in das Allerheiligste des Himmels kommt, da dieses sein Wissen nicht mehr Stückwerk, sondern Vollkommenheit ist. ... Wir sind natürliche Menschen, ehe wir geistliche Christen werden. Dannenhero muß die natürliche Erkenntnis aus dem Buche der Welt der Ordnung nach der geistlichen Erkenntnis der Heiligen Schrift vorgehen.

Stumme Bilder, so von Menschen gemacht sind, sind oftmals Lehrmeister der Eitelkeit und Lügen. Allein die Geschöpfe, die von GOTT gemacht sind, sind Führer zu den göttlichen Werken. Menschen, die Vernunft, und Christen, die nebst der Vernunft auch Gnade haben, können von denen stummen Geschöpfen lehrende Stimmen empfangen, und lernen, was sie nicht wissen.

Aber die meisten Menschen sind mit sehenden Augen blind, und schauen nicht einmal das, was vor ihren Füßen ist, geschweige das, was zukünftig ist. Sie sehen die meisten Geschöpfe an, wie die Kuh das neue Tor, ohne reifliches Erwägen und tieferes Einsehen, und finden darinne nicht, was ihnen vor Augen liegt, geschweige denn, was darinnen verborgen liegt. ...

Ob nun wohl überhaupt einem jeglichen Menschen nötig, im Buch der Natur zu studieren, so ist doch insonderheit einem Theologo vor andern unentbehrlich, nebst gründlicher Erkenntnis anderer Wissenschaften, sonderlich die Natur-Wissenschaft daraus zu lernen. Denn ohne dieselbe wird er nicht imstande sein, denen atheistischen Spöttern recht zu begegnen; da im Gegenteil er ihnen ehe beikommen kann, wenn er geschickt ist, ihnen aus dem großen Buch der Natur, weil sie doch das Buch der Heil. Schrift mutwillig verwerfen, die vernünftige Harmonie, die weise Ordnung und den abgezielten Endzweck jeglicher Kreaturen, welches alles ein verständiges Wesen, so sie darzu geordnet, voraussetzet, vor die Augen zu legen. Ohne dieselbe wird er die in Heil. Schrift so oft vorkommende Wunderwerke nicht recht erklären können. Denn da diese solche Werke sind, die über die gemeinen Gesetze der Natur, welche GOTT geordnet, geschehen, wird er dieselbe nicht beurteilen können, wenn er nicht erst weiß, was durch die Natur, oder über die Natur, wenn GOttes Weisheit derselben Gesetze bei Ausübung derer Wunder suspendieret, geschehe. Ja, er wird oft aus einem schädlichen Aberglauben Wunder dichten, da keine sind. Ohne dieselbe wird er nicht imstande sein, viele Gleichnisse der Heil. Schrift deutlich aufzulösen, wo er nicht die Eigenschaft derer Dinge, von welchen aus dem dreifachen Reiche der Natur die Gleichnisse hergenommen, kennet. Denn wie will er sonst die tertia comparationis finden? ...

Meine Absicht ... ist zuvörderst, die Ehre GOttes, welche auch sogar die stummen Steine erzählen, nach Möglichkeit befördern zu helfen. Sodenn denen Unwissenden, die sich gewundert, warum die Steine unter andern so sorgfältig sammle und aufhebe? zu zeigen, was für geistliche gute Betrachtungen, wo man nicht härter als ein Stein ist, man dabei haben könne. ...
Man möchte zwar sagen, die Steine wären allzugeringe Geschöpfe, als daß man aus denenselben die göttliche Eigenschaften in Betrachtung ziehen könnte. Allein da auch in dem geringsten Geschöpfe die Größe GOttes hervorleuchtet, so hat sie sich auch in diesen Geschöpfen nicht unbezeigt gelassen ...
Aus: Friedrich Christian Lesser: Lithotheologie, das ist: Natürliche und geistliche Betrachtung derer Steine. Hamburg: Brandt, 1735. S. IX bis XIII, XVII, XXV, XXVIII (§§ 1 - 4, 6, 10, 12).
Text auch enthalten in: Die Philosophie der deutschen Aufklärung, Texte und Darstellung von Raffaele Ciafardone
Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinke und Rainer Specht
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8667 (S.220-223)
© 1990 Philipp Reclam jun., Stuttgart

Die Testaceotheologie
Was die funkelnde Sterne dem blauen Gewölbe des Himmels, die buntbemalten Blumen den Gärten, das sind die steinschalichten Tierlein dem Meere. Die Schönheit dieser Lieblinge des Meeres ist bloß zu diesem Zweck vor unsere Augen gestellet, daß sie solche auf diese sonst verächtliche Tierlein lenken soll. ... Alles Regelmaß der Schalen, alle Vermischung der prächtigen und lebhaften Farben würde umsonst darangewendet sein, wenn wir aus Unachtsamkeit die Augen dafür vorbeigehen ließen. ...

Es ist aber die von Gott gewirkte Natur nicht einmal damit zufrieden gewesen, denen Gehäusen unserer Tierlein nur mit einfachen Farben eine Zierde zu geben, sondern sie hat auch auf viele eine große Verschwendung (wenn ich so reden darf) oder vielmehr reichen Überfluß von tausend wunderbar vermengten Farben gewendet. Es erscheinen darauf alle glänzende Schönheiten der Edelgesteine mit so großer Vermischung der Farben, daß es scheint, die Natur, oder vielmehr der HErr der Natur, habe mit seiner Weisheit insbesondere mit denenselben gespielt.

Keine Worte sind hinlänglich, die Schönheit und den schönsten Glanz derselben recht auszudrucken. Die erstaunenswürdige Mannigfaltigkeit, der unvergleichliche Schmelz, die entzückende Lieblichkeit ihrer künstlichen Schattierungen setzen ein anschauendes Auge in die tiefste Verwunderung. Mit was vor Freigebigkeit sind hier nicht die Zieraten verschwendet worden? Die Verschiedenheit so mannigfaltiger Farben ist so unvermerkt vermischt, daß solches kein scharfer Sinn begreifen, und keine Kunst nachahmen kann.

Woher soll nun diese Schönheit anders herrühren als von GOtt, dem Urheber dieser Tierlein?... Gewiß, die Allmacht GOttes wird auf den Schalen der steinschalichten Tierlein durch die Farben recht mit lebendigen Farben abgemalt. Es ist aus der Naturlehre bekannt, daß die Verschiedenheit der Farben eines natürlichen Dinges von der natürlichen Zurückwerfung und Brechung der Lichtesstrahlen herrühret Wie besonders und mannigfaltig muß dennoch nicht die Beschaffenheit und Zusammenfügung solcher bemalten Schalen sein, die von einem Stoff zu sein scheinen.... Die besten Vergrößerungsgläser haben bis daher den Unterschied der Teile und ihre Lage des Schalenhäutehens, worauf die Farben erscheinen, noch nicht entdecken können. Wie groß muß demnach nicht die herrliche Macht des Schöpfers sein ...? ...

Alle Schönheit, welche GOtt auf diese Tierlein und andere Geschöpfe geleget, ist, an sich betrachtet, was Gutes. Weil GOtt das vollkommenste Wesen ist, so muß auch in ihm die Schönheit vollkommen sein. Da er aber ein Geist ist, so muß seine Schönheit seiner Natur gemäß, das ist, geistlich sein. Die untrüglichen Schriften des Geistes GOttes sagen dannenhero mit Recht von ihm: Du bist schön und prächtig geschmückt. Ps. 104,1. Schönheit aber ziehet aller Augen an sich ... So denn nun eine irdische Schönheit, welche doch nur ein Tröpflein gegen die Schönheit GOttes ist, ... uns zur Liebe GOttes reizen kann; wie viel mehr sollten wir GOtt lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von allem Vermögen, da bei ihm alle Vollkommenheit und Unendlichkeit der Schönheit zu finden ist. Handele demnach als ein weiser Christ, und laß dich die Schönheit dieser kleinen Tierlein zur Liebe deines allerschönsten Schöpfers leiten. Erwäge, daß die vorrrefflichste Schönheit aller Geschöpfe ... nur ein kleines Fünklein gegen das unermeßliche Licht der Schönheit GOttes [ist]. ...

Nun frage man: ob diese Farben an allen diesen Geschöpfen zu ihrem Wesen gehören? Man wird allerdings mit Nein antworten müssen. Eine Blume würde dennoch eine Blume; ... eine Schnecke oder Muschel dennoch eine Schnecke oder Muschel bleiben, wenn sie gleich so schöne Farben nicht hätten. ... Wäre nur der einzige Zweck, daß sie sich fortpflanzen sollten, oder daß einige uns zur Speise dienen sollten; so hätte gewiß GOtt nicht nötig gehabt, sie durch ... den angenehmen Glanz ihrer frischen Farben und durch die ausnehmende Schönheit unsern Augen reizend zu machen Es kann demnach ein aufgeklärter Sinn in diesen Schönen den Schöpfer in der Größe seiner Güte sehen ... Bleib aber bei der bloßen Bewunderung nicht stehen, sondern lobe auch mit Herz und Munde den, welcher dich auch bis zu deinen Vergnügen liebet. Können unsere buntgemalte Tierlein den Schöpfer mit ihren Zungen nicht loben, so haben doch ihre lebhaften Farben eine stille Rede an unser Gemüt: GOtt ist gütig....

... so oft ich das unermeßliche Meer der mannigfaltigen Schönheiten überdenke, die GOtt so überflüssig auf solche gering geachtete Tierlein, welche in wenig Jahren versterben, ausschüttet ..., denke [ich] weiter: Tut das GOtt an einem sterblichen Tiere, was wird er nicht an deiner unsterblichen Seele tun? Da er schon hier sich erbeut, durch die Wiedergeburt, durch die Rechtfertigung und durch die Erneuerung den Anfang zur Schönheit der Seelen zu machen. Wie schön wird dort nicht der Verstand derselben sein, wenn er, von aller Unwissenheit befreiet, eine vollkommene aufgeklärte Erkenntnis GOttes haben wird? Wie schön wird nicht alsdenn der Wille sein, wenn er von den Flecken sündlicher Einwohnung und Halsstarrigkeit entlediget, den schönsten GOtt vollkommen ergriffen haben und genießen wird. Wie schön werden nicht alsdenn die Gemütsbewegungen sein, wenn sie, in die schönste Ordnung gebracht, auf das lieblichste zu dem ewigen Halleluja des schönsten GOttes übereinstimmen werden?
Aus: Friedrich Christian Lesser, Testaceotheologie, oder: Gründlicher Beweis des Daseins und der vollkommenen Eigenschaften eines göttlichen Wesens, aus natürlicher und geistlicher Betrachtung der Schnecken und Muscheln. Leipzig: Blochberger, 1744. S.685, 694f., 712-714, 716f., 723f., (§§221, 225, 233-236,239)
Text auch enthalten in: Die Philosophie der deutschen Aufklärung, Texte und Darstellung von Raffaele Ciafardone
Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinke und Rainer Specht
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8667 (S.223-226)
© 1990 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages