Gotthold Ephraim Lessing (1729 –1781)

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Inhaltsverzeichnis

Dem Namen nach Christen zu sein
Gemälde von dem Begräbnisse Christi
Christus - ein von Gott erleuchteter Lehrer
Die Religion Christi
Die Erziehung des Menschengeschlechts
Thesen zur Kirchengeschichte
Neue Hypothese über die Evangelisten

Dem Namen nach Christen sein

Du kennst die Christen nicht, willst sie nicht kennen.
Ihr Stolz ist: Christen sein; nicht Menschen. Denn
Selbst das, was, noch von ihrem Stifter her,
Mit Menschlichkeit den Aberglauben würzt,
Das lieben sie, nicht weil es menschlich ist:
Weils Christus lehrt; weils Christus hat getan. -
Wohl ihnen, dass er ein so guter Mensch
Noch war! Wohl ihnen, dass sie seine Tugend
Auf Treu und Glaube nehmen können! - Doch
Was Tugend? - Seine Tugend nicht; sein Name
Soll überall verbreitet werden; soll
Die Namen aller guten Menschen schänden,
Verschlingen. Um den Namen, um den Namen
Ist ihnen nur zu tun.

Aus: Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise, Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen
Reclams Universalbibliothek Nr. 3 (S.39) © 1964, 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages

Gemälde von dem Begräbnisse Christi
Pordenone lässt, in einem Gemälde von dem Begräbnisse Christi, einen von den Anwesenden die Nase sich zuhalten. Richardson missbilliget dieses deswegen, weil Christus noch nicht so lange tot gewesen, daß sein Leichnam in Fäulung übergehen können. Bei der Auferweckung des Lazarus hin gegen, glaubt er, sei es dem Maler erlaubt, von den Umstehenden einige so zu zeigen, weil es die Geschichte ausdrücklich sage, daß sein Körper schon gerochen habe. Mich dünkt diese Vorstellung auch hier unerträglich; denn nicht bloß der wirkliche Gestank, auch schon die Idee des Gestankes erwecket Ekel. Wir fliehen stinkende Orte, wenn wir schon den Schnupfen haben. Doch die Malerei will das Ekelhafte, nicht des Ekelhaften wegen; sie will es, so wie die Poesie, um das Lächerliche und Schreckliche dadurch zu verstärken. Auf ihre Gefahr! Was ich aber von dem Häßlichen in diesem Falle angemerkt habe, gilt von dem Ekelhaften um so viel mehr. Es verlieret in einer sichtbaren Nachahmung von seiner Wirkung ungleich weniger, als in einer hörbaren; es kann sich also auch dort mit den Bestandteilen des Lächerlichen und Schrecklichen weniger innig vermischen, als hier; sobald die Überraschung vorbei, sobald der erste gierige Blick gesättiget, trennet es sich wiederum gänzlich, und liegt in seiner eigenen cruden Gestalt da.
Aus: Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie
Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte, Mit einem Nachwort von Ingrid Kreuzer
Reclams Universalbibliothek Nr. 271 (S.187) © 1964 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages

Christus – ein von Gott erleuchteter Lehrer
Wie einfach, leicht und lebendig war die Religion des Adams? Allein wie lange? Jeder von seinen Nachkommen setzte nach eignem Gutachten etwas dazu. Das Wesentliche wurde in einer Sündflut von willkürlichen Sätzen versenkt. Alle waren der Wahrheit untreu geworden, nur einige weniger, als die andern; die Nachkommen Abrahams am wenigsten. Und deswegen würdigte sie Gott einer besondern Achtung. Allein nach und nach ward auch unter ihnen die Menge nichts bedeutender und selbst erwählter Gebräuche so groß, daß nur wenige einen richtigen Begriff von Gott behielten; die übrigen aber an dem äußerlichen Blendwerke hängen blieben, und Gott für ein Wesen hielten, das nicht leben könne, wenn sie ihm nicht seine Morgen- und Abendopfer brächten.

Wer konnte die Welt aus ihrer Dunkelheit reißen? Wer konnte der Wahrheit den Aberglauben besiegen helfen? Kein Sterblicher. Theos apo mêchanês.
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Christus kam also. Man vergönne mir, daß ich ihn hier nur als einen von Gott erleuchteten Lehrer ansehen darf. Waren seine Absichten etwas anders, als die Religion in ihrer Lauterkeit wieder herzustellen, und sie in diejenigen Grenzen einzuschließen, in welchen sie desto heilsamere und allgemeinere Wirkungen hervorbringt, je enger die Grenzen sind? Gott ist ein Geist, den sollt ihr im Geist anbeten. Auf was drang er mehr als hierauf? und welcher Satz ist vermögender alle Arten der Religion zu verbinden, als dieser? Aber eben diese Verbindung war es, welche Priester und Schriftgelehrten wider ihn erbitterte. Pilatus, er lästert unsern Gott; kreuzige ihn! Und aufgebrachten Priestern schlägt ein schlauer Pilatus nichts ab.

Ich sage es noch einmal, ich betrachte hier Christum nur als einen von Gott erleuchteten Lehrer. Ich lehne aber alle schreckliche Folgerungen von mir ab, welche die Bosheit daraus ziehen könnte.
Aus: Gotthold Ephraim Lessing, Gedanken über die Herrnhuter, S. 9 Digitale Bibliothek Band 5: Gotthold Ephraim Lessing. Werke ausgewählt von Mathias Bertram
Veröffentlichung auf Philo-Website mit freundlicher Erlaubnis des Verlages der Directmedia Publishing GmbH, Berlin

Die Religion Christi
§ 1 Ob Christus mehr als Mensch gewesen, das ist ein Problem. Daß er wahrer Mensch gewesen, wenn er es überhaupt gewesen; daß er nie aufgehört hat, Mensch zu sein: das ist ausgemacht.

§ 2 Folglich sind die Religion Christi und die christliche Religion zwei ganz verschiedene Dinge.

§ 3 Jene, die Religion Christi, ist diejenige Religion, die er als Mensch selbst erkannte und übte; die jeder Mensch mit ihm gemein haben kann; die jeder Mensch um so viel mehr mit ihm gemein zu haben wünschen muß, je erhabener und liebenswürdiger der Charakter ist, den er sich von Christo als bloßen Menschen macht.

§ 4 Diese, die christliche Religion, ist diejenige Religion, die es für wahr annimmt, daß er mehr als Mensch gewesen, und ihn selbst als solchen, zu einem Gegenstande ihrer Verehrung macht.

§ 5 Wie beide diese Religionen, die Religion Christi sowohl als die Christliche, in Christo als in einer und eben derselben Person bestehen können, ist unbegreiflich.

§ 6 Kaum lassen sich die Lehren und Grundsätze beider in einem und ebendemselben Buche finden. Wenigstens ist augenscheinlich, daß jene, nämlich die Religion Christi, ganz anders in den Evangelisten enthalten ist als die Christliche.

§ 7 Die Religion Christi ist mit den klarsten und deutlichsten Worten darin enthalten;

§ 8 Die Christliche hingegen so ungewiß und vieldeutig, daß es schwerlich eine einzige Stelle gibt, mit welcher zwei Menschen, so lange als die Welt steht, den nämlichen Gedanken verbunden haben.
Aus: Gotthold Ephraim Lessing, Die Religion Christi, S.3f. Digitale Bibliothek Band 5: Gotthold Ephraim Lessing. Werke ausgewählt von Mathias Bertram
Veröffentlichung auf Philo-Website mit freundlicher Erlaubnis des Verlages der Directmedia Publishing GmbH, Berlin

Die Erziehung des Menschengeschlechts
§ 53 Ein beßrer Pädagog muß kommen, und dem Kinde das erschöpfte Elementarbuch aus den Händen reißen. - Christus kam. [...]

§ 58 Und so ward Christus der erste zuverlässige, praktische Lehrer der Unsterblichkeit der Seele.

§ 59 Der erste zuverlässige Lehrer. - Zuverlässig durch die Weissagungen, die in ihm erfüllt schienen; zuverlässig durch die Wunder, die er verrichtete; zuverlässig durch seine eigene Wiederbelebung nach einem Tode, durch den er seine Lehre versiegelt hatte. Ob wir noch jetzt diese Wiederbelebung, diese Wunder beweisen können: das lasse ich dahin gestellt sein. So, wie ich es dahin gestellt sein lasse, wer die Person dieses Christus gewesen. Alles das kann damals zur Annehmung seiner Lehre wichtig gewesen sein: jetzt ist es zur Erkennung der Wahrheit dieser Lehre so wichtig nicht mehr.

§ 60 Der erste praktische Lehrer. - Denn ein anders ist die Unsterblichkeit der Seele, als eine philosophische Spekulation, vermuten, wünschen, glauben: ein anders, seine innern und äußern Handlungen darnach einrichten.

§ 61 Und dieses wenigstens lehrte Christus zuerst. Denn ob es gleich bei manchen Völkern auch schon vor ihm eingeführter Glaube war, daß böse Handlungen noch in jenem Leben bestraft würden: so waren es doch nur solche, die der bürgerlichen Gesellschaft Nachteil brachten, und daher auch schon in der bürgerlichen Gesellschaft ihre Strafe hatten. Eine innere Reinigkeit des Herzens in Hinsicht auf ein andres Leben zu empfehlen, war ihm allein vorbehalten.

§ 62 Seine Jünger haben diese Lehre getreulich fortgepflanzt. Und wenn sie auch kein ander Verdienst hätten, als daß sie einer Wahrheit, die Christus nur allein für die Juden bestimmt zu haben schien, einen allgemeinern Umlauf unter mehrern Völkern verschafft hätten: so wären sie schon darum unter die Pfleger und Wohltäter des Menschengeschlechts zu rechnen.

§ 63 Daß sie aber diese Eine große Lehre noch mit andern Lehren versetzten, deren Wahrheit weniger einleuchtend, deren Nutzen weniger erheblich war: wie konnte das anders sein? Laßt uns sie darum nicht schelten, sondern vielmehr mit Ernst untersuchen: ob nicht selbst diese beigemischten Lehren ein neuer Richtungsstoß für die menschliche Vernunft geworden.

§ 64 Wenigstens ist es schon aus der Erfahrung klar, daß die Neutestamentlichen Schriften, in welchen sich diese Lehren nach einiger Zeit aufbewahret fanden, das zweite beßre Elementarbuch für das Menschengeschlecht abgegeben haben, und noch abgeben.

§ 65 Sie haben seit siebzehnhundert Jahren den menschlichen Verstand mehr als alle andere Bücher beschäftiget; mehr als alle andere Bücher erleuchtet, sollte es auch nur das Licht sein, welches der menschliche Verstand selbst hineintrug.
Aus: Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts und andere Schriften Mit einem Nachwort von Helmut Thielicke
Reclams Universalbibliothek Nr. 8968 (S.21-23) © 1965 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages


Thesen aus der Kirchengeschichte
§ 1
Da das erste Evangelium wenigstens 16 Jahr nach Christi Tode verfaßt worden: so wäre es unvernünftig sich einzubilden, daß man diese Zeit über nichts von Christi Taten und Reden mit Zuverlässigkeit habe wissen können.

§ 2
Vielmehr muß alles, was die Evangelisten nach und nach von ihm verzeichneten, an Ort und Stelle bereits bekannt gewesen sein, da von dieser Notorität [Offenkundigsein] einzig und allein die Glaubwürdigkeit der Evangelisten abhängen können.

§ 3
Was die Evangelisten von Christo wußten, das wußten sie, weil sie es wußten und zum Teil mit angesehen hatten, nicht weil es ihnen der Heilige Geist eingegeben hatte. Auch soll uns der Glaube an diese Eingebung selbst, die ich nicht bezweifle, anitzt nur statt der Überzeugung dienen, daß alles, was sie von Christo wußten und niedergeschrieben, nichts als allgemein bekannte Dinge gewesen.

§ 4
Und nicht allein die Geschichte Christi war bekannt, ehe sie von den Evangelisten bekannt gemacht wurde. Die ganze Religion Christi war bereits im Gange, ehe einer von ihnen schrieb.

§ 5
Das Vaterunser wurde gebetet, ehe es bei dem Matthäus zu lesen war. Denn Jesus selbst hatte es seine Jünger beten gelehrt.

§ 6
Die TaufformeI war im Gebrauch, ehe sie der nämlic
he Matthäus aufzeichnete. Denn Christus hatte sie seinen Aposteln selbst vorgeschrieben.

§ 7
Wenn also in diesen Stücken die ersten Christen auf die Schriften der Apostel und Evangelisten nicht warten durften: warum in anderen ?

§ 8
Wenn sie nach Christi mündlich überlieferter Vorschrift beteten und tauften: hätten sie anstehen können, auch in allem übrigen, was zum Christentume notwendig gehöret, sich lediglich an eine solche Vorschrift zu halten?

§ 9
Oder wenn Christus jene Dinge seiner mündlichen Verfügung würdigte: warum nicht alles übrige, was die Apostel von ihm lehren, und die Welt von ihm glauben sollte?

§ 10
Darum nicht, weil keiner solchen Vorschrift oder Verfügung in dem Neuen Testament gedacht wird?

§ 11
Als ob die Verfasser desselben jemals vorgegeben hätten, alles, alles verzeichnet zu haben, was Jesus getan oder geredet? Als ob sie nicht vielmehr gerade das Gegenteil gestanden; ausdrücklich, wie es scheinet, um den mündlichen Überlieferungen noch neben sich Raum zu gönnen?

§ 12
Ist es nicht genug, daß die ersten Christen einen dergleichen von Christo selbst verfaßten Inbegriff aller Glaubenslehren, den sie »Regulam fidei« nannten, geglaubt haben?

§ 13
Ist es nicht genug, daß die ersten Väter der christlichen Kirche Spuren eines solchen Inbegriffs, selbst in den Schriften des Neuen Testaments, erkannt haben?

§ 14
Ist es nicht genug, daß sich auch noch von uns bei den Evangelisten der Zeitpunkt und die Umstände erkennen lassen, wenn und unter welchen Umständen ein dergleichen Inbegriff von Christo verfaßt worden.

§ 15
Und wenn sich endlich gar die Ursache angeben läßt, warum eine ausdrücklichere Erwähnung desselben geschieht; warum es von keinem einzigen neutestamentlichen Schriftsteller angeführt worden: was wollen wir weiter? Entweder wir müssen von der christlichen Religion auf bloß historische Gründe nichts, gar nichts annehmen: oder wir müssen auch das annehmen, daß es zu jeder Zeit eine authentische Glaubensformel gegeben hat;

§ 16
Die mehr enthielt, als die bloße Formel, worauf Christus zu taufen befohlen;

§ 17
Die nicht erst gelegentlich aus dieser Formel erwachsen:

§ 18
Die nicht erst später aus den Schriften der Evangelisten und Apostel gezogen worden;

§ 19
Die nicht ihre Glaubwürdigkeit aus der Übereinstimmung mit diesen Schriften hatte;

§ 20
Die ihre Glaubwürdigkeit aus sich selbst hatte;

§ 21
Die allein der unstreitige Probierstein der Rechtgläubigkeit

§ 22
In die alle Ketzer erst übereinstimmen mußten, ehe man sie würdigte, mit ihnen über Glaubenslehren aus der Schrift zu streiten;

§ 23
Kurz: mit der die Schrift alles; ohne die Schrift nichts war.

§ 24
Ich verstehe aber hier unter Schrift bloß die Schriften des Neuen Testaments, welche man erst spät mit unter der Benennung »Schrift« zu begreifen angefangen.

§ 25
Bei den allerersten Christen ward unter »Schrift« nur das Alte Testament verstanden.
Clericus möchte uns gerne das Gegenteil davon bereden. »Hist. Eccl.« sec. primo p. 467, und die beigebrachten Beispiele sind näher zu untersuchen. Verglichen mit Cl. H. E. 475
Daß Irenäus demohngeaditet auch die Bücher des Hermas mit dem Namen der Schrift beehret, wie Clericus anmerkt p. 469, nämlich libro IV. c. 20, weshalb entweder ein weiter oder engerer Sinn des Worts anzunehmen; oder zuzugeben, daß aus dem Worte überhaupt nicht zu schließen —


§ 26
Nur in diesem Verstande war die Schrift der Grundstein der christlichen Religion; nur in diesem Verstande war die »Regula fidei« aus der Schrift gezogen.

§ 27
Das Neue Testament ist nur ganz allmählich zu der Würde des Alten gestiegen; und ich gedenke mir die Entstehung desselben und die verschiedenen Epochen seines Ansehens folgendermaßen:

§ 28
Vor allen Dingen wäre zu untersuchen, ob die Juden selbst mit der Göttlichkeit ihrer Bücher genau den Begriff verbunden, den wir mit der Göttlichkeit der Bücher des einen und des andern Testaments verbinden sollen.

§ 29
Josephus wenigstens kann diesen Begriff nicht gehabt haben, indem er sich kein Bedenken gemacht, verschiedene Dinge ganz anders zu erzählen, als Moses, an dessen Erzählung, zufolge jenes Begriffs, er sich notwendig schlechterdings hätte halten müssen.

§ 30
Hiernächst hat Eusebius das Zeugnis des Josephus von den Büchern des Alten Testaments offenbar verfälscht; denn auch verstärken ist hier verfälschen.

§ 31
Endlich vergesse man nicht, daß die Juden die Göttlichkeit, die sie den Worten ihrer Schriften beilegten, durch die mancherlei Auslegungen dieser Worte, deren mehrere gleich wahr zu sein von ihnen für möglich gehalten wurde, so gut als wieder aufhoben.

§ 32
Die Evangelisten und Apostel selbst hatten diese vielfache Exegetik, durch welche sich aus allem alles machen läßt, angenommen; und was sie in diesem Geiste geschrieben hatten, das ward hinwiederum in dem nämlichen Geiste erklärt.

§ 33
Ja die gesamten Evangelia, die unechten und verlorengegangenen sowohl als die echten und übriggebliebenen, scheinen weiter nichts als verschiedene Zusammenfügungen und Übersetzungen einer frühern Sammlung solcher Auslegungen prophetischer Stellen zu sein.

§ 34
Daß eine dergleichen frühere Sammlung vorhanden gewesen, nicht allein für sich selbst sehr wahrscheinlich:

§ 35
Sondern das bei dem Matthäus so oft vorkommende »auf daß erfüllet würde, was geschrieben stehet« ist vielleicht eine Art von Anziehung derselben.

§ 36
Noch deutlicher und ausdrücklicher aber beziehet sich Lukas darauf,

§ 37
Welcher uns sogar den Titel, den diese Sammlung führte, oder unter dem sie wenigstens bekannt war, aufbehalten zu haben scheint.

§ 38
Und diese Sammlung war ohne Zweifel das sogenannte Evangelium der Nazarener;

§ 39
Oder das Evangelium der Apostel;

§ 40
Dessen syrisch-chaldäisches Original noch im vierten Jahrhundert vorhanden war;

§ 41
Das kein Kirchenvater jemals als ein untergeschobenes Werk verdächtig gemacht hat;

§ 42
Am wenigsten Hieronymus, der es in mehr als eine Sprache übersetzte, und zur Verbesserung des griechischen Textes des Matthäus anwendete.

§ 43
Dieser griechische Text des Matthäus ist selbst nichts anders als die erste Übersetzung desselben, die Matthäus machte, als er das Evangelium zu predigen ausging.

§ 44
Wie denn auch Matthäus wohl der einzige Apostel war, der eine dergleichen Übersetzung machen konnte.

§ 45
Hiermit, dächte ich, wäre der ganze Streit über die Grundsprache des Matthäus wohl am besten geschlichtet.

§ 46
Aber nicht allein der griechische Matthäus ist nichts als die Übersetzung des nazarenischen Evangelii; sondern auch Markus und Lukas sind weiter nichts, als abermalige Versuche, jenes erste Geschichtbuch von Christo in eine allgemeinere Sprache überzutragen; welches Papias mit ausdrücklichen Worten meldet.

§ 47
Hieraus allein ist die Übereinstimmung zu erklären, welche sich bis in den Worten dieser Evangelisten findet; und aller derer ohne Zweifel gefunden hat, die aus gedachter Nazarenischen Quelle geschöpft hatten.

§ 48
Nur allein Johannes scheinet sich daran weniger gehalten zu haben.

§ 49
Dessen »Evangelium« daher vornehmlich »das Evangelium des Geistes«, so wie das Evangelium Matthäi »das Evangelium des Fleisches« genannt wurde.

§ 50
Die übrigen zwei, Markus und Lukas, sind vermutlich hinzugekommen, weil sie gleichsam die Kluft zwischen beiden füllten.

§ 51
Welches ohne Zweifel eine mehr schicklichere Ursache von der gevierten Anzahl der Evangelisten ist, als die, welche Irenäus
angibt.

§ 52
Jene ungereimtere des Irenäus verrät genugsam, daß man erst zu des Irenäus Zeiten angefangen hat, gerade nur vier, nicht mehr und nicht weniger, Evangelisten gelten zu lassen.

§ 53
Vor dem Irenäus hat kein Mensch weder der vier Evangelisten einzeln noch ihrer zusammen unter dem Namen der Evangelisten gedacht.

§ 54
Sogar das Wort Evangelium war dem Justinus unbekannt. Die Stelle des Ignatius in den Briefen an die Philadelpher, wo man es zuerst finden wollen, ist höchst verstümmelt; und man erklärt sie ganz falsch, wenn man den Ignatius durch »Evangelium« die Schriften der Evangelisten, und durch »Apostel« die Schriften der Apostel verstehen läßt.

§ 55
Zu den Zeiten des Ignatius glaubten die Christen bloß den Worten ihrer Bischöfe, und es war nicht erlaubt, schriftliche Beweise von ihnen zu fordern.
Aus: Gotthold Ephraim Lessing, Werke in drei Bänden, Band 2, Schriften zu Theologie

Neue Hypothese über die Evangelisten als bloß menschliche Geschichtsschreiber betrachtet

1 Inhalt

Erst wird die Hypothese in planen trockenen Worten vorgetragen.

Sodann
werden die kritischen Beweise derselben und alles, was darauf geführt, dargelegt.

Worauf der Vorteil, welchen dieselbe in Begreiflichmachung verschiedener Schwierigkeiten und genauerer Erklärung streitiger Schriftstellen haben möchte, gezeigt und mit Unterwerfung einer näheren Prüfung geschlossen wird.


2 Vorrede
Dies sind die ersten Linien eines Werks, an welchem ich seit vielen Jahren arbeite. Meine Absicht war freilich, es nicht eher, als ganz vollendet, der Welt vorzulegen. Doch es sind Umstände eingetreten, welche mich nötigen, einen Vorgeschmack davon zu geben.

Denn ich bin bei den Haaren dazu gezogen worden, mich über gewisse Dinge zu erklären, die mit gegenwärtiger Hypothese sehr genau zusammenhängen. Wenn ich mich nun auch in dieser, oder in jenen, oder in beiden irren sollte: so wird man doch finden, dass ich nicht ohne Karte, und dass ich nach einer und der nämlichen Karte geirrt habe, die man für falscher ausschreiet als sie bei sorgfältigen Nachmessungen sich wohl finden möchte — Den wahren Weg einschlagen ist oft bloßes Glück; um den rechten Weg bekümmert zu sein gibt allein Verdienst.

Da übrigens nur von einer Hypothese die Rede ist, und ich die höhere Würde der Evangelisten weder bestreite noch leugne; diese höhere Würde vielmehr bei meiner Hypothese selbst noch sehr wohl bestehen kann; so werde ich hoffentlich nicht mehr Anstoß und Ärgernis geben, als ich zu geben willens bin.

Dass ich aber nur diejenigen Gottesgelehrten, deren Geist ebenso reich an kalter kritischer Gelehrsamkeit, als frei von Vorurteilen ist, für meine Schöppen und Richter erkennen; und auf das Urteil aller übrigen dieses Standes, so verehrenswürdig sie mir aus andern Ursachen auch immer sein mögen, nur wenig achten werde, versteht sich von selbst.


§ 1
Die ersten Anhänger Christi waren lauter Juden, und hörten, nach dem Beispiele Christi, als Juden zu leben nicht auf.* Ihnen gaben die übrigen Juden den Namen »Nazarener«, worüber ich mich bloß auf Apostelgeschichte 24, 5. zu beziehen brauche.
*Denn wenn auch einige Judengenossen darunter waren, so waren es doch sicher nicht bloß Judengenossen des Thores, sondern Judengenossen der Gerechtigkeit, welche mit der Beschneidung das ganze Mosaische Gesetz übernommen hatten. So wie Nicolaus Apostelgesch. 6, 5.

§ 2
Freilich mochten ihnen die Juden wohl diesen Namen aus Verachtung beigelegt haben. Es war aber doch auch sehr in der Denkungsart der Jünger Christi, dass sie einen Zunamen, den sie mit ihrem Meister gemein hatten, nicht weit von sich warfen, sondern die ihnen dadurch zugedachte Schande durch freiwillige Annehmung, in Ehre kehrten.

§ 3
Daher konnte sie auch nichts bewegen, sich dieses Namens bald wieder zu entschlagen. Vielmehr stehet zu glauben, dass auch da noch, als der Name »Christen« in Antiochia aufgekommen, und längst allgemein geworden war, die palästinischen Ju
denchristen* jenen ihren ältern Namen, »Nazarener«, vorzüglich werden geliebt, und um so williger werden beibehalten haben, je geschickter er war, sie von den unbeschnittenen Christen zu unterscheiden, gegen welche sie noch immer eine kleine Abneigung unterhielten, wovon im Neuen Testament Spuren die Menge zu finden.
*Wenigstens zum Teil. Denn woher wäre es sonst gekommen, dass sich noch viele Jahrhunderte später, in eben derselben Gegend, unter eben demselben Namen, eine Art Christen erhalten hätte, welche die nämlichen Grundsätze bekannten, und in gänzlicher Absonderung von der allgemeinen Kirche lebten, die vornehmlich aus Heiden gesammelt war.

§ 4
Wäre nun wohl ohne Gefahr anzunehmen, dass jene ältesten »Nazarener«, sehr früh, sehr bald nach dem Tode Christi, eine geschriebene Sammlung von Nachrichten gehabt, welche Christi Leben und Lehren betroffen, und aus den mündlichen Erzählungen der Apostel und aller derjenigen Personen erwachsen waren, welche mit Christo in Verbindung gelebt hatten? — Warum nicht?*

*Was ich hier bloß postuliere, wird sich in der Folge zeigen, dass es wirklich so gewesen. Man müsste gar nicht wissen, wie neugierig die Menge nach allem ist, was einen großen Mann betrifft, für den sie einmal sich einnehmen lassen: wenn man mir diesen Heischesatz streitig machen wollte. Und will Menge immer eine größere Menge werden: so ist natürlich, dass man sich alles von Hand zu Hand reicht, was man von dem großen Manne nur in Erfahrung bringen können, welches endlich schriftlich geschehen muss, wenn die mündliche Mitteilung nicht mehr reichen will.

§ 5
Und wie würde sie ungefähr ausgesehen haben, diese Sammlung? — Wie eine Sammlung von Nachrichten, deren Anfang so gering ist, dass man der ersten Urheber ohne Undank vergessen zu können glaubt; welche hierauf gelegentlich von mehr als einem vermehrt, und von mehr als einem mit aller der Freiheit abgeschrieben worden, deren man sich mit dergleichen niemanden zugehörigen Werken zu bedienen pflegt — wie eine dergleichen Sammlung, sage ich, nur immer aussehen kann. Im Grunde stets die nämliche; aber bei jeder Abschrift bald in etwas verlängert, bald in etwas verkürzt, bald in etwas verändert, so wie der Abschreiber, oder der Besitzer der Abschrift mehrere oder bessere Nachrichten aus dem Munde glaubwürdiger Leute, die mit Christo gelebt hatten, eingezogen zu haben glauben durfte*.
*Wenn wir jetzt, neuerer Zeit, wenige oder keine Beispiele von solchen, wie Schneeballe, bald wachsenden, bald wieder abschmelzenden historischen Nachrichten haben: so kommt es daher, dass gar bald eine oder die andere der ersten Abschriften durch den Druck ihre umschriebene Konsistenz erhält. Wer indessen alte geschriebene Chroniken von großen Städten oder vornehmen Familien öfters Gelegenheit gehabt zu durchblättern: wird wohl wissen, wie weit jeder Besitzer eines jeden besondern Exemplars derselben, sein Recht des Eigentums, sooft es ihm beliebt, auch über den Text und desselben Länge oder Kürze auszudehnen, sich für erlaubt gehalten.

§ 6
Und wenn man endlich doch einmal aufhören müssen, diese Sammlung zu vermehren oder zu verändern; weil doch endlich die zeitverwandten Leute aussterben mussten, aus deren glaubwürdigen Erzählungen es jeder tun zu können glaubte: wie würde sie wohl sein betitelt worden, diese Sammlung? — Entweder, bilde ich mir ein, nach den ersten Währmännern der darin enthaltenen Nachrichten; oder nach denen, zu deren Gebrauch die Sammlung vornehmlich wäre gemacht worden; oder nach dem oder jenem, welcher der Sammlung zuerst eine bessere Form gegeben, oder sie in eine verständlichere Sprache gebracht hätte.

§ 7
Wenn sie nach den ersten Währmännern wäre benennt worden: wie würde sie wohl geheißen haben? — Die ersten Währmänner waren alles Leute, die mit Christo gelebt, ihn mehr oder weniger gekannt hatten. Sogar gehörten darunter eine Menge Weiber, deren kleine Anekdoten von Christo desto weniger zu verachten waren, je vertraulicher einige derselben mit ihm gelebt hatten. Aber vornehmlich waren es doch seine Apostel, als aus deren Munde sich ohnstreitig die mehresten und zuverlässigsten Nachrichten herschreiben. Sie hätte also geheißen, diese Sammlung — (das Wort Evangelium in dem Verstande einer historischen Nachricht von Christi Leben und Lehren genommen) — »das Evangelium der Apostel«.

§ 8
Und wenn sie nach denen wäre benannt worden, zu deren Gebrauche sie besonders gemacht gewesen: wie hätte sie da geheißen? — Wie anders, als »das Evangelium der Nazarener«? Oder bei denen, welche das Wort »Nazarener« nicht hätten brauchen wollen, das »Evangelium der Hebräer«. Denn als palästinischen Juden gehörte auch den Nazarenern dieser Name mit allem Rechte.

§ 9
Endlich wenn sie nach dem oder jenem wäre benannt worden, welcher ihr zuerst eine bessere Form gegeben, oder sie in eine verständlichere Sprache übersetzt hätte: wie hätte sie da geheißen? — Wie anders als »das Evangelium des« und »des«, der sich dieses Verdienst um sie gemacht hätte? —

§ 10
Bis hierher werde ich meinen Lesern scheinen, mich in leere Vermutungen verlieren zu wollen, wo sie ganz etwas anders von mir erwarten - Aber nur Geduld: was sie bis jetzt leere Vermutungen dünkt, ist nichts anders, und nichts mehr, als was ich von glaubwürdigen historischen Zeugnissen abstrahiert habe, welche jeder andere, der weniger behutsam zu gehen gedächte, als unmittelbare Beweise seines Vorgebens vielleicht gebraucht hätte.

§ 11

Es findet sich nämlich, dass die Nazarener des 4. Jahrhunderts gerade eine solche Sammlung von Nachrichten, Christum und Christi Lehre betreffend, nicht allein wollen gehabt haben, sondern auch wirklich gehabt haben. Sie hatten ein eigentümliches chaldäisch-syrisches Evangelium, welches bei den Kirchenvätern bald unter dem Namen des »Evangeliums der Apostel«, bald unter dem Namen des »Evangeliums der Hebräer«, bald unter dem Namen des »Evangeliums Matthäi«, vorkommt. Jenes zufolge des ersten Grunds einer nähern Benennung § 7; dieses zufolge des zweiten § 8; und das — vermutlich zufolge des dritten § 9.

§ 12
Ich sage »vermutlich«; und in meiner ganzen Hypothese ist dieses die einzige Vermutung, die ich mir erlaube, und worauf ich baue. Auch beruht sie auf so viel Gründen, dass in der Welt keine historische Vermutung sich finden muss, die es mehr verdient, für historische Wahrheit angenommen zu werden.

§ 13

Und dennoch will ich aus dieser Übereinstimmung des wirklichen Evangelii der spätem Nazarener aus dem 4. Jahrhunderte, mit einem bloß angenommenen Evangelio, wie es die allerersten Nazarener mussten gehabt haben, wenn sie eines gehabt hätten, noch nicht so geradezu schließen, dass jenes notwendig dieses müsse gewesen sein. Denn man kann sagen, dass die spätem Nazarener Ketzer, und die allerersten Nazarener bloß schwachgläubige Judenchristen gewesen: dass also jene wohl etwas zusammengeschrieben haben könnten, wovon diese nie etwas gewusst.

§ 14
Lasst uns also so bedächtig gehen, als möglich. — Hat jemals ein Kirchenvater, der des Evangelii der spätern Nazarener gedacht, einen solchen Verdacht geäußert, oder nur mit einem Worte darauf gezielt? — Niemals; kein einziger.

§ 15
Haben nicht vielmehr die gelehrtesten und scharfsichtigsten Kirchenväter immer mit einer Art von Achtung davon gesprochen; nicht zwar als von einem durch den Heiligen Geist eingegebenen Evangelio, aber doch als von einem unstreitig alten, zu oder kurz nach den Zeiten der Apostel geschriebenen Werke? Allerdings.

§ 16
Hat nicht mehrmalen einer derselben, welcher ohne Zweifel der einzige von allen Kirchenvätern war, der ein chaldäisch­syrisches Werk brauchen konnte, sogar verschiedene Stellen daraus zur Erläuterung des griechischen Textes oder der vorhandenen Evangelisten anwenden zu dürfen geglaubt? — Allerdings: Hieronymus nämlich.

§ 17
Hat nicht eben dieser Hieronymus es sogar zu übersetzen, und in zwei verschiedene Sprachen zu übersetzen für wert gehalten? — Das sagt er selbst.

§ 18
Was hat man also denn noch für Ursache zu leugnen, dass das Evangelium der späteren Nazarener sich von den ältesten, ersten Nazarenern hergeschrieben? Ist es vielmehr nicht ganz glaublich, dass das syrisch-chaldäische Evangelium, welches zu des Hieronymus Zeiten in den Händen der damaligen Nazarener oder Ebioniten war, auch in den Händen der Nazarener zu den Zeiten der Apostel werde gewesen sein? dass es das geschriebene Evangelium werde gewesen sein, dessen sich selbst die Apostel zuerst bedienten!

§ 19
Die spätem Nazarener hießen freilich Ketzer: aber sie waren doch im Grunde keine andere Ketzer, als die alten Nazarener, die noch nicht Ketzer hießen, wie aus dem Stillschweigen des Irenäus zu schließen. Denn die einen sowohl als die andern glaubten, das Mosaische Zeremonialgesetz nebst dem Christentume beibehalten zu müssen.

§ 20

Dass die spätem Nazarener überhaupt die ältern Nazarener ganz und gar nichts angegangen, ist eine Grille des jungen Mosheims, als er noch keck einen Kirchenvater ergriff, um den andern damit vor den Kopf zu schlagen; die der alte bedächtlichere Mosheim selbst widerrufen hat.

§ 21
Die kleinen Abweichungen aber, die man noch jetzt an den vorhandenen Fragmenten des nazarenischen Evangelii, deren einige die nämliche Sache betreffen, wahrnimmt, und woraus man lieber eine gänzliche Verschiedenheit des ebonitischen und nazarenischen Evangeliums erpressen möchte, sind eher aus der Entstehungsart desselben, wie ich sie § 6 wahrscheinlich angenommen, zu erklären. Denn da es keinem alten Nazarener einkommen konnte, ein aus verschiedenen Nachrichten nach und nach erwachsenes Werk als ein göttliches Buch zu betrachten, dem man weder etwas abnehmen noch zusetzen dürfe: so war es kein Wunder, dass die Abschriften nicht alle übereinstimmten

§ 22

War nun aber das Evangelium der Nazarener keine spätere untergeschobene Missgeburt: so war es auch älter als alle unsere vier Evangelia, deren das erste wenigstens 30 Jahr nach Christi Tode geschrieben worden.

§ 23
Wäre es auch wohl zu begreifen, dass man in diesen 30 Jahren ganz und gar keine geschriebene Nachricht von Christo und seinen Lehren gehabt hätte? dass der erste, welcher dergleichen aufzusetzen sich entschloss, nach so geraumer Zeit, sich hingesetzt, aus seinem oder anderer bloßem Gedächtnisse zu schreiben? dass er nichts vor sich gehabt, wodurch er sich rechtfertigen können, wenn er wegen dieses oder jenes Umstands in Anspruch genommen wurde? das ist nicht einmal glaublich, wenn er auch inspiriert war. Denn der Inspiration war er sich nur selbst bewusst: und vermutlich zuckte man auch damals schon die Achseln über Leute, die etwas Historisches aus Inspiration zu wissen vorgaben.

§ 24
Es gab also eine ältere geschriebene Nachricht von Christo, als des Matthäus: und sie blieb nur, während den dreißig Jahren, in derjenigen Sprache, in welcher allein sie ihre Urheber hatten aufsetzen können. Oder die Sache unbestimmter und doch genauer auszudrücken: sie verblieb in der hebräischen Sprache, oder in dem syrisch-chaldäisdien Dialekte derselben so lange, als das Christentum größtenteils nur noch in Palästina, nur noch unter den Juden in Palästina eingeschränkt war.

§ 25
Erst als das Christentum auch unter den Heiden verbreitet ward, und so viele, die gar kein Hebräisch, gar keine neuere Mundart desselben verstanden, begierig wurden, nähere Nachricht von der Person Christi einzuziehn (welches doch auch nicht ganz in den ersten Jahren der Heidenbekehrung mag gewesen sein, indem die ganz ersten bekehrten Heiden sich mit den mündlichen Nachrichten begnügten, die ihnen ein jeder ihrer Aposteln gab) fand man nötig und nützlich zur Befriedigung einer so frommen Neugierde, sich an jene nazarenische Quelle zu wenden, und Auszüge oder Übersetzungen in einer Sprache davon zu machen, die so ziemlich die Sprache der ganzen kultivierten Welt war.

§ 26
Den ersten dieser Auszüge, die erste dieser Übersetzungen, meine ich nun, machte Matthäus. — Und das, wie gesagt §12, ist die Vermutung, die man kühnlich unter die historischen Wahrheiten anführen darf, die wir von diesen Dingen überhaupt haben. Denn alles, was wir sowohl von der Person des Matthäus, als von seinem Evangelio wissen, oder mit Grunde annehmen können, stimmt mit dieser Vermutung nicht allein vollkommen überein; sondern auch sehr vieles wird durch diese Vermutung allein erklärt, was noch immer ein Rätsel ist, so viel Gelehrte sich auch die Köpfe darüber zerbrochen haben.

§ 27
Denn einmal wird Matthäus ohne Widerspruch für den ersten und ältesten unserer Evangelisten gehalten. Dieses aber, wie schon angemerkt, kann unmöglich heißen, dass er schlechterdings der erste von allen gewesen, welche von Christo etwas Schriftliches verzeichnet, das in den Händen der Neubekehrten gewesen wäre. Es kann nur heißen, dass er der erste gewesen, der es in der griechischen Sprache getan.

§ 2
8
Zweitens ist es sehr wahrscheinlich, dass Matthäus der einzige unter den Aposteln gewesen, der Griechisch verstanden, ohne erst die Kenntnis dieser Sprache unmittelbar durch den Heiligen Geist erhalten zu dürfen.

§ 29
Drittens spricht selbst die Gelegenheit, bei welcher Matthäus sein Evangelium soll aufgesetzt haben, dafür. Denn wenn Eusebius schreibt: »Matthäus, der verschiedene Jahre den Hebräern in Palästina das Evangelium gepredigt, als er endlich auch zu andern in dieser Absicht gehen wollen, habe jenen sein Evangelium schriftlich in ihrer väterlichen Sprache hinterlassen, um so auch noch in ihrer Abwesenheit ihr Lehrer zu bleiben«*: so dürfte hiervon wohl nur die Hälfte im strengen Verstande wahr sein.
*Hier wird der Ort sein, eine Stelle des Hieronymus zu verbessern. Hieronymus sagt in dem Eingange seiner Commentarien über den Matthäus: »Primus omnium« (sc. Evangelistarum) »Matthaeus est, qui Evangelium in Judaea hebraeo sermone edidit, ob eorum vel maxime causam, qui in Jesum crediderunt ex Judaeis et nequaquam legis umbram, succedente Evangelii veritate, servabant.« Die den Schatten des Gesetzes keinesweges »nequaquam« beobachteten? Aber die ersten Juden in Judäa, welche Christen wurden, blieben ja allerdings hartnäckig bei dem Gesetze. Ich glaube also, dass hier für »nequaquam« zu lesen sei »nequicquam«, »incassum«, »umsonst«, »vergeblich«.
Und dass wirklich Matthäus für die Nazarener, das ist, für Judenchristen, die Mosen und Christum verbinden wollen, geschrieben, ist aus V, 57—20. zu sehen, wo er Jesum etwas sagen lässt, das ihn kein andrer Evangelist sagen lässt, und freilich wohl die Nazarener so hartnäckig machen musste. Besonders V. 57, wo es nur lächerlich ist, anstatt des Mosaischen Gesetzes überhaupt das Sittengesetz allein zu verstehen. Die Auslegung des babylonischen Talmuds ist unstreitig die wahre. S. das Engl. B. W.
Wir haben jetzt freilich Ursache, ja wir können Recht dazu haben, diese Stelle jetzt anders auszulegen: war es aber den ersten Judenchristen zu verdenken, sie so zu verstehen?
Ebenso haben Markus und Lukas den Befehl ausgelassen, den Matthäus X, 5. 6 den Heiland seinen Jüngern geben lässt, die er aussandte zu heilen und Wunder zu tun.

Nur die Veranlassung, bei welcher Matthäus sein Evangelium schrieb, dürfte wahr sein: aber diese Veranlassung war nicht so, dass er ein hebräisches Evangelium schriftlich verfassen musste; sondern vielmehr so, dass er ein griechisches aufzusetzen für tunlich hielt. Nämlich: als er nun lange genug den Hebräern gepredigt hatte, ließ er nicht den Hebräern sein Evangelium hebräisch zurück (bei den Hebräern in Palä
stina blieb ja noch so mancher Apostel zurück, dessen mündliche Belehrung sie alle Augenblicke haben konnten), sondern er machte sich für seinen künftigen Gebrauch, da er nun auch andern das Evangelium predigen wollte, die nicht Hebräisch verstanden, aus dem hebräischen »Evangelio der Apostel« einen Auszug in derjenigen Sprache, die mehrern verständlich war.

§ 30
Viertens wird damit der ganze Streit über die Grundsprache des Matthäus auf eine Art geschlichtet, dass beide Teile damit zufrieden sein können. Diejenigen sowohl, welche, zufolge des einmütigen Zeugnisses der Kirchenväter, behaupten, die Grundsprache des Evangelii Matthäi sei hebräisch gewesen: als auch die neuem protestantischen Dogmatiker, die ihre Bedenklichkeiten dagegen haben und haben müssen.

§ 31
Nämlich: das Original des Matthäus war allerdings hebräisch; aber Matthäus selbst war nicht der eigentliche Urheber dieses Originals. Von ihm, als von einem Apostel, konnten sich zwar in dem hebräischen Originale mancherlei Nachrichten herschreiben: er aber selbst hatte diese Nachrichten nicht schriftlich verfasst. Andre hatten sie aus seinem Munde hebräisch niedergeschrieben und mit Nachrichten der übrigen Apostel verbunden: und aus dieser menschlichen Sammlung machte er zu seiner Zeit bloß einen zusammenhängenden Auszug in griechischer Sprache. Nur weil sein Auszug, seine Übersetzung, so bald auf das Original folgte; weil er selbst ebensowohl hebräisch hätte schreiben können; weil es, seinen persönlichen Umständen nach, wahrscheinlicher war, dass er wirklich hebräisch geschrieben, war es kein Wunder, dass man gewissermaßen das Original mit der Übersetzung verwechselte.

§ 32
Und wieviel diejenigen neuem Gottesgelehrten dabei gewinnen, welche aus innern Kennzeichen des Matthäus und aus nicht unerheblichen dogmatischen Gründen schließen zu müssen glauben, dass Matthäus nicht wohl in einer andern Sprache geschrieben haben könne, als in der, in welcher wir ihn noch haben, erkennt ein jeder. Matthäus schrieb, was er schrieb, griechisch: aber er zog es aus einer hebräischen Quelle.

§ 33
Hat er nun diesen seinen Auszug in eine bekanntere Sprache mit allem dem Fleiße, mit aller der Vorsicht gemacht, deren ein solches Unternehmen würdig war: so hat ihm ja wohl, auch nur menschlicherweise zu reden, ein guter Geist beigestanden; und niemand kann etwas dagegen haben, dass man diesen guten Geist den Heiligen Geist nennt. Und so muss denn auch wohl Matthäus wirklich zu Werke gegangen sein; ein solcher guter Geist muss ihn denn auch wohl geleitet und unterstützt haben: indem sein Auszug oder seine Übersetzung nicht allein gar bald unter den Christen insgemein ein kanonisches Ansehen erhielt, sondern sogar bei den Nazarenern selbst der Name des griechischen Übersetzers nunmehr der hebräischen Urschrift anheimfiel, und diese selbst für ein Werk des Matthäus ausgegeben wurde. Das Evangelium »secundum Apostolos« hieß mit der Zeit bei den mehresten das Evangelium »juxta Matthaeum«, wie Hieronymus ausdrücklich sagt.

S 34

Dass ich hiermit kein falsches Ende aufgefaßt habe, zeigt der lange nicht abreißende Faden, den ich dadurch von einem sehr verwirrten Knäuel abzuwickeln imstande bin. Das ist: ich kann aus dieser meiner Vorstellung zwanzig Dinge erklären, die unauflösliche Rätsel bleiben, man mag den einen oder den andern der gewöhnlichen Sätze von der Originalsprache des Matthäus behaupten. Ich führe die vornehmsten derselben an, weil dergleichen neue Aufschlüsse, welche eine neu angenommene Meinung gewähret, in kritischen Dingen, wie man weiß, so viele Beweise derselben sind.

§ 35
Wann Epiphanius z. E. sagt, dass die Nazarener das Evangelium des Matthäus am aller vollständigsten in hebräischer Sprache besaßen: was kann man dazu sagen, das ohne allen Anstoß wäre? — War es Matthäus selbst, der diesen vollständigen hebräischen Text schrieb: so ist unser griechischer Matthäus nicht ganz. — Schrieb Matthäus ursprünglich griechisch: so haben ihn die Nazarener in ihrer Übersetzung mit menschlichen Zusätzen vermehrt, welches sie nicht getan haben würden, wenn er in eben dem kanonischen Ansehen gestanden hätte, in dem er jetzt steht. Und wie konnte Origenes und Hieronymus dieser Zusätze so glimpflich gedenken? — Nur wie ich die Sache nehme, haben die Worte des Epiphanius ihre gute Richtigkeit. Das hebräische Original des Matthäus enthielt mehr, als Matthäus in seinem griechischen Auszug daraus zu nehmen für gut fand. Das mehrere, was in dem hebräischen Matthäus war, hatten die spätem Nazarener nicht hinzugefügt, sondern Matthäus hatte es übergangen.

§ 36

Ingleichen, wer kann auf Folgendes antworten? — Hat Matthäus ursprünglich griechisch geschrieben: wie kömmt es, dass die Kirchenväter einmütig vorgeben, sein Evangelium sei hebräisch abgefasst? — Und hat er sein Evangelium ursprünglich hebräisch abgefasst: wie hat man diesen seinen hebräischen Originaltext können untergehen lassen? — Wer kann hierauf, frage ich, so befriedigend antworten, als ich? — Die Kirchenväter fanden ein hebräisches Evangelium, das alles und noch mehr enthielt, als Matthäus: sie hielten es also für des Matthäus eignes Werk. — Aber dieser hebräische vermeinte Matthäus war zwar für den historischen Teil die Quelle des Matthäus: aber nur der griechische Auszug war das eigentliche Werk eines Apostels, der unter einer höhern Aufsicht schrieb. Was war also daran gelegen, dass die Materialien verloren gingen, nachdem sie auf die glaubwürdigste und beste Art genutzt waren?

§ 37

Nichts aber bestätigt meine Meinung, dass Matthäus nicht hebräisch geschrieben, sondern nur ein hebräisches Original so treu und vorsichtig übersetzt und gebraucht habe, dass man dem Original selbst seinen Namen gegeben — nichts, sage ich, bestätigt diese Meinung mehr, als dass man dadurch nunmehr eine Stelle des Papias versteht, die so manchem Ausleger so manche undankbare Mühe gemacht hat. ... Matthäus schrieb sein Evangelium hebräisch: es übersetzte es aber jeder, so gut er konnte.


§ 38
Die letzten Worte dieser Stelle sind allerdings so anstößig, dass man dem guten Papias allen Glauben in Ansehung der erstem absprechen zu dürfen geglaubt. Man hat sich gar nicht einbilden können, dass Papias damit wirklich sagen wollen, was sie so offenbar sagen. Besonders ist sehr lustig zu lesen, was ihm Clericus für einen Ausputzer deswegen gibt, und wie schulmeistermäßig er dem Griechen seine griechischen Worte korrigiert; ohne zu überlegen, dass er nicht sowohl den Papias, als den Eusebius, wenigstens den Eusebius ebensowohl als den Papias (weil jeder Schriftsteller auch für die aus einem andern angeführten Worte mit haften muss, insofern sie Unsinn zu enthalten scheinen, den er mit keiner Silbe rügt) schulmeistert.

§ 39
Wie gesagt, allerdings hätte man Ursache dem Papias zu Leibe zu gehen und ihn zu fragen: ob er auch wisse, was sein griechischer Text sage? Ob denn unser griechischer Matthäus nicht eine so gute Übersetzung sei, als nur irgendeine sein könne? Ob denn wirklich mehrere griechische Übersetzungen seines hebräischen Matthäus vorhanden gewesen; und wie es denn komme, dass man von diesen mehrern Übersetzungen nirgends die geringste Spur finde? — Was Papias hierauf antworten könnte, lässt sich nicht absehn.

§ 40

Aber nun nehme man mit mir an, dass Papias nicht einen ursprünglich hebräischen Matthäus, sondern das hebräische Original des Matthäus meine, welches, weil es Matthäus zuerst so allgemein bekannt und brauchbar gemacht hatte, unter seinem Namen nunmehr umging: was sagt Papias alsdenn Ungereimtes, wenn er sagt, dass sich dem ungeachtet noch mehrere an das hebräische Original gemacht, und es aufs neue in griechischer Sprache bearbeitet hätten?

§ 41

Haben wir nicht schon gesehen, dass Matthäus ein bloßer Übersetzer von allem und jedem, was er in dem Evangelio der Nazarener fand, nicht war? Er ließ vieles zurück, was ihm so glaubwürdig nicht bekannt war. Da waren Nachrichten, die sich von allen eilf Aposteln herschrieben, deren manche zwar wohl wahr, aber für die christliche Nachwelt nicht nutzbar genug waren. Da waren Nachrichten, die sich allein von Christi weiblicher Bekanntschaft herschrieben, und von welchen es zum Teil zweifelhaft war, ob sie den Wundermann, den sie so liebten, auch immer gehörig verstanden hatten. Da waren Nachrichten, die sich nur von seiner Mutter, nur von Leuten herschreiben konnten, die ihn in seiner Kindheit in dem Hause seiner Eltern gekannt hatten: und was konnten die, wenn sie auch noch so zuverlässig waren, der Welt helfen, die an dem genug zu lernen hat, was er seit Antretung seines Lehramts tat und sagte?

§ 42

Was war also natürlicher? — Da der Übersetzung des Matthäus kein untrügliches Kennzeichen der Göttlichkeit aufgedrückt werden konnte; da sie ihr kanonisches Ansehn erst durch Prüfung und Vergleichung sich erwerben, und so von der Kirche bestätigt erhalten musste — Was war natürlicher, als dass sich andere und mehrere, welche die Arbeit des Matthäus entweder nicht kannten, oder nicht ganz genehmigten, weil sie dieses und jenes noch gern darin gehabt hätten, weil sie dieses und jenes lieber anders, als so erzählt wünschten: als dass sich, sag ich, mehrere an die nämliche Arbeit machten, und sie so vollführten, wie es die Kräfte einem jeden verstatteten?

§ 43
Und so stehen wir hier an der Quelle, woraus sowohl die bessern noch vorhandenen, als die minder guten, und daher aus dem Gebrauch und endlich aus der Welt gekommenen Evangelia geflossen.*
* Man macht sich eine ganz unrichtige Vorstellung, wenn man glaubt, die Ketzer hätten falsche Evangelia geschmiedet. Umgekehrt; weil es so vielerlei Evangelia gab, die alle aus der einen nazarenischen Quelle entstanden waren, gab es so viele Ketzer, deren jeder gerade ebensoviel für sich hatte, als der andere.
Es ist zum Exempel nichts weniger als glaublich, dass Cerinthus ein eignes Evangelium gemacht. Er hatte weiter nichts als eine eigne Übersetzung des hebräischen Originals des Matthäus.
Dieses sagt Hieronymus ausdrücklich. (Prooem, in Comment. super Marth.) »Plures fuisse, qui Evangeliz scripserunt, et Lucas Evangelista testatur dicens: quandoquidem — et perseverantia usque in praesens tempus monimenta declarant, quae a diversis autoribus edita, diversarum haereseon fuere principia.« Also die verschiedenen Evangelia waren nicht ein Werk der Ketzer, sondern dass so vielerlei Evangelia waren, machte, dass so viel Ketzereien entstunden.
So sagt auch Epiphanius,»Haeres.« LXII. von den Sabellianern, dass sie ihren ganzen Irrtum aus den falschen Evangelien geschöpft:


§ 44

Dass es viele Evangelia von dieser zweiten Art gegeben, wenn wir es aus der Kirchengeschichte auch nicht wüssten, müssten wir auch ganz allein dem Lukas glauben, der wahrlich nicht die ganz erdichteten untergeschobnen Evangelia und apostolische Schriften der Ketzer meinen konnte*, sondern notwendig solche Evangelia, deren Urstoff zwar unverwerflich, deren Ordnung, Einkleidung, Absicht nur nicht so ganz lauter und rein war, meinen musste, wenn er sagt, dass er durch sie berechtigt und aufgemuntert worden, ebenfalls eine Geschichte des Herrn zu schreiben.
Epiphanius und Ambrosius glauben, Lukas sähe hier auf die Evangelia der Ketzer Basilidis, Cerinthi und anderer, wie schon von Daniel Heinsio (,Exercit. sacr.‘ i. 3. c. 1.) bemerkt worden.« Masch. §30.
» Ausus fuit et Basilides scribere Evangelium et suo illud nomine titulare«, schreibt Origenes »Homilia 1. in Lucam«. Eben das sagt auch Ambrosius »Comment. in S. Lucam«. Und Hieronymus »Prooemio in Comment. super Matthaeum«. Aber Basilides lebte im zweiten Jahrhundert; wie konnte Lukas sein Evangelium in Gedanken haben? Wenn Basilides anders eines geschrieben, und Ambrosius und Hieronymus hier nicht bloße Abschreiber des Origenes sind, der es wahrscheinlich ohne Grund vorgegeben! (s. Moshemii Comment. de rebus Christianorum ante Constant. Magnum p. 357.) Aber von diesen allen sagt kein einziger, dass Lukas darauf gesehen; sie erwähnen dieses Evangelii nur bei der Stelle des Lukas; und das ist ein gewaltiger Bock von Herrn Masch.
Von dem Cerinthus wäre es noch eher möglich, dass Lukas auf ihn gesehen. Und Epiphanius »adversus Haeres.« LI. p. 428. scheint es zu versichern. Da aber Epiphanius an einem andern Orte sagt, dass er nur das Evangelium des Matthäus angenommen, so wird nun auch bloß das Evangelium des Cerinthus nichts als eine eigene Übersetzung des hebräischen Originals gewesen sein.
Überhaupt finde ich wohl, dass man den Ketzern schuld gegeben, dass sie die evangelische Geschichte verfälscht — (obgleich auch nicht so häufig, als man sich einbildet. Denn Origenes sagt (»contra Celsum« II. 5.), dass dieses nur von den Schülern des Marcion, des Valentinus, und wo ich nicht irre, setzt er hinzu, des Lucanus geschehen sei). Aber dass die Ketzer ganz eigne Evangelis sich aus ihren Köpfen geschmiedet, das findet sich nirgends. Ihre Evangelis waren ebenfalls alte unter dem Namen der Apostel oder apostolischen Männer herumgehende Nachrichten; es waren nur die nicht, welche man bei der Kirche allgemein angenommen hatte. Mit diesen hatten sie zwar die Quelle gemein; nur der Mann, der aus dieser Quelle geschöpft, war minder zuverlässig.

§ 45
Ich wäre sogar geneigt zu glauben, dass in der gedachten Stelle des Lukas jener hebräischen Quelle ausdrücklich erwähnt, und mit ihrem Titel erwähnt werde, welcher gar wohl (auf hebräisch versteht sich) entsprechender griechischer Text ... könnte gewesen sein*; es sei nun, dass die folgenden griechischen Worte: ... mit darin begriffen gewesen, oder vom Lukas nur hinzugesetzt worden, um so viel deutlicher jene authentische Sammlung zu bezeichnen.**

*Das ist: »Erzählung der unter uns in Erfüllung gegangenen Dinge«. Ein Titel, der mir ganz herrlich hebräisch klingt; ob ich gleich weder angehen kann, noch mir anderer Hilfe angeben mag, wie er etwa auf Syrisch oder Chaldäisch könne geheißen haben. Vermutlich wäre damit auf die mancherlei Prophezeiungen gesehen worden, die durch die Ergebnisse, Lehren und Taten Christi in Erfüllung gegangen; auf die öfters vorkommenden griechischen Worte ... . Matth. 1, 22. II, 17. IV, 54. VIII, 17. XII, 17. XIII, 14.
** In beiden Fällen wird dadurch bestätigt, was ich §2—4 von den Personen insgemein gesagt, die an dem Evangelio der Nazarener so zu reden geschrieben; die Apostel, als die vornehmsten, nach welchen die ganze Sammlung genennet war: und alle diejenigen, männlichen und weiblichen Geschlechts, die Christum von Person gekannt.


§ 46
Und wenn ich sonach den ganzen ersten Versikel des Lukas vom Griechischen ins Lateinische übersetzte: »Quoniam quidem multi conati sunt, iterum iterumque in ordinem redigere narrationem illam de rebus quae in nobis completae sunt«: was könnte man eigentlich viel darwider haben?*
* Wenigstens bloß durch »litteris mandare«, bloß durch »beschreiben, aufzeichnen«, zu übersetzen, scheint mir den Sinn der Worte nicht zu erschöpfen; denn da scheint sich allerdings auch hier eine oftmalige Wiederholung anzuzeigen, zu welcher »das sie haben vor die Hand genommen«, besonders passt. Folglich lieber so: » Weil denn viele versucht haben, jene Erzählung der unter uns in Erfüllung gegangenen Dinge einmal über das andere in Ordnung zu bringen: so« usw. Das »in Ordnung bringen« jene alte Sammlung, die so gelegentlich aus so verschiednen Nachrichten erwachsen war, war ohne Zweifel das Schwerere: und das Übersetzen derselben, wenn man einmal wegen der Ordnung mit sich eins geworden war, war ohnstreitig das Leichtere. Dass also Lukas die ganze Arbeit nur durch das Schwerere bezeichnet, darf wohl nicht befremden. ...

§ 47
Ja, ob ich gleich diese Übersetzung und Erklärung nur für eine kritische Vermutung ausgeben will, die bei weiten so kühn und gewagt nicht ist, als kritische Vermutungen in unsern Tagen zu sein pflegen: so will mich doch bedünken, als ob nur durch sie alle Schwierigkeiten gehoben würden, die sich gegen die Worte des Lukas machen lassen.*
* Denn wenn er nach der gewöhnlichen Übersetzung sagt: »Sintemal sich‘s viele unterwunden haben, zu stellen die Rede von den Geschichten, so unter uns ergangen sind; wie uns das gegeben haben, die es von Anfang selbst gesehen und Diener des Worts gewesen sind«: hat man nicht recht, dem Lukas sofort einzufallen: »Also haben doch jene viele nichts geschrieben, als wie und was die Augenzeugen und die ersten Diener des Worts gemeldet? Und haben sie das, lieber Lukas, was braucht es noch deiner Arbeit, die alles angewandten Fleißes ungeachtet, doch nicht besser geraten kann? Habe immer von Anbeginn alles selbst erkundet: hast du es denn besser erkunden können, als ,wie uns das gegeben haben, die es von Anfang selbst gesehen und Diener des Worts gewesen sind‘ ?«Nur wenn diese letztem Worte entweder ein Teil des Titels der ersten hebräischen Urkunde waren, oder vom Lukas zu ihrer nähern und gewissem Bezeichnung hinzugesetzt wurden, so dass sie auf die hebräische Urkunde selbst, und nicht auf die von vielen unternommene Ordnung und Übersetzung zu ziehen sind: hatte Lukas recht, eine ähnliche Arbeit zu unternehmen, nachdem er alles von Anbeginn erkundet hatte, d. i. nachdem er alles, was in der hebräischen Urkunde stand, gegen die mündlichen Erklärungen der Apostel, die er zu sprechen Gelegenheit hatte, geprüft und durch sie bestätigt hatte.

§ 48
Doch dem sei wie ihm wolle: genug dass so viel gewiss ist, dass Lukas selbst die hebräische Urkunde, das Evangelium der Nazarener vor sich gehabt, und wo nicht alles, doch das meiste in sein Evangelium, nur in einer etwas andern Ordnung, nur in einer etwas bessern Sprache übergetragen hat.


§ 49
Noch offenbarer ist es, dass Markus, den man gemeiniglich nur für den Epitomator des Matthäus hält, bloß daher dieses zu sein scheint, weil er aus eben derselben hebräischen Urkunde schöpfte, aber vermutlich ein minder vollständiges Exemplar vor sich hatte.*

*Dass er wirklich aus der hebräischen Urkunde unmittelbar geschöpft, zeigt V. 41, wo er die eigentlichen chaldäischen Worte beibringt, deren sich Christus bei Erweckung der Tochter des Jairus bediente, welche weder Matthäus noch Lukas haben. Auch VII, 11. Corban.
Markus soll der Dolmetscher und vertraute Jünger des Petrus gewesen sein. Daher kam es ohne Zweifel, dass er das wegließ, was Matthäus XIV, 28—31 von Petro erzählt. Hingegen ist um so viel unbegreiflicher, warum er auch das nämliche weggelassen, was Matthäus von Petro erzählt, XVI,17, ob er (Markus) schon VIII, 33 beibehalten.

§ 50
Kurz: Matthäus, Markus, Lukas sind nichts als verschiedene und nicht verschiedene Übersetzungen der sogenannten hebräischen Urkunde des Matthäus, die jeder machte, so gut er konnte; ... .

§ 51

Und Johannes? Ganz gewiss hat Johannes jene hebräische Urkunde gekannt, gelesen, und bei seinem Evangelio genützt: aber dem ungeachtet ist sein Evangelium zu jenen nicht zu zählen, zu jener nazarenischen Klasse nicht zu rechnen; sondern es macht allein eine Klasse vor sich aus.

§ 52

Die Meinung, dass Johannes ein bloßes Ergänzungsstück zu den drei übrigen Evangelien schreiben wollen, ist allerdings ungegründet.* Man darf ihn auch nur lesen, um ein ganz anderes zu empfinden.*

*Diese Zeichen, welche sich im Originale befinden, beweisen hinlänglich, dass zu diesem Paragraph Anmerkungen kommen, welche ich aber nirgends finden können.

§ 53

Dass Johannes aber sonach die übrigen drei Evangelisten auch gar nicht gekannt, ist ebenso unerweislich als unglaublich.

§ 54

Vielmehr, eben weil er die übrigen drei, und mehrere aus der nazarenischen Urkunde entstandene Evangelia gelesen hatte, weil er sah, was diese Evangelia für eine Wirkung machten: fand er sich gemüßigt, sein Evangelium zu schreiben.

§ 55

Denn wir dürfen uns nur erinnern, von wem sich das Evangelium der Nazarener eigentlich herschrieb. Von lauter Leuten, die persönlichen Umgang mit Christo gehabt hatten; die also von Christo, als Mensch, am überzeugtesten sein mussten, und außer Christi eignen Worten, die sie sich getreuer in das Gedächtnis, als deutlich in den Verstand geprägt hatten, nichts von ihm erzählen konnten, was nicht auch von einem bloßen, aber mit Kraft aus der Höhe ausgerüsteten wundertätigen Menschen hätte wahr sein können.

§ 56
Was Wunder also, dass nicht allein die palästinischen Judenchristen, denen der Name »Nazarener« vornehmlich zukam, sondern alle und jede Juden und Heiden, welche ihre Kenntnis von Christo mittelbar oder unmittelbar aus der nazarenischen Urkunde geschöpft hatten, Christo von seiten seiner Gottheit nicht genug Verehrung widerfahren ließen?

§ 57

Jene, selbst in ihrem ersten Ursprunge betrachtet, hätten unmöglich auch noch das Mosaische Gesetz beibehalten wollen, wenn sie Christum für mehr als einen außerordentlichen Propheten gehalten hätten. Ja, wenn sie ihn auch für den wahren versprochenen Messias hielten, und ihn, als den Messias, den Sohn Gottes nannten: so ist doch unstreitig, dass sie keinen solchen Sohn Gottes meinten, welcher mit Gott von gleichem Wesen sei.

§ 58
Wem dieses von den ersten Judenchristen einzuräumen zu bedenklich ist, der muss wenigstens zugestehen, dass die Ebioniten, das ist, diejenigen Judenchristen, welche sich noch vor der Zerstörung Jerusalems, jenseits des Jordans in Pella niederließen, und noch im vierten Jahrhundert kein anderes Evangelium erkannten, als das hebräische Original des Matthäus, dass, sag ich, die Ebioniten, nach dem Zeugnisse des Origenes, sehr armselig von Christo dachten, wenn es auch nicht wahr wäre, dass sie von dieser ihrer armseligen Denkungsart gar ihren Namen bekommen hätten.

§ 59
Ebenso hielt Cerinthus, welcher zwar ein Jude, aber schwerlich ein palästinischer Jude war, weil er unter die Gnostiker gerechnet wird, Christum für nichts, als den ehelichen, nach dem gewöhnlichen Laufe der Natur von Joseph und Maria erzeugten Sohn, weil er, oder daher er, entweder die hebräische Urschrift des Matthäus, oder den griechischen Matthäus für das einzige Evangelium annahm*.
*Nach dem, was ich in der Anmerkung zu §44 angeführt, scheint es mir sogar glaublich, dass er sich eine eigne Übersetzung des hebräischen Originals gemacht, und also selbst zu denen des Papias gehört, die den Matthäus so gut übersetzt, als sie gekonnt.

§ 60
Das nämliche gilt vom Karpokrates, der gleichfalls, entweder weil er nur den Matthäus annahm, keine höhere Idee von Christo haben konnte, oder weil er von Christo keine höhere Idee haben zu dürfen glaubte, nur den Matthäus annehmen konnte.

§ 61
Mit einem Worte: Rechtgläubige und Sektierer hatten alle von der göttlichen Person Christi entweder gar keinen oder einen ganz unrechten Begriff, solange kein anderes Evangelium vorhanden war, als die hebräische Urkunde des Matthäus, oder die aus ihr geflossenen griechischen Evangelia.

§ 62
Sollte also das Christentum unter den Juden nicht als eine bloße jüdische Sekte wieder einschlafen und verschwinden; sollte es unter den Heiden als eine besondere, unabhängige Religion bekleiden: so musste Johannes ins Mittel treten und sein Evangelium schreiben.

§ 63
Nur sein Evangelium gab der christlichen Religion ihre wahre Konsistenz: nur seinem Evangelio haben wir es zu danken, wenn die christliche Religion in dieser Konsistenz, allen Anfällen ungeachtet, noch fortdauert, und vermutlich so lange fortdauern wird, als es Menschen gibt, die eines Mittlers zwischen ihnen und der Gottheit zu bedürfen glauben: das ist, ewig.

§ 64
Dass wir sonach nur zwei Evangelien haben, den Matthäus und Johannes, das Evangelium des Fleisches und das Evangelium des Geistes, haben schon die alten Kirchenväter erkannt, und ist eigentlich noch von keinem neuem Orthodoxen geleugnet worden.

§ 65
Und nun hätte ich nur noch zu erklären, wie es gekommen, dass das Evangelium des Fleisches von drei Evangelisten gepredigt worden; wenn ich es nicht schon bereits erklärt habe. Denn genauer zu sprechen, hätte ich nur noch zu erklären, warum unter vielen andern aus der nazarenischen Urkunde geflossenen griechischen Evangelien, die Kirche außer dem Matthäus, nur eben noch den Markus und Lukas beibehalten; da die Ursache, welche Augustinus hiervon angibt, wohl schwerlich befriedigen dürfte.

§ 66
Ich will meine Meinung kurz sagen. Markus und Lukas wurden, nächst dem Matthäus, von der Kirche beibehalten, weil sie in vielen Stücken gleichsam die Kluft füllten, die zwischen dem Matthäus und Johannes liegt; und der eine ein Schüler des Petrus und der andere ein Schüler des Paulus gewesen war.

§ 67
Das, sag ich, ist meine Meinung, die eine hinlängliche Ursache angibt, warum man die vier Evangelisten zusammen in fast allen alten Abschriften so und nicht anders geordnet hat. Denn dass sie in eben der Ordnung der Zeit nach aufeinander geschrieben haben sollten, ist unerwiesen.

§ 68
Nur den Beweis dieser Meinung kann ich hier nicht führen, weil er durch Induktion geschehen muss, und ich die Beispiele nicht genug beisammen haben kann, um eine dergleichen Induktion zu einer Art von Demonstration zu machen.

Aus: Gotthold Ephraim Lessing, Werke in drei Bänden, Band 2, Schriften zu Theologie