Theodor Litt (1880 – 1962)

Deutscher Philosoph und Pädagoge, der seit 1919 als Professor in Bonn, seit 1920 in Leipzig tätig war und seit 1947 den philosophisch-pädagogischen Lehrstuhl in Bonn inne hatte. Litt lieferte wesentliche Beiträge zur Wissenschaftstheorie, besonders zu den Methodenproblemen der Geisteswissenschaften. Außerdem entwickelte er eine umfassende Kulturphilosophie (»Individuum und Gemeinschaft«, 1919) und philosophische Anthropologie (»Mensch und Welt«, 1948). In ihr verbinden sich Denkmotive des deutschen Idealismus und der Lebens- und Existenzphilosophie mit Ansätzen des Neukantianismus (Methodenfragen und Geltungsproblem).

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Lob des Alters
In der jüngsten Zeit hat die Allgemeinheit in zunehmendem Maße ihre Aufmerksamkeit der Tatsache zugewandt, dass dank den Fortschritten der Heilkunst das Durchschnittsalter der Menschen sich beträchtlich erhöht hat. Das ist eine Tatsache, die allerdings sehr ernst genommen sein will. Bisher hat sie das Nachdenken vorzugsweise um einer unerwünschten Wirkung willen beschäftigt. Entsprechend der Erhöhung des durchschnittlichen Lebensalters erhöht sich der prozentuale Anteil der alten Menschen an der Gesamtsumme der Bevölkerung. Volkswirtschaftlich gesehen bedeutet das: es erhöht sich der Anteil derjenigen Menschen, die selbst nicht mehr in wirtschaftlichem Sinne »produktiv« sein können und die deshalb von dem noch arbeitsfähigen, d. i. dem jüngeren Teil des Volkes miterhalten, miternährt werden müssen. Es erhöht sich, unverblümt gesprochen, der Prozentsatz der »unnützen Brotesser«. Daß das ein volkswirtschaftliches Problem ist, welches gerade den dergestalt belasteten Jüngeren viel zu denken gibt, liegt auf der Hand.

Es wäre niederdrückend, wenn die Bedeutung der genannten Tatsache sich in dieser volkswirtschaftlichen Feststellung erschöpfte. Wäre dies der Fall, so müsste man der medizinischen Wissenschaft grollen, dass sie dem arbeitsfähigen Teil des Volkes dieses Mehr an Verpflichtungen aufgebürdet hat. Sie werden es einem, der selbst zur Gruppe dieser Verzehrer gehört, nicht verargen, wenn er dem Problem auch noch andere, weniger beunruhigende Seiten abzugewinnen versucht. Vielleicht ist dies möglich, wenn wir statt nach den ökonomischen nach den seelisch-geistigen Wirkungen fragen, die das zahlenmäßige Anschwellen der Altersschicht nach sich zieht — besser gesagt: nach sich ziehen kann, wenn diese Schicht ihre Stunde recht versteht.

Das Leben, das eine völkische Gemeinschaft führt, gewinnt wesentliche Züge aus dem Umstand, dass es unter normalen Umständen das Zusammenleben, das Miteinanderleben verschiedener, deutlich unterschiedener Altersstufen ist. Indem unausgesetzt neue Glieder in die Gemeinschaft hineingeboren werden, alte durch den Tod aus ihr ausscheiden, ändert sich unaufhörlich der personale Bestand, aber es bleibt das Miteinander und Füreinander der gleichzeitig lebenden Altersstufen. Wieviel aus ihm an Bewegendem und Erfreuendem, aber auch an Niederdrückendem und Enttäuschendem hervorgehen kann, ist zu bekannt, als dass es eingehender Nachweise bedurfte. Wenn aber der Berührung zwischen den miteinander lebenden Altersstufen eine solche Lebensbedeutung zukommt, dann muss doch eine plötzlich eintretende numerische Verstärkung einer Altersstufe, dann muss doch die damit verbundene Veränderung des numerischen Verhältnisses zwischen den Altersstufen auch eine Wandlung des sie verbindenden Lebenszustandes zur Folge haben. Man denke sich, daß ein aus Alt und Jung zusammengesetzter geselliger Kreis plötzlich einen beträchtlichen Zufluss von ausschließlich alten Menschen erfährt: muss nicht aus dieser zunächst bloß quantitativen Verschiebung eine qualitative Abwandlung der Stimmung, Haltung, Tonart, Denkweise — kurzum des ganzen seelisch-geistigen Klimas, in dem der Kreis lebt, hervorgehen? Es hat eben doch eine unter den vereinigten Altersstufen eine Verstärkung erfahren, die ihren Anteil an der Meinungs- und Stimmungsbildung wesentlich erhöht.

Natürlich muss sich angesichts einer so tief eingreifenden Verschiebung die Frage erheben, ob sie, vom Ganzen der Gemeinschaft aus gesehen, zu begrüßen oder zu beklagen ist. Und indem wir diese Frage im Hinblick auf den seelisch-geistigen Gesamtzustand stellen, da zeigt es sich, wie sehr sich die Bedingungen der Beantwortung gegenüber der volkswirtschaftlichen Fragestellung abgewandelt haben. Der volkswirtschaftliche Sachverhalt, von dem wir ausgingen, ist ein Tatbestand, an dem durch menschlichen Willen kaum etwas zu ändern ist. Ober Arbeitsfähigkeit und -unfähigkeit entscheidet die Natur, und gegen ihren Spruch gibt es keine Berufung. Die innere, die seelische Haltung aber, in der der altgewordene Mensch seinen Platz in der Gemeinschaft einnimmt und ausfüllt, ist nicht ein von Natur Gegebenes, in das man sich wohl oder übel zu schicken hätte — sie ist ein lebendiges Sein, in dessen Gestaltung zwar viel Vorgegebenes, d. h. Angeborenes eingeht, das aber, als Ganzes genommen, durch seinen persönlichen Träger gemodelt und ausgerichtet sein will.

Hier zeigt es sich an einem eindrucksvollen Beispiel, wie sehr die Lebenssituation des Menschen sich von der des ihm äußerlich in mancher Hinsicht vergleichbaren Tieres unterscheidet. Auch das Tier durchläuft in seinem Leben die uns vom Menschen her vertrauten Altersstufen. Allein für das Tier ist eine jede dieser Stufen wirklich nur ein von Natur Gegebenes, in das es sich ohne jede Möglichkeit der Abwandlung zu schicken hat. Der Mensch hingegen ist diesem Zustande von Naturbestimmtheit noch vergleichsweise nahe, wenn er am Morgen seines Erdentages die Augen aufschlägt. Aber seine Entwicklung besteht in nichts anderem als darin, daß er sich dieser Naturgebundenheit Schritt für Schritt entwindet und mehr und mehr zum personenhaften Sein, d. h. zu einem Sein emporsteigt, das sich durch seinen Träger in Entscheidung und Verantwortung selbst gestaltet.

So ist für den Menschen wie sein ganzes Sein überhaupt so auch eine jede der von ihm zu durchschreitenden Altersstufen sowohl Gabe als auch Aufgabe, sowohl ein Vorrat an vielfach bestimmbaren inneren Möglichkeiten als auch die wählende Entscheidung zwischen diesen Möglichkeiten. Nun wollen wir uns nicht verhehlen, dass die Natur wie überhaupt so insbesondere im Alter an dem Menschen Veränderungen vornehmen kann, durch die er geistig wieder in den Zustand des seiner selbst nicht mächtigen Kindes zurücksinkt. Aber die Regel ist dies gottlob nicht. Und soweit dies nicht der Fall ist, gilt auch und erst recht von dem alt gewordenen Menschen der Satz, dass seine Altersstufe Gabe ist und Aufgabe zugleich. Und wenn die auf der Stufe des Alters Angelangten die numerische Verstärkung erfahren, von deren Feststellung wir ausgingen, so will und soll auch diese Verstärkung nicht weniger als Aufgabe denn als Gabe, nicht weniger als Verpflichtung denn als Vergünstigung verstanden sein. Mit dem Anteil an der Bildung des geistigen Gesamtklimas wächst die Größe der zu tragenden Verantwortung.

Daraus erhellt zugleich der Sinn der Themastellung, über die ich zu Ihnen zu sprechen habe. Gelobt zu werden verdient das Alter nicht als eine Gabe, die uns fertig in den Schoß fiele und lediglich genossen zu werden brauchte. Ob und wie weit es gelobt zu werden verdient, das bestimmt sich danach, was der für sich verantwortliche Mensch aus dieser Gabe zu machen weiß. Die Gunst, die er erfährt, wenn er ohne Schwächung des Geistes in hohe Jahre gelangt, ist das Angebot einer Möglichkeit, die so gut verscherzt und ausgeschlagen, wie angenommen und fruchtbar gemacht werden kann.

Sehe ich aber das Altsein als eine dem Ganzen gegenüber zu tragende Verpflichtung, dann will es mir scheinen, als läge eine geheimnisvolle innere Zweckmäßigkeit darin, dass es gerade dieses unser Zeitalter ist, das der Schicht der Alternden eine solche Verstärkung hat zuteil werden lassen. Diese Verstärkung kann, so meine ich, als Anpassung an die erhöhten Anforderungen verstanden werden, die die Epoche an die Altgewordenen stellt. Hier waltet so etwas wie eine innere Entsprechung zwischen dem Geschehen der Zeit und dem Lebensmaß der ihr Angehörigen.

Das ist ein Satz, der Befremden, ja entrüstete Ablehnung hervorrufen kann. Wie, du bringst es fertig, die Erhöhung des Lebensalters begrüßenswert zu finden in einer Epoche, die, wie es scheint, die Menschen nur alt werden lässt, um sie den Kelch des Jammers und der Enttäuschung bis zur Neige leeren zu lassen? Siehst du nicht, wie unermeßlich die Zahl derer ist, die ausrufen: »O hätte ich diese Tage nie gesehen! O wäre ich, bevor dies alles geschah, durch einen gütigen Tod dahingerafft worden!« So ist es in Wahrheit um die angebliche Entsprechung zwischen Zeitgeschehen und Lebensverlängerung bestellt.

Der hier wiedergebene Einwand gewinnt noch an Gewicht, wenn wir sehen, wie groß die Zahl der altgewordenen Menschen ist, die anscheinend ein Verfahren ausfindig gemacht haben, sich gewisse unerwünschte Folgen der Lebensverlängerung erfolgreich vom Leibe zu halten. Zu diesen Folgen gehört natürlich auch eine beträchtliche Vermehrung des Bestandes an Lebenserinnerungen, die der Mensch mit sich trägt. Nun bringt es der Charakter der von uns durchlebten Zeit mit sich, dass unter diesen Erinnerungen die beunruhigenden, quälenden, beschämenden einen breiten Raum einnehmen. Wie hilft man sich gegen diese innere Belastung? Man verbannt die Erinnerungen, die das Gemüt beschweren würden, aus dem Horizont des Bewusstseins. Man »verdrängt« sie, um den Kunstausdruck der Psychoanalyse zu gebrauchen. Ohne Zweifel würde dieses Verfahren nicht so weit verbreitet sein, wenn die Verlängerung des Lebens mit all ihren Konsequenzen als eine zum Zeitgeschehen hinzugehörige und entsprechend zu bejahende Veränderung angesehen und ausgetragen würde.

Ich glaube, wir können den Sinn, in dem das Alter gelobt zu werden verdient, nicht besser herausarbeiten als durch eine Auseinandersetzung mir denen, die der Verlängerung des Lebens mit so viel ausgesprochenen oder unausgesprochenen Vorbehalten begegnen.

Zunächst geben wir zu: es mag zutreffen, daß die Menschen der Generation, die der meinigen vorausging, äußerlich gesehen mehr Grund hatten, sich eine Verlängerung des Lebens zu wünschen als die Gesamtheit derer, die durch den Schicksalssturm des letzten Menschenalters hindurchgewirbelt worden sind und die auch heute noch nicht wissen, was ihnen an weiteren Heimsuchungen noch aufgespart ist. Von dem, was wir so »Glück« nennen, war jenen wirklich erheblich mehr zugeteilt als uns in diese Weltkrise Hineingeborenen. Und das Glück ist es doch wohl einzig und allein, was uns eine Verlängerung der Lebensdauer wünschbar machen kann!

Allein der große Geschichtsdenker HEGEL hat einmal den grausamen Satz ausgesprochen, dass in der Weltgeschichte die Zeiten des Glücks die leeren Blätter sind. Damit will er bestimmt nicht bloß sagen, diese Zeiten seien arm an erregenden und bewegenden Ereignissen. Er will sagen, dass der Mensch auf diesen Blättern nichts zu lesen findet, was ihm über Menschenart, Menschenwert, Menschenschicksal tiefere Einsichten vermitteln könnte. Zeiten des Glücks gestatten es dem Menschen, sich über die Abgründe zu täuschen, die er in seinem Innern trägt, und der Schicksalsverflechtungen zu vergessen, die ihn in Schuld und Unheil verstricken können. Sie verführen ihn, seinem eigenen Dasein ein Vertrauen zu schenken, das es, tiefer gesehen, nicht verdient. Sie bringen ihn in Gefahr, in der Beurteilung seiner Lebenssituation das Opfer einer grandiosen Illusion zu werden.

Wenn aber ein Zeitalter dergestalt den Betörungen eines scheinbar unzerstörbaren Glückszustandes erliegt, welches ist dann die Altersstufe, der die so bewirkte Irrung in erster Linie zu Lasten fällt? Es ist diejenige Stufe, deren natürliche Bestimmung es ist, aus dem Ganzen der Lebenserfahrung die Summe zu ziehen, das Heilsame wie das Bedrohliche beim Namen zu nennen, den Blick für Wert und Unwert zu schärfen, das Standhaltende von dem Vergänglichen zu sondern — kurzum: dem Menschen durch eine umfassende Rechenschaftsablage zur Klarheit über sich selbst zu verhelfen. Nie ist daran gezweifelt worden, dass diese Aufgabe, obzwar kein Lebensalter von der Teilnahme an ihrer Lösung dispensierend, doch schließlich auf der Stufe des Alters die günstigsten Bedingungen der Erfüllung antreffe. Es erübrigt sich, bei den Eigenschaften des Alters zu verweilen, im Hinblick auf die man ihm diese Mission zugesprochen hat: der Reife und Gelassenheit der Einsicht, bewirkt durch das Abklingen der Leidenschaften, die das Urteil trüben müssten — der Erhebung über die vergänglichen Interessen, die dazu raten könnten, das Erkannte entweder unausgesprochen zu lassen oder parteiisch zu färben — der verstehenden Aufgeschlossenheit für das Vielerlei menschlicher Meinungen und Strebungen. Die Hauptsache ist doch schließlich, dass der auf der Höhe des Alters Angelangte keine Lebensstufe als noch zu absolvierend und daher noch nicht erprobt vor sich hat, sondern die Gesamtheit der Stufen als bereits durchschritten bzw. im Vollzuge befindlich in seinem Horizont beisammen findet. So ist der alte Mensch als der auf ein Maximum an Lebenserfahrung rückwärts Blickende und damit als der mit der Aufgabe der Bilanzziehung Betraute gekennzeichnet und ausgezeichnet.

Allein wenn wir die Sendung, die das Alter vor den anderen Lebensstufen voraus hat, in diesem Sinne verstehen, dann erkennen wir auch, wie misslich es um die Erfüllung dieser Sendung in einem Zeitalter bestellt sein muss, das, arm an Begebenheiten großen Stils und damit an lebenerschließenden Erfahrungen, dem altgewordenen Menschen gewissermaßen die Posten versagt, aus denen sich eine ansehnliche Lebensbilanz zusammenstellen ließe. Jene Zeiten, von denen HEGEL sagt, dass sie die leeren Blätter in der Geschichte seien, verurteilen leicht den alten Menschen dazu, auch seinerseits eine Lebensbilanz der leeren oder wenigstens der nur dürftig gefüllten Blätter aufzustellen. Ich hoffe nicht den schuldigen Respekt zu verletzen, wenn ich gestehe, dass ich an den Menschen, deren Altersjahre in die Jahrhundertwende fielen, unbeschadet aller auch ihnen erreichbaren Reife, Güte und Abgeklärtheit, doch einen Zug von Wirklichkeitsfremdheit, ja einen Hang zur Selbstbeschwichtigung zu bemerken glaube, wenn ich mich frage, wie sie über den Menschen im allgemeinen, über das Maß der ihm vergönnten äußeren Lebenssicherheit und inneren Unanfechtbarkeit dachten. Ihre Lebensbilanz war glatt und übersichtlich, aber, so sehen wir heute, vielfach allzu harmlos und vertrauensvoll.

Dies die Lage, in der sich vor einem halben Jahrhundert die alten Menschen befanden, die darangingen, ihre Lebensrechnung aufzustellen. An ihr als Gegenbild zeichnet sich die Andersartigkeit der Situation ab, die heute den zu hohen Jahren Gelangten bei gleichem Vorhaben umfängt. Uns macht es keine Mühe, die Blätter des Kontobuches zu füllen. Im Gegenteil will es uns manchmal scheinen, als ob sie nicht ausreichten, die Fülle des Aufzunehmenden zu fassen. Es ist wahrhaftig nicht unser Verdienst, dass dem so ist. Ohne unser Zutun sind wir in eine Epoche hineingeworfen worden, die das der Generation unser Väter Versagte an uns überreichlich nachgeholt hat, die uns mit Erfahrungen überschüttet hat, mit denen fertig zu werden wir verzweifeln möchten. Aber eins hat die Epoche uns wirklich gegeben: eine Aufgabe, die auch das in seiner Dauer verlängerte Alter vollkommen, ja überreichlich auszufüllen geeignet ist. Dies ist es, worauf ich hindeutete, wenn ich die Verlängerung der Lebensdauer zu den Ereignissen des Zeitalters glaubte in Beziehung setzen zu dürfen. Blicken wir zurück auf das, was uns Alten in sechs, sieben, acht Jahrzehnten an unaufhörlich wechselnden Schicksalen durchzustehen auferlegt war, blicken wir zurück auf das menschliche Drama, das sich so gut in unseren vom Sturm der Geschichte geschüttelten Seelen wie auf der Bühne der Weltgeschichte selbst abgespielt hat — wie gewaltig, wie verpflichtend muss uns dann die Aufgabe erscheinen, diese ganze Erinnerungslast aufzuarbeiten, aus ihr hervorzuholen, was sie an möglichen Aufschlüssen, an Mahnungen und Warnungen enthält, sie aus einer unbegriffenen Ereignis-Folge in ein von innen heraus verstandenes Gesamtgeschehen zu verwandeln. Eine lehrreiche Wendung unserer Sprache besagt, dass Erfahrungen »gemacht« sein wollen. Das bedeutet: sie werden uns nicht abgerundet und sozusagen gebrauchsfertig geschenkt. Die Schicksale, die über uns kommen, sind nicht schon Erfahrung; sie werden es erst dadurch, dass sie von uns aufgenommen, angeeignet, gedeutet, in unsere Lebensrechnung eingeordnet werden. Dass so der Mensch das seinige hinzutun muss, auf dass aus nackten Tatsachen echte Erfahrung werde, das hat zur bedenklichen Kehrseite, dass der Mensch sich an möglichen Erfahrungen vorbeidrücken, daß er sich wider sie verstocken, ihnen den Zugang zu seinem Gemüt verweigern kann. Es gibt im menschlichen Leben unendlich viel an unausgetragenen, verschmähten und verscherzten Erfahrungen.

Wiederum gibt es keine Altersstufe, für die diese mögliche Versäumnis so verhängnisvoll, so zerstörerisch wäre wie für das Alter. Der auf der Höhe des Lebens und in voller Tätigkeit Stehende mag sich für das, was er der besinnlichen Verarbeitung des Erlebten schuldig bleibt, durch Berufung auf die ihn gänzlich ausfüllende Forderung des Tages entschuldigen. Der alte Mensch, aus der Dienstbarkeit des tätigen Lebens entlassen und sich selbst anheimgegeben, kann sich nicht durch den Hinweis auf die Vordringlichkeit sofort zu erfüllender Pflichten entlasten, wenn er der Lebensbesinnung das ihrige zu geben unterlässt. Im Gegenteil: wenn er sich ihr entzieht, dann verweigert er dem Lebensganzen den Beitrag, den abzuliefern gerade seine besondere Pflicht ist.

Aus diesem Grunde scheint es mir besonders beklagenswert, wenn wir die weitverbreitete Neigung, die Vergangenheit in ihrem unbequemen, drückenden, beschämenden Partien aus dem Blickfeld der Erinnerung zu verdrängen, auch und gerade in der alten Generation so kräftig gedeihen sehen. Wir Alten sind die letzten, die es sich gestatten dürften, die Seiten der Lebensrechnung, die auszufüllen ein überreicher Stoff sich darbietet, dadurch künstlich zu leeren Seiten zu machen, dass wir diesem Stoff unser Interesse, ja unsere Anerkennung verweigern. Dann allerdings ist der alte Mensch wirklich der unnütze Brotesser, wenn er die mit ihm lebenden jüngeren Altersstufen in den Schwächen und Versäumnissen bestärkt, denen entgegenzuarbeiten seine Bestimmung wäre. Dann allerdings büßt das Alter den Anspruch, »gelobt« zu werden, bis auf den letzten Rest ein, wenn es sich der ihm zugewiesenen Aufgabe so bedenkenlos versagt.

Allein — so mag zum Schluss wohl gefragt werden — kann und darf denn das, was hier als Lebensbestimmung des Alters ausgesprochen wurde, mit Fug ein »Lob« des Alters heißen? Ist es nicht vielmehr das Bekenntnis zu einer nur zu oft bedrückenden Verpflichtung? Soll man eine Lebensstufe deshalb preisen, weil ihr unter Umständen nicht bloß die Vergegenwärtigung herzkränkender Enttäuschungen, sondern auch das Eingeständnis krasser Irrtümer und sträflicher Verfehlungen auferlegt ist? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, welche Bedeutung man der Rechenschaftsablage beilegt, die an solch unerfreulichen Posten um so reicher sein muss, je bewegter die zu beleuchtende Epoche gewesen ist. Hält man dafür, daßssdie Erinnerung an Schmerzliches oder Bloßstellendes nicht mehr ist als das Zurückkommen auf gottlos Abgetanes und Erledigtes, dann allerdings kann man sie als das höchst überflüssige Herumwühlen in Wunden ansehen, die, würden sie in Ruhe gelassen, längst auf dem Wege der Heilung wären. Nun aber sieht es in Wahrheit so, daß zum Aufbau eines sinnvollen, eines wahrhaft menschlichen Lebens auch dies hinzugehört, daß wie das genossene Glück so auch das bestandene Leid, wie die rühmliche Bewährung so auch die beschämende Verfehlung unabgeschwächt und unbeschönigt der Lebensbeichte eingefügt werden, ja dass Leid und Verfehlung gerade und nur im Lichte einer aufrichtigen Selbsterforschung ihren Stachel einbüßen. Welcher Widersinn also, einem Lebensalter deshalb die positive Bewertung zu versagen, weil es an der das Dunkle nicht verschweigenden Rechenschaftsablage seinen geistigen Kern hat! Seien wir dankbar, dass uns eine Lebensstufe geschenkt ist, die die Landschaft des Lebens in das milde Licht abendlicher Späte eintaucht und so das Gemüt zu jener Gelassenheit stimmt, die auch dem scheinbar Unerträglichen nicht ausweicht!

Kröner, Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 286, Der alte Mensch in unserer Zeit,
Das Heidelberger Studio, eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks S. 9-19
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