John Locke (1632 - 1704)
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Englischer
Philosoph, welcher der eigentliche Begründer der neuzeitlichen Philosophie der Aufklärung und des englischen
Empirismus ist. Locke bekämpfte darin
die Lehre von den angeborenen Ideen (Descartes,
Cambridger Schule). Das Bewusstsein ist nach seiner Ansicht ursprünglich eine »leere Tafel« (tabula
rasa). Als einzige Erfahrungsquelle akzeptiert er die
(äußere) Sinneswahrnehmung (sensation) und die (innere) Selbstbeobachtung (reflection).
Die Sprache ist ein System von Zeichen, in dem Vorstellungen und ihre Beziehungen vertreten werden (Nominalismus). Seine Staatslehre geht von einem vorstaatlichen Naturrecht auf Eigentum aus, das der Staat, dem keinerlei Gewalt über Leben und Tod zusteht, zu schützen hat.
Gegen den verfassungswidrig regierenden Herrscher habe das Volk das Recht
des Widerstands. Gegen Thomas Hobbes formulierte er den Grundsatz der Volkssouveränität, der monarchischen Exekutive (auch in der Außenpolitik) und des Repräsensativsystems. Seine Gedanken wurden grundlegend für die Theorie der englischen Demokratie und beeinflussten über Voltaire und Montesquieu auch das weitere europäische Denken. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Unsere
komplexe Idee von Gott.
34. Wenn ich finde, dass mir einige wenige Dinge bekannt sind. Wenn wir die Idee prüfen, die wir von dem unbegreiflichen höchsten Wesen haben, so finden wir, dass wir sie auf dieselbe Weise erlangen und dass die komplexen Ideen, die wir sowohl von Gott als von den für sich bestehenden geistigen Wesen haben, aus den einfachen Ideen gebildet sind, die wir von der Reflexion empfangen. So haben wir beispielsweise aus dem, was wir in uns selber erfahren, die Ideen der Existenz und der Dauer, der Erkenntnis und der Kraft, der Freude und des Glücks sowie von verschiedenen anderen Qualitäten und Kräften erworben, deren Besitz ihrem Mangel vorzuziehen ist. Wenn wir uns dann eine möglichst angemessene Idee vom höchsten Wesen bilden wollen, so erweitern wir jede dieser Ideen mit Hilfe unserer Idee der Unendlichkeit; indem wir sie zusammenschließen, bilden wir auf diese Weise unsere komplexe Idee von Gott. Dass nämlich der Geist die Kraft besitzt, einzelne von seinen von Sensation oder Reflexion empfangenen Ideen so zu erweitern, ist bereits gezeigt worden.
Unsere komplexe Idee von Gott als einem Unendlichen.
d und manche von ihnen oder vielleicht gar alle unvollkommen, so kann ich die Idee von einer doppelt so umfassenden Erkenntnis bilden und diese Idee immer wieder vervielfältigen, solange mein Zahlenvorrat reicht. So kann ich meine Idee der Erkenntnis erweitern, bis sie die Gesamtheit aller vorhandenen oder möglichen Dinge umfaßt. Ebenso kann ich mit der Idee einer immer vollkommeneren Erkenntnis der Dinge, das heißt aller ihrer Qualitäten, Kräfte, Ursachen, Folgen, Relationen usw., verfahren, bis alles, was in den Dingen enthalten ist oder sich irgendwie auf sie bezieht, vollständig erkannt ist. Auf diese Weise kann ich die Idee unendlicher oder grenzenloser Erkenntnis bilden. Ein gleiches kann mit der Idee der Kraft geschehen, bis wir zu derjenigen Kraft gelangen, die wir unendlich nennen, oder auch mit der Idee der Dauer einer Existenz ohne Anfang und Ende; auf diese Weise bilden wir die Idee eines ewigen Wesens. Ist der Grad oder der Umfang, in dem wir dem höchsten Wesen, das wir Gott nennen, Existenz, Kraft, Weisheit und alle anderen Vollkommenheiten (von denen wir irgendwelche Ideen haben können) zuschreiben, völlig grenzenlos und unendlich, dann bilden wir von Gott die beste Idee, deren unser Geist fähig ist. Das alles geschieht, wie gesagt, indem wir die durch Reflexion von den Operationen unseres eigenen Geistes oder durch unsere Sinne von äußeren Dingen entnommenen einfachen Ideen bis zu dem gewaltigen Umfang erweitern, wozu die Unendlichkeit sie ausdehnen kann.
Gott
ist seinem Wesen nach unerkennbar.
35. Denn die Unendlichkeit ist es, die in Verbindung mit unseren Ideen von Existenz,
Macht, Erkenntnis usw. die komplexe Idee ausmacht, durch die wir uns, so gut
wir können, das höchste Wesen vergegenwärtigen. Denn obgleich
Gott seinem Wesen nach (das uns sicherlich unbekannt ist, da wir nicht einmal
das tatsächliche Wesen eines Kieselsteins, einer Fliege oder unseres eigenen
Ichs kennen) einfach und unzusammengesetzt ist, so glaube ich doch sagen zu
dürfen, daß wir von ihm keine andere Idee haben als eine komplexe,
die aus unendlicher und ewiger Existenz, Kenntnis, Macht, Glück usw. zusammengesetzt
ist. Dies sind lauter selbständige Ideen, von denen manche als relative
wieder aus anderen zusammengesetzt sind. Sie alle aber sind, wie gezeigt, ursprünglich
durch Sensation und Reflexion erworben und bilden miteinander unsere Idee oder
unseren Begriff von Gott.
Aus: John Locke: Versuch über den menschlichen
Verstand, Band I ( S.392-393)
Felix Meiner Verlag, Philosophische Bibliothek, Band 75
Offenbarung
Gottes durch die Stimme der Vernunft
Wenn wir eine Idee herausfinden, durch deren Vermittlung wir den Zusammenhang
zweier anderer entdecken, so ist das für uns eine Offenbarung
Gottes durch die Stimme der Vernunft; denn wir gelangen so zu der Erkenntnis
einer Wahrheit, von der wir vorher nichts wußten. Wenn Gott uns eine Wahrheit
verkündet, so ist das für uns eine Offenbarung durch die Stimme seines
Geistes, die uns in unserem Wissen fortschreiten läßt. Aber in keinem
der beiden Fälle erhalten wir unsere Erleuchtung oder Erkenntnis durch
Axiome. Vielmehr wird uns diese in dem einen Falle durch die Dinge selbst gegeben;
wir erkennen ihre Wahrheit, indem wir ihre Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung
wahrnehmen. Im andern Falle erlangen wir sie unmittelbar durch Gott selbst;
wir erkennen die Wahrheit seiner Worte an seiner nie irrenden Wahrhaftigkeit.
Aus: John Locke: Versuch über den menschlichen
Verstand, Band II ( S.267)
Felix Meiner Verlag, Philosophische Bibliothek, Band 76
Über
unser Wissen von der Existenz Gottes
Wir sind imstande mit Gewissheit zu erkennen, daß es einen
Gott gibt.
1. Gott hat uns zwar keine angeborenen Ideen von
sich selbst gegeben, er hat unserm Geist keine ursprünglichen Schriftzeichen
eingeprägt, aus denen wir sein Dasein ablesen könnten; dennoch aber
hat er sich nicht unbezeugt gelassen, indem er uns nämlich die Fähigkeiten
verlieh, die unsere geistige Ausrüstung bilden. Wir besitzen Sinne, Wahrnehmung
und Vernunft, so daß es uns an einem klaren Beweis für ihn nicht
fehlen kann, solange wir noch wir selber sind. So haben wir auch kein Recht, uns über Unwissenheit
in diesem wichtigen Punkte zu beklagen; denn Gott hat uns reichlich mit den
Mitteln versehen, die es uns ermöglichen, ihn zu entdecken und zu erkennen,
soweit dies für den Zweck unseres Daseins und die wichtige Frage unserer Glückseligkeit notwendig ist. Nun mag dies
zwar die olfenkundigste Wahrheit sein, die die Vernunft ermittelt; auch mag
ihre Augenscheinlichkeit (wenn ich mich nicht irre) mathematischer
Gewißheit gleichkommen. Trotzdem erfordert sie Nachdenken und Aufmerksamkeit;
ja, der Geist muß sich um eine regelrechte Herleitung aus irgendeinem
Teil unseres intuitiven Wissens bemühen. Sonst bleiben wir über diesen
Satz in derselben Unsicherheit und Ungewißheit wie über andere Sätze,
die an sich klar bewiesen werden können. Um nun aber zu zeigen, daß wir imstande sind zu wissen,
das heißt dessen gewiß zu sein, daß es einen Gott gibt, und wie wir zu dieser
Gewissheit gelangen können, brauchen wir
meines Erachtens nicht weiter zu gehen als bis zu
uns selbst und
zu dem unzweifelhaften Wissen, das wir von unserer eigenen
Existenz besitzen.
Denn der Mensch
weiß, dass er selbst existiert.
2. Es steht meiner Meinung nach außer Frage, daß der Mensch eine
klare Idee von seinem eigenen Dasein besitzt; er weiß bestimmt, daß
er existiert und dass er etwas ist. Wer daran zweifeln kann, ob er irgend
etwas sei oder nicht, mit dem streite ich nicht; ebensowenig verhandle ich mit
dem reinen Nichts oder bemühe mich, das Nichtsein davon zu überzeugen,
dass es etwas sei. Wenn jemand behauptet, so skeptisch zu sein, dass er seine eigene Existenz leugnet (denn tatsächlich
daran zu zweifeln, ist offenbar unmöglich), so mag er meinetwegen
das ihm so liebe Glück, nichts zu sein, solange auskosten, bis der Hunger
oder eine andere Schmerzempfindung ihn vom Gegenteil überzeugt. Das eine
darf ich also wohl als eine Wahrheit ansehen, die jedem infolge sicherer Erkenntnis
feststeht, ohne dass
irgendein Zweifel möglich wäre, nämlich dass er etwas tatsächlich Existierendes ist.
Er weiß
auch, dass das Nichts kein Seiendes hervorbringen kann; deshalb muss
etwas von Ewigkeit her existiert haben.
3. Ferner weiß der Mensch durch
intuitive Gewissheit, daß das reine
Nichts ebensowenig ein reales Sein hervorbringen wie gleich der Summe zweier
rechter Winkel sein kann. Wenn jemand nicht weiß,
daß das Nichtsein, das heißt die Abwesenheit alles Seins, nicht
gleich der Summe zweier rechter Winkel sein kann, so kann er unmöglich
einen einzigen Beweis im Euklid verstehen. Wenn wir demnach wissen, dass
es ein reales Dasein gibt, und ferner, dass das Nichtsein ein solches nicht
hervorbringen kann, so ist es offensichtlich bewiesen, dass von Ewigkeit
her irgend etwas bestanden hat;
denn was nicht von Ewigkeit her dagewesen ist, hat einen Anfang
gehabt; was aber einen Anfang gehabt hat, muss durch etwas anderes hervorgebracht
sein.
Das ewige Wesen
muß das mächtigste sein.
4. Weiter leuchtet ein, daß dasjenige, was sein Dasein und seinen Ursprung
etwas anderem verdankt, auch alles, was in seinem Sein umschlossen ist und zu
diesem Sein gehört, von etwas anderem erhalten haben muss. Alle Kräfte,
die es besitzt, müssen auf dieselbe Quelle zurückzuführen sein
und von dieser Quelle mitgeteilt sein. Diese ewige Quelle alles Seins muss somit auch Quelle und Ursprung aller Kraft sein; demnach muss dieses
ewige Wesen auch das mächtigste sein.
Und überaus
wissend.
5. Ferner findet der Mensch in sich selbst Wahrnehmung und Wissen. Damit gelangen
wir einen Schritt weiter und sind nun dessen gewiß, daß es in der
Welt nicht nur etwas Seiendes gibt, sondern ein wissendes und denkfähiges
Wesen. Es gab also eine Zeit, in der noch kein wissendes Wesen existierte und
in der das Wissen zu sein begann. Oder aber es hat von
Ewigkeit her auch ein wissendes Wesen gegeben. Angenommen, jemand behauptet, es habe eine Zeit gegeben,
in der kein Wesen irgendwelches Wissen besaß, in der jenes ewige Wesen
noch ohne allen Verstand war. Darauf erwidere ich, daß es dann unmöglich
jemals irgendwelches Wissen hätte geben können. Denn es ist ebenso
unmöglich, daß Dinge, die ohne alles Wissen sind, die blind wirken
und keinerlei Wahrnehmung besitzen, ein wissendes Wesen hervorbringen, wie es
unmöglich ist, daß sich ein Dreieck drei Winkel schüfe, deren
Summe größer ist als zwei rechte. Denn es widerspricht doch der Idee
der empfindungslosen Materie ebensosehr, daß sie sich selbst Sinnesempfindung,
Wahrnehmung und Erkenntnis einpflanzen sollte, wie es mit der Idee des Dreiecks
unvereinbar ist, daß es sich Winkel geben sollte, deren Summe größer
wäre als zwei rechte.
Deshalb muß
es Gott geben.
6. So führt uns unsere Vernunft von der Betrachtung unserer selbst und
dessen, was wir unfehlbar in unserer eigenen Beschaffenheit finden, zu der Erkenntnis
dieser sicheren und offenkundigen Wahrheit, dass es ein
ewiges, allmächtiges und allwissendes Wesen gibt. Dabei
spielt es keine Rolle, ob man es nun Gott nennen will. Die Sache selbst ist
klar; und aus dieser Idee lassen sich, wenn man sie recht betrachtet, leicht
alle die anderen Eigenschaften herleiten, die wir diesem ewigen Wesen zuschreiben
müssen. Sollte sich nichtsdestoweniger jemand finden, der törichterweise
so anmaßend wäre, daß er annähme, der Mensch allein besitze
Erkenntnis und Weisheit, obwohl er ein Erzeugnis der reinen Unwissenheit und
des bloßen Zufalls sei, und daß er ferner meine, das gesamte übrige
Weltall werde nur durch jenes blinde Ungefähr bewegt, so möchte ich
ihn auf den sehr vernünftigen und nachdrücklichen Tadel des Cicero
verweisen (de leg. lib. II), den er mit Muße
erwägen möge: »Kann es wohl noch eine
einfältigere Anmaßung und etwas noch Unangemesseneres geben als wenn
jemand denkt, er selbst trage zwar Geist und Verstand in sich, im ganzen übrigen
Weltall aber sei nichts derartiges vorhanden! Oder die Dinge, die er mit Aufbietung
seiner ganzen Vernunft kaum begreifen kann, würden ohne jedwede Vernunft
bewegt und gelenkt«.
[Quid
est enim venus, quam neminem esse oportere tam stulte arrogantem, ut in se mentem
et rationem putet inesse, in coelo mundoque non putet? Aut ea quae vix summa
ingenii ratione comprehendat, nulla ratione moveri putet?
Denn was ist wahr, als daß niemand in törichter Weise anmaßend
sein darf, daß er glaubt, in ihm selbst sei Geist und Vernunft, im Himmel
und in der Welt aber nicht, oder daß das, was er kaum mir der höchsten
Vernunft seines Geistes begreift, von keiner Vernunft bewegt werde.]
Für mich ergibt sich aus dem Gesagten klar, dass wir von der Existenz Gottes eine gewissere Erkenntnis besitzen als von irgendeinem andern Ding, das uns unsere Sinne nicht unmittelbar enthüllt haben. Ja, ich glaube behaupten zu dürfen, dass wir mit größerer Sicherheit wissen, dass es einen Gott gibt, als daß irgend etwas außer uns existiert. Wenn ich sage, wir wissen, so meine ich damit, dass uns ein Wissen erreichbar ist, welches uns dann nicht entgehen kann, wenn wir uns nur mit unserm Denken ebenso darum bemühen wie um manche anderen Forschungen.
Unsere Idee
von einem höchst vollkommenen Wesen ist nicht der einzige Beweis für
einen Gott.
7. Ich will hier nicht untersuchen, wieweit die Idee von einem höchst vollkommenen
Wesen, die sich der Mensch in seinem Geiste bilden kann, die Existenz eines
Gottes beweist oder nicht beweist. Denn bei der verschiedenen Veranlagung und
Denkart der Menschen haben für die Bestätigung ein und derselben Wahrheit
manche Gründe für den einen und manche für den anderen die größere
Beweiskraft. Jedenfalls glaube ich soviel sagen zu dürfen: Es ist nicht
der rechte Weg, um diese Wahrheit zu begründen und die Atheisten zum Schweigen
zu bringen, wenn man dieser ganzen so schwerwiegenden und bedeutsamen Frage
keinerlei andere Grundlage gibt, als dass man die Tatsache, daß die
Gottesidee im Geist mancher Menschen vorhanden ist, für den einzigen Beweis
für das Dasein einer Gottheit ansieht. Denn es ist augenscheinlich, dass
nicht alle Menschen diese Gottesidee besitzen; manche haben sie nicht, andere
wieder haben eine solche, die schlechter ist als gar keine; endlich ist festzustellen,
daß die meisten Menschen ganz verschiedene Ideen von Gott haben.
Daher halte ich es für falsch, wenn man aus übertriebener Vorliebe
zu dieser Lieblingserfindung alle anderen Gründe verwirft oder wenigstens
zu entwerten versucht; es ist nicht richtig, wenn man uns verbieten will, auf
die Beweise zu hören — als seien sie nicht stichhaltig oder trügerisch
—, die unsere eigene Existenz und die sinnlich wahrnehmbaren Teile des
Weltalls unserm Denken so klar und zwingend darbieten, daß es mir für
einen nachdenkenden Menschen unmöglich erscheint, sich ihnen zu verschließen.
Denn ich halte es für eine so klare und gewisse Wahrheit, wie sie nur irgend
gelehrt werden kann, daß »Gottes unsichtbare
Dinge aus der Erschaffung der Welt klar erkennbar sind, indem sie mit Hilfe
der erschaffenen Dinge verstanden werden, sogar seine ewige Macht und Gottheit«
(Vergl. Röm. 1,20). Nun stattet uns
zwar unser eigenes Dasein, wie ich gezeigt habe, mit einem einleuchtenden und
unbestreitbaren Gottesbeweis aus, dessen zwingender Kraft sich, wie ich glaube,
niemand entziehen kann, der ihn nur ebenso sorgfältig prüfen will
wie irgendeinen andern Beweis aus ebenso vielen Teilen. Jedoch handelt es sich
hier um eine fundamentale Wahrheit von so großer Bedeutung, daß
alle Religion und alle echte Moral auf ihr beruhen; daher zweifle ich nicht
daran, daß mir der Leser verzeihen wird, wenn ich auf einige Punkte dieser
Beweisführung noch einmal zurückkomme und sie etwas eingehender darlege.
Zusammenfassung:
Es besteht etwas von Ewigkeit her.
8. Keine Wahrheit leuchtet mir mehr ein, als dass etwas
von Ewigkeit her bestanden haben muss. Nie habe ich
gehört, daß jemand so unvernünftig gewesen wäre oder einen
so offenbaren Widerspruch vorausgesetzt bitte wie eine Zeit, in der überhaupt
nichts existierte. Denn es ist von allen Absurditäten die größte,
sich vorzustellen, daß das reine Nichts, die völlige Verneinung und
Abwesenheit alles Seienden jemals eine reale Existenz erzeugen sollte.
Somit ist für alle vernunftbegabten Wesen der Schluss unvermeidlich,
dass etwas von Ewigkeit her existiert hat; als nächstes wollen wir
nun untersuchen, von welcher Beschaffenheit
dieses Etwas sein
muss.
Es gibt zwei
Arten von Wesen: denkende und nicht denkende.
9. Es gibt in der Welt nur zwei Arten von Wesen, die der Mensch kennt oder begreift:
Erstens, solche, die rein materiell, ohne Sinne, Wahrnehmung oder Denken sind,
wie abgeschnittene Barthaare und Fingernägel.
Zweitens, empfindende, denkende, wahrnehmende Wesen, zu denen, wie wir finden,
wir selbst gehören. Wenn es dem Leser recht ist, wollen wir diese zwei
Gruppen von Wesen im folgenden denkende und nicht denkende nennen; diese Ausdrücke erscheinen mir, wenigstens für
unsere gegenwärtige Aufgabe, besser geeignet zu sein als die Wörter
materiell und immateriell.
Ein nicht denkendes
Wesen kann kein denkendes erzeugen.
10. Wenn es also etwas Ewiges geben muß, so wollen wir sehen, zu welcher
Art von Seiendem es gehören müsse. In dieser Hinsicht ist es für
die Vernunft ganz offensichtlich, daß es notwendig ein denkendes Wesen
sein muß. Denn es ist ebenso unmöglich zu begreifen, daß jemals
die bloße, nicht denkende Materie ein denkendes, verständiges Wesen
hervorbringen, wie daß das Nichts aus sich heraus die Materie erzeugen
sollte. Stellen wir uns ein beliebiges Stück Materie, es mag groß
oder klein sein, als ewig vor, so werden wir finden, daß es von sich aus
unfähig ist, irgend etwas zu erzeugen. Nehmen wir zum Beispiel an, daß
der Stoff des erstbesten Kieselsteins, dem wir begegnen, ewig sei; stellen wir
uns vor, er besteht aus einer dichten Masse, deren Teilchen fest und ruhig nebeneinander
lagern. Müßte dieser Kieselstein, wenn es kein anderes Wesen in der
Welt gäbe, nicht der tote, untätige Klumpen bleiben, der er ist? Ist
es möglich, sich vorzustellen, daß er, der reine Materie ist, sich
selbst Bewegung geben oder irgend etwas erzeugen könne?
Die Materie kann also nicht einmal aus eigener Kraft Bewegung in sich erzeugen;
die Bewegung, die sie hat, muß entweder gleichfalls von Ewigkeit her bestehen
oder aber von einem andern Wesen, das mächtiger ist als die Materie, erzeugt
und ihr mitgeteilt sein. Denn es ist offensichtlich, daß die Materie nicht
die Kraft besitzt, Bewegung in sich selbst zu erzeugen. Nehmen wir nun an, daß
auch die Bewegung ewig sei; dann könnte doch die Materie — die nicht
denkende Materie und Bewegung —
niemals das Denken erzeugen, gleichviel, welche Veränderungen von Gestalt
und Größe sie auch hervorrufen mag.
Die Erzeugung des Wissens wird immer ebenso weit über das Vermögen
der Bewegung und der Materie hinausgehen wie die Erzeugung der Materie über
das Vermögen des Nichts oder des Nichtseienden. Ich berufe mich auf das
Denken jedes einzelnen, ob er sich nicht ebenso leicht die Materie aus dem
Nichts entstanden
vorstellen kann wie das Denken aus der reinen Materie, wenn vorher nichts derartiges
wie das Denken oder ein verständiges Wesen existiert hat. Man teile die
Materie in beliebig viele Teile (wir sind geneigt, uns
ein solches Verfahren als eine Vergeistigung oder Umwandlung der Materie in
ein denkendes Wesen vorzustellen); man verändere ihre Gestalt und
Bewegung, soviel man will; man bilde eine Kugel, einen Würfel, einen Kegel,
ein Prisma, einen Zylinder usw., man lasse den Durchmesser nur ein Hunderttausendstel
eines Gry betragen, so werden doch die betreffenden Körper auf andere Körper
von entsprechender Größe nicht anders einwirken als solche von einem
Zoll oder einem Fuß Durchmesser.
Vernünftigerweise kann man ebensogut damit rechnen, Sinnesempfindung, Denken
und Wissen zu erzeugen, indem man grobe Stücke Materie Zu bestimmter Gestalt
und Bewegung zusammenfügt, als indem man das mit den winzigsten Teilchen
tut, die überhaupt existieren. Sie stoßen und treiben sich und leisten
einander Widerstand, genau wie die größeren; das ist aber auch alles,
wozu sie imstande sind. Wenn wir also das Nichts als primär oder ewig ansehen,
so kann die Materie niemals anfangen zu sein.
Wenn wir die reine Materie ohne Bewegung als ewig voraussetzen, so kann die
Bewegung niemals zu sein beginnen. Wenn wir nur Materie und Bewegung als erstes
oder ewiges annehmen, so kann das Denken niemals zu sein beginnen. Denn es ist
unmöglich, sich vorzustellen, daß die Materie — entweder mit
oder ohne Bewegung — ursprünglich in sich selbst und aus sich selbst
Sinnesempfindung, Wahrnehmung und Erkenntnis besessen haben sollte; das geht
klar daraus hervor, daß dann Sinnesempfindung, Wahrnehmung und Erkenntnis
Eigenschaften sein müßten, die mit der Materie und mit jedem ihrer
Teilchen von Ewigkeit
her untrennbar verbunden wären. Hierbei will ich gar nicht erst erwähnen,
daß unsere allgemeine oder besondere Auffassung von der Materie uns dazu
führt, von ihr zu reden, als sei sie etwas Einheitliches; dabei ist doch
in Wirklichkeit die gesamte Materie nicht ein Einzelding.
Ja, es gibt auch nicht so etwas wie ein materielles Sein oder
einen einzelnen Körper, den wir
kennen oder uns auch nur vorstellen können. Wenn wir demnach voraussetzen,
daß die Materie das ewige, erste denkende Wesen wäre, so würde
es gar nicht ein einziges ewiges, unendliches denkendes Wesen geben, sondern
eine unendliche Anzahl von ewigen, endlichen denkenden Wesen; diese wären
voneinander unabhängig, hätten begrenzte Kräfte und verschiedenes
Denken; sie könnten nie jene Ordnung, Harmonie und Schönheit erzeugen,
die in der Natur zu finden sind. Folglich muß das erste
ewige Wesen, was es auch sei, notwendig ein denkendes sein; es muß das erste von allen Dingen, was dies auch sein
mag, notwendig in sich enthalten. Es muss ferner zum mindesten alle Vollkommenheiten,
die später je existent werden können, tatsächlich besitzen; denn
es kann nie einem anderen Ding eine Vollkommenheit mitteilen, die es nicht selbst
in gleichem oder höherem Grade besitzt. [Daher folgt
mit Notwendigkeit, dass das erste ewige Wesen nicht die Materie sein kann.]
Es hat deshalb
ein ewig denkendes Wesen gegeben.
11. Wenn es demnach einleuchtet, dass notwendig irgend etwas von Ewigkeit
her bestehen muss, so leuchtet ebensosehr ein, dass dieses Etwas notwendig
ein denkendes Wesen sein muss; denn es ist ebenso unmöglich, daß
die nicht denkende Materie ein denkendes Wesen erzeugen, wie dass das Nichts
oder die Verneinung alles Seins ein positives Sein oder die Materie hervorbringen
sollte.
Die Eigenschaften
des ewig denkenden Wesens.
12. Diese Entdeckung der notwendigen Existenz
eines ewigen Geistes vermittelt uns eine hinreichende Erkenntnis
Gottes; es ergibt sich nämlich daraus, daß alle anderen wissenden
Wesen, die einen Anfang haben, von ihm abhängen müssen und nur diejenigen
Wege zur Erkenntnis und dasjenige Maß an Kräften besitzen, das er
ihnen verliehen hat. Ferner folgt daraus, daß er, wenn er diese Wesen
erschaffen hat, auch die weniger bevorzugten Teile des Weltalls — alle
leblosen Wesen — geschaffen haben muß; hieraus wiederum lässt
sich seine Allwissenheit, Macht und Vorsehung nachweisen; auch ergeben sich
notwendig alle seine übrigen Eigenschaften daraus. Um dies noch klarer
herauszustellen, wollen wir jedoch untersuchen, welche Zweifel hiergegen erhoben
werden könnten.
Ob der ewige
Geist auch materiell sein kann oder nicht.
13. Erstens wird vielleicht
gesagt werden, es sei zwar so klar, wie nur irgendeine Beweisführung es
machen könne, dass es ein ewiges Wesen geben und dieses auch wissend
sein müsse; jedoch folge daraus nicht, dass dieses denkende Wesen
nicht auch materiell sein könne. Wenn das aber auch so sein mag,
so folgt trotzdem, daß es einen Gott gibt. Denn wenn es ein ewiges, allwissendes,
allmächtiges Wesen gibt, so ist es gewiß, daß ein Gott existiert;
es ist dabei gleichgültig, ob man sich jenes Wesen nun materiell vorstellen
mag oder nicht. Das Gefährliche und Trügerische jener Annahme liegt
aber, so glaube ich, in folgendem: Niemand kann sich dem Beweise, daß
es ein ewiges, denkendes Wesen gebe, entziehen; daher möchten die der Materie
ergebenen Menschen gern erreichen, daß man ihnen zugestehe, daß
dieses denkende Wesen materiell sei. Indem sie dann in ihren Gedanken und Unterredungen
den Beweis für die notwendige Existenz eines ewigen, denkenden
Wesens zurücktreten lassen, wollen sie folgern, daß alles
Materie sei; damit wollen sie leugnen, dass es einen Gott, das heißt
ein ewiges, denkendes Wesen gebe. Damit sind sie jedoch weit davon entfernt,
ihre Hypothese zu stützen; vielmehr zerstören sie sie dadurch selbst.
Denn wenn es ihrer Meinung nach ewige Materie ohne ein ewiges, denkendes Wesen
geben kann, so trennen sie offenkundig die Materie vom Denken und nehmen zwischen
beiden keine notwendige Verbindung an; damit aber begründen sie wohl die
Notwendigkeit eines ewigen Geistes, nicht aber die der Materie. Denn es wurde
schon nachgewiesen, dass ein ewiges, denkendes Wesen unbedingt angenommen
werden muß. Wenn nun Denken und Materie getrennt werden können, so
lässt sich die ewige Existenz der Materie nicht aus der ewigen Existenz
eines denkenden Wesen folgern; damit wird die Annahme der ersteren zwecklos.
Es ist nicht
materiell, weil erstens jede einzelne Partikel der Materie nicht denkend ist.
14. Nunmehr aber wollen wir sehen, wie denn jene Menschen sich oder andere davon überzeugen können, daß dies ewige, denkende Wesen materiell
sei.
I. Ich frage sie, ob sie sich vorstellen, daß alle Materie, jede
Partikel der Materie, denkt. Das werden
sie, glaube ich, wohl kaum behaupten, weil es dann ebenso viele ewige, denkende
Wesen geben würde, wie es Materiepartikel gibt; das heißt, es gäbe
dann eine unendliche Anzahl von Göttern. Wenn sie jedoch nicht zugeben,
dass die Materie als solche, das heißt jede Partikel der Materie,
ebensogut denkend wie ausgedehnt sei, so wird es für ihre eigene Vernunft
schwerfallen, aus nicht denkenden Partikeln ein denkendes Wesen herzustellen,
wie ein ausgedehntes Wesen aus unausgedehnten Teilen, wenn ich es so ausdrücken
darf.
Zweitens, weil
nicht eine einzige Partikel der Materie allein denkend sein kann.
15. II. Wenn nicht alle Materie denkt, so frage ich weiter, ob etwa nur
ein einziges Atom denkt.
Diese Voraussetzung enthält ebensoviel Unsinniges wie die frühere;
denn dann müßte dieses Atom der Materie allein ewig sein oder nicht
ewig sein. Ist es allein ewig, so müßte es auch allein durch die
Kraft seines Denkens oder Wollens die gesamte übrige Materie hervorgebracht
haben. Damit hätten wir die Erschaffung der Materie durch kraftvolles Denken;
das ist aber gerade dasjenige, woran die Materialisten sich stoßen. Denn
wenn sie annehmen, ein einzelnes denkendes Atom habe die gesamte übrige
Materie erzeugt, so können sie diesen seinen Vorrang auf keine andere Ursache
zurückführen als auf sein Denken; dies bildet nämlich den einzigen
Unterschied, den ihre Voraussetzung enthält. Nehmen wir aber die Wirkung
eines anderen, uns unbegreiflichen Verfahrens an, so muß doch auch in
diesem Falle eine Schöpfung vorliegen; damit müssen jene Leute ihrem
großen Axiom: ex nihilo nil fit entsagen.
Wenn man sagen will, die ganze übrige Materie sei gleichermaßen ewig
wie jenes denkende Atom, so bedeutet das etwas beliebig behaupten, so widersinnig
es auch sein möge. Will man annehmen, alle Materie sei ewig und doch stünde
eine kleine Partikel davon unendlich hoch an Wissen und Kraft über dem
ganzen Rest, so hieße das, eine Hypothese aufstellen, die nicht den geringsten
Anschein von Vernunftgründen aufweist. Jede Partikel der Materie als solche
ist ganz derselben Gestaltungen und Bewegungen fähig wie irgendeine andere;
ja, ich muß es bestreiten, wenn irgend jemand in seinen Gedanken der einen
Partikel irgendeinen Vorzug vor einer andern zuerkennt.
Drittens, weil
ein System nicht denkender Materie nicht denkend sein kann.
16. III. Somit kann weder ein bestimmtes Atom allein dieses ewige, denkende
Wesen sein, noch kann auch die gesamte Materie als solche, das heißt jede
einzelne Partikel davon es darstellen. Daher bleibt nur übrig, daß
ein bestimmtes, in entsprechender Weise zusammengefügtes System von Materie dieses ewige, denkende Wesen ist. Dies ist, so glaube ich,
jene Vorstellung von Gott, der diejenigen Menschen am meisten zuneigen, die
in Gott ein materielles Wesen erblicken, was ihnen durch ihre gewöhnliche
Auffassung von sich selbst und anderen als materiellen denkenden Wesen besonders
nahegelegt wird. Diese Vorstellung ist zwar sehr viel natürlicher, jedoch
nicht weniger absurd als die andere; denn man nimmt dabei an, das ewige, denkende
Wesen sei nichts weiter als eine Zusammenstellung von Materiepartikeln, von
denen jede einzelne nicht denkend sei. Das bedeutet, man schreibt alle Weisheit
und Erkenntnis jenes ewigen Wesens lediglich der Nebeneinanderordnung von Teilen
zu; eine absurdere Behauptung aber kann es doch gar nicht geben. Denn wie immer
man auch nicht denkende Materiepartikel zusammenstellen mag, so wird ihnen hierdurch
nichts hinzugefügt außer der neuen Verbindung ihrer Lage zueinander;
das aber kann ihnen unmöglich Denken und Erkenntnis verleihen.
Gleichviel,
ob sich dieses körperliche System in Ruhe oder Bewegung befindet.
17. Dieses körperliche System ist nun entweder in allen seinen Teilen in
Ruhe, oder sein Denken besteht in einer bestimmten Bewegung seiner Teile. Wenn
es sich im vollkommenen Ruhezustand befindet, so ist es nur eine einzige Masse
und kann darum keine Sonderstellung gegenüber dem einzelnen Atom haben.
Wenn dagegen sein Denken von der Bewegung seiner Teile abhängt, so müssen
seine sämtlichen Gedanken unbedingt zufällig und beschränkt sein,
weil alle die Partikel , die durch Bewegung Denken verursachen, einzeln für
sich genommen ohne Denken sind. Deshalb kann es seine eigenen Bewegungen nicht
regeln, noch viel weniger kann es durch das Denken des Ganzen reguliert werden.
Denn solches Denken ist ja nicht die Ursache der Bewegung (denn
dann müßte es ihr vorangehen und somit ohne sie zustandekommen), sondern ihre Folge. Damit wäre Freiheit, Kraft, Entscheidung und alles
vernünftige un.d weise Denken und Handeln völlig aufgehoben. Das bedeutet,
ein solches denkendes Wesen wäre um nichts besser oder weiser als die reine,
blinde Materie. Denn es ist dasselbe, ob man alles auf zufällige, ungeregelte
Bewegungen der blinden Materie zurückführt oder auf ein Denken, das
von ungeregelten Bewegungen der blinden Materie abhängig ist. Dabei will
ich gar nicht die Beschränktheit eines Denkens und Wissens erwähnen,
das auf die Bewegung solcher Teile angewiesen ist. Indessen erübrigt es
sich, außer den schon genannten noch andere Absurditäten und Unmöglichkeiten
dieser Hypothese aufzuzählen (soviel es ihrer auch
geben mag); denn es bildet keinen Unterschied, ob wir dieses denkende
System als die Gesamtheit oder als einen Teil der Materie des Weltalls auffassen.
In jedem Falle ist es unmöglich, daß irgendeiner Partikel ihre eigene
Bewegung oder die einer andern Partikel bewußt sein sollte oder daß
das Ganze die Bewegung einer jeden Partikel kennen kann. Ebensowenig kann es
seine eigenen Gedanken oder Bewegungen regeln oder tatsächlich irgendeinen
Gedanken als das Ergebnis solcher Bewegung gewinnen.
Die Materie
ist nicht zusammen mit einem ewigen Geist ewig.
18. Zweitens: Andere
behaupten, die Materie sei ewig, obwohl sie ein ewiges, denkendes, immaterielles
Wesen anerkennen. Durch diese Anschauung ist zwar das Dasein eines Gottes nicht
ausgeschlossen; jedoch leugnet sie einen, und zwar den ersten Teil seines Werkes,
nämlich die Schöpfung. Daher wollen wir sie ein wenig näher betrachten.
Die Ewigkeit der Materie soll also anerkannt werden. Warum? Weil es unbegreiflich
ist, wie sie aus dem Nichts geschaffen sein könnte. Aber weshalb halten
wir uns dann nicht auch selbst für ewig? Man wird vielleicht erwidern:
Weil wir vor etwa zwanzig oder vierzig Jahren zu sein begonnen haben. Wenn ich
aber frage, was unser Ich sei, das damals zu sein angefangen hat, so
wird man mir die Frage kaum beantworten können. Der Stoff, aus dem wir
geschaffen sind, hat damals nicht begonnen zu existieren; denn sonst wäre
er nicht ewig. Vielmehr hat er nur begonnen, die Form und Gestaltung anzunehmen,
die unsern Körper ausmacht. Diese bestimmte Zusammenfügung von Partikeln
bildet aber nicht unser Selbst. Sie schafft nicht das denkende Wesen, das wir
sind. Ich habe es jetzt nämlich mit jemandem zu tun, der ein ewiges, immaterielles,
denkendes Wesen anerkennt, aber behauptet, daß auch die nichtdenkende
Materie ewig sei.
Wann also hat dieses denkende Wesen angefangen zu existieren? Wenn es nie einen
Anfang gehabt hat, dann waren wir immer, von Ewigkeit her, denkende Wesen. Diese
Annahme ist so absurd, daß ich sie nicht zu widerlegen brauche, solange
mir niemand begegnet, der unverständig genug ist, sie sich anzueignen.
Wenn man also zugeben will, dass ein denkendes Wesen aus dem Nichts geschaffen
sei (wie es alle Dinge, die nicht ewig sind, sein müssen), warum will man es dann nicht auch für möglich halten, daß ein
materielles Wesen durch eine gleiche Kraft aus dem Nichts geschaffen sei, weil
man das eine erfahrungsgemäß vor Augen hat, das andere dagegen nicht?
Wenn wir es freilich recht erwägen, so wird sich ergeben, dass die
Erschaffung eines geistigen Wesens keine geringere Kraft erfordert als die der
Materie.
Ja, wenn wir uns von der allgemein verbreiteten Anschauungsweise befreien würden
und uns mit unserm Denken so weit wie möglich zu einer eingehenderen Betrachtung
der Dinge aufschwingen wollten, könnten wir vielleicht imstande sein, uns
eine verschwommene und ungefähre Vorstellung davon zu bilden, wie durch
die Kraft jenes ewigen, ersten Wesens die Materie
zuerst geschaffen sein und zu existieren
begonnen haben möge. Hingegen würden wir finden, daß es noch
unbegreiflicher ist, wie durch die Wirkung einer allmächtigen Kraft einem
geistigen Wesen Anfang
und Existenz verliehen wird. Das würde uns aber vielleicht allzuweit von
den Begriffen hinwegführen, auf denen sich die heutige Philosophie aufbaut;
daher würde es unverzeihlich sein, sich derart von ihnen zu entfernen oder
zu untersuchen, soweit die Grammatik es gestatten würde, ob die allgemein
herrschende Meinung dem widerspricht: namentlich an dieser Stelle, wo die herkömmliche
Lehre für den uns vorliegenden Zweck ausreicht und keinen Zweifel daran
läßt, daß, wenn einmal die Erschaffung oder der Beginn irgendeiner
Substanz aus dem Nichts zugegeben wird, die Erschaffung alles andern, abgesehen
von der des Schöpfers selbst, ebenso leicht angenommen werden kann.
Einwand: Erschaffung
aus dem Nichts.
19. Man wird indessen einwenden: Ist es nicht unmöglich, die Erschaffung
von etwas aus dem Nichts zuzugeben, wenn wir
sie nicht als möglich begreifen können? Ich
antworte: nein. Denn es ist nicht vernünftig, die Macht eines unendlichen
Wesens deshalb zu leugnen, weil wir nicht imstande sind, seine Taten zu begreifen.
Leugnen wir doch andere Wirkungen nicht mit der Begründung, daß wir
nicht verstehen können, wie sie zustandekommen. Wir können uns nicht
vorstellen, wie etwas anderes als der Anstoß eines Körpers einen
anderen Körper in Bewegung setzen kann. Dennoch ist das für uns kein
ausreichender Grund, um diese Möglichkeit — entgegen unserer beständigen
Erfahrung, die wir an uns selbst bei allen unseren aus eigenem Antrieb erfolgenden
Bewegungen machen — zu leugnen. Alle diese Bewegungen kommen ja lediglich
durch freie Tätigkeit oder Gedanken unseres Geistes zustande; sie sind
nicht die Wirkung des Anstoßes oder der Bewegungsrichtung blinder Materie
in oder auf unsere Körper und können es auch nicht sein; denn sonst
könnte es nicht in unserer Macht stehen oder wäre keine Sache unserer
Wahl, sie zu verändern. So kann zum Beispiel meine rechte Hand schreiben,
während meine linke Hand still liegt.
Was verursacht bei der einen die Bewegung, bei der andern die Ruhe? Die Ursache
besteht in nichts anderem als in meinem Willen, einem
Gedanken meines Geistes. Dieser braucht nur zu wechseln, so liegt meine
rechte Hand still und die linke bewegt sich. Das ist eine Tatsache, die niemand
bestreiten kann; man erkläre sie und mache sie begreiflich, dann wird der
nächste Schritt der sein, dass wir die Schöpfung
verstehen. Denn wenn man sagt, den Lebensgeistern (die
manche zu Hilfe nehmen, um die aus eigenem Antrieb erfolgende Bewegung zu erklären) werde in ihrer Bewegung eine neue Richtung gegeben, so wird die Schwierigkeit
dadurch nicht im geringsten beseitigt. Denn die Richtung der Bewegung zu ändern
bedeutet in diesem Falle nicht mehr und nicht weniger als die Bewegung selbst
hervorzurufen; die neue Richtung der Lebensgeister wird nämlich entweder
unmittelbar durch den Gedanken bestimmt oder aber durch einen andern Körper,
der ihnen vom Gedanken in den Weg gestellt wird und sich vorher nicht dort befand.
Die Bewegung dieses Körpers
geht somit wiederum auf den Gedanken zurück.
Das bedeutet, beide Möglichkeiten lassen die aus eigenem Antrieb erfolgende
Bewegung ebenso unverständlich erscheinen wie vorher. Im übrigen halte
ich es für Selbstüberschätzung, wenn wir an alles den beschränkten
Maßstab unserer eigenen Fähigkeiten anlegen und die Schlußfolgerung
ziehen wollen, dass all das unmöglich ist, was unsere Fassungskraft
übersteigt. Es hieße unsere Fassungskraft unendlich oder Gott endlich
machen, wenn wir das, was er zu tun vermag, auf das beschränken wollten,
was wir davon begreifen können. Wenn wir die Wirkungen unseres eigenen
endlichen Geistes, jenes denkenden Wesens in ·uns, nicht verstehen, dann
darf es uns nicht befremdlich erscheinen, daß wir die Wirksamkeit jenes
ewigen, unendlichen Geistes nicht zu begreifen imstande sind, der alle
Dinge erschaffen hat und regiert und den aller Himmel Himmel nicht fassen kann.
Aus: John Locke: Versuch über den menschlichen
Verstand, Band II ( S.295-309) Felix Meiner Verlag, Philosophische Bibliothek,
Band 76