Moses Maimonides,
eigentl. Rabbi Mose ben Maimon, genannt Rambam (1135 - 1204)
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Jüdischer
Philosoph und Arzt, der seit 1172 Vorsteher (Nergal) der jüdischen
Gemeinden Ägyptens und Leibarzt des Sohnes des Sultans
Saladin war. In seinem Hauptwerk »Führer
der Schwankenden« (im traditionellen Glauben) verweist Rambam
auf die bildliche Redeweise der Offenbarung, die zwar dem Verständnis
der Menge angepasst wäre, aber doch einen tieferen Sinn enthalte,
den erst der Philosoph erschließen könne. Diese Lehre fand
in orthodoxen Kreisen lebhaften Widerspruch, gewann andererseits aber
Einfluss auf die christliche Scholastik. Insbesondere wirkte er nachhaltend
auf die aristotelisch orientierten Theologen Albertus
Magnus und Thomas von Aquin.
Maßgebend war Maimonides mit seiner »Wiederholung des Gesetzes« (1180) für das jüdische Gesetz. Die von ihm in der Einleitung zu »Sanhedrin«
aufgestellten 13 Glaubenssätze sind in dichterischer Form in mehrere jüdische Liturgien aufgenommen worden. |
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Inhaltsverzeichnis
Lohn und Strafe (Sanhedrin X 1), Die starke Hand, Universalismus des Judentums,
Acht Kapitel: Der Tugendhafte und der Enthaltsame (6. Kapitel), Anlage und Willensfreiheit (8. Kapitel),
Führer der Schwankenden: Glauben und Wissen, Erschaffensein der Welt, Die Prophetie, Von den Opfern, Stufen der Gottesverehrung, Vollkommenheit,
Mischna-Kommentar
Lohn und
Strafe (Sanhedrin X 1)
»Jeder in Israel hat teil an der kommenden Welt,
denn so heißt es (Jes 60, 21): >Dein Volk, allsamt nun sind sie Bewährte,
auf Weltzeit erben sie nun das Land<.«
Ich muß hier einiges über wichtige Grundsätze der Religion vorausschicken.
Wisse, daß die Ausleger der Tora verschiedene Meinungen über die
Seligkeit haben, welche die Menschen infolge der Erfüllung der uns durch
unseren Lehrer Moses überlieferten göttlichen Gebote zu erwarten haben,
und über die Strafe, deren wir bei Versündigungen gewärtig sein
müssen. Die Auffassung von diesen Dingen richtet sich nach der Klarheit
des Verstandes; bei manchen ist sie ganz verworren, niemand aber hat eine ganz
deutliche und entschiedene Vorstellung von der Sache. Man kann dabei fünf
Auffassungen unterscheiden:
Die eine Klasse von Menschen stellt sich unter Seligkeit ein Paradies,
und zwar einen Ort vor, wo die Menschen ohne körperliche Mühe und
Anstrengung dahinleben, essen und trinken, prächtige Häuser bewohnen,
in seidenen Betten schlafen, in Strömen von Wein schwelgen, an würzigem
Öl sich erquicken und viele ähnliche Vergnügungen genießen...
Die zweite Klasse sieht in dem erwarteten Heil die Zeit des Messias,
der bald erscheinen wird, und glaubt, daß in jener Zeit alle Menschen
wie Engel (nach anderer Lesart: Könige) sein werden; alle würden,
groß und stark, mächtig und die ganze Welt beherrschend, ewig leben;
die Erde würde fertige Kleider und gebackenes Brot und ähnliche unmögliche
Dinge hervorbringen...
Eine dritte Klasse glaubt, daß das Heil,
der Lohn, in der Wiederauferstehung der Toten besteht; daß der Mensch
vom Grabe zurückkehren, sich seiner Familie wieder anschließen, essen
und trinken wird, ohne vom Tode wieder bedroht zu sein...
Die vierte Klasse behauptet, daß die Erfüllung der Gebote
zum Lohne die Glückseligkeit in diesem Leben herbeiführt, und zwar:
Ruhe, irdisches Wohlergehen, die Erfüllung unserer irdischen Bestrebungen,
Gedeihen des Landes, Vermehrung des Besitzes, der Nachkommen, der Gesundheit,
Frieden und Sicherheit, einen eigenen israelitischen König, Herrschaft
über alle, die uns bedrückt haben...
Die fünfte Klasse endlich, der die meisten huldigen, sucht alles
zu vereinigen und träumt von einer Zukunft, in der gleichzeitig der Messias
erscheinen wird, die Toten auferstehen, alle der paradiesischen Freuden teilhaftig
werden, essen, trinken und gesund sein werden in Ewigkeit.
Das Wunderbare aber ist, daß äußerst wenige danach
streben, den Kern der Sache logisch zu erfassen, den Begriff der Seligkeit als
eines Endzieles zu ergründen und sich davon Rechenschaft zu geben, ob bei
einer der genannten Meinungen der gedachte Lohn auch wirklich das höchste
Gut ist und in welchem Wertverhältnis das erstrebte
Ziel als Wirkung zu seiner Ursache steht...
Du aber, Leser dieses Buches, betrachte nur aufmerksam das Gleichnis, das ich
anführen werde, dann wird dir klar werden, wie ich über diese Dinge
denke. Stelle dir vor, man bringt einen kleinen Knaben zu seinem Lehrer, von
dem er seine Bildung empfangen soll. Es ist offenbar das größte Gut,
das man ihm zuteil werden lassen will, indem man seine Vervollkommnung wünscht.
Das Kind ist jedoch zu jung an Jahren und zu schwach an Verstand, um jenes Gut
zu begreifen, das man ihm zugedacht hat, und die Vorteile zu würdigen,
die ihm aus der Vervollkommnung erwachsen können. Da der Lehrer klüger
ist, so muß er den Zögling durch solche Dinge zum Studium ermuntern,
die ihm bei seiner Jugend als wertvoll und angenehm gelten.
Er spricht zum Schüler: Lies, ich werde dir dafür
Nüsse, Feigen, Honig zu kosten geben. Und der Junge liest eifrig,
nicht weil er dem Buche irgendeinen Geschmack abgewinnt und in der Leseübung
das für ihn Gute erkennt, sondern weil er das Süße und Wohlschmeckende
erwartet, das ihm zum Lohn versprochen wurde und das für ihn mehr Wert
hat als das ganze Studium. Dieses ist ihm zur Qual, der er sich unterzieht,
um das geliebte Ziel zu erreichen, d. h. eine Nuß oder einen Honigkuchen
zu bekommen. Wenn er größer und reifer wird, erscheint ihm freilich
ein solches Ziel als zu unbedeutend und nicht der Mühe wert; wenn er dann
zum Lernen angespornt werden soll, so müssen ihm höhere Dinge in Aussicht
gestellt werden, und der Lehrer spricht zu ihm: Lies,
dann wirst du schöne Schuhe, einen prächtigen Anzug bekommen!
Das Ziel ist verlockend, und der Knabe gibt sich Mühe. Später muß
der Lohn noch bedeutender werden; es wird dem Schüler für ein Kapitel,
das er lernen soll, Geld versprochen, ein Denar, zwei Denare. Der Knabe lernt
dann gerne, um das Geld zu erhalten. Endlich aber wird der Schüler groß,
und die kleinen Geschenke verfangen nicht mehr, dann ermuntert ihn der Rabbi:
Lerne, damit du Vorsteher oder Richter wirst, daß
die Leute dich ehren und vor dir aufstehen wie vor diesem und jenem. Der
Jüngling lernt dann, um die ersehnte hohe Stufe zu erreichen, und als Ziel
gelten ihm dann Ehre und Ruhm seitens der Menschen.
Dies alles ist häßlich, aber notwendig bei der gewöhnlichen
Beschränktheit des menschlichen Verstandes, der als Ziel bei der Erlangung
des Wissens etwas in anderes als das Wissen selbst betrachtet, sich die Frage
vorlegt: Wozu soll ich nach Wissenschaft streben? und
keinen anderen Zweck findet als äußere Ehren. Ein Lernen dieser
Art nannten unsere Weisen ein nicht in frommer Absicht betriebenes Lernen oder
Üben des Guten, d. h. das Erlernen oder Üben des Dinges nicht seiner
selbst wegen, sondern mit Rücksicht auf andere Ziele, und sie warnen uns
(Sprüche der Väter IV 7): »Mache sie (die
Lehre) weder zur Krone, um durch sie verherrlicht zu werden, noch zum Spaten,
um damit graben!« Sie weisen uns darauf hin, wie ich dir auseinandergesetzt,
daß die Beschäftigung mit der göttlichen
Lehre weder unserem Ehrgeiz noch unserer Gewinnsucht dienen soll, daß
wir sie nicht zur Einnahmequelle für unsere Lebensbedürfnisse machen
dürfen. Das Ziel des Strebens nach Wahrheit ist das Erkennen der Wahrheit,
und die Tora ist die Wahrheit; das Ziel des Erkennens der Gebote ist, sie zu
erfüllen. Der vollkommene Mensch darf nicht sagen: Wenn
ich nun die anempfohlenen guten Eigenschaften an mir verwirklichen, die Schwächen
und Sünden von mir entfernen werde, welchen Lohn werde ich alsdann ernten?
–
Es ist ganz dasselbe, wie wenn der Knabe fragt: Was werde ich für das fleißige
Lesen bekommen? Wir geben ihm einen Lohn an je nach seinen Begriffen und nach
der Stufe seiner Entwicklung. Wir sollen aber auch nicht nur beim Streben nach
Erkenntnis, sondern ebenso beim Gottesdienst und bei der Erfüllung der
Gebote keinen Lohn erwarten, und das ist, was Antigonos aus Socho, ein fein
denkender, die Dinge richtig erfassender Mann, behauptet hat (Sprüche der
Väter I 3): »Seid nicht wie Knechte, die dem
Herrn dienen, um einen Lohn zu erhalten, sondern wie solche, die ihm ohne jede
Lohnerwartung dienen.« Es wird dies auch der »Dienst aus
Liebe« genannt, und unsere Weisen sagen (Aboda Sara 19a): (Ps 112, 1):
»Heil dem Manne, der Gott fürchtet, der an seinen Geboten Wohlgefallen
findet« — nicht am Lohn für seine Gebote. Noch deutlicher
ist, was im Buche Sifré gesagt wird: »Du
wirst vielleicht denken: Ich will Tora lernen, damit ich ein reicher Mann, damit
ich ein Rabbi genannt werde oder Lohn in der Welt der Zukunft erhalte; darum
heißt es in der Schrift: >den Ewigen zu lieben<, d. h., was ihr
tut, soll nur aus Liebe für ihn geschehen.« Das ist die Absicht
unserer Tora und der Lehre unserer Weisen; sie übersehen und außer
acht lassen kann nur ein Narr und jemand, dessen Gedanken verworren sind. Da
jedoch unsere Weisen erkannten, daß diese Stufe sehr schwer zu erreichen
ist und es für den Anfang selbst dem Gelehrten nicht leicht ist, sich mit
dem Gedanken zu befreunden, da man gewöhnt ist, als Mensch etwas nur mit
Rücksicht auf Nutzen oder Schaden zu tun oder zu unterlassen, und man nicht
weiß, wie man, sei es auch nur an den Gebildeten, mit der Zumutung herantrete:
Tu dieses, scheue jenes — und zwar ohne Hoffnung
auf Lohn oder Furcht vor Strafe —, so haben unsere Alten dem Volke,
damit es beim Glauben verharre und das Gute übe, gestattet, daß es
sich Vorstellungen von irdischem Lohn für Erfüllung und von äußeren
Strafen für Verletzung der Gebote bilde; damit ermuntern sie die Menge
und erziehen sie, bis der Aufgeklärte das Richtige begreift — ganz
so, wie es dem im Gleichnis angeführten Schüler ergeht.
Die
starke Hand
Vorschriften über die Umkehr
Erster Abschnitt
1. Hat einer eine Vorschrift der Tora übertreten,
sei es ein Gebot, sei es ein Verbot, sei es mit Absicht, sei es aus Versehen,
und er tut Umkehr, er kehrt von seiner Sünde um, so muß er vor Gott,
gelobt sei er, bekennen. Denn so heißt es (Nu 5, 6f.): »Ein
Mann oder ein Weib, wenn sie etwas tun von allen Versündigungen am Menschen...,
bekennen sollen sie sich zu ihrer Versündigung.« Dieser Satz
meint ein Sündenbekenntnis in Worten. Das Sündenbekenntnis ist ein
Gebot der Tora.
Wie bekennt man? Man spreche: O Gott, ich habe
gesündigt, ich habe gefrevelt, und ich habe mich vor Dir vergangen. Dies
und das habe ich gemacht, und nun bereue ich es; ich schäme mich meiner
Handlungen, und ich will das niemals wiedertun. Das ist das Wesentliche am Sündenbekenntnis.
Wer oft und ausführlich bekennt, ist lobenswert. Wer ein Sünd- oder
Schuldopfer für absichtliche oder versehentliche Sünden darbringt,
wird durch das Opfer nicht entsühnt, bis er Umkehr tut und ein Sündenbekenntnis
ablegt. Denn so heißt es (Lev 5, 5): »Er bekenne
sich zu dem, wodurch er gesündigt hat.« Ebenso bringt denen,
die vom Gericht zum Tode oder zu Geißelstrafe verurteilt wurden, ihr Tod
oder ihre Züchtigung keine Sühne, bis sie nicht Umkehr getan haben
und bekennen.
Hat einer seinen Nächsten verwundet oder ihn an seinem Vermögen geschädigt
und hat er auch den zugefügten Schaden gutgemacht, so fndet er erst Sühne,
wenn er ein Bekenntnis ablegt und umkehrt, um niemals wieder dergleichen zu
tun. Denn so heißt es (Nu 5, 6): »Von allen
Versündigungen am Menschen … sollen sie sich bekennen.« …
3. In dieser Zeit, in der das Heiligtum nicht mehr besteht und kein Altar
uns Sühne bringt, gibt es nur die Umkehr. Die Umkehr sühnt alle Sünden.
War einer selbst sein ganzes Leben lang ein Bösewicht und tut am Ende seines
Lebens Umkehr, so achtet Gott nicht mehr seiner früheren bösen Taten.
Denn so heißt es (Ez 33, 12): »Er wird darüber
nicht straucheln am Tage, da er umkehrt von seinem Frevel.«
Das Wesen des Versöhnungstages besteht darin, den Umkehrenden Sühne
zu bringen, wie es heißt (Lev 16, 30): »Denn
an diesem Tage bedeckt man über euch, euch zu reinigen: von all euren Sünden
vor IHM werdet ihr rein.«
Zweiter Abschnitt
1. Was ist vollkommene Umkehr? Kommt für einen
die Gelegenheit wieder, bei der er einmal gesündigt hat, und es liegt nun
bei ihm, die Sünde wieder zu begehen, er begeht sie aber nicht um der Umkehr
willen und nicht aus Angst oder mangelnder Kraft, so ist der ein vollkommen
Umkehrender. Das hat Salomo gesagt (Koh 12, 1): »Gedenke
deines Schöpfers in den Tagen deiner Jugend!«
Kehrt einer erst im Alter um, zu einer Zeit, da er das, was er getan hat, nicht
wiederholen kann, so nützt gleichwohl seine Umkehr, wenn sie auch keine
vollkommene ist, und er ist als Umkehrender zu betrachten. Hat einer sein Leben
lang gesündigt und kehrt erst um am Tage seines Todes und stirbt in seiner
Umkehr, so werden ihm alle seine Sünden verziehen. Denn so heißt
es (Koh 12, 2): »Ehe noch die Sonne sich verdunkelt,
das Licht, der Mond und die Sterne, und die Wolken nach dem Regen kommen.«
Das geht auf den Tag des Todes. Daraus geht hervor, wenn man seines Schöpfers
gedenkt und umkehrt, wird einem verziehen.
2. Was ist Umkehr? Sie besteht darin, daß
der Sünder von seiner Sünde läßt, sie aus seinem Denken
entfernt und in seinem Herzen beschließt, sie nie wie¬der zu begehen.
Denn so heißt es (Jes 55, 7): »Der Frevler
verlasse seinen Weg, der Mann des Args seine Planungen, er kehre um zu IHM,
und er wird sich seiner erbarmen, zu unserm Gott, denn groß ist er im
Verzeihen.« Und man bereue das Vergangene, denn so heißt
es (Jer 31, 18): »Nach meiner Umkehr habe ich es
mir leid sein lassen.« Der das Verborgene kennt, wird dann für
ihn zeugen, daß er die Sünde nie wiedertun wird, denn so heißt
es (Hos 14, 4): »Nicht sprechen wir mehr: Unser
Gott! zu dem Gemächt unserer Hände.« Und man lege das
Sündenbekenntnis mit seinen Lippen ab und spreche die Dinge aus, die man
im Herzen beschließt.
3. Wer ein Sündenbekenntnis mit Worten ablegt,
aber nicht in seinem Herzen entschlossen ist, vom Unrecht zu lassen, gleicht
einem, der ein Tauchbad nimmt und das tote Kriechtier noch in der Hand hat.
Das Tauchbad kann ja erst nützen, wenn man das Kriechtier vorher weggeworfen
hat. So heißt es auch (Spr 28, 13): »Wer bekennt
und läßt, findet Erbarmen.« Man bekenne die Sünde
mit genauer Angabe der Einzelheiten, denn so heißt es (Ex 32, 31):
»Dieses Volk hat eine große Versündigung gesündigt, es
hat sich goldene Götzen gemacht.«
4. Zu den Wegen der Umkehr gehört, daß
der Umkehrende immer mit Tränen und Flehen vor Gott aufschreie, nach seinem
Vermögen Wohltun übe, sich vollkommen von der Sache fernhalte, durch
die er sich versündigt hat, seinen Namen ändere, um damit gewissermaßen
zu sagen, ein anderer bin ich geworden, ich bin nicht mehr der Mensch, der jene
Handlungen begangen hat. Alle seine Handlungsweisen ändere man zum Guten
und zum rechten Wege. Man wandere aus von seinem Ort, denn Verbannung sühnt
Schuld und veranlaßt, sich zu erniedrigen und zu bescheiden und zu demütigen.
5. Für einen, der Umkehr tut, ist es ein großer
Vorteil, seine Sünden öffentlich zu bekennen und den Mitmenschen die
Sünden mitzuteilen, die das Verhältnis zwischen Mensch und Mensch
angehen. Er soll zu ihnen sagen: Fürwahr, ich habe mich gegen meinen Mitmenschen
N. N. versündigt, ich habe ihm dies und das angetan, aber heute kehre ich
um; ich bereue. Wer hochmütig ist und seine Sünden nicht hekanntmacht,
sondern sein Unrecht verhüllt, dessen Umkehr ist keine vollkommene. Denn
so heißt es (Spr 28, 13): »Wer seine Abtrünnigkeiten
verhüllt, dem gelingt es nicht.« Das gilt aber nur von Sünden
zwischen Mensch und Mensch, aber Sünden zwischen Mensch und Gott braucht
man nicht bekanntzugeben, ja, es wäre Frechheit, wollte man sie aufdecken.
Vor Gott, gelobt sei er, allein soll man umkehren und vor ihm seine Sünden
genau angeben. Öffentlich bekenne man allgemein. Es ist gut, Sünden
nicht öffentlich zu enthüllen, wie es heißt (Ps 32, 1): »Selig,
dem Abtrünnigkeit getragen, Versündigung zugehüllt ward!«
6. Obgleich Umkehr und Flehen immer angebracht sind, sind sie besonders
angebracht in den zehn Tagen vom Neujahrsfest zum Versöhnungstag, an denen
sie sofort angenommen werden, denn so heißt es (Jes 55, 6):
»Suchet IHN, da er sich finden läßt.« Das gilt
aber nur für den einzelnen. Die Gemeinde wird jedoch zu jeder Zeit, in
der sie Umkehr tut und aus ganzem Herzen fleht, erhört. Denn so heißt
es (Dt 4, 7): »Wer ist wie ER, unser Gott, wann
all zu ihm wir rufen.«
7. Der Versöhnungstag ist die Zeit der Umkehr für alle, für
den einzelnen und für die Gemeinschaft. Er ist Zeit der Vergebung und Verzeihung
für Israel. Alle sollen darum am Versöhnungstag Umkehr tun und bekennen
...
8. Das Sündenbekenntnis, das Brauch in ganz Israel ist, lautet:
»Fürwahr, wir haben gesündigt!« Das ist das Wesentliche
des Bekenntnisses. Die Sünden, die man schon einmal an einem Versöhnungstag
bekannt hat, bekennt man auch am folgenden Versöhnungstag, obgleich man
sie nicht noch einmal begangen hat. Denn so heißt es (Ps 51, 5): »Denn
meine Abtrünnigkeiten, selber erkenne ich sie, meine Sünde ist mir
stets gegenwärtig.«
9. Umkehr und Versöhnungstag können nur die Sünden zwischen Mensch
und Gott söhnen, zum Beispiel, wenn einer etwas Verbotenes gegessen
hat oder verbotenen Verkehr hatte und dergleichen. Sünden zwischen Mensch
und Mensch, zum Beispiel Schlagen, Fluchen, Rauben, können erst dann vergeben
werden, wenn man dem Mitmenschen erstattet hat, was man ihm schuldig ist, und
wenn man ihn besänftigt hat. Auch wenn man gutgemacht hat, muß man
den Mitmenschen besänftigen und ihn um Verzeihung bitten. Hat man den Mitmenschen
nur durch Worte erzürnt, muß man ihn gleichfalls beruhigen und in
ihn dringen, bis er verzeiht. Will der Beleidigte keine Verzeihung gewähren,
soll der Beleidiger drei seiner Freunde zu ihm schicken, die ihn bitten, er
möge verzeihen. Wird er auch durch sie nicht besänftigt, schicke man
ein zweites Mal und ein drittes Mal zu ihm. Will er auch dann nicht verzeihen,
so lasse man ihn. Der nicht vergeben will, ist dann der Sünder. Zum Lehrer
muß man aber tausendmal gehen, bis er Verzeihung gewährt.
10. Man soll nicht grausam sein und sich weigern, sich besänftigen
zu lassen. Vielmehr sei man leicht zu versöhnen und
schwer zu erzürnen. Wird man um Verzeihung gebeten, gewähre man sie
aus ganzem Herzen und freudiger Seele. Selbst
wenn man gekränkt war und einem viel Unrecht zugefügt wurde, darf
man sich nicht rächen und darf man nicht nachtragen. So
zu handeln ist die Weise von Israels Samen, und gerade ist ihr Herz. Aber die
Diener von Götzen, die unbeschnittenen Herzens sind, sind nicht so. Ihr
Grimm währt ewig. So heißt es auch von den Gibeonitern, als sie ein
ihnen zugefügtes Unrecht nie verzeihen wollten (2 Sam 21, 2):
»Die Gibeoniter sind nicht von den Söhnen Israels.«
11. Hat man sich gegen einen versündigt, und
der ist gestorben, ehe man ihn um Verzeihung gebeten hat, bringe man zehn Männer
an sein Grab und spreche vor ihnen: Ich habe mich gegen den Ewigen, den Gott
Israels, versündigt und gegen N.N. hier, so und so habe ich gegen ihn gehandelt.
Schuldete man dem Verstorbenen Geld, erstatte man es den Erben. Kennt man die
Erben nicht, hinterlege man es beim Gericht und bekenne.
Dritter Abschnitt
1. Bei jedem Menschen finden sich Verdienste und Sünden.
Sind die Verdienste mehr als die Sünden, ist es ein
Gerechter, sind die Sünden mehr als die Verdienste, ist es ein
Frevler, halten sie sich die Waage, ist es ein Durchschnittlicher.
Ebenso ist es mit einer Stadt. Überwiegen die Verdienste aller Bewohner
ihre Sünden, so ist sie eine gerechte, sind aber die Sünden zahlreicher,
ist sie eine böse. Und so ist es mit der ganzen Welt.
2. Einer, dessen Sünden mehr sind als seine Verdienste,
stirbt wegen seiner Sündhaftigkeit sofort. Denn so heißt es (Hos
9, 7): »Die Tage der Zuordnung kommen ... wegen
der Vielfältigkeit deiner Verfehlung.« Ebenso geht eine Stadt,
deren Sünden übermächtig sind, sofort zugrunde, denn so heißt
es (Gen 18, 20): »Der Klageschrei über Sodom
und Gomorra, wohl, er schwoll, und ihre Sünde, wohl, sie wuchtet sehr.«
Auch die ganze Welt fällt sofort der Vernichtung anheim, wenn ihre
Sünden zahlreicher sind als ihre Verdienste, denn so heißt es (Gen
6, 5f.): »ER sah, daß groß die Bosheit
des Menschen auf Erden war. . . und ER sprach: Wegwischen will ich vom Antlitz
des Ackers den Menschen.«
3. Das Abwägen von Verdienst und Schuld geht nicht
nach der Zahl, sondern nach dem Wert. Es kann ein Verdienst geben, das
viele Sünden aufhebt, denn so heißt es (1 Kön 14, 13): »Ganz
Israel wird ihn beklagen und ihn begraben ..., weil an ihm eine gute Sache gefunden
war vor IHM.« Umgekehrt kann eine Sünde viele Verdienste aufheben,
denn so heißt es (Koh 9, 18): »Ein Sünder
vernichtet viel Gutes.« Das Abwägen aber tut Gott, der Allwissende.
Er weiß, wie Verdienst gegen Sünde gemessen wird...
4. Während des ganzen Jahres betrachte sich der Mensch,
als sei er halb unschuldig und halb schuldig, und so sei es mit der ganzen Welt:
halb unschuldig und halb schuldig. Sündigt man nur eine Sünde, so
entscheidet man dadurch für sich und für die ganze Welt nach der Seite
der Verschuldung und zieht sich Verderbnis zu. Begeht
man eine gute Tat, so entscheidet man dadurch für sich und die
ganze Welt nach der Seite des Verdienstes und bringt
sich und der ganzen Welt Heil und Rettung. Denn so heißt
es (Spr 10, 25): »Der Gerechte ist Grundwahl der
Welt.« Wer gerecht handelt, entscheidet für die ganze Welt
und rettet sie. Zwischen Neujahrsfest und Versöhnungstag pflegt man darum
besonders Gutes zu tun und die Gebote zu erfüllen. Brauch ist es, in dieser
Zeit sich bei Nacht zu erheben und in Flehen und Zerknirschung in den Gotteshäusern
zu beten und das Licht des Tages zu erwarten.
5. Jeder in Israel hat teil an der kommenden Welt,
auch wenn er gesündigt hat, denn so heißt es (Jes 6o, 21): »Dein
Volk, allsamt nun sind sie Bewährte, auf Weltzeit erben sie nun das Land.«
Das Land meint das Land des Lebens, das ist die kommende Welt. Auch die
Frommen der Völker der Welt haben Anteil an der kommenden Welt.
Fünfter Abschnitt
1. Jedem ist die Freiheit gegeben. Will einer sich
dem guten Wege zuwenden und ein Gerechter sein, so kann er es; will einer sich
dem bösen Wege zuwenden und ein Frevler sein, so kann er es. Das ist es,
was in der Tora geschrieben steht (Gen 3, 22): »Der
Mensch ist geworden wie unsereiner im Erkennen von Gut und Böse.«
2. Nicht komme dir in den Sinn, was die Dummen
der Völker der Welt (die arabischen Philosophen, die den Determinismus
lehren) und viele Ungebildete der Kinder Israel sagen, daß der Heilige,
gelobt sei er, dem Menschen schon vor seiner Schöpfung bestimme, ein Guter
oder ein Frevler zu werden. Nicht ist dem so, vielmehr kann jeder ein Gerechter
werden, Moses, unserm Lehrer, gleich, oder ein Frevler wie Jerobeam, weise oder
töricht, barmherzig oder grausam, geizig oder verschwenderisch. So verhält
es sich mit allen Eigenschaften. Keiner zwingt den Menschen,
keine Macht übt Bestimmung über ihn aus, keiner zieht ihn zu einem
der beiden Wege hin, vielmehr wendet er sich aus sich heraus dem Wege zu, den
er gehen will. Das sagt auch Jeremia (Kl 3, 37): »Aus
dem Munde des Höchsten fährt nicht aus das Böse und das Gute«,
das will sagen, der Schöpfer bestimmt nicht über den Menschen, gut
oder böse zu sein. Da dem so ist, fügt sich der Sünder selbst
den Schaden zu. Darum wisse er seine Sünden und klage über das, was
er seiner Seele angetan und ihr Böses zugefügt hat. Darum heißt
es weiter (ibid. 39): »Was klagt der lebendige Mensch?
Er ist ja Herr über seine Sünden.« Da wir die Freiheit
besitzen und mit Bewußtsein alles Böse getan haben, geziemt es uns,
umzukehren und unsere Bosheit zu verlassen, denn in jedem Augenblick ist uns
dazu die Freiheit gegeben. So heißt es weiter (ibid. 40): »Wir
wollen unsere Wege untersuchen und durchforschen und bis zu ihm umwenden.«
3. Das ist ein wichtiger Grundsatz und Säule der Tora und der Gebote,
denn so heißt es (Dt 30, 15): »Sieh, gegeben
habe ich heuttags vor dich hin das Leben und das Gute, den Tod und das Böse.«
Ferner heißt es (ibid. 11, 26): »Sieh, ich
gebe heuttags vor euch bin Segnung und Verwünschung.« Das
bedeutet, in eurer Hand ist Freiheit, und alles, was der Mensch tun will von
dem, was in Menschenhand gelegt ist, kann er tun, Gutes und Böses. Darum
heißt es (ibid. 5, 26): »Wer gäbe es,
daß dies ihnen ihr Herzenstrieb würde, mich zu fürchten und
alle meine Gebote zu wahren alle Tage.« Das heißt, der Schöpfer
zwingt nicht die Menschen und bestimmt nicht über sie, das Gute oder das
Böse zu tun, sondern ihnen selbst ist alles überlassen.
4. Würde Gott über den Menschen bestimmen,
daß er gerecht oder böse sei, oder gäbe es etwas, das den Menschen
von seiner Geburt an zu einem bestimmten
Verhalten, zu einer Erkenntnis unter den
möglichen Erkenntnissen, zu einer
bestimmten Charaktereigenschaft unter den vielen möglichen, zu einer ganz
bestimmten Handlung unter den Handlungsweisen hinzöge, wie die Dummen es
meinen, die den Himmel zu ergründen glauben, wie könnte er uns dann
durch die Propheten befehlen, handelt so und nicht anders, bessert euren Wandel
und geht nicht eurer Bosheit nach, wenn es dem Menschen schon von Geburt an
bestimmt wäre, nicht anders handeln zu können? Wo gäbe
es da noch Platz für die Tora selbst, und nach welchem Recht und Gesetz
könnte Gott den Bösen zur Rechenschaft ziehen und den Frommen belohnen?
(Gen 18,25): »Aller Erde Richter, soll der nicht
das Recht tun?« Und spricht nicht: Wie sollte der Mensch tun können,
was er will, wie sollte sein Handeln in seine Macht gegeben sein, kann denn
in der Welt etwas geschehen ohne Willen und Erlaubnis des Schöpfers? Heißt
es denn nicht (Ps 135, 6): »Allwozu ER Lust hat,
macht er im Himmel und auf der Erde.«?
Wisse, alles geschieht nach seinem Willen, obgleich unsere Handlungen uns überantwortet
sind. Wie ist das zu verstehen? So wie der Bildner will, daß Feuer und
Luft nach oben steigen und Wasser und Erde nach unten gezogen werden, daß
die Sphären sich im Kreise drehen und daß alles Geschaffene sein
Gesetz habe, so will er, daß der Mensch seine Freiheit habe, sein Handeln
soll in seine Hand gegeben sein, und keiner soll ihn zwingen. Der Mensch kann
aus sich heraus und kraft der Erkenntnis, die Gott ihm gegeben hat, handeln.
Folglich zieht man den Menschen für sein Handeln zur Rechenschaft: hat
er Gutes getan, widerfährt ihm Gutes; handelt er böse, geht es ihm
böse. Das sagt der Prophet (Mal 1, 9): »Von
eurer Hand geschieht euch dies« oder (Jes 66, 3): »Die
haben sich nun ihre Wege erwählt.« So sagt auch Salomo (Koh
11,9): »Freue dich, Jüngling, in deiner Jugend...,
aber wisse, daß für alles dies Gott dich ins Gericht bringt.«
Das heißt, wisse, Freiheit ist dir gegeben,
aber dereinst wirst du Rechenschaft ablegen müssen.
5. Wendest du nun ein, der Heilige, gelobt sei er, weiß
doch alles, ja, noch ehe es ist, weiß er es, weiß er da nicht
auch, ob jener ein Gerechter sein wird und jener ein Frevler? Und weiß
er es vorher, jener wird ein Gerechter, so wird der es doch notwendigerweise,
und weiß Gott vorher, der wird ein Gerechter, aber es ist möglich,
daß er dennoch ein Frevler wurde, so ist das Vorherwissen Gottes kein
sicheres.
Wisse, von der Beantwortung dieser Frage gilt es: Weiter als die Erde ist ihr
Maß und breiter als das Meer, und viele wichtige Grundbegriffe, mächtigen
Bergen gleich, hängen von ihr ab. Es ist aber hier genug, das zu erkennen
und zu begreifen, was ich sage. Schon im zweiten Abschnitt der Lehren »Grundlagen
der Tora« haben wir erklärt, daß der Heilige, gelobt
sei er, und sein Erkennen eins sind, während der Mensch und sein Erkennen
getrennt sind. Er, sein Name sei erhöht, und sein Erkennen sind eins, und
das kann der Mensch niemals völlig erfassen, so wenig, wie der Mensch das
wahre Wesen des Schöpfers begreifen und erfassen kann. So heißt es
auch (Ex 33, 20): »Denn nicht schaut mich der Mensch
und lebt.« Der Mensch hat kein Vermögen, die Erkenntnisart
oder das Erkennen des Schöpfers zu begreifen, wie der Prophet sagt (Jes
55, 8): »Nicht sind meine Planungen eure Planungen,
nicht eure Wege meine Wege.« Da dem so ist, sind wir nicht imstande,
zu wissen, durch welche Art von Erkennen der Heilige, gelobt sei er, von allen
Geschöpfen und ihren Taten vorher weiß. Nur das wissen wir ohne Zweifel,
daß das Tun des Menschen in seine Hand gegeben ist, und der Heilige, gelobt
sei er, veranlaßt den Menschen nicht und bestimmt ihn nicht bei seinem
Handeln. Nicht nur auf Grund der religiösen Überlieferung wissen wir
das, sondern auch durch deutliche philosophische Beweise. Darum sagt auch die
Prophetie, daß man den Menschen beurteilt nach seinen Handlungen, ob er
gut ist oder böse. Das ist eine Grundwahrheit, von der alle Worte der Propheten
abhängen.
Siebenter Abschnitt
1. Da, wie wir ausgeführt haben, jedem Freiheit gegeben
ist, bestrebe sich ein jeder, umzukehren und seine Sünden zu bekennen
und abzuschütteln von den Händen, damit er, wenn er stirbt, er ein
Umkehrender sei und des Lebens der kommenden Welt gewürdigt werde.
2. Immer betrachte sich der Mensch, als stünde er
kurz vor dem Tode, als könnte er, noch in seiner Sündhaftigkeit
beharrend, plötzlich sterben. Darum kehre man sofort um von den Sünden,
die man begangen hat, und sage nicht, wenn ich alt sein werde, werde ich umkehren.
Man könnte ja sterben, ehe man alt wird. Das hat Salomo in seiner Weisheit
gesagt (Koh 9, 8): »Zu jeder Zeit seien deine Kleider
weiß.«...
5. Alle Propheten haben die Umkehr befohlen, und
Israel kann nur durch Umkehr erlöst werden...
6. Groß ist die Umkehr, denn sie nähert den Menschen der göttlichen
Einwohnung, wie es heißt Hos 54, 2): »Kehre
um, Israel, hin zu IHM, deinem Gott«, und ferner heißt es
(Jer 4, 1): »Kehrst du um, Israel, zu mir kehrst
du wieder.« Das bedeutet, kehrst du um, haftest du mir an. Die
Umkehr bringt die Gottfernen nahe. Gestern noch war einer verhaßt beim
Allgegenwärtigen, verworfen von ihm und fern und verabscheut, und heute
ist er von ihm innig geliebt und begehrt und ihm nah und ihm Freund. Du findest
auch, daß der Heilige, gelobt sei er, mit dem gleichen Ausdruck die Sünder
von sich entfernt und die Umkehrenden, den einzelnen und die Gemeinschaft, sich
nähert. So heißt es (Hos 2, 1): »An ebendem
Ort, wo zu ihnen gesprochen ward: Mein Volk seid ihr nicht!, wird zu ihnen gesprochen:
Söhne des lebendigen Gottes!« ...
8. Es ist die Weise der Umkehrenden, besonders bescheiden
und demütig zu sein. Wenn Narren sie wegen ihrer früheren Handlungen
höhnen, zu ihnen sprechen: Gestern hast du noch so und so getan und so
und so gesprochen, dann merken sie darauf nicht. Sie hören es und freuen
sich und wissen, das ist Verdienst für sie. Wie sie sich ihrer früheren
Handlungen schämen und ob ihrer Schmach dulden, mehrt sich ihr Verdienst
und erhöht sich ihre Würde. Es ist aber große Sünde, einem
Umkehrenden zu sagen: Denk an deine einstigen Handlungen!, oder die nur zu erwähnen,
um ihn zu beschämen oder ähnliches zu sagen, um ihn an das, was er
getan, zu erinnern. All das ist verboten und fällt unter das Verbot der
Kränkung durch Worte, vor der die Tora warnt (Lev 25, 17): »Kränkt
nicht einer seinen Genossen: fürchte dich vor deinem Gott.«
Universalismus des Judentums
(Antwort an den Proselyten Obadja)
Du fragst, wie du es mit den Segenssprüchen und Gebeten
halten sollst, wenn du allein oder in Gemeinschaft betest; ob du auch sagen
dürftest: »Gott unserer
Väter«, »der Du uns
geheiligt hast durch Deine Gebote und uns
geboten hast, das und das zu tun«, »der uns
ausgesondert hat«, »der uns erwählt hat«,
»der Du unsern
Vätern vererbt hast«, »der Du
uns aus dem Lande Ägypten geführt hast«, »der
da Wunder an unsern Vätern getan
hat« und ähnliches mehr. Ja, du sollst
das alles so sprechen, wie es vorgeschrieben ist, und auch kein Wörtchen
verändern. Gleichwie der gebürtige Israelit segnet und betet, hast
du zu segnen und zu beten, ob du nun allein oder in der Gemeinde betest. Alles
gründet darin, daß es unser Vater Abraham gewesen ist, der das Volk
belehrt, zur Erkenntnis geführt und ihm den
wahren Glauben wie die Einzigkeit Gottes verkündet
hat; er hat die Götzen verworfen, den Götzendienst gestürzt und
viele Menschenkinder unter die Fittiche der Gottheit geführt; er hat sie
belehrt und unterwiesen und hat seinen Kindern und Hausgenossen für immer
anbefohlen, die Wege Gottes zu hüten. Seit jener Zeit gilt, daß wer
zum Judentum übertritt und die Einzigkeit Gottes bekennt — er selbst
und sein Haus —, zu den Jüngern Abrahams gerechnet wird. Also ist
unser Vater Abraham der Vater sowohl seiner leiblichen Söhne, die da rechtschaffen
sind und in seinen Wegen wandeln, wie auch ein Vater seiner Jünger, und
unter diesen sind die Bekehrten zu verstehen. Darum mußt du beten: »Gott
und Gott unserer Väter«,
denn Abraham ist dein Vater. In gleicher Weise hast du zu sagen: »der
Du unsern Vätern vererbt hast«,
denn Abraham wurde das Land verheißen und gegeben. Aber: »der
Du uns aus Ägypten geführt hast«,
oder: »der Du an unsern
Vätern Wunder getan hast«— hier
darfst du, wenn du willst, den Wortlaut verändern und beten: »der
Du Israel aus Ägypten geführt hast«, und: »der
Du an Israel Wunder getan hast«. Willst du
aber auch hier genauso beten wie wir, so ist darin gleichfalls nichts Unrechtes:
seit dem Augenblick, da du dich unter die Fittiche der Gottheit geborgen und
zu Gott bekannt hast, gibt es keinen Unterschied zwischen uns und dir, und alle
Wunder, die uns geschehen sind, sind gleichsam auch dir geschehen. Darum mußt
du auch beten: »der
uns erwählt, uns zum Erbe gegeben und uns
ausgesondert hat«, denn Gott
hat dich ja aus den Völkern erwählt und ausgesondert und dir die Tora
gegeben, welche uns und den Fremdlingen unter uns verliehen worden ist. Wisse,
daß unsere Väter, da sie aus Ägypten zogen, in ihrer großen
Mehrzahl Götzendiener gewesen sind, da sie die Art und Weise des heidnischen
Volkes, unter dem sie lebten, übernahmen. Danach hat Gott ihnen Moses
gesandt, den Meister aller Propheten, der uns wieder ausgesondert und unter
die Fittiche der Gottheit zurückgeführt hat. Dies geschah uns und
allen Proselyten, und uns und allen Proselyten wurde einerlei Satzung gegeben.
Verachte darum auch die hohe Abkunft nicht, deren du dich rühmen darfst;
denn während wir von Abraham, Isaak und Jakob herstammen, gehst du unmittelbar
zurück auf den, der da »Werde!«
sprach, und die Welt entstand auf sein Wort.
Acht Kapitel
Der Tugendhafte
und der Enthaltsame (Kapitel 6)
Die Philosophen sagen, der Enthaltsame, wenn er auch tugendhafte Handlungen
ausübe, tue das Gute doch nur, indem er zugleich nach bösen Handlungen
Lust und Verlangen trage, gegen diese seine Lust aber ankämpfe, dem, wozu
ihm seine Kraft, Begierde und Neigung antreibt, entgegenhandle und das Gute
ausübe, während er sich durch dessen Ausübung belästigt
fühle.
Der Tugendhafte hingegen folge in seinem
Tun dem, wozu ihn sein Begehren und seine Neigung antreibt, und übe das
Gute, indem er selbst Lust und Verlangen danach trage. Übereinstimmend
ferner wird von den Philosophen angenommen, der Tugendhafte sei vorzüglicher
und vollkommener als der Enthaltsame; jedoch, sagen sie, kann der Enthaltsame
in vielen Stücken dasselbe leisten wie der Tugendhafte, obwohl er im Range
notwendig unter ihm steht, weil er Begierde nach Ausübung des Bösen
fühlt, und ob er es auch nicht ausübt, so ist doch sein Verlangen
danach eine schlechte Neigung. Und ähnliches sagt auch schon Salomo, indem
er spricht (Spr 21, 10): »Eines Bösen Seele
verlangt nach Schlechtem.« Ferner tut er über die Freude des
Tugendhaften an der Ausübung des Guten und das Mißbehagen des Untugendhaften
folgenden Ausspruchs (Spr 21, 15): »Eine Freude
ist es den Frommen, das Rechte zu üben, aber ein Schrecken den Übeltätern.«
Dieses sind die klar vorliegenden, mit dem von den Philosophen Gesagten übereinstimmenden
Aussprüche des göttlichen Gesetzes. Als wir aber die Aussprüche
unserer Weisen über diesen Gegenstand untersuchten, fanden wir, daß
sie sagen, wer nach gesetzwidrigen Handlungen Lust und Verlangen trägt,
sie aber doch unterläßt, sei vorzüglicher und vollkommener als
einer, der keine Lust dazu hat und bei deren Unterlassung kein Mißbehagen
empfindet; ja, sie sagen sogar, je vorzüglicher und vollkommener einer
sei, desto stärker sei sein Verlangen nach gesetzwidrigen Handlungen und
sein Mißbehagen bei ihrer Unterlassung. Hierüber bringen sie auch
Erzählungen bei; sie sagen ferner (Sukka 52a): »Bei
jedem, der größer ist als sein Nächster, ist auch die Begierde
größer als bei diesem.« Doch nicht genug damit: sie
lehren sogar, der Lohn des Enthaltsamen sei so groß wie das Mißbehagen,
welches ihm seine Enthaltsamkeit verursacht, in dem sie sagen (Sprüche
der Väter V, Ende): »Nach Maßgabe des
Schmerzes ist der Lohn.«
Ja, was noch stärker ist als dies: sie gebieten, der Mensch solle Enthaltsamkeit
üben, verbieten ihm aber, zu sagen, er habe von Natur keine Begierde, die
und die gesetzwidrige Handlung zu begehen, auch wenn das Gesetz sie nicht verböte.
Es heißt nämlich bei ihnen: »Rabbi Simon
ben Gamliel sagt: Der Mensch spreche nicht: Ich möchte nicht Fleisch mit
Milch zusammen essen, nicht Zeug von zweierlei Gewebe (aus Wolle und Leinen)
anlegen, ich möchte nicht den gesetzlich verbotenen geschlechtlichen Umgang
pflegen, sondern: Ich möchte es wohl, aber was kann ich tun, da mein Vater
im Himmel es mir untersagt hat.« —
Faßt man beim ersten Blick nur den auf der Oberfläche liegenden Sinn
der beiden Klassen von Aussprüchen auf, so widersprechen sie einander.
Aber dem ist nicht so; sie sind vielmehr beide wahr und widersprechen einander
durchaus nicht. Das Böse nämlich, was bei den Philosophen so heißt
und wovon sie sagen, daß wer keine Lust dazu hat, vorzüglicher sei
als einer, der Lust dazu hat, sich aber dessen enthält, das sind die Dinge,
welche bei den Menschen schlechthin als böse bekannt sind, wie Blutvergießen,
Diebstahl, Raub, Betrug, jemandem Schaden zufügen, der nichts Böses
tat, dem Wohltäter mit Bösem vergelten, unwürdige Behandlung
der Eltern u. dgl. Dies sind die Gesetze, von denen die Weisen sagen: Wenn
sie nicht bereits vorgeschrieben wären, so würde es sich gebühren,
daß man sie vorschreibe. Einige unserer neueren Gelehrten, welche
an der Krankheit der Mutakallim leiden, nennen sie
Vernunftgesetze. Es ist nun kein Zweifel, daß die Seele, welche
nach einem dieser Dinge Lust und Verlangen trägt, eine unvollkommene ist
und daß eine tugendhafte Seele durchaus nach keinem dieser bösen
Dinge Verlangen trägt, auch darüber, daß sie sich deren enthält,
kein Mißbehagen empfindet.
Die Dinge hingegen, von denen die Weisen sagen, daß derjenige, welcher
sie sich versagt, vorzüglicher und sein Lohn größer sei, sind
die in den positiven Offenbarungsgesetzen verbotenen. Und das ist ganz richtig;
denn wäre das göttliche Gesetz nicht, so würden sie auch in keiner
Weise etwas Böses sein. Und deswegen sagen die Weisen, es sei nötig,
daß der Mensch die natürliche Neigung zu diesen Dingen in seiner
Seele erhalte und sich durch nichts anderes davon abhalten lasse als durch das
Gesetz. Betrachte nun die Weisheit jener Männer und was sie als Beispiel
aufstellen! Denn Rabbi Simon benGamliel sagt nicht: »Der
Mensch spreche nicht: Ich möchte nicht morden, nicht stehlen, nicht lügen,
sondern: Ich möchte es wohl, aber was kann ich tun...«, sondern
er führt Dinge an, die sämtlich positiver, erst durch das Offenbarungsgesetz
bestimmter Art sind, wie der Genuß von Fleisch mit Milch zusammen, das
Anlegen eines Zeuges von zweierlei Gewebe und der verbotene geschlechtliche
Umgang. Diese und ähnliche Gesetze sind solche, welche Gott »meine
Satzungen« nennt, »Satzungen«,
wie unsere Weisen sagen, »welche ich für dich
beschlossen und über welche zu grübeln dir nicht gestattet ist, gegen
welche die Völker der Welt Einwendungen erheben und welche der Satan anklagt,
als da sind: die rote Kuh, der Sündenbock . . .«. Diejenigen
aber, welche die Spätern Vernunftgesetze
nennen, heißen nach der Erklärung unserer Weisen »Gebote«.
—
Aus allem dem, was wir gesagt haben, erhellt klar, von welchen gesetzwidrigen
Handlungen es gilt, daß wer kein Verlangen nach ihnen trägt, vorzüglicher
ist als einer, der zwar Verlangen danach trägt, aber sich deren enthält,
und hinsichtlich welcher das Gegenteil der Fall ist. Es ist dies eine ungewöhnlich
feine Distinktion und zugleich eine merkwürdige Vereinbarung der beiden
Klassen von Aussprüchen, wobei schon ihr Wortlaut für die Richtigkeit
unserer Erklärung spricht.
Anlage und
Willensfreiheit (Kapitel 8)
Dem Menschen kann nicht gleich ursprünglich von Natur eine Tugend oder
ein Fehler anerschaffen sein, ebenso wie ihm nicht von Natur Besitz irgendeiner
praktischen Kunstfertigkeit anerschaffen sein kann. Wohl aber kann ihm die Veranlagung
zu einer Tugend oder einem Fehler anerschaffen sein, so daß ihm die ihr
entsprechenden Handlungen leichter werden als andere.
Ich habe dir dies aber auseinandergesetzt, daß du jenen Aberwitz nicht
für wahr hältst, den die Astrologen lügenhafterweise erdichten.
Sie geben nämlich vor, daß der Zeitpunkt der Geburt des Menschen
dazu beiträgt, daß er tugendhaft oder lasterhaft ist und daß
er demnach zu allen seinen Handlungen gezwungen ist. Du aber wisse: Ein von
unserer Religion und der griechischen Philosophie übereinstimmend gelehrter
Satz, der durch wahrhafte Beweise dargetan wird, ist der, daß alle Handlungen
des Menschen ihm anheimgestellt sind, indem er weder irgendeinem Zwange noch
irgendeinem Einflusse von außen unterliegt, der ihn zu einer Tugend oder
einem Fehler hintreibt; sondern es gibt (in ihm) nur eine Temperamentsveranlagung,
durch die (ihm) etwas leicht oder schwer wird; daß er es aber tun muß
oder nicht tun kann, ist durchaus nicht wahr.
Wäre der Mensch zu seinen Handlungen gezwungen, so wären die Gebote
und Verbote des göttlichen Gesetzes zweck- und nutzlos, und alles dies
wäre vollständige Lüge, da ja der Mensch in dem, was er tut,
keine freie Wahl hätte. Ebenso wäre das Lehren und Erziehen
vergeblich sowie das Erlernen irgendwelcher praktischen Künste, und alles
dies wäre eitel, da ja nach der Lehre der Anhänger dieser Meinung
der Mensch durch einen von außen auf ihn einwirkenden Antrieb unumgänglich
genötigt wäre, die und die Handlung auszuüben, die und die Kenntnis
zu erwerben und Charaktereigenschaften anzunehmen. Dann
wäre auch jede Belohnung und Bestrafung eine völlige Ungerechtigkeit,
statthaft weder von seiten der einen von uns gegen andere noch von seiten Gottes
gegen uns. Denn wenn dieser Simon, der den Ruben tötet, unter der
Gewalt einer zwingenden Notwendigkeit töten und der andere unter der Gewalt
einer zwingenden Notwendigkeit getötet werden muß, warum sollten
wir den Simon bestrafen, und wie wäre es ihm, dem Allerhöchsten, der
»gerecht und gerade« ist, möglich,
ihn wegen einer Handlung zu bestrafen, die er notwendig verüben mußte,
die zu unterlassen er, auch wenn er es gewollt, doch nicht vermocht hätte?
Vergeblich wären dann auch durchaus alle Vorkehrungen (der Menschen), wie
z. B. beim Bau von Häusern, beim Einsammeln des Vermögens, ferner
das Fliehen beim Eintritt einer Gefahr usw., weil das, was einmal bestimmt worden,
daß es geschehe, notwendig geschehen müßte. Dies alles aber
ist durchaus falsch und undenkbar, widerstreitet aller Erkenntnis und Wahrnehmung,
reißt die Grundfesten des Religionsgesetzes nieder und mißt Gott
Ungerechtigkeit bei, ihm, der darüber hoch erhaben ist.
Die keinem Zweifel unterliegende Wahrheit ist allein dies, daß alle Handlungen
des Menschen ihm selbst anheimgestellt sind: will er etwas tun, so tut er es,
will er es unterlassen, so unterläßt er es, ohne irgendwelchen ihn
nötigenden Zwang. Darum war es möglich, ihm (dem Menschen) Befehle
zu geben. Gott sprach: »Siehe, ich habe dir heute
vorgelegt das Leben und das Gute, den Tod und das Böse«, ».
. . wähle das Leben!«, und er ließ uns freie Wahl; weiter
folgte daraus die Bestrafung derer, die dem Gesetz zuwiderhandeln, und die Belohnung
derer, die Gott dienen (wie es heißt): »Wenn
ihr gehorchen werdet, . . und wenn ihr nicht gehorchen werdet ...«; ferner
folgte daraus das Lehren und Lernen (wie es heißt): »Ihr
sollt sie lehren eure Kinder«, »ihr
sollt sie lernen und beobachten, um sie auszuüben«, und so
alle anderen vom Lehren und Üben der göttlichen Vorschriften handelnden
Stellen; auch folgten daraus alle (zur Verhütung von Schaden zu treffenden)
Vorkehrungen, wie Gott ausdrücklich sagt: »Du
sollst ein Geländer machen, ... wenn jemand davon hinunterfiele«,
»daß er nicht sterbe im Kriege«, »worauf soll er schlafen?«,
»man soll nicht Mühle und Mühlstein pfänden«,
und sehr vieles andere über diesen Gegenstand, ich meine das Treffen von
Vorkehrungen in der Tora und den prophetischen Schriften.
Was aber den bei den Weisen vorkommenden Ausspruch betrifft: »Alles
ist in Gottes Hand, mit Ausnahme der Gottesfurcht«, so ist er wahr
und geht auf eben das hin, was wir gesagt haben ... Mit dem Worte
»alles« meinen die Weisen nur die natürlichen Dinge,
hinsichtlich deren der Mensch keine freie Wahl hat, wie z. B., daß er
groß oder klein ist, daß es regnet oder daß Dürre herrscht,
daß die Luft ungesund oder gesund ist und dergleichen mehr von allem,
was in der (sinnlichen) Welt geschieht, mit Ausnahme des Tuns und Lassens des
Menschen.
In dem von den Weisen ausgesprochenen Gedanken aber, daß Gesetzesbefolgung
und Gesetzesübertretung weder von der Vorherbestimmung noch von dem Willen
Gottes, sondern von dem Entschluß des Menschen abhängen, folgten
sie dem Ausspruche Jeremias Kl 3, 38—41), der also lautet: »Aus
dem Munde des Höchsten geht nicht das Böse und (auch nicht) das Gute
hervor.« Denn das »Böse«
bedeutet die bösen, das »Gute«
die guten Handlungen, und demnach sagt er, Gott bestimme nicht vorher, daß
der Mensch das Böse, und auch nicht, daß er das Gute tun solle. Wenn
sich nun aber die Sache so verhält, so ziemt es dem Menschen, über
die von ihm begangenen Sünden und Missetaten zu trauern und zu jammern,
da er selbst nach seiner freien Wahl böse gehandelt
hat, und daher heißt es dort: »Wie
klagt ein Mensch bei seinem Leben, ein Mann über seine Sünden!«
Wiederum heißt es aber dann auch, die Heilung dieser Krankheit liege in
unseren Händen, indem wir, wie wir nach unserer Wahl gesündigt, auch
uns bekehren und von unseren bösen Handlungen zurückkommen können.
»Wohlan«, heißt es darauf, »lasset
uns unseren Wandel durchforschen und ergründen und zu Gott zurückkehren,
lasset uns unsere Herzen mit den Händen zu Gott im Himmel erheben!«
Führer der Schwankenden
Glauben
und Wissen (I 50)
Wisse, lieber Leser, daß der Glaube nicht etwas ist, was man bloß
mit dem Munde auszusprechen hat, sondern was man sich in der Seele vorstellt,
indem man davon überzeugt ist, daß es so sei, wie man es sich vorstellt.
Wenn es dir hinsichtlich der wahren oder nach deiner Meinung für wahr gehaltenen
Glaubenslehren genügt, sie bloß mündlich herzusagen, ohne dir
sie vorzustellen und daran zu glauben, geschweige denn nach ihrer Wahrheit zu
forschen, so ist dies sehr leicht; wie du ja viele Gedankenlose finden kannst,
die an Glaubenslehren festhalten, deren Sinn sie in keinerlei Weise erfaßt
haben. Wenn dich aber dein Geist befähigt, zu dieser obersten Stufe, nämlich
der Stufe der Forschung, aufzusteigen, und du es als wahr erkennst, daß
Gott Einer ist, nämlich die wahre Einheit,
so daß du einsiehst, es gebe in ihm schlechterdings keine Zusammensetzung
und es sei auch bei ihm an keine Art von Teilbarkeit zu denken, dann wirst du
erkennen müssen, daß Gott in keiner Weise und in keinem Sinne ein
Wesensattribut zukommt und daß es ebenso unmöglich ist, daß
er ein Wesensattribut besitze, wie es unmöglich ist, daß er ein Körper
sei.
Wer aber glaubt, daß er Einer sei, desungeachtet aber zahlreiche Eigenschaften
besitze, der nennt ihn zwar mit seinem Worte Einen, hält ihn aber in seinem
Denken für eine Vielheit wie die Christen, welche sagen,
Gott sei Einer, umfasse aber drei Personen, diese drei seien jedoch Einer.
Dasselbe sagt nun derjenige, der behauptet, daß Gott Einer sei, aber viele
Attribute besitze, daß jedoch er und seine Eigenschaften eine Einheit
bilden, wiewohl er zugleich an die Unkörperlichkeit Gottes und an dessen
vollkommene Einheit glaubt. Es kommt ja bei unserem Denken und Untersuchen nicht
darauf an, was wir sagen, sondern darauf, wovon wir überzeugt sind. Es
gibt auch keinen Glauben, dem nicht eine Vorstellung vorhergeht; denn der Glaube
besteht darin, daß man hinsichtlich dessen, was man sich vorstellt, für
wahr hält, es sei außerhalb des Denkens (in Wirklichkeit) so, wie
man es sich im Denken vorstellt. Wenn nun mit diesem Glauben die Gewißheit
verbunden ist, daß das Gegenteil des Geglaubten in keiner Weise möglich
ist, wenn im Denken kein Raum zur Widerlegung dieses Glaubens vorhanden ist
und man sich die Möglichkeit des Gegenteils nicht vorstellen kann, dann
ist es ein wahrer Glaube. Und nur wenn du deine Leidenschaften und Gewohnheiten
ablegen kannst, dich im Besitze der reinen Vernunft befindest und auf das aufmerksam
achtest, was ich in den folgenden Kapiteln über die Undenkbarkeit der Attribute
zu sagen gedenke, dann wird das, was ich gesagt habe, als unbedingt wahr erscheinen,
und dann wirst du einer derjenigen sein, die die Einheit Gottes denken, nicht
aber einer von denen, die sie mit dem Munde bekennen und sich keinen Sinn in
diesem Begriffe vorstellen und die zu jener Klasse gehören, von denen die
Schrift sagt (Jer 12, 2): »Nahe bist du ihrem Munde,
aber fern von ihrem Innern.« Der Mensch aber soll zu denen gehören,
die die Wahrheit denken und begreifen, auch wenn sie sie nicht aussprechen dürfen,
wie es den Frommen befohlen wurde. Ihnen wurde gesagt (Ps 4, 5): »Erwägt
es in eurem Herzen auf eurer Lagerstätte und schweiget!«Erschaffensein
der Welt (II 25)
Unsere Weigerung, an die Ewigkeit der Welt zu glauben, hat nicht darin ihren
Grund, daß in unserer Schrift geschrieben steht, die Welt sei erschaffen.
Denn die Stellen der Schrift, die auf das Erschaffensein der Welt hinweisen,
sind nicht zahlreicher als diejenigen, die Gott als ein körperliches Wesen
erscheinen lassen. Auch sind die Pforten der Auslegung uns in betreff des Erschaffenseins
der Welt keineswegs verschlossen oder unzugänglich. Es wäre uns im
Gegenteil ebenso möglich gewesen, diese Bibelverse zu deuten, als wir es
in betreff der Unkörperlichkeit Gottes vermochten, ja, es wäre uns
viel leichter geworden, und unsere Deutung der Schriftstellen, um die Ewigkeit
der Welt festzustellen, wäre eine bessere gewesen als unsere Deutung der
Schriftstellen, um die Vorstellung auszuschließen, daß Gott ein
Körper ist. Tatsächlich haben uns zwei Beweggründe dazu bestimmt,
dies nicht zu tun und daran nicht zu glauben, und zwar erstens,
daß es bewiesen ist, daß Gott kein Körper ist, und daraus
ergibt sich mit Notwendigkeit, daß alle Stellen, deren wörtliche
Auffassung der Beweis widerlegt hat, anders gedeutet werden müssen, und
es ist notwendig jedem bewußt, daß sie anders zu verstehen sind.
Hingegen ist die Ewigkeit der Welt nicht bewiesen,
und es besteht keine Notwendigkeit, die Schriftverse ihrer wörtlichen Bedeutung
zu entkleiden und sie anders zu deuten, um zugunsten einer Meinung den Ausschlag
zu geben, die möglicherweise durch eine andere Art der Argumentation im
entgegengesetzten Sinne entschieden werden könnte. Dies ist der eine Grund.
Der zweite Grund ist der, daß unser Glaube an die
Unkörperlichkeit Gottes keinem Worte der Fundamentalwerke der Schrift widerstreitet
und keinen Ausspruch irgendeines Propheten Lügen straft und nichts
darin dem Schriftwort entgegensteht, außer was die Einfältigen als
ihm entgegenstehend betrachten, daß dies jedoch, wie wir gezeigt haben,
ihm nicht entgegensteht, sondern ihrer Absicht gemäß ist, daß
aber der Glaube an die Ewigkeit der Welt in dem Sinne, wie
Aristoteles sie auffaßt, nämlich im Sinne, daß sie notwendig
existiert, daß ihre Natur sich schlechterdings nicht verändert und
kein Ding aus seinem gewohnten Gange heraustritt, die Religion vom Grunde aus
umstürzt, alle Wunder der Schrift leugnet und das als nichtig erklärt,
was die Schrift zusichert oder androht, außer wenn auch die Wunder anders
gedeutet werden, so wie es die Mystiker unter den Arabern tun, die hierin in
eine gewisse Sophisterei ausarten. Wenn aber jemand an die Ewigkeit der Welt
nach der zweiten Meinung, die wir dargelegt haben, nämlich der Platos,
glaubt, in dem Sinne nämlich, daß auch die Himmel werden und vergehen,
so widerstreitet diese Meinung nicht den Grundlehren der Schrift und schließt
auch nicht die Leugnung der Wunder in sich, sondern im Gegenteil ihre Denkbarkeit.
Es ist auch möglich, daß die Schriftworte in seinem Sinne gedeutet
werden, und es sind im Gesetz und den anderen Schriften viele Analogien mit
ihm vorhanden, an die man möglicherweise anknüpfen und die man als
Argumente benützen kann. Doch dazu nötigt uns nichts, außer
wenn diese Meinung bewiesen ist. Solange sie aber nicht bewiesen ist, neigen
wir weder dieser Meinung zu, noch beachten wir sie überhaupt. Wir fassen
vielmehr die Schriftworte nach ihrem einfachen Wortsinne auf und sagen, daß
die Schrift uns etwas berichtet hat, was zu begreifen wir unfähig sind,
aber das Wunder bezeugt die Wahrheit unserer Behauptungen.
Wisse aber, daß bei dem Glauben an die Welterschaffung die Wunder alle
möglich sind und die Offenbarung möglich ist. Dann entfällt jede
Frage, die man darüber stellen könnte, so daß man nicht fragen
kann:
Warum hat Gott die Prophetengabe diesem und nicht einem anderen Menschen verliehen?
Warum hat Gott seine Lehre einem bestimmten Volke und nicht einem anderen gegeben?
Warum in dieser Zeit und nicht früher oder später? Warum hat er dieses
geboten oder jenes verboten?
Warum hat der Prophet gerade nur diese genannten Wunder und keine anderen vollbracht?
Was wollte Gott mit diesen Lehren?
Warum legte er, wenn diese Gebote und Verbote sein Wille waren, diese nicht
in unsere Natur?
Die Antwort auf alle diese Fragen wäre, daß
man sagen müßte: Er wollte es so, oder: Seine
Weisheit hat so entschieden. Aber ebenso, wie er die Welt in dieser Form
hat entstehen lassen, in der es ihm gefiel, obgleich wir seinen Willen in dieser
Hinsicht und auch die Methoden seiner Weisheit bei der Bestimmung ihrer Zeit
und Form nicht kennen, so kennen wir auch seinen Willen nicht und wissen nicht,
warum seine Weisheit ihn notwendig veranlaßt hat, alles das früher
Gefragte so zu bestimmen. Sobald aber jemand sagt, die Welt mußte so sein,
wird dies unbedingt zur Folge haben müssen, daß diese Fragen gestellt
werden, und man kann ihnen nicht anders als durch verwerfliche Antworten entgehen,
welche die Leugnung und Verneinung des Wortsinns aller Stellen der Schrift in
sich schließen, hinsichtlich deren es für den Vernünftigen unzweifelhaft
ist, daß sie wörtlich zu verstehen sind. Und deshalb wollen wir diese
Meinung nicht annehmen, und deshalb haben angesehene Männer ihre Tage damit
verbracht und werden sie damit verbringen, über diese Frage zu forschen.
Der Grund ist der, daß alles, was die Philosophen unserem Glauben Widerstreitendes
gesagt haben, in nichts zusammenfallen müßte, wenn die Welterschaffung
selbst nach der Meinung Platos bewiesen wäre, und daß ebenso, wenn
sie die Meinung Aristoteles‘ durch einen Beweis bestätigt fänden,
unsere Schrift in ihrer Gänze zusammenfallen müßte und die Sache
zu anderen Glaubenlehren ausginge. Ich habe dir also gezeigt, daß dies
alles von dem hier in Frage Stehenden abhängt. Wisse dies!
Die Prophetie
(lI 36)
Das Wesen der Prophetie und ihr wahrer Begriff ist die Emanation, welche von
Gott durch die Vermittlung der aktiven Vernunft sich zuerst auf das Denkvermögen
und dann auf die Einbildungskraft ergießt; dies ist die höchste Stufe
des Menschen und die äußerste Vollkommenheit, die bei seiner Art
vorhanden sein kann, und dieser Zustand ist die äußerste
Vollkommenheit der Einbildungskraft.
Dies ist ein Ding, das durchaus nicht bei allen Menschen vorkommen kann und
zu dem sie auch nicht durch die Vollkommenheit in den spekulativen Wissenschaften
und durch die Vervollkommnung des Charakters gelangen können, wenn sie
selbst alle die äußerst mögliche Tüchtigkeit und Vorzüglichkeit
besäßen, außer wenn noch die äußerst mögliche
Vollkommenheit der Einbildungskraft im Beginne ihrer Erschaffung hinzutritt.
Du weißt ja, daß die Vollkommenheit dieser Körperkräfte,
zu denen auch die Einbildungskraft gehört, in Wahrheit davon abhängt,
daß das Organ, welches der Träger dieser Kraft ist, die
denkbar beste Mischung habe, und zwar im denkbar besten Ausmaße
und mit den denkbar besten Säften.
Dies ist aber etwas, bei dem das Erkennen dessen, was ihm abhanden gekommen,
und die Ausfüllung eines Mangels durchaus nicht durch einen vorzüglichen
Lebenswandel herbeigeführt werden kann. Denn ein Organ, dessen Mischung
vom Beginn seiner Erschaffung schlecht ist, kann durch die allervollkommenste
Lebensführung nur so weit ausgeglichen werden, daß es zu einer gewissen
Gesundheit gebracht, nicht aber daß es zur denkbar vorzüglichsten
Beschaffenheit zurückgeführt werden kann. Liegt aber seine Krankheit
in dem ihm verliehenen Maße oder in seiner Lage oder in seiner Substanz,
nämlich in dem Wesen der Materie, aus der es geworden ist, so gibt es kein
Mittel dafür. Du weißt ja dies alles, und es hätte keinen Nutzen,
es weitläufig zu erörtern. Du kennst ja auch die Tätigkeiten
dieser Einbildungskraft hinsichtlich der Festhaltung, Zusammensetzung und Abbildung
der Sinneswahrnehmungen, die in ihrer Natur liegt, und weißt, daß
die bedeutendste und wichtigste ihrer Tätigkeiten dann stattfindet, wenn
die Sinneswahrnehmungen ruhen und deren Wirkungen aufgehoben
sind. Dann strömt je nach ihrer Anlage eine
gewisse Inspiration auf sie ein, und dies ist die Ursache der wahren Träume.
Und ebendieselbe ist auch die Ursache der Prophetie.
In der Tat ist diese Inspiration nur durch ein Mehr oder Weniger nicht aber
nach der Art verschieden. Du weißt ja, daß sie im Zusammenhang damit
sagen: »Von sechzig Träumen ist einer prophetisch.«
Ein solches Maßverhältnis kann ja nicht auf zwei Dinge angewandt
werden, die der Art nach verschieden sind. Man kann ja nicht sagen: Die Vollkommenheit
des Menschen ist um soundso viel mal größer als die Vollkommenheit
des Pferdes. Die Lehrer haben übrigens diesen Gedanken in Genesis Rabba
festgestellt, indem sie sagen: »Der Traum ist eine
Vorfrucht (Abfall) der Prophetie.« Und dies ist ein wunderbares
Gleichnis. Der Abfall ist nämlich die Frucht selbst, nur daß sie
vor ihrer Vollendung und vor ihrem Reifwerden abfällt. Ebenso ist die Tätigkeit
der Einbildungskraft zur Zeit des Schlafes die gleiche wie die zur Zeit der
Inspiration, nur ist sie noch mangelhaft und nicht zu ihrer höchsten Stufe
gelangt. Aber warum sollte ich dir dies aus den Worten der Lehrer mitteilen
und die Schriftworte außer acht lassen (Nu 12, 6) »Wenn
euer Prophet ein Prophet Gottes ist, so tue ich mich im Gesichte ihm kund oder
rede im Traume auf ihn ein.« Hier hat uns Gott das wahre Wesen
und den Begriff der Prophetie verkündet und uns davon Kenntnis gegeben,
daß sie eine Vollkommenheit ist, welche im Traume oder im Gesichte eintritt.
Das »Gesicht« ist eine Benennung, die
von »sehen« abgeleitet ist.
Die Einbildungskraft erreicht nämlich in ihrer Tätigkeit
eine solche Vollendung, daß sie uns das Ding so sehen läßt,
als käme es von der Außenwelt, und daß der Gegenstand,
den sie sieht, ihr gewissermaßen auf dem Wege der äußeren Sinneswahrnehmung
zugekommen zu sein scheint. In diesen beiden Teilen aber sind, wie gezeigt werden
wird, alle Stufen der Prophetie enthalten, nämlich im Gesicht oder im Traum.
Es ist ja bekannt, daß der Gegenstand, mit dem sich der Mensch zur Zeit
seines Wachens und des Gebrauchs seiner Sinne vorwiegend beschäftigt, auf
den er seine Aufmerksamkeit richtet und den er begehrt, derselbe ist, an dem
die Einbildungskraft zur Zeit des Schlafes tätig ist, wenn die Vernunft
ihrer Fähigkeit entsprechend ihre Emanation über sie ergießt.
Beispiele dafür sowie vieles Reden darüber sind überflüssig.
Denn diese Sache ist so einleuchtend, daß sie beinahe jeder Mensch weiß.
Die Tätigkeit der Einbildungskraft ist der der Sinneswahrnehmung ähnlich,
welche von der Natur dem Menschen eingeprägt ist, über welche es unter
den Menschen, die eine vollkommene Erkenntnis besitzen, keine Meinungsverschiedenheit
gibt.
Und nach diesen Vorbemerkungen wirst du wissen, daß
jeder Mensch zur Prophetie befähigt ist, wenn er bei vollkommen gleichmäßiger
Verteilung seiner Gehirnsubstanz vom Beginn seiner Zeugung im Besitze einer
reinen Materie ist und unter der Voraussetzung, daß jedes seiner Organe
die für dieses notwendige besondere Mischung, das richtige Maß und
die richtige Lage hat und nicht durch störende Mischungen in einem anderen
Organ gehindert ist.
Ein solcher Mensch wird, durch Erziehung und Wissenschaft aus dem Vermögen
zur Wirklichkeit gelangt, ein Prophet, wenn die menschliche Vernunft in ihm
im vollkommensten und vollendetsten Zustande vorhanden, seine Charaktereigenschaften
rein und gleichmäßig sind, wenn sein Verlangen ganz auf die Erkenntnis
der Geheimnisse dieses Seienden und seiner Ursachen geht, seine Gedanken immer
auf erhabene Dinge hinzielen und sein Augenmerk auf die Erkenntnis Gottes, auf
die Betrachtung seiner Werke und dessen, was man von ihm glauben muß,
gerichtet sind und er zu denjenigen gehört, dessen Denken und Verlangen
nach den tierischen Dingen bereits überwunden ist, nämlich das Verlangen
nach Ergötzung an Speise, Trank oder Beischlaf und insbesondere der Tastsinn,
von dem Aristoteles in seiner Ethik ausdrücklich sagt, daß dieser
für uns eine Schande ist. Und wie vortrefflich ist das, was er sagt! Er
ist in Wahrheit eine Schande, denn wir besitzen ihn wie die übrigen Tiere,
insofern wir Tiere und nichts anderes sind, und es ist in ihm nichts von dem
Begriff der Menschheit, während bei den Genüssen der übrigen
Sinne, wie bei denen des Geruchs-, Gehörs- und Gesichtssinnes, obgleich
sie körperlich sind, dennoch zeitweilig, wie Aristoteles darlegt, auch
solche vorkommen, die dem Menschen als Genüsse gelten, insofern er ein
Mensch ist.
Doch ist diese Erörterung schon zu etwas geraten, was nicht zu unserem
Gegenstand gehört. Allerdings ist auch dieses zu erörtern notwendig,
denn zumeist sind die Gedanken bekannter Männer der Wissenschaft durch
die Genüsse dieses Sinnes und durch das Begehren nach ihnen abgelenkt.
Und bei alledem wundern sie sich, weshalb sie, wenn die Prophetengabe etwas
in der Natur des Menschen Liegendes ist, keine Prophetengabe besitzen. Es ist
jedoch ferner notwendig, daß das Denken und Verlangen dieser Persönlichkeit
nach Machtbefugnis und Herrschaft, die keine wirklichen Güter sind, nämlich
das Streben nach Geltung oder das Verlangen, beim Volke angesehen, geehrt und
ausschließlich um seiner selbst willen einflußreich zu sein, bereits
überwunden sei, daß er vielmehr alle Menschen ihrem wirklichen Zustand
entsprechend ansehe, demzufolge sie zweifellos Haustieren und wilden Tieren
gleichen, an welche der Vollkommene und Abgesonderte nur in dem Sinne denkt,
um sich, wenn er zufällig mit ihnen etwas zu tun hat, vor einem Schaden
zu bewahren, den sie ihm zufügen könnten, oder von ihnen, soweit dies
möglich, Nutzen zu empfangen, wenn dieser ihm für eines seiner Bedürfnisse
notwendig ist.
Es kann darüber kein Zweifel obwalten, daß ein Mann von solcher Beschaffenheit,
wenn seine Einbildungskraft im denkbar vollkommensten Zustand vorhanden und
wirksam ist und, seiner geistigen Vollkommenheit entsprechend, sich von der
aktiven Vernunft auf ihn ergießt, nur überaus
wunderbare, göttliche Dinge begreifen, nur Gott und seine Engel sehen und
nur solche Dinge sich vorstellen und kennen wird, die richtige Überzeugungen
und allgemeine Anleitungen zur Regelung der Verhältnisse der Menschen untereinander
enthalten.
Es ist bekannt, daß zwischen den Vollkommenen hinsichtlich dieser drei
Dinge, die wir zusammengefaßt haben, nämlich Vollkommenheit
der Vernunft durch die Erziehung, Vollkommenheit der Einbildungskraft durch
die Zeugung und Vollkommenheit des Charakters durch Aufhören des Gedankens
an alle leiblichen Genüsse und die Beseitigung des Verlangens nach den
törichten und verderblichen Ehrenbezeigungen jeder Art, ein bedeutender
Abstand der einen gegenüber den anderen vorhanden ist, und in diesem Abstande
in jeder dieser drei Beziehungen liegt auch der Abstand aller Grade der Propheten
gegeneinander begründet.
Du weißt ja auch, daß jede Körperkraft schwach und müde
wird und zeitweilig aufhört, zu einer anderen Zeit jedoch wieder erstarkt.
Die Ein¬bildungskraft aber ist ohne Zweifel eine körperliche Kraft.
Daher wirst du bemerken, daß die Propheten¬gabe der Propheten zur
Zeit ihrer Trauer oder ihres Ärgers u. dgl. aufgehoben ist. Du kennst ja
auch den Ausspruch der Lehrer: »Die Prophetie waltet
nicht ob inmitten der Betrübnis und inmitten der Niedergeschlagenheit«,
und ebenso weißt du, daß zu unserem Stammvater Jakob während
der ganzen Zeit seiner Trauer keine Prophetie gelangte, weil seine Phantasie
sich damit beschäftigte, nach Joseph zu forschen, und daß auch zu
unserem Lehrer Moses nach der Empörung der Kundschafter bis zum Aussterben
der Krieger aus der Zeit der Wüstenwanderung die Prophetie nicht mehr so
wie früher gelangte, weil er es müde geworden war, ihre vielen Beschwerden
zu ertragen, obgleich bei seiner Inspiration die Einbildungskraft keinen Zutritt
hatte, vielmehr auf ihn die Emanation der aktiven Vernunft ohne deren Vermittlung
stattfand.
Wir haben ja übrigens wiederholt dargelegt, daß Moses nicht wie die
anderen Propheten durch Gleichnisse weissagte. Doch dies wird noch erläutert
werden und ist nicht Gegenstand dieses Kapitels. Ebenso wirst du bemerken, daß
manche Propheten eine gewisse Zeit hindurch weissagten, daß sich aber
dann die Prophetengabe von ihnen entfernte und infolge eines eingetretenen Zwischenfalles
bei ihnen nicht dauernd blieb.
Dies ist auch meiner Ansicht nach die unmittelbare wesentliche
Ursache, daß die Prophetie in den Zeiten des Exils aufgehört hat,
nämlich die Niedergeschlagenheit oder die Trauer, die den Menschen in irgendeiner
seiner Angelegenheiten betrifft, und, was noch schlimmer ist als dieses, wenn
er ein Knecht ist, dienstbar gemacht unwissenden und schlechten Menschen, in
denen der Mangel an wahrer Erkenntnis und das Vorherrschen aller viehischen
Begierden vereint ist und »er dagegen nichts
vermag«. Deshalb hat uns der Prophet Unheil verkündet, und
dies ist es, was er mit dem Ausspruch ge¬meint hat (Am 8, 12):
»Sie schweifen umher, das Wort des Herrn zu suchen, finden es aber nicht«,
und ferner mit dem Ausspruch (Kl 2, 9): »Ihr König
und ihre Fürsten leben inmitten der Völker, es gibt keine Unterweisung,
sogar ihre Propheten erlangen keine Gesichte von dem Herrn.« Dies
ist auch wahr, und die Ursache davon ist offenkundig, nämlich, daß
das Werkzeug schon unwirksam geworden war. Dieselbe Ursache
wird auch obwalten, wenn die Prophetie in gewohnter Weise zu uns wiederkehrt
in den Tagen des Messias. Möge er sich bald offenbaren, wie es Gott verheißen
hat!
Von den Opfern
(III 32)
Wenn du die Werke Gottes, nämlich die Werke der Natur, betrachtest, wird
dir aus ihnen der planmäßige Vorgang und die Weisheit Gottes in der
Erschaffung der Tiere, die Abstufung in der verschiedenen Bewegung ihrer Organe
und in deren gegenseitiger Lage zueinander offenbar. Ebenso offenbart sich dir
seine Weisheit und seine wohlbedachte Anordnung in der
stufenweisen Entwicklung jedes Einzelwesens ...
Und von ebensolcher Regierung dieses göttlichen Weltregenten kommt in unserem
Gesetze vieles vor, nämlich, daß es unmöglich ist, unvermittelt
von einem Extrem in das entgegengesetzte überzugehen, und infolgedessen
kann der Mensch, seiner Natur gemäß, nicht plötzlich alles aufgeben,
was er zu tun gewohnt war.
Gott sandte unseren Lehrer Moses, um Israel durch die Erkenntnis Gottes zu einem
Priesterreich und zu einem heiligen Volk zu machen und es dem Dienste Gottes
zu weihen ... Damals bestand die allgemeine Gottesverehrung, in der sie aufgewachsen
waren, darin, in jenen Tempeln, in denen sie die Bilder aufgestellt hatten,
gewisse Tierarten zu opfern, sich vor den Bildern niederzuwerfen und ihnen Weihrauch
darzubringen. So hat Gottes Weisheit und seine in allen seinen Geschöpfen
sich offenbarende sinnreiche Weltregierung es nicht so gefügt, uns die
Unterlassung und das Aufgeben aller dieser Arten der Verehrung zu befehlen.
Denn das wäre zufolge der menschlichen Natur, die stets zu dem Gewohnten
hinneigt, etwas gewesen, das anzunehmen damals niemand in den Sinn gekommen
wäre. Es wäre gerade so, wie wenn jetzt zu unserer Zeit ein Prophet
aufträte und zum Dienste Gottes aufriefe mit den Worten: Gott befiehlt
euch, nicht zu ihm zu beten, nicht zu fasten und zur Zeit der Not keine Hilfe
von ihm zu verlangen, vielmehr soll euer Gottesdienst nur im Denken, nicht in
Handlungen bestehen! —
Und deshalb ließ Gott diese Arten des Dienstes noch fortbestehen und übertrug
sie, da sie bisher nur geschaffenen oder eingebildeten Dingen gewidmet waren,
die keine Wirklichkeit hatten, auf seinen Namen, indem er uns befahl, sie ihm
zu Ehren auszuüben, ihm einen Tempel zu erbauen, den Altar für seinen
Namen herzustellen, ihm Opfer und Räucherwerk darzubringen, sich vor ihm
niederzuwerfen, und uns verbot, etwas von diesen Dingen und Handlungen für
ein anderes Wesen außer ihm zu vollziehen. Deshalb sonderte er sich Priester
aus und machte es zur Pflicht, ihnen, weil sie sich mit dem Tempel und seinen
Opfern zu beschäftigen hatten, Gaben zu widmen, die ihnen in jeder Hinsicht
für ihren Bedarf genügten, nämlich die Abgaben an die Leviten
und Priester.
Diese weise Einrichtung, die durch die Voraussicht Gottes getroffen wurde, erreichte
es aber auch, daß das Andenken des Götzendienstes ausgetilgt und
diese wichtige und wahre Grundlehre, nämlich die Lehre vom Dasein und der
Einheit Gottes, in unserem Glau¬ben aufrechterhalten wurde, ohne die Gemüter
dadurch abzustoßen oder abzuschrecken, daß die ihnen gewohnten Formen
der Gottesverehrung, außer denen sie keine anderen kannten, aufgehoben
wurden. Ich weiß ja wohl, daß deine Seele bei oberflächlicher
Betrachtung sich dagegen sträuben wird und du es für unmöglich
halten wirst, dies anzunehmen, und in deinem Innern an mich die Frage stellen
wirst:
Wie können diese Gebote und Verbote, diese überaus klar bestimmten
wichtigen Handlungen, für die sogar bestimmte Zeiten festgesetzt sind,
so angeordnet worden sein, wenn sie nicht um ihrer selbst, sondern um eines
anderen Dinges willen gewollt waren und gewissermaßen nur ein Auskunftsmittel
Gottes sind, um uns seine erste Absicht erreichen zu lassen? Und was hat Gott
gehindert, uns das zu befehlen, was er zuerst gewollt hat, und uns die Fähigkeit
zu verleihen, es anzunehmen, so daß es aller der Dinge, von denen du meinst,
daß sie im Hinblick auf die zweite Absicht geboten waren, nicht bedurft
hätte?
Vernimm nun meine Antwort, die diese Krankheit aus deinem Herzen entfernen und
dir die Wahrheit dessen offenbar machen soll, worauf ich dich aufmerksam gemacht
habe. Es kommt nämlich schon etwas Ähnliches in der Heiligen Schrift
vor, und zwar der Ausspruch (Ex 13, 17. 18): »Gott
führte sie nicht auf dem Wege durch das Philisterland. . .«, »Gott
ließ das Volk auf einem Umwege durch die Wüste zum Schilfmeer hinziehen.
. .«
Und so wie sie Gott mit Rücksicht auf ihre Furcht vor etwas, was sie ihrer
Natur zufolge nicht aushalten könnten, von dem gleich anfänglich ins
Auge gefaßten richtigen Wege abweichen ließ, damit auf einem anderen
Wege seine erste Absicht erreicht werde, so hat er das von uns erwähnte
Gebot, um den ersten Zweck, nämlich die Erkenntnis Gottes und die Unterlassung
des Götzendienstes, zu erreichen, mit Rücksicht darauf gegeben, daß
ihre Seele ihrer Natur nach nicht die Fähigkeit besitze, dieses anzunehmen.
Denn ebenso wie es in der Natur des Menschen, der bei sklavischer Arbeit in
Lehm und Ziegeln u. dgl. aufgewachsen ist, nicht liegt, dann zu einer bestimmten
Stunde seinen Schmutz von seinen Händen abzuwaschen und sich sofort unversehens
mit den »Söhnen Enaks« in einen
Kampf einzulassen, ebenso liegt es nicht in seiner Natur, die zahlreichen Arten
der Götterverehrung und die gewohnten Handlungen, zu denen die Seelen so
hinneigen, als wären sie selbstverständlich, alle mit einem Male aufzugeben.
Und wie es von der Weisheit Gottes ausging, sie in der Wüste umherziehen
zu lassen, bis sie sich an Tapferkeit gewöhnten, so geschah es durch eine
wohlbedachte Einrichtung Gottes, daß dieser Teil des Gesetzes ihnen zukam;
infolgedessen durften sie bei der gewohnten Handlungsweise verbleiben, damit
sie den Glauben, der die erste Absicht war, erreichen könnten...
Ich will mich aber wieder meiner Aufgabe zuwenden und sagen: Da diese Art der
Gottesverehrung, nämlich die Opfer, der zweiten Absicht entsprachen, Anrufung
und Gebet aber und ähnliche gottesdienstliche Handlungen der ersten Absicht
näherkommen und zu deren Erreichung erforderlich sind, so hat Gott zwischen
diese beiden Arten einen weiten Abstand gelegt:
Er hat uns die erste Art des Gottesdienstes, nämlich die Darbietung der
Opfer, wenn sie auch in seinem Namen stattfindet, so wie es anfänglich
der Fall war, zur Pflicht gemacht, und zwar, daß wir nicht an jedem Orte
und zu jeder Zeit opfern, und auch nicht, daß wir einen Tempel errichten,
wo es sich trifft, oder daß irgendein Beliebiger, »der
es will, die Ermächtigung besitze« (1 Kön 3, 43), zu
opfern. Vielmehr ist uns dies alles verboten, und es wurde nur ein einziges
Haus dazu bestimmt, »an dem Orte, den Gott erwählen würde«
(Dt 12, 26); an einem anderen Orte aber durfte man nicht opfern, wie die Heilige
Schrift sagt (ibid. 13): »Hüte dich, daß
du deine Opfer nicht darbringest an jedem Orte, den du ersehen wirst«,
und Priester können nur die Nachkommen des dazu Bestimmten sein.
Dies alles geschieht nur, um diese Art des Gottesdienstes
seltener zu machen, so daß nur so viel davon übrigbleibe, als die
göttliche Weisheit nicht gänzlich zu unterlassen verfügt hat.
Hingegen ist das Gebet und die Anrufung seiner Gnade an
jedem Orte und jedem beliebigen gestattet, und ebenso die Schaufäden,
die Türpfostenschrift und die Gebetriemen und andere ihnen ähnliche
Handlungen des Gottesdienstes. Und aus diesem Grunde, den ich dir offenbart
habe, findet es sich in den Prophetenbüchern häufig, daß sie
den Menschen ihren großen Eifer, mit dem sie auf der Darbringung der Opfer
bestehen, vorhalten und ihnen auseinandersetzen, daß diese nicht um ihrer
selbst willen erforderlich sind und Gott ihrer nicht bedürfe.
Stufen der
Gottesverehrung (III 51)
Das Kapitel, das wir jetzt vorbringen wollen, enthält nichts, was über
den Inhalt dessen hinausgeht, was die Kapitel dieses Buches enthalten haben.
Es ist vielmehr eine Art Abschluß nebst Erörterung der Frage, was
für ein Ding die Gottesverehrung desjenigen ist, der die Wahrheiten erkannt
hat, die sich auf Gott allein beziehen, nachdem er sein wahres Wesen begriffen
hat, nebst einer Anleitung, zu dieser Gottesverehrung
zu gelangen, die ja der Endzweck ist, zu dem der Mensch gelangen soll,
sowie eine Mitteilung, wie die göttliche Vorsehung dem Menschen hienieden
zuteil wird, bis er in den »Bund der Lebenden«
versetzt wird. Ich möchte die Ausführungen in diesem Kapitel mit einem
Gleichnis eröffnen, das ich dir vortragen will.
Der König befindet sich in seinem Palast. Seine Untertanen aber sind teils
Stadt-, teils Landleute. Von den Stadtleuten haben manche dem Hause des Königs
den Rücken gekehrt und wollen woanders hingehen, manche aber wollen zum
Hause des Königs. Sie schla¬gen auch den Weg dahin ein und trachten
auch, den Palast zu erfragen und vor den König hinzutreten, sind aber bis
jetzt noch nicht dahin gelangt, die äußere Mauer des Hauses zu erblicken.
Von denen aber, die schon im Begriffe stehen, in das Haus einzutreten, sind
einige, die, vor demselben angelangt, ringsherum gehen, um das Eingangstor zu
finden. Andere sind schon durch das Tor geschritten und stehen im Vorhof, und
wieder andere sind schon dahin gelangt, daß sie in das Innere des Hauses
eintreten durften und sich also an demselben Orte mit dem König befinden,
nämlich im Hause des Königs. Aber auch wenn man schon das Innere des
Hauses erreicht hat, kann man den König nur dann sehen oder mit ihm reden,
wenn man sich zuvor verschiedenen Mühen unterzogen hat. Dann erst darf
man vor den König hintreten und darf ihn aus der Nähe oder von weitem
sehen oder darf den König sprechen hören oder selbst mit ihm reden.
Nun will ich dir das eben vorgebrachte Gleichnis erklären. Ich sage also:
Die außer der Stadt Befindlichen sind in der Tat alle diejenigen menschlichen
Individuen, die an keine Religion glauben, weder
an eine, die man auf dem Wege der Forschung, noch an eine solche, die man auf
dem Wege der Überlieferung erlangt, wie manche Türken, die im Norden
als Nomaden leben, oder wie die Äthiopier und die Nomadenvölker im
Süden oder diejenigen, die in unseren Landstrichen diesen ähnlich
sind. Diese sind wie unvernünftige Tiere zu betrachten und stehen meiner
Meinung nach nicht auf der Stufe der Menschen, sondern ihr Rang unter den seienden
Dingen ist niederer als der des Menschen und höher als der des Affen, da
sie ja wie Menschen aussehen, menschliche Gestalt haben und eine höhere
Erkenntnis als der Affe besitzen.
Die Stadtleute aber, die dem Hause des Königs den Rücken zugewendet
haben, sind jene Leute des Denkens und der Forschung,
die zu unwahren Glaubensmeinungen gelangt sind, sei es infolge eines schweren
Irrtums, in den sie während ihres Studiums geraten sind, oder sei es, daß
sie diese von jemand empfangen haben, der sie auf einen Abweg geführt hat,
und zwar haben sie dem Hause für immer den Rücken gekehrt, weil sie
infolge dieser Glaubensmeinungen bei jedem Schritt, den sie gehen, sich immer
weiter vom Hause des Königs entfernen. Und diese sind noch weit schlimmer
als die zuerst Erwähnten, es sind nämlich die, die man zu gewissen
Zeiten töten muß, um die Erinnerung an ihre Glaubensmeinungen auszutilgen,
damit sie nicht andere irreführen.
Diejenigen aber, die den Wunsch hegen, zum Hause des Königs zu gelangen
und bei ihm einzutreten, die aber das Haus des Königs überhaupt noch
nicht zu Gesicht bekommen haben, sind die große Mehrzahl der Gesetzesgläubigen,
nämlich der Unwissenden, die die Gebote ausüben.
Diejenigen ferner, die bis zu dem Königspalast gelangt sind, aber rings
um denselben herumgehen, sind die Talmud-Kundigen,
die zwar auf dem Wege der Überlieferung die wahren Glaubenslehren angenommen
und die praktische Gottesverehrung erlernt haben, aber mit dem Studium der Grundlehren
des Gesetzes nicht bekannt sind und überhaupt nicht danach fragen, ob man
die Wahrheit einer Glaubenslehre auch erweisen kann.
Diejenigen aber, die sich darauf eingelassen haben, über die Grundlehren
des Glaubens nachzudenken, sind die, die bereits in den Vorhof eingetreten sind.
Die dort Befindlichen nehmen zweifellos verschiedene Rangstufen ein. Wer aber
dahin gelangt ist, den Beweis für alles das zu kennen, wofür es einen
Beweis gibt, und der hinsichtlich der göttlichen Dinge das Wesen von allem
kennt, dessen Wesen zu erkennen möglich ist, und der der
Erkenntnis des wahren Wesens derjenigen nahegekommen ist, bei dem es
nur möglich ist, der Erkenntnis seines wahren Wesens
nahezukommen, der ist bereits beim König im Inneren seines Hauses angelangt.
Vollkommenheit
(III 54; Schlußkapitel)
Sowohl die alten als auch die neueren Philosophen zeigen, daß die in dem
Menschen vorhandenen Vollkommenheiten von vielerlei Art sind.
Die erste, und zwar die niedrigste,
für welche die Weltmenschen ihre Lebenszeit verbrauchen,
ist die Vollkommenheit des Besitzes, nämlich
was der Mensch an Geld, Gewändern, beweglicher Habe, Sklaven, Grund u.
dgl. hat, und dazu gehört auch, daß jemand ein mächtiger König
ist. Dies ist aber eine Vollkommenheit, die mit unserer Persönlichkeit
schlechterdings in keiner Weise zusammenhängt, die der Mensch nur vermöge
einer absoluten Einbildung wegen des reichen Genusses, den er davon hat, sich
zuschreibt, indem er nämlich sagt: mein
Haus, mein Sklave, mein
Geld, meine Heerscharen. Betrachtet man
aber seine Person, so besteht dies alles außer ihm, und jedes einzelne
dieser Besitztümer besteht selbständig für sich, und deshalb
kann die Persönlichkeit, welche gestern ein mächtiger König war,
wenn diese Beziehung aufhört, »eines Tages
aufstehen«, ohne sich von dem niedrigsten
unter den Menschen in irgendeiner Hinsicht zu unterscheiden,
obgleich sich an den Dingen, die man ihm zugeschrieben hat, nicht das geringste
verändert hat. Die Philosophen zeigen auch, daß derjenige, der sein
Trachten und Mühen dieser Art von Vollkommenheit zugewendet, sich nur für
eine unbedingte Einbildung bemüht hat, also für
etwas, das keine Dauer hat, und selbst wenn dieser Besitz auch alle seine
Lebenstage hindurch in seiner Hand verbleibt, so bedeutet er doch für sein
Wesen selbst keine Vollkommenheit.
Die zweite Art hat mit dem Leibe mehr Zusammenhang als die erste; es ist dies
nämlich die Vollkommenheit seines Körperbaues,
seiner Leibesbeschaffenheit und seiner Form, nämlich daß die Mischung
dieser Persönlichkeit eine möglichst ebenmäßige
ist und seine Organe im richtigen Verhältnis zueinander stehen und sehr
kräftig sind. Aber auch diese Art der Vollkommenheit kann man nicht zum
Endzweck machen, weil sie eine leibliche Vollkommenheit ist und weil sie jedem
Menschen nicht als solchem, sondern nur insofern er ein Tier ist zuteil wird
und weil diese Vollkommenheit auch das niedrigste der Tiere mit ihm gemein hat.
Denn wenn die Kraft eines Menschen die denkbar größte wäre,
so könnte sie dennoch nicht der Kraft eines starken Maultieres, geschweige
denn der eines Löwen oder eines Elefanten gleichkommen. Auch würde
diese Vollkommenheit, selbst wenn sie, wie wir sagten, den höchsten Grad
erreichte, höchstens darin bestehen, eine schwere Last zu tragen oder einen
starken Knochen zu zerbrechen u. dgl., bei welcher Art
für den Leib nur ein geringer, für die Seele aber keinerlei Nutzen
sich ergäbe.
Die dritte Art ist eine höhere Vollkommenheit des menschlichen Wesens als
die zweite, nämlich die Vollkommenheit der Tugenden,
die darin besteht, daß die Sitten die denkbar vorzüglichste
Stufe erreichen. Die Mehrzahl der Gebote hat ja
nur den Zweck, diese Art der Vollkommenheit erreichbar zu machen, und diese
ist nichts anderes als die Vorbedingung für eine andere Vollkommenheit,
aber nicht Selbstzweck. Denn alle sittlichen Eigenschaften
betreffen doch nur das Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen, und
durch diese Vervollkommnung der Sitten wird der Mensch
gewissermaßen dazu befähigt, den anderen Menschen nützlich zu
sein, und er wird das Werkzeug eines andern. Denn wenn du dir vorstelltest,
daß irgendein Mensch für sich allein bestünde und mit keinem
andern Menschen etwas zu tun hätte, dann blieben alle seine guten Charaktereigenschaften
unnötig und zwecklos und machten ihn nicht vollkommener. In der Tat bedarf
er ihrer nur und empfängt einen Nutzen von ihnen nur im Verkehr mit anderen
Menschen.
Die vierte Art aber ist die wahre menschliche Vollkommenheit,
nämlich wenn der Mensch die geistigen Vorzüge erlangt, d. h.
die Vorstellung der abstrakten Dinge, um daraus in betreff der wirklichen Dinge
wahre Glaubensmeinungen abzuleiten. Diese aber ist allein der Endzweck, und
sie macht den Menschen wahrhaft vollkommen. Diese Vollkommenheit
ist auch ihm ausschließlich eigen, und um ihretwillen ist er eines ewigen
Fortbestandes würdig. Sie ist es auch, durch die der Mensch Mensch ist.
Betrachte nun jede der drei früheren Vollkommenheiten, und du wirst
finden, daß andere sie besitzen, du sie aber nicht besitzest, oder wenn
sie nach der allgemeinen Annahme unbedingt auch dir eigen sein müssen,
so hast du sie eben mit anderen gemein. Aber diese letzte Vollkommenheit ist
nur dir allein eigen, an ihr hat ein anderer mit dir zusammen schlechterdings
keinen Anteil. »Sie sollen dir allein gehören
und keinem Fremden, der bei dir ist« (Spr 5, 17). Und deshalb ziemt
es sich, daß du trachtest, dieses dir Vorbehaltene zu erreichen und keine
Mühen und Beschwerden auf dich zu nehmen um anderer willen; sonst wärest
du ein solcher, der seiner Seele vergißt, so daß ihr reines Antlitz
dadurch getrübt wird, daß die körperlichen Kräfte über
sie herrschen, wie im Eingange jener allegorischen Dichtung gesagt wird, die
man in diesem Sinne deutet (HL 1,6): »Meiner Mutter
Söhne waren gegen mich erzürnt und machten mich zur Hüterin der
Weinpflanzungen. Meinen Weingarten aber habe ich nicht gehütet.«
Und in dem nämlichen Sinne sagt die Heilige Schrift (Spr 5,9): »Gib
nicht anderen deine Würde und den Fremden deine Jahre!«
So haben uns aber auch die Propheten selbst diese Dinge auseinandergesetzt und
sie uns ebenso erklärt wie die Philosophen. Sie sagen uns ausdrücklich,
daß weder die Vollkommenheit des Besitzes noch die der leiblichen Gesundheit,
noch auch die sittliche Vollkommenheit jene ist, wegen welcher man sich glücklich
zu preisen und zu rühmen oder die man anzustreben hat, daß vielmehr
jene Vollkommenheit, deren man sich rühmen und nach der man trachten soll,
die Erkenntnis Gottes ist, in der die wahre Wissenschaft besteht. Und
so sagt Jeremia von diesen vier Vollkommenheiten (9, 22. 23): »So
spricht der Herr: Es rühme sich nicht der Weise seiner Weisheit, nicht
der Starke seiner Stärke und nicht der Reiche seines Reichtums, sondern
dessen rühme sich, wer sich rühmen will, daß er mich begreift
und erkennt.« Beachte, wie er sie jener Reihenfolge entsprechend
aufzählt, in der die Menge sie schätzt! Denn in ihren Augen ist die
höchste Vollkommenheit der Reichtum, nach diesem folgt die Stärke
und dann erst die Weisheit, nämlich der Besitz guter Sitten. Doch auch
dieser gilt als etwas Großes in den Augen der Menge, an die die Worte
gerichtet sind. Und deshalb hat er sie in dieser Reihenfolge angeführt.
Es genügte Jeremia nicht, in diesem Verse darzulegen, daß die Erkenntnis
Gottes allein die erhabenste Vollkommenheit ist. Denn hätte er dies gewollt,
so hätte er mit den Worten »daß er mich
begreift und erkennt« seine Rede abbrechen müssen. Er sagt
aber, man dürfe sich nur dessen rühmen, daß man Gott begreift
und seine Wege und seine Eigenschaften, d. h. seine Werke, erkennt, wie wir
in betreff des Ausspruches »Tue mir deine Wege kund«
auseinandergesetzt haben. In diesem Schriftvers
aber zeigt er uns, daß diese Werke, die man kennen soll und mittels deren
er tätig ist, in Gnade, Recht und Tugend bestehen. Und er fügt noch
einen anderen sehr notwendigen Gedanken hinzu, nämlich indem er sagt:
»auf Erden«, denn dies ist die Achse der Heiligen Schrift.
Dies bedeutet der Ausspruch: »Denn ich, der Herr,
übe Gnade, Recht und Tugend auf Erden.« Nachher aber beendet
er den Satz mit den Worten: »Denn an diesen habe
ich Gefallen, spricht der Herr.« Er sagt also: »An
Gnade, Recht und Tugend habe ich Gefallen«, d. h., ich will, daß
von euch Gnade, Recht und Tugend auf Erden ausgehen, wie wir an den dreizehn
Eigenschaften Gottes gezeigt haben. Denn diese bedeuten, daß wir ihnen
ähnlich zu werden trachten und ihrem Beispiele folgen sollen. Somit ist
das, was er in diesem Schriftvers anführen wollte, die Auslegung desselben,
daß die Vollkommenheit des Menschen, deren er sich
in Wahrheit rühmen darf, die ist, nach Möglichkeit zur Erkenntnis
Gottes zu gelangen und zu wissen, daß die göttliche Vorsehung für
seine Geschöpfe darin besteht, daß er sie erschaffen hat und regiert,
und sich nach dieser Erkenntnis immer in der Weise zu richten, daß er
stets trachtet, Gnade, Recht und Tugend zu üben, um in seinen Handlungen
Gott ähnlich zu werden, wie wir in diesem Buche wiederholt gezeigt
haben. S.142ff.
Aus: Jüdischer Glaube, Eine Auswahl aus zwei Jahrtausenden. Herausgegeben
von Wilhelm Jerusalem, Verlag Schibli-Doppler, Birsfelden-Basel