Maine de Biran [eigent. eigentl. François-Pierre Gonthier de Biran] (1766 - 1824)

  Französischer Philosoph, Politiker und Mitglied der Restaurationskammern, der zunächst einen Voluntarismus vertrat und später eine mystische Metaphysik entwickelte.


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Das Bleibende
Man sagt, der Grund für das Gläubig- und Frommwerden der Menschen mit zunehmendem Alter läge darin, dass sie Furcht vor dem Tod und davor hätten, was ihm im andern Leben folgen soll. In meinem Fall aber bin ich mir bewusst, dass sich das religiöse Gefühl ohne jede solche Furcht und ohne Dazutun der Vorstellungskraft einfach mit fortschreitendem Alter entwickelt: wenn sich die Leidenschaften beruhigt haben, Vorstellungskraft und Empfindsamkeit weniger erregt oder erregbar sind, wird die Vernunft weniger in ihrer Tätigkeit gestört, weniger von den Vorstellungen und Gefühlen, die sie sonst in Anspruch nehmen, getrübt. Nun tritt Gott, das höchste Gut, wie aus Wolken hervor, unsere Seele fühlt, sieht Ihn und wendet sich zu Ihm, der Quelle allen Lichts; da man der Welt des Wahrnehmbaren mehr und mehr entschlüpft und das Dasein als Erscheinung nicht mehr von den äußeren und inneren Eindrücken getragen ist, fühlt man das Bedürfnis, sich auf irgend etwas zu stützen, das bleibt, das nicht täuscht, auf eine Wirklichkeit, auf eine letzte Wahrheit — und schließlich kann dieses so reine, süß empfundene religiöse Gefühl alle anderen Verluste wettmachen. Furcht vor dem Tod oder der Hölle hat nichts mit diesem Gefühl gemein, befindet sich im Gegenteil in unmittelbarem Widerspruch dazu.
Aus: Französische Geisteswelt (S.183-184 - Aus dem Journal intime)
Herausgegeben von Joachim Schondorff mit einem Geleitwort von Hermann Noack
Verlag Werner Dausien