Bernard de Mandeville (1670 - 1733)

Englischer Arzt und Philosoph. Der in den Niederlanden geborene Sohn französischer Eltern studierte an der Universität Leyden Philosophie und Medizin. Im Jahre 1700 übersiedelte er nach London. Mit seiner »Bienenfabel« wandte sich Mandeville gegen den philosophischen und ökonomischen Idealismus Antony Ashley Cooper Shaftesburys, indem er die fördernde Kraft der menschlichen Ichsucht (z. B. in der Wirtschaft) nachzuweisen suchte.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon


Untersuchung über den Ursprung der Sittlichkeit
Alle in Freiheit lebenden Tiere streben ausschließlich nach Befriedigung ihrer Begierden und folgen ganz naturgemäß ihren Neigungen, ohne sich darum zu kümmern, welches Gute oder Böse für andere aus ihrer Befriedigung entspringt. Dies ist der Grund, warum im rohen Naturzustande diejenigen Geschöpfe am geeignetesten sind, in großer Anzahl friedlich miteinander zu leben, die den geringsten Verstand und die wenigsten Bedürfnisse haben. Und deshalb wieder ist keine Tierart ohne den Druck des Beherrschtwerdens weniger fähig, sich lange in großer Menge zusammen zu vertragen, als die des Menschen. Doch sind seine Eigenschaften — ob nun gut oder schlecht, will ich nicht entscheiden — derart, dass kein Geschöpf außer ihm jemals zu einem wirklich geselligen werden kann. Nun ist er aber jedenfalls ein außerordentlich selbstsüchtiges und widerspenstiges sowie auch schlaues Tier. Wie sehr er sich daher sonst auch mag überlegener Stärke unterwerfen müssen: es ist doch unmöglich, ihm mit Gewalt allein beizukommen und all die Vervollkommnung, deren er fähig ist, angedeihen zu lassen.

Das Hauptbestreben der Gesetzgeber und anderer weiser Männer, die um die Begründung der Gesellschaft bemüht waren, ist daher gewesen, den Menschen, die sie zu regieren hatten, den Glauben beizubringen, dass es für jeden einzelnen vorteilhafter sei, seine Begierden zu unterdrücken als ihnen freien Lauf zu lassen, und dass es weit besser sei, das allgemeine Wohl als die vermeintlichen Privatinteressen im Auge zu haben. Da dies jederzeit eine sehr schwierige Aufgabe gewesen ist, so hat man auch keinen Kunstgriff und keine Überredung unversucht gelassen, um sie zu lösen; und die Sittenlehrer und Philosophen aller Zeiten verwendeten ihr bestes Können darauf, die Wahrheit eines so nützlichen Grundsatzes zu beweisen. Indessen, ob ihn die Menschen nun jemals für richtig gehalten haben mögen oder nicht: es ist nicht wahrscheinlich, dass jemand sie hätte überreden können, ihren natürlichen Neigungen zu entsagen oder fremdes Wohl dem eigenen vorzuziehen, wenn er ihnen nicht gleichzeitig einen Ersatz gezeigt hätte, der als Belohnung für den Zwang zu genießen sei, den sie sich durch ein solches Verhalten notwendigerweise antun mussten. Denen, die die Menschheit zu zivilisieren unternommen haben, war dies nicht unbekannt. Da sie aber nicht imstande waren, für alle einzelnen Handlungen so viele reale Belohnungen zu verteilen, dass sämtliche Personen zufrieden gewesen wären, so blieb ihnen nichts anderes übrig, als eine Art ideeller Belohnung zu erfinden, die bei allen Gelegenheiten als allgemeine Entschädigung für die beschwerliche Selbstverleugnung dienen und, ohne sie selbst oder andere etwas zu kosten. doch für die Empfänger eine höchst annehmbare Vergütung sein sollte.

Sie untersuchten also gründlich alle uns von Natur zukommenden Stärken und Schwächen: und da sie fanden, daß niemand so roh sei, daß er nicht an Lob Gefallen fände, und niemand so verworfen, daß er Verachtung geduldig ertrüge, so schlossen sie mit Recht, die Schmeichelei müsse das machtvollste Werkzeug sein, um auf menschliche Wesen einwirken zu können. Indem sie von diesem Zaubermittel Gebrauch machten, priesen sie unsere Vorzüge vor anderen Tieren und feierten durch maßlose Lobreden auf die Wundertaten unseres Scharfsinns und die Unbegrenztheit unseres Verstandes in jeder erdenklichen Weise die Vernunftbegabtheit unserer Seele, vermittels deren wir fähig wären, die edelsten Handlungen zu vollbringen. Nachdem sie sich auf diesem sinnreichen Wege der Schmeichelei in die Herzen der Menschen eingeschlichen, begannen sie, sie mit den Begriffen der Ehre und Schande vertraut zu machen, wobei sie die eine als das schlimmste aller Übel. die andere als das höchste Gut, wonach Sterbliche trachten könnten, hinstellten. Darauf hielten sie ihnen vor, wie sehr es der Würde so erhabener Geschöpfe entgegen sei, die Befriedigung jener Begierden zu erstreben, die sie mit den wilden Tieren gemein hätten, und gleichzeitig jene höheren Anlagen, die ihnen den Vorrang vor allen bekannten Wesen gäben, zu vernachlässigen. Sie gaben freilich zu, dass jene Naturtriebe sehr stark wären, dass es lästig sei, ihnen zu widerstehen, und sehr schwierig, sie ganz zu unterdrücken; allein, dies alles gebrauchten sie nur als Argument, um zu beweisen, wie ruhmvoll einerseits ihre Überwindung und wie schmachvoll es andererseits sei, diese nicht zu versuchen.

Um außerdem eine Art Wetteifer unter den Menschen zu veranlassen, teilten sie das ganze Geschlecht in zwei voneinander sehr verschiedene Klassen. Die eine bestand aus verworfenen, niedrig gesinnten Leuten, die stets hinter Augenblicksgenüssen herjagten, der Selbstverleugnung gänzlich unfähig waren und ohne Rücksicht auf das Wohl anderer kein höheres Ziel als ihren persönlichen Vorteil kannten: Sklaven der Sinnenlust, die widerstandslos jeder groben Begierde nachgaben und ihre Verstandeskräfte bloß dazu gebrauchten, ihre sinnlichen Vergnügungen zu erhöhen. Diese gemeinen, verkommenen Subjekte, sagten sie, wären der Abschaum ihres Geschlechts. sie hätten nur die Gestalt von Menschen und unterschieden sich von wilden Tieren durch nichts als ihre äußere Erscheinung. Die andere Klasse dahingegen bestand aus erhabenen, hochgesinnten Geschöpfen, die frei von schmutziger Selbstsucht die Gaben des Geistes als ihren schönsten Besitz hochhielten und, sich ihres wahren Wertes bewußt, lediglich an der Ausbildung jener Anlagen, in denen ihr Vorzug bestand, Gefallen fanden. Sie seien Verächter all dessen, hieß es, was sie mit unvernünftigen Wesen gemein hätten; kraft ihrer Vernunft widerständen sie ihren heftigsten Neigungen und führten einen beständigen Kampf gegen sich selbst, nach nichts Geringerem strebend als dem Wohl der Allgemeinheit und dem Sieg über ihre Leidenschaften:

Fortior est qui se quam qui fortissima vincit moenia . . .

Diese nannten sie die wahren Repräsentanten ihres erhabenen Geschlechts, die dem Werte nach die erste Klasse um vieles mehr übertraf, als diese selbst den Tieren des Feldes überlegen war.

Wie wir bei allen tierischen Geschöpfen, die nicht zu niedrig stehen, um Stolz zu zeigen, finden, daß die besten und zugleich schönsten und wertvollsten ihrer Art im allgemeinen den größten Anteil davon haben, so ist er im
Menschen, dem vollkommensten Tiere, so untrennbar von seinem innersten Wesen — wie schlau auch manche ihn zu verbergen oder zu verhüllen lernen mögen —, dass ohne ihn der Mischung, aus der er besteht, einer der Hauptbestandteile fehlen würde. Beachten wir dies, so ist kaum zu bezweifeln, daß Lehren und Vorhaltungen, die der guten Meinung, die der Mensch von sich selber hat, so geschickt wie die von mir erwähnten angepasst sind, wenn sie unter einer größeren Menge verbreitet werden, — dass sie da nicht bloß bei ruhiger Überlegung die Zustimmung der meisten erhalten, sondern auch einige, besonders die lebhaftesten, entschlossensten und besten unter ihnen, dazu bringen werden, tausend Unbequemlichkeiten zu ertragen und sich ebenso vielen Strapazen zu unterziehen, damit sie nur das beglückende Gefühl haben dürfen, sich zu den Menschen der zweitgenannten Klasse zu rechnen und sich demgemäß alle die Vorzüge, von denen sie gehört haben, zuzuschreiben.

Hiernach haben wir zunächst zu erwarten, dass jene Heiden, die so hervorragend um die Beherrschung einiger ihrer natürlichen Triebe bemüht waren und das Wohl anderer jedwedem sichtbaren eigenen Interesse vorzogen, nie einen Zoll breit von der hohen Meinung zurückgekommen sein werden, die sie sich von der Würde vernünftiger Geschöpfe gebildet hatten. Da sie die Autorität der Obrigkeit auf ihrer Seite hatten, werden sie mit aller denkbaren Kraft sowohl die Hochachtung, die man denen der zweiten Klasse schuldete, wie auch ihre Überlegenheit über den Rest ihrer Mitgeschöpfe betont haben. Ferner werden sich diejenigen, die nicht stolz oder entschlossen genug waren, um in dem Verzicht auf ihr Liebstes auszuhalten, vielmehr den Eingebungen ihrer sinnlichen Natur folgten, dennoch vor dem Eingeständnis geschämt haben, dass sie jene elenden Subjekte seien, die der niederen Klasse angehörten und allgemein als kaum von wilden Tieren unterschieden betrachtet wurden. Daraus folgt nun wieder, daß sie zu ihrer Verteidigung dieselben Reden wie die andern geführt und, ihre Schwächen, so gut es ging, verbergend, Selbstverleugnung und Sorge um das Allgemeinwohl soviel wie möglich gepriesen haben werden. Denn höchstwahrscheinlich dürften einige unter ihren, von den mitangesehenen Proben von Tapferkeit und Aufopferung überzeugt, in anderen bewundert haben, was sie bei sich selbst nicht vorfanden; andere werden die Entschlossenheit und den Mut derer der zweiten Klasse gefürchtet haben und alle in Ehrfurcht vor der Gewalt ihrer Herrscher gehalten worden sein. Somit hat man anzunehmen, dass keiner von ihnen — was sie auch bei sich gedacht haben mögen — dem öffentlich zu widersprechen gewagt haben wird, woran zu zweifeln alle übrigen für verbrecherisch hielten.

Dies war oder könnte wenigstens die Art und Weise gewesen sein, wie die Wildheit des Menschen gebändigt wurde. Daraus erhellt, daß die ersten Ansätze von Sittlichkeit geschickten Volkserziehern zu verdanken sind, die danach strebten, die Menschen sich gegenseitig nützlich sowie überhaupt lenkbar zu machen, damit nämlich die Ehrgeizigen Vorteil daraus ziehen und größere Mengen von ihnen bequemer und sicherer regieren könnten. Nachdem diese Begründung der Staatskunst einmal gelungen war, konnte die Menschheit unmöglich länger unzivilisiert bleiben. Denn gerade die bloß danach trachteten, ihre Begierden zu befriedigen, konnten infolge fortwährender Beeinträchtigung seitens anderer von gleicher Gesinnung nicht umhin zu bemerken, dass sie, stets wenn sie ihre Neigungen unterdrückten oder ihnen auch nur mit mehr Vorsicht folgten, zahllose Streitigkeiten vermieden und vielen von den Drangsalen entgingen, wie sie das allzu eifrige Jagen nach Genüssen zu begleiten pflegen.

Dabei wurden sie erstens gleich den anderen der Wohltat jener Handlungen teilhaftig, die zum Besten der Gesamtheit ausgeführt wurden, und mussten demgemäß denen der höheren Klasse, die sie vollbrachten, gewogen werden. Zweitens: je mehr sie dahinterher waren, ihren eigenen Vorteil ohne Rücksicht auf andere zu suchen, desto mehr wurden sie stündlich davon überzeugt, dass ihnen niemand so schädlich sei wie diejenigen, die ihnen selbst am meisten glichen.

So kam es, dass sich gerade die schlechtesten unter ihnen mehr denn alle anderen angelegen sein ließen, den Geist der Zusammengehörigkeit zu predigen, um die Früchte der Arbeit und Aufopferung der übrigen zu genießen und gleichzeitig sich mit mehr Ruhe der Stillung ihrer eigenen Bedürfnisse überlassen zu können. Und dies führte zu dem Übereinkommen, einerseits alles, was ein Mensch eine Rücksicht auf das Allgemeinwohl zur Befriedigung seiner Begierden unternähme
, Laster zu nennen, vorausgesetzt, dass jene Handlungsweise den geringsten Verdacht errege, sie schädige entweder einen aus der Gemeinschaft oder mache ihn selbst anderen weniger nützlich; andererseits jedes Verhalten als Tugend zu bezeichnen, durch das ein Mensch aus dem vernünftigen Bestreben heraus, gut zu sein, und dem Naturtriebe entgegen sich um das Wohl anderer oder den Sieg über seine Leidenschaften bemühen würde.

Man wird einwenden, dass keine Gesellschaft jemals auf irgendeine Weise zivilisiert wurde, ehe die
Mehrzahl sich zur Verehrung eines überlegenen Machtwesens in der einen oder anderen Form zusammengefunden habe, und daß somit die Begriffe von Gut und Böse und die Unterscheidung zwischen Tugend und Laster nimmermehr die Erfindung von Sozialpolitikern, sondern die reine Wirkung der Religion sei. Bevor ich diesen Einwurf beantworte, muss ich schon Gesagtes wiederholen, nämlich, dass ich in dieser »Untersuchung über den Ursprung der Sittlichkeit« nicht von Juden oder Christen, sondern vom Menschen im Naturzustande und ohne Kenntnis des wahren Gottes spreche. Alsdann behaupte ich, dass der abergläubische Götzendienst aller anderen Völker und die erbärmlichen Vorstellungen, die sie vom höchsten Wesen gehabt haben, unfähig waren, den Menschen zur Tugend anzutreiben, und bloß dazu gut, eine rohe und gedankenlose Masse zu schrecken und zu unterhalten. Wie dumm und lächerlich auch die Vorstellungen mancher Völker betreffs der von ihnen verehrten Gottheit gewesen sein mögen: wir wissen aus der Geschichte, dass in allen bedeutenden Gemeinwesen der Menschengeist sich von jeher auf allen Gebieten betätigt hat und dass es keine Weisheit und Tugend auf Erden gibt, in der sich nicht in sämtlichen als reich und mächtig berühmt gewesenen Monarchien und Republiken zu der oder jener Zeit Menschen ausgezeichnet haben.

Die Ägypter, nicht zufrieden mit der Vergötterung aller der scheußlichen Ungeheuer, die ihnen nur vorkamen, waren albern genug, die von ihnen selbst gesäten Zwiebeln anzubeten; und doch war gleichzeitig ihr Land die berühmteste Pflegestätte von Kunst und Wissenschaft in der Welt und das Volk selbst eingehender in den tiefsten Geheimnissen der Natur bewandert als seitdem irgendein anderes.

Von allen Ländern und Staaten auf Erden haben keine mehr oder herrlichere Muster von sittlichen Tugenden jeder Art hervorgebracht als die Reiche der Griechen und Römer, besonders aber der letzten; und doch — wie oberflächlich, absurd und lächerlich waren ihre Empfindungen in bezug auf Heiliges! Denn wenn wir, abgesehen von der übergroßen Zahl ihrer Gottheiten, die schändlichen Geschichten in Betracht ziehen, die sie über sie verbreiteten, so lässt sich nicht leugnen, dass ihre Religion weit davon entfernt war, dem Menschen den Weg zur Selbstbeherrschung und zur Sittlichkeit zu weisen; daß sie vielmehr darauf berechnet gewesen zu sein scheint, seinen niederen Trieben Vorschub zu leisten und seine Laster zu ermutigen. Wollen wir aber wissen, was sie dazu befähigte, sich durch Ausdauer, Tapferkeit und Gleichmut auszuzeichnen, so müssen wir unseren Blick auf ihre prächtigen Triumphzüge, ihre herrlichen Monumente und Bauten, ihre Trophäen, Statuen und Inschriften richten, auf die Soldatenkronen, die Ehrungen, die sie den Toten, die öffentlichen Belobigungen, die sie den Lebenden spendeten, und auf all die ideellen Belohnungen, die sie verdienstvollen Männern zuteil werden ließen. Alsdann werden wir finden, dass, was so viele zum äußersten Gipfel der Aufopferung führte, einer Berechnung zu verdanken war, auf Grund deren man von den wirksamsten Mitteln Gebrauch machte, durch die der Eitelkeit der Menschen geschmeichelt werden konnte.

Man sieht also: es war nicht irgend eine heidnische Religion oder sonst ein abergläubischer Götzendienst, was den Menschen zuerst zur Unterdrückung seiner Begierden und Zügelung seiner Lieblingsneigungen brachte, sondern das geschickte Vorgehen umsichtiger Staatsmänner. Je genauer wir die menschliche Natur erforschen, desto mehr werden wir davon überzeugt, daß Sittlichkeit ein sozial-politisches Erzeugnis aus Schmeichelei und Eitelkeit ist. Es gibt keinen Menschen von so großem Verstand und Scharfsinn, dass er der Zauberkraft der Schmeichelei, wenn sie nur geschickt und seiner Anlage entsprechend ausgeübt wird, völlig unzugänglich wäre. Kinder und Toren schlucken sie in der gröbsten persönlichen Form herunter, während feiner Angelegte mit größerer Umsicht behandelt werden wollen; und je allgemeiner gehalten die Schmeichelei ist, desto weniger wird sie von denen, denen sie gilt, beanstandet. Was man als Empfehlung einer ganzen Stadt anführt, wird von jedem Einwohner mit Vergnügen aufgenommen; man sage etwas zum Preise der Gelehrsamkeit im allgemeinen, und jeder Gelehrte wird sich einem im besonderen verbunden fühlen; den Beruf eines Menschen oder sein Heimatland darf man ruhig loben, weil man ihm Gelegenheit gibt, die Freude, die ihm selbst damit gemacht wird, unter seiner vorgeblichen Hochachtung für andere zu verbergen.

Wenn die Schlauen, die den Einfluss der Schmeichelei auf das Selbstgefühl kennen, betrogen zu werden fürchten, so reden sie gewöhnlich — ganz gegen ihr Gewissen — von der Ehrenhaftigkeit, den feinen Sitten und der Vertrauenswürdigkeit der Familie, des Volkes oder auch des Standes, dem der Verdächtige angehört. Sie wissen nämlich, dass ein Mensch oft seinen Entschlussändert oder seiner Neigung entgegenhandelt, um das Vergnügen zu haben, auch weiterhin als etwas zu erscheinen, was er nach eigenem Wissen in Wirklichkeit nicht ist. In dieser Weise stellen scharfsinnige Moralisten die Menschen als Engel dar, in der Hoffnung, dass die Eitelkeit wenigstens einige dazu bringen wird, das schöne Original zu kopieren, als das sie hingestellt werden.

Wenn der unvergleichliche Sir Richard Steele mit der gewohnten Eleganz seines leichten Stils bei dem Lobe seines erhabenen Geschlechts verweilt und mit allen rhetorischen Ausschmückungen die Vorzüge des Menschen betont, so ist es unmöglich, nicht von seinen glücklichen Gedanken und der Zierlichkeit seiner Wendungen entzückt zu sein. Obwohl ich aber die Kraft seiner Beredsamkeit oft empfunden habe und gern bereit war, auf seine geistreichen Sophistereien einzugehen, so konnte ich doch nie den Ernst so weit bewahren, dass ich nicht beim Nachdenken über seine gefälligen Lobreden an die Kunstgriffe gedacht hätte, die die Frauen anwenden, um den Kindern Manieren beizubringen.

Wenn ein ungeschicktes kleines Mädchen, noch ehe es sprechen oder gehen kann, nach vielen Zureden die ersten rohen Versuche im Knickschenmachen anstellt, so gerät die Wärterin in eine wahre Ekstase von Beifall: »Das war aber ein prächtiges Knickschen! So ein feines Fräulein! Eine richtige kleine Dame! Gnäd‘ge! Das Fräulein kann schon einen schöneren Knicks machen als ihre Schwester Molly.« Das gleiche erschallt im Chor der Mägde, während die Mama das Kind halb zu Tode liebkost. Bloß das vier Jahre ältere Fräulein Molly, das wirklich versteht, einen schönen Knicks zu machen, wundert sich über das verkehrte Urteil der andern. Tief gekränkt will es sich eben über die ihm angetane Schmach beklagen, als man ihm ins Ohr flüstert, daß dies bloß der Kleinen zu Gefallen geschehen ist und dass es doch schon eine Dame sei. Worauf es stolz darüber, in das Geheimnis gezogen werden zu sein, und angenehmen Bewusstsein seines überlegenen Verstandes jene Äußerungen mit reichlichen Zusätzen wiederholt und sich dabei über die Hilflosigkeit seiner Schwester aufhält, die dies natürlich allein als Kind unter allen Anwesenden betrachtet. Derartige überschwängliche Belobigungen würden von jedem mit mehr als Kinderverstand widerliche Schmeicheleien oder, wenn man will, abscheuliche Lügen genannt werden. Indessen, die Erfahrung lehrt uns, daß mit Hilfe solchen plumpen Lobes kleine Mädchen dahin gebracht werden können, hübsche Knickschen zu machen und viel eher und mit weniger Schwierigkeit sich mädchenhaft zu benehmen, als sie ohnedem tun könnten.

Dasselbe gilt von Knaben, die man zu überreden sucht, dass alle seinen Herren es so machen, wie man sie heißt, und dass bloß Betteljungen ungezogen sind oder ihre Kleider beschmutzen. Ja, sobald der wilde Balg mit seinen ungeschickten Fingern nach seinem Hute zu greifen anfängt, sagt ihm, noch ehe er zwei Jahre alt ist, die Mutter, damit er ihn abzieht, dass er doch ein Herr ist; und falls er die Tat auf Verlangen wiederholt, ist er sofort ein Offizier, ein Herr Rat, ein König oder noch was Höheres, wenn ihr etwas einfällt. In dieser höchst eindringlichen Weise gelobt, bemüht sich schließlich der kleine Racker, es den Männern, so gut er kann, nachzumachen. und nimmt alle seine Fähigkeiten zusammen, um als das zu erscheinen, was er in seinem beschränkten Köpfchen zu sein glaubt.

Der gemeinste Kerl misst sich selbst einen unschätzbaren Wert bei, und der höchste Wunsch eines ehrgeizigen Menschen ist, dass alle Welt in dieser Hinsicht seiner Meinung sei. Dementsprechend war das heftigste Verlangen nach Ruhm, das je einen Helden erfüllte, niemals mehr als eine unbezähmbare Gier danach, in Zukunft wie bei Lebzeiten in der Achtung und Bewunderung anderer zu steigen, und somit — trotz alles Niederschmetternden, was diese Wahrheit für die Erinnerung an einen Alexander oder Cäsar haben mag — die in Aussicht stehende große Belohnung; das, wofür die erhabensten Geister so bereitwillig Ruhe, Gesundheit, Sinnenlust und jeden Zoll ihres Selbst geopfert haben, ist nie etwas anderes gewesen als bloßer Hauch, die luftige Münze menschlicher Lobpreisungen. Wer kann sich des Lachens enthalten, wenn er all der großen Männer gedenkt, die so viel von jenem mazedonischen Narren geschwärmt haben, von seinem umfassenden Geiste, seiner herrlichen großen Seele, in deren einem Winkel, nach Lorenzo Gracian, die Welt so bequem Platz fand, dass in der ganzen Raum für weitere sechs gewesen wäre? Wer kann sich des Lachens enthalten, sage ich, wenn er die vielen großartigen Aussprüche über Alexander mit dem vergleicht, was er — wie aus seinen eigenen Worten hervorgeht — selbst als Enderfolg seiner gewaltigen Kriegstaten vor Augen sah: damals nämlich, als ihm seine enormen Anstrengungen, den Hydaspes zu überschreiten, den Ausruf entpreßten: »O ihr Athener, wenn ihr wüsstet, welchen Gefahren ich mich aussetze, um von euch gepriesen zu werden!« Um also das Befriedigende des Ruhmes im weitesten Sinne zu kennzeichnen, kann man weiter nichts sagen, als dass es in einem übergroßen Glücksgefühl besteht, das ein Mensch vermöge seiner Selbstliebe im Bewusstsein, eine edle Tat vollbracht zu haben, genießt, indem er an den Beifall denkt, den er von anderen erwartet.

Hier wird man mir jedoch sagen, dass es außer geräuschvollen Waffentaten und der öffentlichen Geschäftigkeit der Ehrgeizigen edle und großmütige Handlungen gibt, die in Stille vollbracht werden; dass, da die Tugend ihren Lohn in sich selbst trägt, den wirklich Guten ihr Bewußtsein, es zu sein, eine Genugtuung bereitet, die die ganze Belohnung ist, die sie für ihr höchst würdiges Verhalten erwarten; dass unter den Heiden Menschen gewesen sind, die, wenn sie andern Gutes taten, weit davon entfernt waren, Dank und Beifall zu begehren, und sich alle erdenkliche Mühe gaben, denen für immer verborgen zu bleiben, denen sie ihre Wohltaten erwiesen; und dass somit die Eitelkeit nicht mitgewirkt hat, um den Menschen zum Gipfel der Aufopferung emporzuheben.

Als Antwort darauf bemerke ich, dass es unmöglich ist, eines Menschen Handlungsweise zu beurteilen. wenn wir nicht mit den Grundsätzen und Motiven. die ihn bewegen, völlig bekannt sind. Das Mitleid ist zwar das sanfteste und unschädlichste von allen unseren Affekten, aber doch ebensosehr eine Schwäche unserer Natur wie Wut, Stolz oder Furcht. Die zartesten Gemüter haben gewöhnlich den größten Anteil davon, aus welchem Grunde Frauen und Kinder das meiste Mitgefühl besitzen. Man muss es zugeben: von allen unseren Schwächen ist es die liebenswürdigste und steht sittlichem Verhalten am nächsten; ja, ohne beträchtliche Beimischung davon könnte die Gesellschaft sogar kaum auskommen. Da es aber auf einem natürlichen Instinkt beruht, der sich weder aus öffentlichem Interesse noch aus unserer Vernunft herleitet, so kann es ebensogut Schlimmes wie Gutes hervorbringen. Es hat mitgeholfen, die Ehre von Jungfrauen zu vernichten, es hat die Unparteilichkeit von Richtern verdorben, und wer auch immer aus Mitleid als Prinzip handelt, er hat sich, welchen Nutzen er auch der Gesellschaft bringen mag, mit nichts anderem zu rühmen, als dass er sich einem Gefühl überließ, das zufällig der Allgemeinheit zum Vorteil gereichte. Es liegt kein Verdienst darin, ein unschuldiges Kindchen zu retten, das nahe daran war, ins Feuer zu fallen. Die Handlung ist weder gut noch schlecht und welchen Nutzen das Kind auch davon haben mag — wir verfahren dabei lediglich in unserem eigenen Interesse. Denn seinen Fall gesehen und nicht gestrebt zu haben, ihn zu verhindern, würde eine Pein verursacht haben, die der Selbsterhaltungstrieb uns zu vermeiden zwang. Keiner größeren Tugend hat sich ein reicher Verschwender zu rühmen, der zufällig ein mitleidiges Temperament hat und sich seinen Regungen zu überlassen liebt, wenn er dem Gegenstande seines Mitgefühls mit einer für ihn selbst wertlosen Kleinigkeit aus der Not hilft.

Solche Menschen aber, die sich, ohne einer ihrer Schwächen nachzugeben, von dem, was sie hochschätzen, trennen und aus keinem anderen Motive als ihrer edlen Gesinnung im stillen eine gute Tat vollbringen können — solche Menschen haben sich allerdings verfeinerte Begriffe von Sittlichkeit gebildet, als ich bis jetzt besprochen habe. Allein, sogar bei diesen, von denen die Welt nie voll gewesen ist, können wir schwache Symptome von Stolz entdecken; und der bescheidenste Mensch, der da lebt, muss bekennen, dass der Lohn einer edlen Tat, nämlich die ihr folgende Befriedigung, in einem gewissen angenehmen Gefühl besteht, das er sich durch die Betrachtung eines Wertes verschafft. Dieses Gefühl zusammen mit einer Veranlassung ist ein ebenso sicheres Zeichen von Stolz, wie Blassaussehen und Zittern bei großer Gefahr Symptome von Furcht sind.

Wenn der allzu bedenkliche Leser beim ersten Anblick diese Ansichten über den Ursprung der Sittlichkeit verdammen und vielleicht meinen sollte, dass sie für das Christentum verletzend seien, so hoffe ich, er wird seinen Tadel zurücknehmen, sobald er in Betracht zieht, dass
nichts die unerforschliche Tiefe göttlicher Weisheit deutlicher offenbaren kann als gerade dies, da
ss der Mensch, den die Vorsehung zur Geselligkeit bestimmt hat, nicht bloß durch seine Schwächen und Mängel auf den Pfad irdischen Glückes geführt werden, sondern auch mit scheinbarer Naturnotwendigkeit ein gewisses Maß jener Kenntnisse empfangen sollte, in denen er späterhin zu seinem ewigen Heile durch die wahre Religion vervollkommnet zu werden bestimmt war. S.74ff.
Enthalten in: Englische Geisteswelt . Von Bacon bis Eliot . Herausgegeben von Walter Schmiele, Holle Verlag , Darmstadt