Manu [altindisch
= Mensch] (zeitlich nicht zuordenbar)
Legendärer Ur- und Stammvater
der Menschheit, der nach der Bhagavadgita
der Vorsteher, Schöpfer und Ordner der großen Weltperioden, der vier
Weltalter sein soll. Auf den mythischen Manu des jetzigen Weltalters wird das
berühmte »Gesetzbuch des Manu« zurückgeführt. Der germanische Name ist Mannus.
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Aus dem Mânava-dharmasâtra
(Manus Gesetzbuch XII, 1—69).
Die Vergeltung der Werke und
die Seelenwanderung
1. Du, Sündloser, hast uns sämtliche Pflichten der vier Kasten erklärt,
verkündige uns jetzt genau das zukünftige Zustandekommen der Vergeltung
der Werke!
2. Bhrgu, der Sohn Manus, dessen Wesen
Gerechtigkeit ist, sagte zu den großen Rsis: Höret nun die
Bestimmung über den Verlauf der Werke in diesem Weltall!
3. Jede Handlung, die aus dem manas, aus der Rede oder aus dem Körper entspringt,
trägt eine gute oder böse Frucht; die Schicksale der Menschen, ob
sie nun hoch, niedrig oder mittelmäßig seien, beruhen auf den Handlungen.
4. Das manas, soll man wissen, ist der Anreger der mit
dem Körper verbundenen Handlung hier, die dreifach ist, auf drei
Dingen beruht und mit zehn Merkmalen verbunden
ist.
5. Das unrechtmäßige Denken an die Reichtümer anderer, das Denken
an verbotene Dinge vermittelst des manas und der Hang zu falschen (Anschauungen),
das sind die drei auf dem manas beruhenden Handlungen.
6. Rauhe Rede, Unwahrheit, Verleumdung und in jeder Beziehung törichtes
Geschwätz, das sind die vier auf der Rede
beruhenden Handlungen.
7. Nicht gegebene Sachen nehmen, Schädigung, die ohne Vorschrift stattfindet,
und Umgang mit der Frau eines anderen, das sind die drei auf dem Körper
beruhenden Handlungen.
8. Man erhält die Vergeltung für eine gute oder böse Handlung
des manas an dem manas; an der Stimme für eine Handlung der Rede und an
dem Körper für eine Handlung des Körpers.
9. Der Mensch erreicht den Zustand einer Pflanze wegen böser Handlungen,
die auf dem Körper beruhen; den Zustand der Vögel oder der wilden
Tiere wegen der auf der Rede beruhenden Handlungen; den Zustand der niedrigsten
Kasten wegen Handlungen, die auf dem manas beruhen.
10. Es gibt eine Herrschaft (danda) über
die Rede, über das manas und über den Körper; derjenige, in dessen
buddhi diese Herrschaften sich befinden, der heißt Tridandin (brahmanischer
Bettler).
11. Wer diese dreifache Herrschaft allen Wesen
gegenüber übt und Begierde und Zorn unterdrückt, der gelangt
dadurch gewiß ans Ziel.
12. Das, was die Handlungen des Selbstes veranlaßt, nennt man die Seele;
das, was handelt, nennen aber die Weisen das materielle
Selbst (bhûtâtman).
13. Es gibt aber ein anderes, das innere Selbst,
der jîva genannt, welches zu gleicher
Zeit mit allen Wesen geboren wird und durch welches alles Glück und Leid
in den verschiedenen Geburten empfunden wird.
14. Diese beiden, der Mahân (Innenorgan)
und die Seele, sind mit den Elementen verbunden
und durchdringen den einen, der sich in allen hohen oder niedrigen Wesen befindet.
15. Unzählige Formen entspringen aus dem Körper dieses einen und setzen
unaufhörlich alle hohen oder niedrigen Wesen in Bewegung.
16. Aus den fünf Elementen wird nach dem Tode ein anderer Körper gebildet für die Menschen, die Böses getan
haben, ein beharrender Körper, für die Vergeltung passend.
17. Wenn sie durch diesen Körper hier die Vergeltung Yamas erlitten haben,
dann lösen sie sich auf in dieselben Elemente Teil für Teil.
18. Der jîva geht, wenn er die durch
Berührung mit den Objekten entstandenen und Leid hervorbringenden Sünden
gebüßt hat und ohne Flecken ist, zu diesen beiden mächtigen
Wesen.
19. Diese beiden untersuchen zusammen, ohne müde zu werden, die guten und bösen Taten dieses jîva,
und mit diesen verbunden erreicht er nach dem Tode und
hier Glück und Unglück.
20. Wenn er meistens gute Taten vollbringt und
selten böse Taten, dann genießt er, nur von diesen Elementen bedeckt, Glück im Himmel.
21. Wenn er aber meistens böse Taten vollbringt
und selten gute Taten, dann wird er von diesen Elementen verlassen und erleidet
Yamas Strafe.
22. Wenn der jîva die Vergeltung
Yamas gelitten hat, dann geht er ohne Flecken in die fünf Elemente
wieder ein Teil für Teil.
23. Man richte immer sein manas auf gute Taten, wenn man in Gedanken die Schicksale
des jîva gesehen hat, wie sie auf
guten und bösen Handlungen beruhen.
24. Wisset, daß sattva, rajas und
tamas die drei Konstituenten (guna)
des Selbstes sind; durch sie beharrt der Mahân,
indem er alle Dinge ohne Ausnahme durchdringt.
25. Wenn einer dieser Konstituenten in einem Körper völlig überwiegt,
dann macht er die Seele durch diesen Konstituenten besonders
charakterisiert.
26. Sattva ist Wissen,
tamas Nichtwissen;
rajas ist Begierde
und Haß. Dieses ist ihre Form,
die alles durchdringt, und auf der alle Wesen beruhen.
27. Sieht man in einem Selbste etwas mit Freude
verbunden, etwas wie Ruhe und
Klarheit, dann halte man es für sattva.
28. Was aber mit Schmerz verbunden ist und dem
Selbste keine Freude bringt, das wisse man als
das unabwehrbare rajas,
das immer die Seelen festhält.
29. Was aber mit Verblendung verbunden ist, unbestimmt,
an den Objekten hangend, undenkbar und unerkennbar,
das halte man für tamas.
30. Jetzt werde ich vollständig die Resultate erklären, die aus diesen
drei Konstituenten erfolgen, die höchsten, die mittleren und die niedrigsten.
31. Das, was den sattva-Konstituenten
charakterisiert, ist Vedaforschung, Askese, Erkenntnis,
Reinheit, Unterdrückung der Sinnesorgane, Erfüllung der heiligen Pflichten
und Nachdenken über das Selbst.
32. Das, was den rajas-Konstituenten charakterisiert,
ist Gefallen an Unternehmungen, Unbeständigkeit,
Sichbefassen mit verbotenen Handlungen und unaufhörliche
Hinneigung nach den Objekten.
33. Das, was den tamas-Konstituenten
charakterisiert, ist Habsucht, Schlaf, Wankelmut, Grausamkeit,
Skeptizismus, Ruhelosigkeit, Bettelei und Unachtsamkeit.
34. Merkmale dieser drei Konstituenten, die in
drei verschiedenen Graden vorkommen, sind in Kürze und der Reihe
nach. folgende:
35. Schämt man sich, eine Handlung getan zu haben, zu tun oder tun zu wollen,
dann müssen die Weisen jede solche Handlung betrachten als eine, die für
den tamas-Konstituenten charakteristisch
ist.
36. Wenn ein Mensch in dieser Welt durch irgendeine Handlung herrlichen
Ruhm zu erwerben sucht, ob er auch nicht über die Nichterlangung
desselben trauert, dann gehört diese Handlung dem rajas
an.
37. Durch den sattva-Konstituenten charakterisiert
ist eine Handlung, die man von jedem Menschen gekannt wünscht, die man sich nie zu tun schämt,
und durch welche man selbst befriedigt wird.
38. Für tamas ist Begierde
charakteristisch, für rajas
ist Erwerb charakteristisch, für
sattva ist Gerechtigkeit charakteristisch;
von diesen ist immer das Nachfolgende das Bessere.
39. Ich will nun kürzlich und der Reihe nach die Wanderungen der Seelen
durch die ganze Welt erklären, die man durch einen dieser Konstituenten
erlangt.
40. Diese Seelenwanderung ist dreifach: die durch
sattva bestimmten Wesen werden als Götter
geboren, die durch rajas bestimmten als
Menschen und die durch tamas
bestimmten immer als Tiere.
41. Jede dieser drei auf den Konstituenten beruhenden Wanderungen ist wiederum
dreifach: sie kann nach den Werken
und dem Wissen (des betreffenden Wesens von niedrigster,
mittlerer oder höchster Art sein.
42. Die niedrigsten auf tamas
beruhenden Zustände sind Pflanzen,
Würmer, Insekten, Fische, Schlangen, Schildkröten, Vieh und wilde
Tiere.
43. Die mittleren auf tamas
beruhenden Zustände sind Elefanten, Rosse,
Sûdras, verächtliche Barbaren, Löwen, Tiger und Eber.
44. Die höchsten auf tamas
beruhenden Zustände sind fahrende Schauspieler,
Vögel, Schelme, Raksas (böse
Geister) und Pisâcas (böse
Geister).
45. Die niedrigsten auf rajas
beruhenden Zustände sind Athleten,
Ringer, Schauspieler, Waffenschmiede und Leute, die dem Spiel oder dem Trunke
ergeben sind.
46. Die mittleren auf rajas
beruhenden Zustände sind Fürsten,
Krieger, die Hauspriester der Fürsten und Männer, die in Wortkämpfen
Sieger sind.
47. Die höchsten, auf
rajas beruhenden Zustände sind
Gandharvas (Indras Sänger), Guhyakas
(Kuberas Schatzhüter), Yaksas
(Kuberas Diener),
die Diener der Götter sowie alle Apsaras
(Frauen der Gandharvas).
48. Die ersten auf sattva
beruhenden Zustände sind Büßer,
Asketen, Brahmanen, die Scharen, die zu den Götterwagen gehören, die
Sterne und die Daityas (Sonnengottheiten).
49. Die zweiten auf sattva
beruhenden Zustände sind Opferer Rsis, Götter, die Veden, die Gestirne, die Jahre, die Väter und die Sâdhyas
(göttliche Wesen niederster Art).
50. Die höchsten auf sattva
beruhenden Zustände nennen die
Weisen Brahma, die Schöpfer
des Alls, Dharma, den Mahân und die Urmaterie.
51. So ist erklärt worden diese ganze auf dem dreifachen Werke beruhende dreifache Seelenwanderung, der alle Wesen unterworfen
sind.
52. Durch die Hinneigung an die Sinnesorgane und
durch die Vernachlässigung ihrer Pflichten
gelangen die niedrigsten der Menschen, die Unwissenden,
die schlechtesten Zustände der Seelenwanderung.
53. Höret nun in welchen Mutterschoß der jîva in dieser Welt allmählich gelangt durch die hier begangenen Werke!
54. Wenn die großen Verbrecher viele Jahre
hindurch in den schrecklichsten Höllen gelitten
haben, dann werden sie nachher die folgenden Seelenwanderungen
antreten.
55. Der Mörder eines Brahmanen erreicht den Mutterschoß eines Hundes,
eines Ebers, eines Esels, eines Kamels, eines Rindes, einer Ziege, eines Schafes,
eines wilden Tieres, eines Vogels, eines Candâla oder eines Pulkasa (verachtete
Mischkasten).
56. Ein Brahmane; der geistige Getränke genießt, erreicht (den Mutterschoß)
eines Wurms, eines Insekts, einer Motte, eines Mist fressenden Vogels oder eines
Raubtieres.
57. Ein diebischer Brahmane wird tausendmal als Spinne, Schlange, Eidechse,
Wassertier oder als schädlicher Pisâca
(böser Geist) geboren werden.
58. Wer das Bett seines Guru (Lehrer) befleckt,
wird, hundertmal als Gras, Strauch, Schlinggewächs, als fleischfressendes
und mit Fangzähnen ver¬sehenes Tier oder grausames Geschöpf geboren
werden.
59. Boshafte Menschen werden fleischessende Tiere; die, welche essen, was verboten
ist, werden Würmer; Diebe werden Wesen, die einander fressen, die, welche
mit niedrigen Weibern Umgang haben, werden Gespenster.
60. Brahmarâktasas (böse
Geister) werden die, welche mit aus der Kaste gestoßenen Männern
oder mit den Frauen anderer Umgang haben, oder die, welche den Besitz eines
Brahmanen stehlen.
61. Der Mensch; der aus Habsucht, Edelsteine, Perlen, Korallen und verschiedene
Kostbarkeiten stiehlt, wird unter den Goldschmied (genannten Vögeln) geboren.
62. Wer Getreide stiehlt, wird eine Maus; wer Messing stiehlt, wird ein Flamingo;
wer Wasser stiehlt, wird ein Schwimmvogel; wer Honig stiehlt, wird eine Bremse;
wer Milch stiehlt, wird eine Krähe; wer Saft stiehlt, wird ein Hund; wer
Schmelzbutter stiehlt, wird ein Ichneumon.
63. Wer Fleisch, Netzhaut, Sesamöl, Salz oder saure Milch stiehlt, wird
beziehungsweise als Geier, Madguwasservogel, öltrinkender Vogel, Grille
oder Kranich geboren.
64. Wer Seide, Leinen, baumwollenes Gewebe, eine Kuh oder Melasse stiehlt, wird
beziehungsweise als Rebhuhn, Frosch, Brachvogel, Eidechse oder Fledermaus geboren.
65. Wer feine Wohlgerüche, Gemüse mit Blättern, verschiedene
Arten von zubereiteter oder nicht zubereiteter Speise stiehlt, wird als Moschusratte,
Pfau oder Stachelschwein geboren.
66. Wer Feuer, irgendein Hausgerät oder gefärbte Kleider stiehlt,
wird als Reiher, Hornisse oder Huhn geboren.
67. Wer ein Waldtier oder einen Elefanten stiehlt, wird ein Wolf; der Pferdedieb
wird ein Tiger; der Obst- oder Wurzeldieb wird ein Affe; wer eine Frau stiehlt,
wird ein Bär; der Wasserdieb wird ein Câtakavogel; der Wagendieb
wird ein Kamel, und wer Vieh stiehlt, wird eine Ziege.
68. Wer mit Gewalt den Besitz eines anderen nimmt, der Mann wird, durchaus als
Tier geboren werden, ebenso wie der, welcher eine Opfergabe, ißt, die
nicht dargebracht ist.
69. Frauen, die stehlen, begehen in derselben Weise Sünde und werden in
der Gestalt der Weibchen der betreffenden Wesen geboren. S.132ff.
Aus: Textbuch zur Religionsgeschichte. Herausgegeben
von D. Edv. Lehmann und D. Hans Haas. Zweite erweiterte und verbesserte Auflage.
A. Deichertsche Verlagsbuchhandlung Dr. Werner Scholz, Leipzig 1922