Franz Marc (1880 - 1916)

  Deutscher Maler, der zunächst Pfarrer werden wollte, sich dann aber für die Malerei entschied und im Jahre 1900 Studium an der Kunstakademie München begann, das er 1903 beendete, um sich im Selbststudium weiter zu entwickeln. In seinen Bildern verschmolz er in expressionistischen Farben kubistische mit abstrakten Elementen.
Seine
Bilder, die im Wesentlichen Tiermotive beinhalten, sind unvergängliche Werke der Malerei der geworden.
»Gibt es für Künstler eine geheimnisvollere Idee als die Vorstellung, wie sich wohl die Natur in dem Auge eines Tieres spiegelt? Wie sieht ein Pferd die Welt? Oder ein Adler, ein Reh oder ein Hund? Wie armselig, seelenlos ist unsre Konvention, Tiere in eine Landschaft zu setzen, die unsern Augen zugehört, statt uns in die Seele des Tieres zu versenken, um dessen Bildkreis zu erraten«.

1911 gründete er zusammen mit Wassily Kandinsky die Gruppe »Der blaue Reiter«. Zu Beginn des I. Weltkrieges meldete er sich freiwillig. Am 4. März 1916 riss ihn ein Granatsplitter in den Tod. Dass Franz Marc nicht nur ein begnadeter Maler war, sondern auch ein sensibler Denker und Schriftsteller mit erwähnenswertem philosophischem und theologischem Tiefgang, zeigen folgende Auszüge aus seinen »Aufzeichnungen«, »Briefen« und »Aphorismen«.

Siehe auch Wikipedia
 

Inhaltsverzeichnis

Briefe
Persönliche Eitelkeit
Lebensgeheimnis
Geistige Hochzüchtung
Die vierte Dimension
Lebensmut
Krieg als Gesundungsprozess
Todesfurcht

Aufzeichnungen
Was wir unter abstrakter Kunst verstehen
Metamorphose Formen
Die absolute Malerei

Grenzen der Kunst

Religiöses
Das blaue Pferd

  Aphorismen
Schein und Wesen
Kriegsgespenst
Der prometheische Mensch
Formbildner und Ordner des Lebens
Wahrheit
Weltdurchschauung
Größere Einheit
Wahres Sein
Der Geist kann nicht sterben
 
Ruhende Pferde

Briefe
Brief vom 2. 12. 1915 an L . . .

Persönliche Eitelkeit
Die Menschen hier haben wirklich nichts andres im Kopf als persönliche Eitelkeit, auf ganz Wertloses gerichtetes Strebertum; ich spiele eine unmögliche Figur hier, — das »Unmögliche« liegt vor allem darin, dass die anderen dies gar nicht so empfinden; man respektiert mich sehr, auch als Offizier, aber alle denken, ich müsste doch auch irgendwie ein bißchen wie sie empfinden; sie wundern sich dann immer, daß ich mich über dies und jenes nicht »ärgere«. Sie können nicht sehen, dass ich überhaupt gar nicht da bin, noch weniger dringt ihr Blick je zu der Linie, wo ich wirklich stehe. Ich muß mich im Gegenteil in vielen kleinen Momenten freiwillig auf ihre Bank setzen, um zu vermeiden, dass sie meinen seelischen Abstand fühlen und sich dadurch gekränkt fühlen; denn das geht gegen meine Natur. Mein ganzes Bestreben geht nur dahin, dass sie nicht merken, wie dumm dieses Verhältnis zwischen uns ist. So ist doch manchmal das Verschweigen und die bewusste Täuschung des Nächsten die einzig anständige Lebensform, und nicht das: »die Wahrheit sagen«, jene fürchterliche, seelen­kränkende Manie mancher Wahrheitsfanatiker. S.102

Lebensgeheimnis
Ja, was Du schreibst vom Christentum; die Frage lautet momentan fast so: von dem, wie ich
Eman. Quint (gemeint wohl ist die Figur in Gerhart Hauptmanns Roman » Der Narr in Christo Emanuel Quint«) lese. Vielleicht gibt Dir mein vorgestriger Brief schon in manchem Antwort; ich schrieb Dir darin, was ich als mein Gewissen fühle: meine Arbeit; nicht mein Leben als solches; ich kann gar nicht anders meine Unvollkommenheiten und die Unvollkommenheiten des Lebens überwinden, als indem ich den Sinn meines Daseins ins Geistige hinüberspiele, ins Geistige, vom sterblichen Leib Unabhängige, d. h. Abstrakte hinüberrette. Es ist nicht eigentlich das spätere Leben, das ich unter Geistigem verstehe; darin missverstehst Du mich. Ich bin allerdings dem Läuterungsgedanken nicht fremd, — er erscheint mir sehr natürlich (nach dem bekannten: wenn ich geboren werden konnte, dann muß ich doch auch vorher einmal gestorben sein, — denk an die Blumen! Es ist von einer rührenden beseligenden Einfachheit).

Aber unter geistigem Leben verstehe ich: das Wesentliche vom Unwesentlichen trennen
. Der Starke subsumiert unter das Unwesentliche mehr als der Schwächere. Ich werfe jeden Tag mehr auf den Scheiterhaufen des Unwesentlichen, — das Schöne bei diesem Tun ist das, dass das Wesentliche dabei nicht kleiner, enger wird, sondern gerade mächtiger und großartiger. Lies sehr aufmerksam im Quint, — da steht alles außerordentlich fein und rief gesagt. Du musst Dir nur immer klarbleiben, daß unsre Sprache und unsre Logik am wenigsten berufen sind, in dem Lebensgeheimnis das »letzte Wort zu reden«; — Du scheinst mir immer zu sehr noch nach der Wortformel zu suchen, nach einer wörtlichen Definition des göttlichen Inhalts, die gibt es nicht; sowenig man Kunst mit Worten erklären kann. Man kann schon reden, aber man muss sich stets der Grenzen bewusst bleiben, über die hinaus das Wort nichts mehr besagt und in seinen dummen Grammatiksinn zurückfällt. Wenn ich einmal wieder zu Hause bin und wir unser Leben zusammen leben, wirst Du sehr schnell genau verstehen, wie ich das alles meine, — es gibt da gar kein Missverstehen. Die ganz unmöglichen Verhältnisse, in die der Krieg meine Persönlichkeit geschoben hat, haben mein Wesen und meine Gedanken gerade durch ihren Gegensatz außerordentlich geklärt und gewissermaßen zur Entscheidung gezwungen.
S.103

Brief vom 14. 1. 1916 an L . . .
Geistige Hochzüchtung
L., Du hast recht: je öfter und genauer man Gundolf (gemeint ist der jüdische Literaturwissenschaftler und Dichter Friedrich Leopold Gundelfinger, der sich Friedrich Gundolf nannte), liest, desto zwingender ist seine Gedankenführung, und wenn er uns auch vielfach nichts Neues sagt, stellt er doch durch seine glänzende Ausdrucksform vieles klar, was man nur im Instinkte fühlte und viel schwächer selber formuliert hatte. Es deckt sich, glaub ich, im Sinn vieles mit Stellen aus meinen Aphorismen; — so entschwunden diese mir heute sind, werde ich bei Gundolfs Lektüre doch auf Schritt und Tritt an sie erinnert. Vor allem läuft mein Gedankengang über den Sündenfall der reinen Wissenschaft, die sich zur »angewandten Wissenschaft« missbrauchen ließ, ziemlich parallel mit Gundolfs Ideen von der Verselbständigung der Organe, — der Mensch ist zum Sklaven seiner Werkzeuge geworden, die er zu seinem Dienst geschaffen hat. Früher war das Wissen und die Bildung nur Mittel zum Zweck, Straße zum Ziel, Speise zum größeren, umfänglicheren Leben, die Kunst diente dem religiösen Ideal.

Sehr fein sagt Gundolf, dass die philosophische Logik um... des Wettkampfes, der geistigen Hochzüchtung willen geliebt und betrieben wurde, bis langsam die exakte Wissenschaft emporwuchs und vor ihr die alten religiösen Dinge ins Wesenlose verblaßten; diese merkwürdige europäische Entwicklung lässt sich nicht »erklären«, aber auch nicht leugnen, sondern nur feststellen. Und alles kommt darauf an, seine innere adelige Menschenhaltung vor dieser Tatsache zu bewahren, Herr zu bleiben in der neuen Situation; nicht aus dem Geiste des Wissens eine Hure zu machen (wie die Päpste es ihrerzeit aus der christlichen Religion machten, — das war auch »angewandte Religion«!). Das furchtbar Schwierige in unsrer heutigen Aufgabe liegt darin, daß der demokratische Mensch, die gemeine Masse in der Goldgrube der Wissenschaft wühlt und dass man gegenüber dem heutigen Geisteswirrwarr der Millionenköpfe zunächst nur durch gänzliche Isolierung des eigenen Lebens und der eigenen Aufgabe rein bleiben oder, sagen wir offen: wieder rein werden kann. Gundolf spricht vorn Kampf gegen die Zeittendenz, vom Stellungnehmen gegen sie, — er widerspricht sich hierin selbst etwas; denn der Wirkende setzt seine Tat nicht da ein, »wo‘s fehlt«, sondern er tut sein Werk aus seiner eigenen Mitte heraus und sieht nicht rechts und links und fragt auch nicht, was zu tun sei. Instinkt ist alles. Es kann uns gänzlich gleichgültig sein, ob wir »verstanden« werden oder nicht; wir können nur auf uns horchen, nicht auf die Zeit. Das ist wenigstens im Künstlerischen so, — nur so kann man seiner Zeit oder einigen Seelen »vorangehen«. Bei aller Größe und Schöne, die die christliche Lehre noch für unser Auge hat, dürfen wir als Schaffende uns nicht verleiten lassen, hartnäckig bei ihr unsre Ruhe zu suchen, als wäre dort das letzte Wort gesagt worden. Es wäre derselbe Fehler nach rückwärts, den wir sonst nach der Seite der Gegenwart oder in die blinde Richtung der Zukunft machen; wir können heut nicht malen oder komponieren, was in 100 Jahren wahr ist, sondern nur, was heute für uns selbst wahr ist. Der Hang zum Prophezeien ist ein Zeichen der Schwäche, — insofern behältst Du betreffs Gundolf wohl ein bissel recht; aber schließlich sind wir nicht zu Richtern über unsre Mitmenschen bestellt, sondern zu Freunden; auch verneint eine solche Schwäche noch nicht das ganze Werk, am wenigsten in unsrer traurigen Zeit! Dass die zum Verzweifeln traurig ist, das fühlt wohl bald ein jeder. Aber nur ganz wenige haben die Kraft, sich von ihr loszulösen. Fast bei allen Menschen, denen ich in diesem Krieg nahegekommen bin, hab ich irgendwo einmal in das geheime Fach ihres wirklichen Ichs geguckt, da wo es abgelöst ist und frei; die meisten bewahren es schamhaft als ihr Geheimnis, und fast keiner weiß es anzuwenden, sie wollen es auch gar nicht anwenden, aus einer geheimen Furcht, es zu profanieren und eventuell auch noch einzubüßen. In Deiner Sprache heißt dieser Punkt natürlich das Gewissen. Mir ist dies Wort zu vieldeutig, zu sehr Allerwelts-Begriff.

Ich las letzthin in Luthers Tischreden, — köstlich!! Er ist das schlagendste Beispiel für Gundolfs Behauptung, dass der Leib die Mitte des Menschen ist, aus der alles geschieht; diese triebhafte Leibesgesundheit, die aus sich die Geistesblüten treibt, ist bei Luther berückend stark und klar
. S.117f.

Brief vom 24. 1. 1916 an L ...
Die vierte Dimension
Letzthin sagte mir ein Physiker, in der Physik habe man jetzt entdeckt, dass die alte dritte Dimension, also die mathematisch bis jetzt als einwandfrei gegoltene Bestimmung einer Sache nach ihrer kubischen Dimension, als wissenschaftlich unhaltbar anzusehen sei, solange die vierte Dimension der Zeit, des Zeitpunktes, nicht noch hinzugenommen wird. In jeder Rechnung sei diese 4. Bestimmung als Potenz mit einzustellen, — wie ist aber noch dunkel. Das wirft die ganze alte Mathematik über den Haufen. Man steht vor einem Novum. Ich weiß nicht, ob Du da mitdenken kannst; ich liebe wie Novalis diese Gedankengänge sehr. Ich habe in dieser Richtung ja schon als Gymnasiast Algebraunterricht gegeben, bei dem ich mir lauter solche Sachen allein ausdachte. Leider habe ich zu diesen Dingen genauso wenig praktisches Talent wie zur Musik. — — — S.119

Brief vom 24. 1. 1916 an L ...
Lebensmut
Ich dränge aber auch nicht aus Gedankenlosigkeit zu einer tapferen Fröhlichkeit trotz allen Leides; solange das Blut in einem pocht, muß man ans Leben glauben und sich nicht mißtrauisch separieren; und Dein Wort: »ich kann nicht« ist schließlich graduell wie alles im Leben; etwas weniger — etwas mehr, — das ist das Geheimnis des Wartens, Wartenkönnens und der Sehnsucht; der Stolz muß im Menschen Siegen über alle Dinge, nicht die indische Trauer. S.119f.

Krieg als Gesundungsprozess
Daß ich den Krieg als Gesundungsprozeß wie jede (auch die tödlichste) Krankheit ansehe, hat ja natürlich nur den Sinn, daß ich auch den Krieg nicht als solchen angreifen und vertilgen möchte, sondern seine Ursachen. Der Mensch stirbt nicht an der Krebswucherung, sondern an dem tödlichen Keim, den die Wucherung nicht zu überwinden vermag. Auch darf man solche Vergleiche nicht zu weit treiben, sonst hinken sie eben. Aber ich wehre mich unablässig gegen die herrschende Gedankenlosigkeit, den Krieg als solchen so zu hassen als sich selbst, den Aussatz unsrer Seele. — Man muß seine Gedanken nicht gegen den Krieg richten, sondern gegen sich und sofort damit anfangen. Nichts ist selbstverständlicher, strafgerechter als dieser Krieg. Kein Mensch sieht das, — wenigstens keiner will‘s an sich selbst sehen. — — — S.120

Brief vom 17.2.1916 an die Mutter
Todesfurcht
Liebe Maman.
Ich verstehe sehr, wenn Du so ruhig vom Tode sprichst wie von etwas, was Dich nicht schreckt. Ich fühle genauso. In diesem Krieg hat man‘s ja an sich erproben können, — eine Gelegenheit, die das Leben einem sonst selten bietet, da man im täglichen — — — Leben die Todesgefahren meist nicht sieht und zum mindesten auch sie nicht glaubt. Es ist mir aber im Kriege nie eingefallen, die Gefahr und den Tod zu suchen, wie ich es in früheren Jahren des öfteren getan habe, — damals ist der Tod mir ausgewichen, nicht ich ihm; aber das ist lange vorbei! Heute würde ich ihn sehr wehmütig und bitter begrüßen, nicht aus Angst oder Unruhe vor ihm, — nichts ist beruhigender als die Aussicht auf Todesruhesondern weil ich ein halbfertiges Werk liegen habe, das fertig zu führen mein ganzes Sinnen ist. In meinen ungemalten Bildern steckt mein ganzer Lebenswille. Sonst aber hat der Tod nichts Schreckhaftes; er ist doch das allen Gemeinsame und führt uns zurück in das normale »Sein«. Die Strecke zwischen Geburt und Tod ist der Ausnahmezustand, in dem es viel zu fürchten und zu leiden gibt, — der einzige wirkliche, konstante, philosophische Trost ist das Bewußtsein, daß dieser Ausnahmezustand vorübergeht und daß das immer unruhige, immer pikierte, im Ernste ganz unzulängliche »Ich-Bewußtsein« wieder in seine wundervolle Ruhe vor der Geburt zurücksinkt; es scheint mir gänzlich gleichgültig, ob man das nun pantheistisch wie Spinoza oder buddhistisch oder schintoistisch (wie im alten geistvollen Japan) oder christlich wie Pascal ausdrückt, — das Wesentliche des Gedankens über Leben und Tod ist immer dasselbe geblieben. Die Idee, daß man sich durch schlechte Verwaltung seines biblischen Pfundes im Leben die süße Ruhe des ewigen Lebens stören könnte, ist wohl eine allzumenschliche, allzugrausame Erfindung. Wer schlecht tut und wer nichts tut, — der hat die Strafe schon im Leben davon, in seinem Gewissen und in seiner — Todesfurcht. Diese Leute können das Leben nicht rein genießen (sosehr sie sich auch den Anschein geben), weil sie viel zuviel Angst vor dem Tode haben, der ihnen »alles« nimmt. Wer aber nach Reinheit und Erkenntnis strebt, dem kommt der Tod immer als Erlöser.

Das ist jetzt die reine Predigt geworden! So war‘s eigentlich nicht gemeint. Aber nun steht sie einmal da, und Du darfst es Deinem Platoniker nicht verdenken. Aber zunächst wollen wir uns im Leben, und zwar gesund wiedersehen! S.125f.

Aufzeichnungen
Was wir unter »abstrakter Kunst« verstehen.
Was heute von abstrakter Kunst existiert, ist nicht viel, und das existierende ist Stückwerk und Gestammel. Es ist der Versuch, statt unsre vom Weltbild erregte Seele, die Welt selbst zum Reden zu bringen. Der Grieche, Gotiker und Renaissancekünstler stellte die Welt künstlerisch dar, wie er sie sah, wie er sie fühlte, wie er sie wollte; der Mensch früherer Zeiten wollte durch die Kunst vor allem sich befruchten; er hat auch erreicht, was er wollte, — er hat aber auch alles dafür hingegeben, alles hat er dem einen Ziel geopfert: den Homunculus zu konstruieren, die Kraft durch das Präparat zu ersetzen, Geist durch Technik. Der Affe äffte seinem Schöpfer nach. Selbst die Kunst zwang er zu Handlangerdiensten.

Der Berg ist erklommen. Der Gipfel ist eine Ode, in der sich der Mensch nicht lange aufhalten wird. Wir leben schon auf der »anderen Seite«, auf der Seite der Nichteitelkeit, der Nichtanwendung des Wissens. Das Können und das Wissen tragen wir in uns; tonlos; über die Technik des Daseins redet der Edle nicht. Nur das eine muß geschehen: die Befreiung der Kunst aus ihrer Maskierung. Die Kunst ist heute nicht mehr dazu da, den Menschen zu großen oder kleinen Vorwänden zu dienen.

Die Kunst ist metaphysisch, wird es sein; sie kann es erst heute sein. Die Kunst wird sich von Menschenzwecken und Menschenwollen befreien. Wir werden nicht mehr den Wald oder das Pferd malen, wie sie uns gefallen oder scheinen, sondern wie sie wirklich sind, wie sich der Wald oder das Pferd selbst fühlen, ihr absolutes Wesen, das hinter dem Schein lebt, den wir nur sehen; es wird uns soweit gelingen, als es uns gelingt, die traditionelle »Logik« von Jahrtausenden beim künstlerischen Schaffen zu überwinden. Alles künstlerische Schaffen ist alogisch. Es gibt künstlerische Formen, die abstrakt sind, mit Menschenwissen unbeweisbar; sie hat sie zu allen Zeiten gegeben, aber stets wurden sie getrübt von Menschenwissen, Menschenwollen. Der Glaube an die Kunst an sich fehlte, wir wollen ihn aufrichten: er lebt auf der »anderen Seite«. S.153f.

Metamorphose Formen
Wir müssen von nun an verlernen, die Tiere und Pflanzen auf uns zu beziehen und unsre Beziehungen zu ihnen in der Kunst darzustellen. Das ist vorbei, muß vorbei sein oder wird wenigstens eines Tages, — o des glücklichen Tages! — vorbei sein. Jedes Ding auf der Welt hat seine Formen, seine Formel, die nicht wir erfinden, die wir nicht mit unsern plumpen Händen abtasten können, sondern die wir intuitiv in dem Grade fassen, als wir künstlerisch begabt sind. Es wird immer Stückwerk bleiben, solange wir in diesem erdgebundenen Dasein stehen, — aber glauben wir nicht alle an die Metamorphose? Wir Künstler alle, weshalb suchten wir ewig die metamorphen Formen? Die Dinge wie sie wirklich sind hinter dem Schein? S.154

Die absolute Malerei
Die Dinge reden: in den Dingen ist Wille und Form, warum wollen wir dazwischen sprechen? Wir haben nichts Kluges ihnen zu sagen. Haben wir nicht die tausendjährige Erfahrung, daß die Dinge um so stummer werden, je deutlicher wir ihnen den optischen Spiegel ihrer Erscheinung vorhalten? Der Schein ist ewig flach, aber zieht ihn fort, ganz fort, ganz aus eurem Geiste weg, — denkt euch fort samt eurem Weltbild, — die Welt bleibt in ihrer wahren Form zurück, und wir Künstler ahnen diese Form; ein Dämon gibt uns zwischen die Spalten der Welt zu sehen, und in Träumen führt er uns hinter die bunte Bühne der Welt. S.154

Grenzen der Kunst
— — — Am freiesten arbeiten, glaube ich, die zwar äußerst seltenen Dichter; wenigstens haben die Schriftsteller es beim Publikum durchgesetzt, daß bei ihnen der Mond in die Zimmer spazieren darf; man darf sogar eine Sonne im Herzen tragen, Sterne herunterholen usw. Aber lassen Sie einmal einen Maler den Mond in einer Stube aufhängen oder auf den Tisch legen usw. Manches ist auf Verordnungswegen erlaubt worden, z. B. einem Pferde Flügel ansetzen; aber man muß das Patent »Pegasus« darunter schreiben.

Religiöses
Es ist unglaublich, wie wenig die Menschen von heute aus Museen lernen. Warum schaffen sie Museen, wenn sie nicht daraus lernen wollen? Und sie könnten alles daraus lernen, nämlich das eine, Große, daß es keine große und reine Kunst ohne Religion gibt, daß die Kunst desto künstlerischer war, je religiöser sie gewesen (und um so künstlicher, je unreligiöser die Zeit war). Auch haben die vollkommen recht, die sagen, daß echte Kunst mit unsrer wissenschaftlichen und technischen Zeit unvereinbar ist, — nur glaube ich, irren sie, wenn sie denken, daß die Kunst sterben wird. Vielmehr ist gewiß, daß die Wissenschaft und Technik zu kleinen Nebendisziplinen unseres Lebens herabsinken werden; der Taumel über unsre Klugheit wird sich bald legen, und die Kunst wird wieder zum Großen Gott, ja die Begriffe Gott, Kunst und Religion werden wiederkommen; neue Symbole und Legenden werden in unsre erschütterten Herzen einziehen.

Gibt es ein kläglicheres Schauspiel als das Entzücken unsrer Leute über den Fortschritt der Wissenschaften und der Technik? Gibt es etwas Beschränkteres und Traurigeres als das Triumphgefühl unsrer Leute, alle Religionen überwunden zu haben? Das glauben sie nämlich, die »guten Mitteleuropäer«. Auf was stützen sie ihren Dünkel? Z. B. auf Maschinen. Als ob es irgendeine Maschine gäbe, die nicht schlechteste Imitation vergangener Handarbeit des Menschen ist. Surrogat, an dem der Geist verhungert. Eisenbahn — die platteste Plebejererfindung; Flugmaschine, — kann sie irgendwie dem Geiste dienen? Direkte Beförderung von A nach B, Luftlinie. Das ist doch nichts besonders Geistreiches. Im Gegenteil höchst plebejisch, so gefährlich zu eilen. Der einzige Witz unserer gesamten modernen Technik ist offenbar der, uns vom Denken abzuhalten, Geist zu sparen. Wer mit Geist und in Gedanken heute geht, wird wegen Verkehrsstörung in Haft genommen oder überfahren. Es wird aber eine Zeit kommen, in Bälde, da wird man unsre ganze Technik und Wissenschaft grenzenlos langweilig finden; man wird sie vollkommen liegen lassen, ja vergessen; man wird gar keine Zeit dazu haben, weil man mit geistigen Gütern handeln wird. S.154f.

Aphorismen
Geschrieben Anfang 1915 im Felde
Schein und Wesen
Jedes Ding hat seinen Mantel und Kern, Schein und Wesen, Maske und Wahrheit. Daß wir nur den Mantel umtasten, ohne zum Kern zu gelangen, daß wir im Scheine leben, statt das Wesen der Dinge zu sehen, daß uns die Maske der Dinge so blendet, daß wir die Wahrheit nicht finden können, — was besagt das gegen die innere Bestimmtheit der Dinge? S.136

Kriegsgespenst
Vom ersten Moment des Kriegsausbruches an war mein ganzes Sinnen darauf gerichtet, den Geist der Stunde aus ihrem tosenden Lärm zu lösen. Ich verstopfte mein Ohr und suchte dem Kriegsgespenst in den Rücken zu sehen. Alle Zeichen des Krieges stritten wider mich. Sein Gesicht blendete mich, wohin ich mich wandte. Der Denker meidet das Gesicht der Dinge, da sie niemals das sind, was sie scheinen.

Ich zweifelte nie, daß die Europäer durch diesen Krieg nicht das erreichen, was sie wollen und sagen. Sie wollten ihn ja nicht einmal, wie sie alle beteuern! Aber ein geheimes, ihrem Wissen und Willen fremdes Wollen rauschte in ihrem Blute und brach aus »wider Willen«. S.136

Der prometheische Mensch
Die Weltgeschichte hat ihre immanenten, vor dem Menschenauge sorglich verheimlichten Gesetze, die erst der prometheische Mensch des 19. und 20. Jahrhunderts zu enträtseln begann, als er mit seiner ehernen Wissenschaft von den Gesetzen der Natur auf ihren Schleichwegen folgte.
Unser Wissen verfing sich am ersten in den Dingen, die unsrer Menschlichkeit am fernsten lagen: man begann mit den Sternen und Zahlen, um heute endlich die
Wissensformel gegen den Menschen selbst zu kehren. Alles, das Größte ist heute in den Anfängen. S.156f.

Formbildner und Ordner des Lebens
Jeder Formbildner und Ordner des Lebens sucht das gute Fundament, den Fels, auf dem er bauen kann. Dies Fundament fand er nur äußerst selten in der Tradition; sie hat sich meist als trügerisch und nie als sehr dauerhaft erwiesen. Die großen Gestalter suchen ihre Formen nicht im Nebel der Vergangenheit, sondern loten nach dem wirklichen, tiefsten Schwerpunkt ihrer Zeit. Nur über ihm können sie ihre Form aufrichten. S.157

Wahrheit
Das dunkle Wort Wahrheit erweckt in mir immer die physikalische Vorstellung des Schwerpunktes. Die Wahrheit bewegt sich stets, wandelbar wie der Schwerpunkt; sie ist immer irgendwo, nur niemals auf der Oberfläche, niemals im Vordergrund.

Wahrheit
ist auch nie Erfüllung, Realität, künstlerische Gestalt, sondern das Primäre, der Gedanke, religionsgeschichtlich ausgedrückt: das »Wissen um das Heil«, das stets der Gestalt, d. i. der Kunst und der »Kultur« vorausgeht. S157f.

Weltdurchschauung
Der Tag wird nicht mehr fern sein, an dem den Europäer, — die wenigen Europäer, die es erst geben wird, — der große Schmerz seiner Gestaltlosigkeit überfallen wird. Dann werden diese Gepeinigten ihre Arme recken und Formsucher sein. Sie werden die neue Form nicht in der Vergangenheit suchen, auch nicht im Außen, in der stilisierten Fassade der Natur, sondern die Form von innen herausbauen nach ihrem neuen Wissen, das die alte Weltfabel in Weltformel, die alte Weltanschauung in Weltdurchschauung verwandelt hat.

Die kommende Kunst wird die Formwerdung unserer wissenschaftlichen Überzeugung sein; sie ist unsere Religion, unser Schwerpunkt, unsere Wahrheit. Sie ist tief und schwer genug, um die größte Formgestaltung, Formumgestaltung zu bringen, die die Welt erlebt hat. S.158

Größere Einheit
Unser Geist ahnt heute schon, daß das Gewebe der Naturgesetze auch noch ein Dahinter, eine größere Einheit verbirgt: die Gestalt des einen Gesetzes statt der geheimnisvollen vielen, die heute für unser Auge die »neue Buntheit der Welt« ausmachen.

Wir ahnen, daß das Gesetz der Schwerkraft immer ein Vordergrundsgesetz, eine Prämisse und Konzession an unsre noch beschränkte Ausdrucks- und Einsichtskraft ist; ebenso die Auseinanderlegung von Elementen- und Energielehre oder die getrennte Betrachtung der Schwingungsgesetze.

Wenn einmal für alle diese Gesetze eine Formel gefunden sein wird, — wir werden sie mit voller Sicherheit finden — werden wir vielleicht das dritte Gesicht
haben.
S.159

Wahres Sein
Unser uralter Wille, die trügerische Welt mit dem wahren Sein, dem »Jenseits« zu vertauschen, kleidete früher dieses Jenseits künstlerisch in die Formen der sichtbaren Welt. Heute träumen wir nicht mehr eingeengt von den Dingen, sondern verneinen sie, da unser Willen zu jenem Leben vorgedrungen ist, das sie verbergen.

Gott kam einst in einer Krippe »zur Welt«. Heute steht sie leer. Wir suchen die Formwerdung jenseits des heiligen Stalles in der visionären, in gesetzlichen Formen sichtbar gewordenen Natur.

Unser heute noch latentes Wissen wird sich morgen in formbildnerische Kraft wandeln. S.159

Der Geist kann nicht sterben
Wie schön, wie einzig tröstlich zu wissen, daß der Geist nicht sterben kann, unter keinen Qualen, durch keine Verleugnungen, in keinen Wüsten.

Dies zu wissen macht das Fortgehen leicht.

Ich singe mit Mombert: »Nur einen Flügelschlag möcht ich tun, einen einzigen!« S.160
Aus: Franz Marc, Briefe, Aufzeichnungen, Aphorismen, Herausgegeben von Günther Meißner, 1980 Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig und Weimar