Odo Marquard (1928 -

Deutscher Philosoph, der in den Jahren 1947 - 1954 Philosophie, Germanistik, evangelische Theologie und katholische Fundamentaltheologie studierte sowie kunstgeschichtliche und historische Studien betrieb. Marquard ist emiritierter Professor für Philosophie an der Universität Gießen, Dr. h.c. der Universität Jena und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 1984 erhielt er den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa, 1992 den Erwin-Stein-Preis und 1996 den Ernst-Robers-Curtius-Preis für Essayistik.

Siehe auch Wikipedia

Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie
[…] Kants erste Kritik war das Initialbuch des transzendentalrevolutionären Idealismus, den Fichtes Wissenschaftslehre radikal machte: in einem »Rechtshandel« vorm »Gerichtshof der Vernunft« sollen die suspekten — die gnoseologisch und historisch malitätsverdächtigen — Aprioris sich und dadurch das menschliche Ich rechtfertigen und allererst so ihr »certificat de civisme« erhalten als Bürger im Reiche der Wissenschaft und Geschichte. Ist die Wissenschafts- und Geschichtsbonität des Menschen zu rechtfertigen? Si scientia, unde metaphysica? Si progressus, unde repressio? Wie der realrevolutionäre Jakobinismus die politische Wirklichkeit, tribunalisiert — durch diese Fragen — der transzendentalrevolutionäre Idealismus die Philosophie zu einem Prozess Mensch gegen Mensch in Dingen Wissenschafts- und Geschichtsübel: so gehört er — wie seine Steigerung durch Marx und Nietzsche und seine ultimativen und pragmatischen Varianten bei Apel und Habermas — in die Geschichte der Tribunalisierung der modernen Lebenswirklichkeit.

Ich meine nun: dieser Prozess mit seinem Anklage- und Rechtfertigungspensum ist präfiguriert in der Theodizee von Leibniz.

Diese ist neuzeitlich das philosophische — und ich betone: das philosophische — Initialtribunal. Sie zuerst hat — ein Dreivierteljahrhundert vor Kants Kritik und Fichtes Wissenschaftslehre — die Philosophie an ihrer Hauptstelle zum Tribunal gemacht: zum Prozess Mensch gegen Gott in Dingen Übel in der Welt. Leibniztheodizee und transzendentalrevolutionärer Idealismus stimmen in ihrer fundamentalen Verfahrensverfassung überein: beide sind ein Prozess— ein Tribunal — mit Übeln als Anklagepunkt und einem einschlägigen Rechtfertigungspensum, bei dem der Mensch Ankläger und Verteidiger ist. Daraus folgere ich: beide — Leibniztheodizee und transzendentalrevolutionärer Idealismus Kants und Fichtes — gehören zum Phänomen der Tribunalisierung der modernen Lebenswirklichkeit, und in der Theodizee von Leibniz fängt diese Tribunalisierung, die auch noch und gerade die Gegenwart fundamental durchherrscht, philosophisch an. Anders und als These gesagt: Diese Tribunalisierung ist ein Theodizeemotiv in der neuzeitlichen Philosophie.

Es gibt — neuzeitphilosophisch — mehrere solcher Theodizeemotive. Ich möchte hier — zusätzlich zum schon genannten Theodizeemotiv: der Tribunalisierung — auf drei weitere hinweisen. Dabei handelt es sich nun freilich um Motive, die jene Belastung, die die Tribunalisierung ist, gerade zu parieren suchen: also um Entlastungen. »Entlastung« ist nicht nur eine anthropologische Erfolgsvokabel Gehlens, sondern auch ein Rechtsbegriff des Vereinsrechts und Strafrechts: »entlastet« werden Vorstände, Tatverdächtige, Menschen, Götter: sie werden entlastet, oder auch nicht. Freilich: über derartige Theodizeemotive kann man nicht sprechen, ohne zu reden von der Theodizee. So gliedert sich meine weitere Überlegung statt in drei in vier Abschnitte, die folgenden:


1. Theodizee und Neuzeit
; 2. Das Theodizeemotiv Autonomisierung; 3. Das Theodizeemotiv Malitätsbonisierung; 4. Das Theodizeemotiv Kompensation.

Ich beginne — ganz sittsam und bieder — mit Abschnitt

1. Theodizee und Neuzeit.
»Unter einer Theodizee versteht man die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt«: so bestimmt 1791 Kant — rückblickend auf das Mißlingen der optimistischen Theodizee — jenes Pensum, das zuerst Leibniz — der das Wort »Theodizee« erfand — 1710 durch seine Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l‘homme et l‘origine du mal als philosophische Disziplin lancierte: die Theodizee als eine spezifisch neuzeitliche Philosophie. Zwar scheint die Frage nach der gerechten Güte Gottes angesichts der Übel der von ihm geschaffenen Welt uralt: sie war — scheint es — aufgeworfen bereits im biblischen Buch Hiob; und die Formel »si Deus, unde malum?« steht immerhin schon — dort wiederum als Epikurreferat — in De ira Dei von Laktanz. Dennoch behaupte ich — auch in der Meinung, daß ihre Frage überall früher, d. h. vorneuzeitlich, durch intakte Religion entschärft war — die spezifische Neuzeitlichkeit der Theodizee: wo Theodizee ist, ist Neuzeit; wo Neuzeit ist, ist Theodizee. Erlauben Sie mir zwei Hinweise, die das näherungsweise plausibel machen könnten.

Mein erster Hinweis ist dieser: In der Neuzeit — erst in ihr — wurde die Theodizee möglich, denn erst die Neuzeit hatte — angesichts der Übel: des malum metaphysicum, der Endlichkeit; des malum morale, des Bösen; des malum physicum, des Leidens, und vielleicht noch manch anderer mala — dazu die Distanz. Die Lebenserfahrung scheint mir zu zeigen: vor Ort des Leidens, unter seinem unmittelbaren Druck, ist das Problem niemals die Theodizee; denn wichtig ist dort allein das Stehvermögen bei passio und Sympathie, die Kondition beim Aushalten, Helfen und Trösten. Wie erreiche ich das nächste Jahr, den nächsten Tag, die nächste Stunde?: Angesichts dieser Frage ist die Theodizee kein Thema; denn ein Bissen Brot, eine Atempause, ein Minimum an Linderung, ein Augenblick Schlaf sind dort stets wichtiger als Anklage und Verteidigung Gottes. Erst wo der direkte Leidens- und Mitleidensdruck nachläßt — unter Bedingungen der Distanz — kommt es zur Theodizee: darum repräsentativ in der Neuzeit. Denn die Neuzeit ist das Zeitalter der Distanz: die erste Epoche, in der für die Menschen Ohnmacht und Leiden nicht mehr das Selbstverständliche und Normale sind. Jetzt — erstmalig — scheint die Not grundsätzlich beherrschbar, der Schmerz grundsätzlich ersparbar, die Krankheit grundsätzlich besiegbar, das Böse grundsätzlich abschaffbar, die endlichkeitsbedingte Ohnmacht des Menschen grundsätzlich überspielbar. Weil die Übel unselbstverständlich werden, braucht man (scheint es) Gott immer weniger als Erlöser und kann ihn darum nunmehr — in der Neuzeit: dem Zeitalter der Distanz — formvollendet als Schöpfer zur Rechenschaft ziehen: durch die Theodizee. Das schließt Diskussionsheftigkeit nicht aus, denn es regiert das Gesetz der zunehmenden Penetranz der Reste: je mehr Negatives getilgt wird, um so ärgerlicher wird — gerade, wenn es sich vermindert — das Negative, das übrigbleibt. Grundsätzlich aber gilt: das Theodizeepensum wird möglich (und dann auch wirklich und zentral) unter Bedingungen der Distanz: darum repräsentativ im Zeitalter der Distanz, der Neuzeit.

Mein zweiter Hinweis ist dieser: Für die Neuzeit — erst für sie — wurde die Theodizee nötig, und zwar aus folgendem Grund. Die Theodizee dementiert die Rede vom bösen Schöpfergott und antwortet damit — wie die Bezugnahmen von Leibniz belegen — auf eine Position, die vom bösen Schöpfergott wirklich gesprochen hat: das war — im Kontext Gnosis und Manichäismus — vor allem Marcion, der (unterm Eindruck der verzögerten Parousie) glaubte: die Menschen können von der üblen Welt nur erlöst werden durch einen weltfremd ganz anderen Erlösergott, der — im Kampf gegen deren bösen Schöpfer — die Welt heilseschatologisch vernichtet. Dagegen opponiert — als weltkonservatives Zeitalter — die Neuzeit: sie ist — wie Hans Blumenberg sagt — die »Überwindung der Gnosis«, und zwar die »zweite«, weil die erste — das Mittelalter — mißlang. Denn die mittelalterlich erste Widerlegung Marcions — die Erfindung der menschlichen Freiheit durch Origines und Augustinus, durch die (als Alibi Gottes) alle Weltübel den Menschen moralisch als Sünde zugerechnet werden, so daß gottesbezüglich weitergelten kann »omne ens est bonum« — wird schließlich durch die nominalistische Steigerung der Omnipotenztheologie und Luthers Lehre vom servum arbitrium widerrufen: dadurch wird der Schöpfergott erneut durch die Weltübel belastet. Dieser Belastung weicht er aus in der Rolle des fremden und verborgenen Erlösergottes, der zugleich in der Welt nichts mehr verständlich ordnet, so daß die Menschen sich über Heilsfragen streiten müssen, schließlich blutig: die Konfessionsbürgerkriege machen den Schreckensaspekt des heilszieligen Weltendes sinnenfällig; die Erlösung von den Übeln präsentiert sich selber als Übel, das — z. B. als Dauerbürgerkriegsgrund — ausgeschaltet werden muß: die Erlösungseschatologie muß neutralisiert werden. Diese Neutralisierung der Erlösungseschatologie ist die Neuzeit. Sie ist nicht möglich ohne Entdringlichung der Erlösung durch Versuch des Nachweises, daß diese Welt auch bei ausbleibendem Heilsende aushaltbar ist durch manch »Rose im Kreuz der Gegenwart«: daß also kein böser Gott ihr Schöpfer ist und die Welt keine üble Welt. Dieser Nachweisversuch — die zweite Widerlegung Marcions — ist die Theodizee: sie wurde und blieb nötig zur Gründung der Neuzeit. Darum gilt, was ich behauptet hatte: die Theodizee gehört spezifisch zur Neuzeit.

Diese beiden Hinweise sollten die Befremdlichkeit meiner These mildern: wo Theodizee ist, ist Neuzeit; wo Neuzeit ist, ist Theodizee. Da nun die Neuzeit — als Modernitätstraditionalist meine ich: erfreulicherweise — auch heute noch nicht zu Ende ist, bedeutet das zugleich: die Theodizee überdauert die — um 1750 einsetzende — Krise ihrer Leibnizform: das »System« des Optimismus wird modern überlebt zumindest durch »Motive« der Theodizee. Dabei gibt es mehrere Überlebensstrategien; etwa: die alte Lösung oder Teile von ihr hängen das Theodizeeproblem — das sie nicht befriedigend lösen können — ab und adoptieren neue Probleme, deren befriedigende Lösung sie werden; oder: die Theodizeefrage überlebt ihre alte Antwort und sucht eine neue Antwort schließlich auf Kosten der alten Intention. Zunächst diesen zweiten Fall bespreche ich im Abschnitt

2. Das Theodizeemotiv Autonomisierung.
Leibniz — in seiner Theodizeeverteidigt Gott als bestmöglichen Schöpfer der bestmöglichen Welt, für den sein System des Optimismus nüchtern um Verständnis wirbt: Gott ist nicht böse, aber auch kein bloßer Gesinnungsschöpfer, der es weltfremd — ohne Rücksicht auf schädliche Nebenfolgen — gut nur meint, sondern ein weltkluger Verantwortungsschöpfer, der — auf Kompossibilitäten achtend — bestrebt ist, »to make the best of it«. Aufgrund einer grenznutzenbewußten Optimierungskalkulation (an die zu denken zur Zeit des Merkantilismus nahelag) läßt Gott in der Welt jene Übel zu, die — als conditiones sine quibus non — die Gesamtbonität seiner Schöpfung steigern nicht zwar zur guten, aber immerhin zur »bestmöglichen Welt«: Schöpfung ist die Kunst des Bestmöglichen.

Diese Leibnizlösung für die Entlastung Gottes läßt mindestens eine Frage unbeantwortet: Wenn die bestmögliche Schöpfung nur die bestmögliche ist und unvermeidlich Übel einschließt, warum hat Gott das Schaffen dann nicht bleibenlassen? Diese Frage wurde — zumal ein traditionelles Alibi Gottes, der Teufel, wenig früher von Descartes als genius malignus zum Argumentationskniff im Kontext des »methodischen Zweifels« entwirklicht worden war und dadurch als reale Entlastungsgröße ausfiel — Mitte des 18. Jahrhunderts unabweislich unter dem Eindruck neuer Malitätserfahrungen: etwa der frühgrünen Negativerfahrung der Naturferne der Kultur seit 1750 durch Rousseau; etwa der Entdeckung der Antinomien seit 1769 durch Kant mit dem Schreck, daß der Garant der Aufklärung, die Vernunft, durch selbstzerrüttende Eigenillusionen selber als genius malignus wirken kann. Dieses neue Unbehagen an der Welt — das das Erdbeben von Lissabon sinnenfällig machte und zu dem der fast gleichzeitige Beginn der literarischen und historiographischen Angstgenera gehört: der des Horror-Romans 1764 und der der Geschichtsphilosophie 1765 — ruiniert den Optimismus und verlangt nun nach Radikalbeantwortung der genannten Frage: Wenn die bestmögliche Schöpfung unvermeidlich Übel einschließt, warum hat Gott das Schaffen nicht bleibenlassen? Als radikale Antwort auf diese Frage entsteht die philosophische Autonomieposition seit Kant und Fichte, und diese Antwort lautet: Gott hat das Schaffen bleibenlassen, denn nicht Gott ist der Schöpfer der Welt, sondern — autonomistisch — der Mensch, und zwar — so Kant — als Schöpfer der artifiziellen Experimentalwelt der exakten Wissenschaften und ihrer technischen Anwendungswelt sowie der autonom selbstgegebenen sittlichen Normenwelt und Normenvollzugswelt und — so Fichte — als Schöpfer der Geschichte. Ich unterstreiche: diese ungemein wirkungsreiche These — die Autonomiethese seit dem transzendentalrevolutionären Idealismus — wurde aus Theodizeegründen nötig: zur Entlastung Gottes durch seine Entpflichtung als Schöpfergott, dessen Nachfolger — zur Entlastung Gottes — der autonome Schöpfermensch wird. Meine These ist also: diese Autonomisierung — eine Art Atheismus ad maiorem Dei gloriam, zu der so das Theorem und spätere Mythologem vom Ende Gottes gehört — diese Autonomisierung ist ein Theodizeemotiv in der neuzeitlichen Philosophie.

So tritt nun in die Stelle des Angeklagten der Theodizee, aus der Gott aus Theodizeegründen ausscheidet, der Mensch ein. Ich darf an das eingangs zur Tribunalisierung Gesagte erinnern: jetzt ist der Mensch der Angeklagte dieses Tribunals. Diesem Tribunal entkommt er nur dadurch, daß er es wird: er klagt in Dingen Übel in der Welt — sich selbst zum Erlösermenschen ernennend, der mit Akkusationsmonopol avantgardistisch nur noch die Zukunft ist — die anderen Menschen als emanzipationswidersetzliche, als böse Schöpfermenschen an und verurteilt sie dazu, unverzüglich zur Vergangenheit zu werden: durch Revolution. Die Erfahrung dieser autonomtistisch-geschichtsphilosophischen Revolution — zuerst der französischen — ist, daß dort, wo nicht mehr die bösen Schöpfermenschen regieren, sondern die guten Erlösermenschen, die Übel — statt zu verschwinden — vielmehr bleiben und expandieren. Wenn die Menschheit durch diese Enttäuschung der revolutionären Naherwartung nicht entmutigt werden soll, muß man schließlich — um Ohnmachtserfahrungen zu artikulieren und auf der Suche nach einem Sündenbock — Gott als Schöpfer der widrigen Umstände reaktivieren. Diese philosophische Rückrufung Gottes — repräsentativ geschieht sie seit 1800 — erneuert natürlich das Pensum der Theodizee im Wortsinn, nun freilich auf dem Boden der Geschichtsphilosophie: diese ist — wie Hegel sagt — »insofern eine Theodizee«, und zwar »die wahrhafte Theodizee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte«, von der auch noch Droysen meint: »die höchste Aufgabe unserer Wissenschaft ist ja die Theodizee«. Diese Geschichtstheodizee aber gerät in eine Antinomie: ohne Fortschritt — das meinte Hegel und meinte traurig noch Tocqueville — wäre Gott nicht gerecht, weil er den Menschen den Weg zur gleichen Freiheit aller verwehrte aber durch Fortschritt — das meinte Ranke und meinte der Historismus — wäre Gott ebenfalls nicht gerecht, weil er den früher Geborenen vorenthält, was er den später Geborenen gewährt: darum muß — aus Theodizeegründen — gegen das Fortschrittskonzept gelten: »jede Epoche ist unmittelbar zu Gott«. So hat Gott — für die Geschichte — nur die schlimme Wahl zwischen zwei (vollständig disjunktiven) Ungerechtigkeiten: dem Nichtfortschritt und dem Fortschritt.

Angesichts dieses Gottesdilemmas setzt sich im 19. Jahrhundert die Autonomisierung alsbald wieder durch und mit ihr das Mythologem vom Ende Gottes: »die einzige Entschuldigung für Gott ist, daß es ihn nicht gibt«, sagt Stendhal. Schelling — der spätere — hatte zuvor noch eine andere Entschuldigung gesucht: Gottes Ich hat es mit Gottes Es so schwer, dass Gott dadurch — in seiner Allmacht gebremst — das Böse nicht verhindern kann und zugleich den Menschen indirekt zur Autonomie ermächtigt, wobei der Mensch in die Rolle des Gotteserlösers gerät. Seit ich Peter Wapnewski über Wagners »traurigen Gott« gelesen habe, merke ich, daß Wagner durch »auch eine Arbeit am Mythos« diese Grundfigur Schellings nur in die Sprache der germanischen Mythologie übersetzt hat: im Ring mit einem Wotan, der es durch Schuld so schwer mit sich hat, daß er sich durch Menschen erlösen lassen muß und darüber — mit ästhetischem Glanz — todessüchtig wird. Diese »Götterdämmerung« ging Nietzsche nicht weit genug: für Nietzsche »ist« Gott schon »tot«. Auch das — Hans Robert Jauß und Hans Blumenberg haben das jüngsthin bestätigt — ist eine Theodizee. Denn: Nietzsche meinte: »an seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben«. Wo es Mitleid, also Leid gibt — die Übel in der Welt —, ist Gott auch vor sich selber nur durch sein Nichtsein gerechtfertigt und just dadurch der Mensch zur Autonomie des Übermenschen ermächtigt. Durch diesen Hinweis bekräftige ich meine These: die Autonomisierung — zu der das moderne Mythologem vom Ende und Tode Gottes gehört — ist ein Theodizeemotiv in der neuzeitlichen Philosophie.

Dabei kann — scheint es — der jeweilige Nachfolger des entpflichteten oder gestorbenen Schöpfers sich — angesichts der bleibenden Übel — nur halten, indem er in die Erlöserschaft ausweicht: er tritt in Opposition nicht nur zum alten, sondern schließlich auch zum neuen Schöpfer der vorhandenen Welt und betreibt — eschatologisch-revolutionär — deren Ende. Diese Dauerflucht aus der Schöpferrolle in die Erlöserrolle — die alsbald Dialektik hieß — repetiert (in theologischer oder profaner Variante) das Doppelgottmodell Marcions: den Erlöser, der gegen den Schöpfer antritt. Die Theodizee — die zweite Widerlegung Marcions — ermächtigt, autonomistisch geworden, also justament das, was sie widerlegen wollte, nämlich Marcion; und das bedeutet: statt die Neuzeit zu schützen, wird sie zur Gegenneuzeit: die Theodizee — autonomistisch radikalisiert — kippt um in ihr Gegenteil, die Eschatologie. Daraus folgt: will die Theodizee die Neuzeit nicht preisgeben, sondern weiterhin verteidigen, muß sie Alternativen zur Autonomisierung pflegen.

3. Das Theodizeemotiv Malitätsbonisierung.
Auf eine dieser Alternativen mache ich aufmerksam, indem ich zunächst an eine autonomistische Philosophie anknüpfe: an Kants Kritik. Sie gilt als Apriorismus. Aber das bleibt unspezifisch. Kants Kritik ist — spezifischer — jener Apriorismus, der Aprioris als »Bedingungen der Möglichkeit« (insbesondere der Erfahrung) legitimiert: also durch ihre Funktionalisierung. Ihr entscheidender Rechtfertigungsbegriff ist so »Bedingung der Möglichkeit«. Er ist nicht — wie ich selber lange annahm — kantoriginell, sondern kommt von Leibniz, der in seiner Theodizee sagt: Gott läßt — im Blick auf die Optimalwelt — das Übel zu als »conditio sine qua non«, was auf deutsch und transzendentaldeutsch heißt: »Bedingung der Möglichkeit«. Daß so Kants zentraler Rechtfertigungsbegriff aus der Theodizee kommt, bedeutet folgenreich: früher als Aprioris und andere Bonitäten wurden Übel als Möglichkeitsbedingungen gerechtfertigt, und so können Übel weiterhin als Möglichkeitsbedingungen gerechtfertigt, d. h. gut sein: seit Leibniz für die bestmögliche Welt, seit Kant für die bestmögliche Wissenschaft, seit Fichte für die bestmögliche Geschichte. Darin steckt generell: Übel können gut für etwas und also gut sein.

Ihre Funktionalisierung ist nur eine Möglichkeit der Gutmachung der Übel, der Malitätsbonisierung; denn diese gehört — als ihr Moment — zu einer Generaltendenz der modernen Welt und Philosophie: zum großen Vorgang der Entübelung der Übel. Er beginnt nach der »Zulassung« der Übel im Optimismus durch dessen Krise: da bot — wo der Optimismus nicht mehr und die Autonomisierung gar nicht befriedigte — einen Ausweg der Gedanke, daß die Übel so übel nicht sind. Darum — aus Theodizeegründen — machte die Philosophie sich auf, die Übel vor übler Nachrede zu retten: sie aus ihrer traditionellen Negativrolle zu befreien und die Bonität der Übel geltend zu machen. Meine These ist also: diese Malitätsbonisierung — die moderne Entübelung der Übel — ist ein Theodizeemotiv in der neuzeitlichen Philosophie. Sie findet statt bei allen Sorten von Übeln. Ich kann das hier nur andeuten durch fünf knappe Hinweise (a—e).

a) Entübelt wird das gnoseologische Übel: die Neugier wird aus einem Laster zur zentralen Wissenschaftstugend; und entübelt wird vor allem der Irrtum. Er macht modern eine steile Positivkarriere und rückt schließlich — als produktive Fiktion — ein in die Position der wichtigsten Erkenntnis- und Handlungsbedingungen; als »Lüge im außermoralischen Sinn« und »zweckmäßiger Irrtum« im — durch Kant vorbereiteten — Fiktionalismus Nietzsches und Vaihingers. Falsificanda machen — bei Popper — die Wissenschaftsgeschichte: wir irren uns empor. Und Fiktionen — scheint es — durchherrschen die Weltgeschichte: Ideologien — notwendig »falsches Bewusstsein« — gelten seit Marx als geschichtsmächtig, und kontrafaktische Humanitätsunterstellungen als Zielvorwegnahmefiktionen garantieren — bei Habermas — den herrschaftsfreien Diskurs. Ich meine: diese Positivierung des Fiktiven — eine Malitätsbonisierung — kommt her aus der Theodizee.

b) Entübelt wird das ästhetische Übel: modern wird das Nichtschöne rasant zum ästhetischen Positivwert, indem neben die Ästhetik des Schönen — sie überflügelnd — die Ästhetik des Nichtschönen tritt: des Erhabenen, Sentimentalischen, Interessanten, Romantischen, Häßlichen, Dionysischen, Abstrakten, Negativen und so fort. Diese Positivierung des ästhetischen Übels setzte voraus die Entübelung des Ästhetischen: das traditionell übel gestellte (»inferiore«) Vermögen der Aisthesis — Sinnlichkeit — avanciert durch Entstehung der Ästhetik seit 1750 zur vermeintlich höchsten Menschlichkeitspotenz: der künstlerischen Genialität. Das korrespondiert mit der gleichzeitig breit einsetzenden Emanzipation des traditionell Inferioren überhaupt: der Emotion, der Metapher, des Mythos, des Exotischen, des Wilden, des Kindes, der Frau, des dritten und vierten Standes, der Randgruppen. Ich meine: all diese Positivierungen— Malitätsbonisierungen — kommen her aus der Theodizee.

c) Entübelt wird das moralische Übel. Es kommt zur großen »Entbösung des Bösen« (E. L. Marquard), wiederum repräsentativ seit 1750 im Anschluß an Rousseau: die natürliche Gutheit des Menschen wird — heißt es — als böse verkannt durch die Kultur und muß also gegen diese und ihre traditionellen Normen rehabilitiert werden. Das Böse — sodann auch noch Nietzsche — ist in Wirklichkeit das Gute: das Asoziale das Kreative, das Alternative und Deviante das Authentische, das Antiautoritäre das Vitale, das Antiinstitutionelle das Humane, das Antizivile das Reflexionsstarke oder sonstwie Starke, die große Weigerung die große Befreiung, die Revolution die gute Tat schlechthin; und — von Kant bis Bloch — die philosophische Uminterpretation von Genesis 3 unterstützt das: Sündenfall ist Freiheitspflicht. Ich meine: diese Entbösung des Bösen durch Umwertung aller Werte — als Malitätsbonisierung — kommt her aus der Theodizee.

d) Entübelt wird das physische Übel. Denn im gleichen Zeitraum werden Mühe und Arbeit positiviert; die Not wird — etwa durch Malthus — umgewertet zur Chance, sie zu besiegen. Die Angst wird zur Eigentlichkeitsstimmung. Hinzu kommt — früh schon — die Ernüchterung der Pathologie: die Krankheit wird losgekoppelt vom Bösen und gilt nicht mehr als Sündenstrafe oder negatives Wunder; sie wird entmythologisiert und objektivierbar: synchron zur »Geburt der Klinik«. Wenig später gilt krank zu sein als interessant: als Bedingung der Genialität. Das Leiden wird entweder positiviert oder verdrängt: das Gebrechliche wird als Daseinssymbol verehrt oder kommt in Heime; der Schmerz wird als Sensibilitätsgewinn gefeiert oder betäubt, der Tod — wie Philippe Ariès gezeigt hat — zunächst emphatisiert und dann »verbannt«: die Leiden — die mala physica — promovieren zur Chance oder werden euphemisiert und versteckt. Ich meine: auch diese mühsame Positivierung — eine Malitätsbonisierung — kommt her aus der Theodizee.

e) Entübelt wird schließlich auch und gerade das metaphysische Übel: die Endlichkeit macht modern unaufhaltsam Karriere und wird — spätestens seit Kants Proklamation der Unabhängigkeit der menschlich-endlichen Erkenntnis gegenüber der göttlichen — zum ontologischen Positivwert, insbesondere auf Kosten der bisherigen ontologischen Nobelverfassung, der Invarianz. So kommt es zur Positivierung der Veränderlichkeit: es entsteht — wiederum seit 1750: Koselleck hat das gezeigt — als Begriff einer metaphysisch entübelten Wandelbarkeit der Begriff der »Geschichte«, die nun — von der Menschheitsgeschichte bis zur Evolution der Natur — ihren modernen Erfolgslauf beginnt. Ich meine: diese Positivierung des metaphysischen Übels »Endlichkeit« und »Wandelbarkeit« — eine Malitätsbonisierung — kommt her aus der Theodizee.

Freilich: diese große Entübelung der Übel muß gegen den Widerstand traditioneller Normen durchgesetzt werden, und dieser Widerstand gilt nun als böse, und das bisher offiziell Gute, das ihn leistet, gilt nun als Übel: die Positivierung des Übels zum Guten negativiert zugleich das traditionell Gute zum Übel. So führt die moderne Malitätsbonisierung, die ein Theodizeemotiv ist in der neuzeitlichen Philosophie, zugleich zu einer Bonitätsmalisierung, die erneut mit Übeln konfrontiert und dadurch jenes Problem verschärft, das doch entschärft werden sollte: die Theodizee.

4. Das Theodizeemotiv Kompensation.
Darum behält ein noch anderes Motiv — das ich hier als letztes traktiere — einschlägig seine Chance und sein Gewicht: der Gedanke, daß die vorhandenen Übel jedenfalls durch Güter zureichend ausgeglichen sind. »Der Schöpfer der Natur« — schreibt Leibniz in seiner Theodizee und will ihn dadurch rechtfertigen — »hat die Übel [....] durch zahllose Annehmlichkeiten kompensiert«. Das ist der Gedanke der Kompensation: er rechnet statt mit der Gutmachung der Übel mit der Wiedergutmachung der Übel; und meine These lautet also: dieser Kompensationsgedanke ist ein Theodizeemotiv in der neuzeitlichen Philosophie.

Er konnte zum Theodizeemotiv werden, weil in der Leibniztheodizee der »alte« Nemesis-Nexus — Untaten werden kompensiert, d. h. bestraft durch Übel — umgedreht wurde zum »modernen« Linderungs-Nexus: Mängel werden kompensiert, d. h. entschädigt durch Bonitäten. In dieser »modernen« Form inspiriert der Kompensationsgedanke im 18. Jahrhundert bis ins 19. hinein jene fleißigen kompensationsphilosophischen Bilanzen, die nachzuweisen versuchen: in der Welt überwiegen nicht (wie Bayle meinte) die Übel die Güter, sondern (so zuerst Leibniz) die Güter die Übel, hilfsweise ergibt sich eine ausgeglichene Bilanz, eine Balance von »maux« und »biens« durch das allgemeine Kompensationsgesetz: Übel plus kompensierende Güter = Null, von dem Robinet und der junge Kant sprachen und vor allem — angeregt durch La Salle — Azais, der 1808 stark ins Detail ging: in jedem Menschenschicksal — meinte er zeigen zu können — ist Unglück durch Glück so kompensiert, daß die Glücksbilanz stets Null ist, dadurch sind alle Menschen gleich. Ich habe im letzten Jahrzehnt mehrfach auf den Theodizeesinn gerade auch dieser Kompensationsphilosophien aufmerksam gemacht. Inzwischen — Oktober 1981 — ist von Jean Svaelski ein hervorragend gründliches Buch L‘idée de Compenation en France 1750 — 1850 erschienen, das diese These stützt und die einschlägigen französischen Kompensationskonzepte bis Balzac verfolgt. Im angelsächsischen Raum — scheint mir — wird diese theodizeemäßige Kompensationsbilanz durch den Utilitarismus temporalisiert zur Zukunftsaufgabe: in Richtung auf »the greatest happiness of the greatest number« soll durch kluge Kompensationspolitik die Güter-Übel-Bilanz aufgebessert werden; dieses pragmatische Kompensationsprogramm zur Gesellschaftsreform wirkt — später ernüchtert durch Emersons »law of compensation«, das mit einer »absolute balance of Give and Take« rechnet — bis in die Gegenwart hinein: in das — wie Scheler es nannte — »Zeitalter des Ausgleichs«. Im deutschen Sprachraum — wo Burckhardt aufmerksam machte auf »das geheimnisvolle Gesetz der Kompensation« in der Geschichte, mit dessen »Trost« man aber »sparsam umgehen« müsse — wird der Kompensationsgedanke schon seit Leibniz — energisch dann seit der Krise des Optimismus — zugespitzt zur Bonum-durch-malum-Figur: wie die Sünde den Erlöser herbeirief und dadurch zur »felix culpa« wurde, so rufen Defekte Kompensationen hervor und werden dadurch zu Chancen. Zum Beispiel ist zwar — malum — der Mensch ein Stiefkind der Natur, aber gerade dadurch hat er — bonum durch malum — Sprache: als Kompensation («Schadloshaltung«), so Herder: »in der Mitte dieser Mängel« liegt »der Keim zum Ersatze«; das klingt wie Hölderlin: »wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«, und Busch: »wer Sorgen hat, hat auch Likör«. Dieser zugespitzte Kompensationsgedanke, demzufolge Übel indirekte Güter und Defekte Chancen sind, wird im 20. Jahrhundert — nach seinem späten Weg durch die Psychoanalyse bei Adler und Jung — zur anthropologischen Fundamentalkategorie: als unbewußt gewordenes Theodizeemotiv dirigiert er weithin die heutigen Philosophien des Menschen und Theorien des Menschlichen; ich gebe zwei Hinweise:

a) Helmuth Plessner schreibt im Vorwort zur zweiten Auflage seines anthropologischen Hauptwerks Die Stufen des Organischen und der Mensch über Gehlen: »Seine Thesen [. . .] lassen sich alle um den Gedanken der Kompensation gruppieren, dem Herder das Stichwort Mängelwesen gegeben hat«: der Mensch kompensiert seine naturhaften Mängel durch »Entlastungen«. Auch Sartre denkt einschlägig: seinen Mangel an vorgängiger Wesensbestimmtheit muß der Mensch kompensieren durch Entwurf, durch Wahl. Aber früher und ausdrücklicher hat Plessner selber zentral mit dem Kompensationsbegriff operiert: die menschlich »exzentrische Positionalität« erzwingt kompensatorische Rezentrierungsversuche: »der Mensch« — schreibt Plessner »will heraus aus der unerträglichen Exzentrizität seines Wesens« und »sucht« darum »Kompensation seiner Halbheit, Gleichgewichtslosigkeit, Nacktheit«: durch Kultur, also durch Technik, Expressivität, Transzendenz. Was so durch Plessner, Gehlen, Sartre belegbar ist — und in subtiler Generalisierung fortwirkt bei Niklas Luhmann: auch und gerade das System Mensch kompensiert Komplexitätsüberlastung durch Komplexitätsreduktion —, gilt weithin: die Gegenwartsanthropologie bestimmt den Menschen zentral als Defektflüchter, der nur durch Kompensationen zu existieren vermag: als homo compensator. Die moderne und gegenwärtige Konjunktur der philosophischen Anthropologie vollzieht sich repräsentativ im Zeichen des Kompensationsgedankens, eines Theodizeemotivs in der neuzeitlichen Philosophie.

b) Nur und gerade weil das so ist, können zugleich in den menschlichen Verhältnissen erneut Kompensationen entdeckt und geplant werden. »Kompensation« wird zur Losung aktueller Programme: etwa der »compensatory fiscal policy« von Keynes und Hansen, etwa der »compensatory education« nach dem Sputnik-Schock. Zugleich ist »Kompensation« zum Schlüsselbegriff der Philosophie der Modernisierungsprozesse geworden, etwa durch Joachim Ritter und seine Schule: die moderne Entzauberung der Wirklichkeit wird kompensiert durch die spezifisch moderne Ausbildung der Ersatzverzauberung des Ästhetischen; oder: die moderne Verkünstlichung der Welt wird kompensiert durch die spezifisch moderne Entdeckung und Apotheose der unberührten Landschaft und die Entwicklung des Sinns für die Natur einschließlich des ökologischen Bewußtseins; oder: der moderne Traditionsverlust durch Versachlichungen und durch zunehmendes Tempo des Wirklichkeitswandels wird kompensiert durch die spezifisch moderne Genese des historischen Sinns: also etwa durch die Geburt des Museums und der Geisteswissenschaften. All das und vieles andere zeigt: die Kompensationsphilosophie des Menschen setzt sich gegenwärtig allenthalben fort in Kompensationstheorien des Menschlichen. Das bestätigt, was ich unterstreichen wollte: die moderne und gegenwärtige Konjunktur der philosophischen Anthropologie vollzieht sich repräsentativ im Zeichen des Kompensationsgedankens, eines Theodizeemotivs in der neuzeitlichen Philosophie.

Dabei wurde der ursprüngliche Theodizeesinn des Kompensationsgedankens vergessen. Gleichwohl ist es nur konsequent, daß die Gegenwartsanthropologie gerade ein Theodizeemotiv aufnimmt. Nicht nur ist die Anthropologie ihrerseits — worauf zuerst Werner Sombart hingewiesen hat — eine Philosophie spezifisch der Neuzeit. Zugleich opponiert sie jenen Geschichtsphilosophien, die neo-eschatologisch in die Gegenneuzeit desertieren. Weil das so ist — weil die philosophische Anthropologie die amtierende Negation der Eschatologie ist — nimmt sie plausiblerweise Motive jener Negation der Eschatologie auf, die die zweite Widerlegung Marcions war: der Theodizee.

Erlauben Sie mir noch eine ultrakurze Schlußbemerkung. Daß gerade ein Skeptiker — ich — auf die Theodizee, also ein exemplarisch metaphysisches Pensum, verweist, ist nur scheinbar paradox. Die Metaphysik ist jene kognitive Branche, die Probleme hat, mit denen sie nicht fertig wird; und die Theodizee ist das — wie ich hier partiell mitbelegt zu haben glaube — in exemplarischer Weise. Probleme zu haben, mit denen man nicht fertig wird, ist wissenschaftstheoretisch ärgerlich, aber menschlich normal. Skeptiker sind — meine ich — jene Leute, die wissenschaftstheoretische Ärgernisse verschmerzen zugunsten menschlicher Normalität: für sie ist Metaphysik — das Nichtfertigwerden — gerade kein Gegner, sondern das Menschliche; so kann es für Skeptiker — die für das Menschliche optieren — niemals zuviel Metaphysik geben. Es existieren menschliche Probleme, bei denen es gegen-menschlich, also ein Lebenskunstfehler wäre, sie nicht zu haben, und übermenschlich, also ein Lebenskunstfehler, sie zu lösen. Die skeptische Kunst, diese Kunstfehler nicht zu begehen, ist die Metaphysik; und professionelle Metaphysiker sind Leute, die sorgfältig und erfolgreich gelernt haben, mit Problemen nicht fertigzuwerden: gerade darin liegt ihr Wert. Freilich: wer auf ein Problem gar keine Antwort gibt, verliert schließlich das Problem; das ist nicht gut. Wer auf ein Problem nur eine Antwort gibt, glaubt das Problem gelöst zu haben und wird leicht dogmatisch: auch das ist nicht gut. Am besten ist es, zu viele Antworten zu geben: das — etwa bei der Theodizee — bewahrt das Problem, ohne es wirklich zu lösen: es muß tausend Antworten geben, vielleicht im Orient tausendundeine und in Spanien tausendunddrei. Beantwortungsabstinenz und Beantwortungsmonismus sind schädlich; nützlich ist ein exzessiv ausschweifendes Beantwortungsle¬ben, das es meist schon gibt: als Geschichte der Metaphysik, hie darum das Organon der Skepsis ist. Deshalb ist der Skeptiker verliebt in jene Metaphysik, die so viele Antworten produziert, daß sie einander wechselseitig neutralisieren, und gerade dadurch — teile und denke! — die Probleme offenläßt, so daß es ihr im Fazit ergeht wie jenem löwenfreundlichen Löwenjäger, der, gefragt, wieviele Löwen er schon erlegt habe, gestehen durfte: keinen, und drauf die tröstende Antwort bekam: bei Löwen ist das schon viel. Just so — darum mag sie der Skeptiker — ergeht es der Metaphysik und so auch der Theodizee; von ihren Problemen hat sie gelöst: keines. Jedoch: für Menschen ist das schon viel. S. 12-29
Aus: Odo Marquard, Apologie des Zufälligen . Philosophische Studien: Entlastungen - Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie
Reclams Universalbibliothek Nr. 8351 © 1986 Philipp Reclam jun., Stuttgart , Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages