Wolf-Dieter Marsch (1928 - )

Deutscher Theologe,
der Systematische Theologie u. a. auch an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal lehrte.

Siehe auch Wikipedia

Atheistische Antworten – Herausforderung für die Christen
Nicht erst heute tun wir uns schwer mit dem Glauben. Nicht erst in der »säkularisierten« Welt stellen wir die Frage: Warum eigentlich nicht a-theistisch, »ohne Gott«, leben und denken? Diese Frage provoziert immer wieder Christen zum Nachdenken darüber, warum man es denn »mit Gott« wagen könne und solle. An den atheistischen Antworten muss gleichsam durchprobiert werden, was unser Glaube wert ist. Dies möchte ich im Folgenden an vier Grundmodellen atheistischen Denkens (die meines Erachtens immer wiederkehren) vorzuführen versuchen. Warum leuchten diese Modelle der Vernunft ein — und warum nicht, in welche Aporien führen sie?

Man muss von mehreren Atheismen ausgehen, denn »den Atheismus« gibt es nicht. Die simple Alternative: entweder rechne ich »theistisch« mit Gottes Dasein, oder ich lehne »atheistisch« einen solchen Gedanken als irrig und falsch ab, ist nicht nur fad und langweilig, — sie stimmt auch nicht. Stets gab es bestimmte verschiedene Weisen der Bezweiflung Gottes, die von recht verschiedenen Voraussetzungen her argumentieren. Diese Voraussetzungen muss man kennen, und sie müssen vom Glaubenden bedacht werden können: Vermag er Antworten zu finden, welche die atheistischen hinterfragen und vielleicht gar gültiger sind als sie? Ich möchte also, natürlich verkürzt und ohne Anspruch auf Vollständigkeit, einen Gesprächs-Prozess andeuten, dem sich ein Christ schwerlich entziehen kann, will er sich nicht in den Elfenbeinturm der immer richtigen — aber eben darum falschen — Wahrheiten seines Glaubens zurückziehen.

1. Der naturwissenschaftliche Atheismus

Das ist der gegenwärtig allgemein übliche, alltägliche. Immer unerbittlicher haben wir uns seit dem Aufkommen von moderner Wissenschaft und Technik an ihn gewöhnen müssen: In der entzauberten und immer intensiver nutzbar gemachten Umwelt, in Physis und Kosmos, kommt Gott — als erste Ursache, als wunderbarer Nothelfer oder als weiser Weltenlenker — nicht vor; und erst recht nicht als Lückenbüßer, der wohltätig eingreift, wo menschliches Handeln — noch! — versagt.

Um den seit Jahrmillionen im Werden begriffenen Kosmos zu verstehen und zu beherrschen, bedarf es dieser Hypothese nicht, um die man jahrhundertelang rang. Nach den Jahrhunderten der Aufklärung, als man zunächst noch Gott in der wunderbaren Architektonik naturwissenschaftlicher Gesetze wirken sah, muss sie als unnötig gelten. Endliche Fakten, Daten und Prozesse haben auch ihre endlichen Ursachen und Konsequenzen. Man kann sie verstehen und möglicherweise nachkonstruieren. Zusammenhänge und Analogien sind erforschbar, wahrscheinliche Entwicklungen berechenbar. So gehen wir alltäglich mit unserer Umwelt und uns selber um: möglichst kühl, objektivierend, kalkulierend. Dies ist die »technische Vernunft«, der im Umgang mit der Welt kein Gott begegnet. Und dies ist ein Atheismus, der nur das »positiv« Gegebene, das Plan- und Machbare gelten lässt.

Ein Glaube, der hier im Gebrauch der »technischen Vernunft« den Lückenbüßer-Gott einschmuggeln will, steht von vornherein auf verlorenem Posten, taumelt von einem Rückzugsgefecht ins andere. Allerdings kann er die »technische Vernunft« sehr wohl auf ihrem Reflexionsniveau in Frage stellen, wie das in der Philosophie längst geschieht (man denke nur an Namen wie Hegel, Marx, Horkheimer, Marcuse). Denn diese »technische Vernunft« macht nicht selig, sie lässt viele humane Fragen, von denen der Mensch nun mal nicht lassen kann, ungelöst. Sie lässt ihn zum Gefangenen seiner Produktions-, Konsum-, Erforschungs- und Terminpläne werden. Sie sieht nicht ein, dass und wie wir durch pure und sture Faktengläubigkeit in Mechanismen der Herrschaft, in Dressurübungen der Anpassung an alle möglichen Trends hinein verstrickt werden. Sie kann kein »heiles Leben« herbeiführen. Sie ist blind für die humanen Beschädigungen, von denen unser selbstgebasteltes Geschick allemal begleitet ist.

Das zeigt nichts deutlicher als die gegenwärtigen Rebellionsphänomene gegen die »technische Kultur«, dieser wenn auch oft hilflose, böse, törichte und aggressive Protest: heraus aus dem »Apparat«, aus dem »System«, aus den tausend »Manipulationen«, aus der Zwangsjacke institutioneller Bindungen! Zurück zur Natur, zum einfachen Leben, zu demokratischer Unmittelbarkeit, zur Trieb-Freiheit! Dieser Protest dokumentiert: Die »technische Vernunft« und die technische Lebensapparatur kann die Frage »Wozu das alles?« nicht beantworten; sie weiß nicht, warum die technischen Wohltaten immer wieder umgewandelt werden in Instrumente von Verknechtung und Gewalt, von Frustration und Unglück. Und auf diese Frage muss auch der Glaube auf seine Weise nach Antworten suchen: Wozu und zu welchem Endzweck das Abenteuer der technischen Weltbeherrschung? Man denke nur an die Verzweiflung von Atomphysikern, als sie merkten, was sie anrichten; oder an die Nachdenklichkeit von Biochemikern, ob man die menschliche Art weiter manipulieren solle; oder an die Aussicht von Astronauten, die auf dem Mond nur »das Nichts« erkennen zu können glaubten. Wozu, zu welchem Endzweck? Der jüdisch-christliche Glaube an Gott den Schöpfer verweist die »technische Vernunft« in bestimmte Grenzen: Die Erde ist dem Menschen übergeben — »machet sie euch untertan« — als ein Lehen, ein Auftrags-Bereich, um sie zu humanisieren und vor einem anderen, vor Gott, zu verantworten. Diese Verantwortung, diese bewusste Selbstbegrenzung, die Wahl von Zielen für die »technische Vernunft« nimmt uns niemand ab. Wir müssen uns ihr stellen.

2. Der prometheische Atheismus

Er argumentiert nicht von den Fakten, sondern von einem idealen Endziel der Geschichte her, er ist nicht naturwissenschaftlich, sondern geschichtsphilosophisch orientiert — in unserem Lande wegweisend durchdacht seit Fichte, Feuerbach und Marx. Er besagt: Der Mensch ist das freie und allmächtige Subjekt der Geschichte, wenn er sich nur erst aus aller »Selbstentfremdung« herausarbeitet, seine gottgleichen Fähigkeiten entdeckt und entwickelt, alle Verhältnisse revolutionär umwirft, die seine un-endliche Selbstverwirklichung noch immer verhindern wollen. Fichte erkannte das tätige Subjekt als das weltbewegende Wesen; Feuerbach entdeckte, dass als Gott nur die noch nicht realisierten Fähigkeiten der »Gattung Mensch« angebetet werden; Marx suchte nach einer Form von Gesellschaft, in welcher sich der Mensch als freies, selbst-schöpferisches und soziales Wesen unentfremdet assoziieren kann. All diesen Entwürfen war ein endgeschichtliches, ein eschatologisches Pathos eigen: jetzt, morgen wird das Endgültige — die freie, selbstbewusste und emanzipierte Menschheit — wirklich sein; alles Bisherige verblasst zur bloßen »Vorgeschichte«. Und dieses Pathos ist dem prometheischen Atheismus weiterhin eigen geblieben, mag auch die Weltrevolution in die Mottenkiste der Träume gehören. Man beansprucht, das Geheimnis gesellschaftlicher Entwicklung und Vollendung zu kennen, man wähnt sich als Vollstrecker und Erfüller der Weltgeschichte. Dieses Pathos sehe ich sowohl bei elitär sich gebärdenden Studenten als auch bei kaltschnäuzigen Technokraten weiterleben.

Wir sind Gott, — darum darf es keinen geben.

Auch der Glaube kennt ja ein solches eschatologisches Pathos. Im Evangelium heißt es: »Nahe herbeigekommen ist Gottes Reich.« Und die Geschichte ist voll von »schwärmerisch« genannten Versuchen, dieses Reich auf Erden herbeizuzwingen, es endlich, endlich zu realisieren. Aber der Glaube muss auch daran denken, dass jenes Reich schon zu Jesu Zeiten scheiterte: die Messias-Herrschaft endete am Kreuz. Am Kreuz ist zu lernen, dass der »Rebell Jesus« bei den Leidenden, Zerbrochenen, Verlorenen und Hoffnungslosen gegenwärtig sein wollte, ihnen das Heil zusprach. Christusglaube denkt also ein »Ende der Geschichte« in der Geschichte: im Relativen gilt das Absolute und Endgültige verwirklicht, in der Tiefe des Menschlichen erscheint Gott, in der Knechtschaft unter die Verhältnisse wird die Freiheit der Kinder Gottes gelebt. Im Gegensatz zu jenem Atheismus dürfte dies heute der Beitrag eines »gläubigen Realismus« sein. Er gibt die Utopie eines heilen, freien und emanzipierten Daseins nicht auf: denn er bekennt sich zum auferweckten und kommenden Christus. Aber er weiß auch, beim Gekreuzigten verharrend, dass dieses Endgültige nur hoffend erwartet, nicht aber produziert werden kann. Er hat den »langen Atem« für eine un-endlich gott-offene Geschichte, in der ein heiles Leben eher durch Leiden, Geduld und Liebe gestiftet wird als durch Dogma, Revolution und Gewalt.

3. Der tragische Atheismus
Dieser hat, im Unterschied zum vorigen, längst alle Brücken zur Geschichte und zur gesellschaftlichen Entwicklung abgebrochen; Hoffnung auf eine Welt-Vollendung erscheint ihm illusionär. Der sich selbst überantwortete, ja ausgelieferte Mensch feiert seine Transzendenz allenfalls in der schöpferischen Lust, in der Kunst oder auch in der hoffnungslosen Gebärde der Revolte. Mit Namen wie Nietzsche, Benn, Camus oder Beckett könnte man diesen Atheismus belegen.

»Gott ist tot. Wir haben ihn getötet.« Wir wissen, was wir tun, wenn wir ihn um der freien Autonomie willen leugnen; wir haben keine Rechtfertigung dafür, sei es in der Naturwissenschaft oder im Gang der Weltgeschichte; wir erleiden den Verlust jedes bergenden Sinnes. Es ist ein Atheismus der Trauer und des Verzichts, mochte er sich (bei Nietzsche etwa) noch so überschwänglich und heroisch geben. Der Preis der Freiheit muss bezahlt werden: im schweigenden Vollenden der Werke (Benn), in der absurden ästhetischen Lust (Beckett) oder im programm- und ziellosen Zeichen der »Revolte« (Camus). Der gottlose Einzelne nimmt sein Geschick auf sich, ohne sich falsche Tröstungen zu gestatten. Das Eitle, Schwache, Lügenhafte und Sinnlose allen menschlichen Wollens wird entlarvt, analysiert, ohne einen Weg zum Heil zu zeigen — außer dem einen: sich aushalten.

Dieser Atheismus ist ein echtes nach-christliches Phänomen. Denn das Christentum hat ja dazu beigetragen, die Menschen ihrer Geborgenheit in Mythos, Kosmos und Physis zu berauben, indem es sie vor Gott als »Person« unendlich vereinzelte, ihnen alle vermeintlichen Bindungen zerschlug und sie Gott — oder dem Nichts — konfrontierte. Er hält den Christen gleichsam einen negativen Spiegel vor: so sieht das Wagnis schutzlosen Ich-Seins aus — ohne Gegenüber, ohne Rechtfertigungen, ohne geschenkte Identität. Auch der Glaube kennt ja dieses Wagnis: In Jesus begegnet eine schutzlose, einsame Humanität, die den Schrecken des Zweifels und der Gott-ferne auf sich nimmt. »Mein Gott, warum hast du mich verlassen«, so betet der Mensch Gottes am Kreuz. In dieser Verlassenheit jedoch verlässt er sich (im Doppelsinne: sich selbst aufgeben und vertrauen). Dieses Sich-Verlassen begriffen die Zeugen Jesu, als sie von ihm sagten, Gott habe ihn von den Toten auferweckt. Und dieses Sich-Verlassen, das — ohne jeden Anhalt an Natur und Geschichte zu haben — immer wieder einen neuen »Mut zum Sein« gewinnt, bleibt jenem Atheismus näher als gedacht. Darum:

4. Der religiöse Atheismus
Er ist heute unter Christen weit verbreitet. Aus religiösen Gründen proklamiert man den »Tod Gottes«. Damit meint man allerdings nicht wie Nietzsche die gloriös-tragische Befreiungstat des autonomen Menschen, sondern den Abschied vom supranaturalen Nothelfer-Gott, vom Gott der Geschichte und der Weltbilder. Vielmehr sollen um der wahren, biblischen Transzendenz Gottes willen, wie sie schon im Bilderverbot des Alten Testaments proklamiert worden ist, alle falschen, geschichtlichen Transzendenzen abgewehrt werden — jede Vermischung von Gott und Welt, Gott und Ideologie, Gott und Tradition. Die Wahrheit des biblischen Gottesglaubens kann überhaupt nicht theoretisch aufgewiesen, sondern nur praktisch wahr gemacht werden: im Hinsehen auf und im Weitergeben der »Sache Jesu« an den Fronten der Armut, des Hungers, des politischen Verbrechens und Unrechts, des Mangels an Liebe und Freiheit. Atheistisch meint man argumentieren zu müssen, weil der Name Gottes zu oft missbraucht worden ist, um von dieser »Sache Jesu« abzulenken. Dennoch bleibt diese Rede vom »Tod Gottes« und gar einem »Atheismus aus Glauben« höchst missverständlich. So wahr und beherzigenswert die Mahnung ist, Gott nicht zu ver-endlichen und als Schutzschild ideologischer Wünsche abzunutzen, so unverzichtbar bleibt doch die Einsicht, dass die »Sache Jesu« mit der Person dieses Jesus zusammenhängt, der nicht den Tod, sondern das Leben und die Zukunft Gottes bezeugte in all dem, was er sagte, tat und litt: die Menschlichkeit und Menschennähe dieses Gottes, der damals genauso unsichtbar blieb und den Menschen so ohnmächtig ausgeliefert war wie heute — und eben darin seine machtvolle Gegenwart erweist. Gott und menschliches, jesuanisches Geschick gehören zusammen und dürfen nicht voneinander getrennt werden. Das ist das Wahrheitsmoment dieses nur vermeintlichen Atheismus.

Eine Summe aus diesen Andeutungen eines Gesprächs-Prozesses lässt sich schwer ziehen — außer vielleicht der Erkenntnis, dass der christliche Glaube die ständige Konfrontation mit diesen Atheismen braucht. Sie machen jeweils auf bestimmte Missverständnisse des Glaubens aufmerksam: die Verwechslung Gottes mit der Welt, mit der Geschichte, mit dem freien, autonomen Subjekt. So wahr Gott in ihnen ist, an ihnen und durch sie sich dokumentiert, so wahr geht er dennoch nicht in ihnen auf — und damit unter. Darauf muss der Glaube im Gegenüber zu diesen Atheismen bestehen, wenn er am biblischen Erbe sich orientieren will.
S. 72-77
Aus: Dialog mit dem Zweifel. Herausgegeben von Gerhard Rein. Kreuz-Verlag Stuttgart . Berlin. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Herrn Gerhard Rein