Thomas Garrigue Masaryk (1850 – 1937)

  Tschechischer Philosoph, der zum Gründer und ersten Staatspräsidenten der Tschechoslowakei .avancierte. Masaryk führte die Loslösung des tschechischen Denkens von der deutschen Philosophie durch, obwohl er selbst aus der Wiener philosophischen Schule Franz Brentanos hervorgegangen ist. Als Philosophieprofessor am tschechischen Teil der Prager Karls-Universität bemühte er sich, die englischen Philosophen des Positivismus einzuführen, schuf aber kein eigenes geschlossenes Philosophiesystem, sondern widmete sich vorwiegend soziologischen, ethischen, religionswissenschaftlichen und geschichtsphilosophischen Einzelfragen. Im Zeitalter der religiösen und moralischen Gleichgültigkeit und des fruchtlosen Liberalismus forderte er, dass das gesamte geistige Schaffen »unter dem Blickpunkt der Ewigkeit« zu stehen habe. Dieses Postulat stellte er bereits im Jahre 1882 in seiner Habilitationsschrift »Der Selbstmord als soziale Massenerscheinung der modernen Zivilisation« auf.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Bildherkunft:
  • Description: Tomáš Garrigue Masaryk – first president of Czechoslovakia on his stopover in Tábor on his return journey to Prague by train.
  • Photographer: Josef Jindrich Šechtl
  • Date: 21st December 1918

Der Selbstmord als soziale Massenerscheinung der modernen Zivilisation
Die gegenwärtige soziale Massenerscheinung des Selbstmordes ist die Folge des Zusammenbruches der einheitlichen Weltanschauung, wie sie das Christentum in allen zivilisierten Ländern bei den Massen konsequent zur Geltung gebracht hat. Der Kampf des freien Gedankens mit den positiven Religionen führt zur Irreligiosität der Massen; diese Irreligiosität aber bedeutet: intellektuelle und moralische Anarchie und — Tod. Die großen wissenschaftlichen Errungenschaften der Neuzeit drängen sich den Menschen gewaltsam auf; die meisten werden unvorbereitet mit der höheren Kultur bekannt, und es ist ein schon bekanntes soziologisches Gesetz, dass das zu rasche und unvermittelte Bekanntwerden mit einer höheren Kultur den Untergang der Unzivilisierten im Gefolge hat. Wie die niederen Rassen aussterben, wenn sie mit den höheren, d.h. zivilisierten in Berührung kommen, so stirbt auch in der zivilisierten Gesellschaft diejenige Schicht der Bevölkerung aus, welche die höhere Kultur unvermittelt erhält. Ganz besonders sind es aber die Großstädte, in denen dieser Prozess vor sich geht; denn diese verhalten sich mit ihrer überlegeneren Kultur zu der Landbevölkerung, wie z.B. die weiße Rasse in Amerika zu den dortigen Indianern. Die Selbstmörder sind die blutigen Opfer der Zivilisierung, die Opfer des Kulturkampfes.

Einen solchen Kampf macht mit der Zeit jedes Volk durch, und darum tritt auch der Selbstmord zu verschiedenen Zeiten mit besonderer Stärke auf. Bei allen Völkern kam bisher der Augenblick, wo die Religion ihre Macht über die Gemüter verloren hat, und immer tritt dann der Selbstmord als soziale Massenerscheinung auf. Die modernen Völker sind alle jetzt in diesem Stadium ihrer Entwicklung und auch bei ihnen zeigt sich dieselbe Erscheinung.

Es scheint, daß die Entwicklung der Menschheit durch aufeinanderfolgende Stadien des Glaubens und Unglaubens fortschreitet, wenigstens zeigt sich in ihrer bisherigen Entwicklung dieses Gesetz. Gewiß schwindet seit einigen Jahrhunderten auch die Macht der christlichen Volksreligion, und dieser Schwund erzeugt die allgemeine Unzufriedenheit und den Lebensüberdruß. Ob das Christentum ganz verschwinden und einer neuen Volksreligion Platz machen wird, oder ob es in neuer Gestalt die Gemüter wiederum und vielleicht dauernd befriedigen wird, darauf und auf ähnliche Fragen haben wir hier nicht zu antworten.

Enthalten in: Slavische Geisteswelt 3. West- und Südslavien, Mensch und Welt. (S.126-127)
Herausgegeben von St. Hafner, O. Turecek und C. Wytrzens, Holle Verlag