Fritz Mauthner (1849 - 1923)

  Deutsch-jüdischer Schriftsteller, Sprachkritiker und Philosoph, der in seiner schriftstellerischen Tätigkeit gerne seine zeitgenössischen Kollegen parodierte sowie Satiren und einige Romane schrieb. Als Philosoph vertrat Mauthner eine sprachkritische Auffassung, in der er den Wert der Sprache als geeignetes Erkenntnismittel in Zweifel zieht. Seine religionskritischen Betrachtungen münden - wie er selbst sagt - in einer »gottlosen Mystik«. Das von ihm verfasste »Wörterbuch der Philosophie« enthält sehr eigenwillige Begriffsbildungen und Perspektiven, die im Wesentlichen seine subjektive Ortung widerspiegeln . . .

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nhaltsverzeichnis
Drei Sprachbilder der Einen Welt

Wörterbuch der Philosophie
Gott, Sprachliche Herkunft der Wörter Götze und Gott, Gotteswort, Die Luther-Bibel,


Drei Sprachbilder der Einen Welt
Ich habe schon angedeutet, daß der Gottesbegriff es zuerst war, und in früher Jugend, was meine sprachliche Skepsis weckte, daß also meine geschichtliche Darstellung, von welcher unter dem Titel »Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande« die beiden ersten Bände bereits erschienen sind und der dritte sich im Drucke befindet, nur wieder ein weit ausholender Beitrag zu einer Kritik der Sprache war, genau so wie der Artikel »Christentum« in meinem »Wörterbuch der Philosophie«. Dieser selbe Begriff, der Gottesbegriff, regte mich wieder zuerst weiter auf, den letzten Rätseln der Sprachkritik nachzuspüren und, was ich zu ihrer Lösung etwa noch beitragen könnte, in einer Schrift »Die drei Bilder der Einen Welt« niederzulegen, die sich in Fragmenten unter meinem Nachlasse vorfinden wird, falls ich ihre Herausgabe nicht erleben sollte. Ich bin so alt geworden, dass ich vielleicht doch von dieser meiner letzten Arbeit an dieser Stelle reden darf.

Ich habe meine Vorstellung von den drei sprachlichen Bildern der Einen Welt vorläufig, d. h. sehr verbesserungsfähig, für mich und einige Freunde darzustellen gesucht in den drei Stücken meines »Wörterbuchs«, die in alphabetischer Folge eingefügt sind unter den Überschriften: adjektivische, substantivische, verbale Welt. Ich besitze auch heute noch für die Analyse meiner Vorstellung kein besseres Übungsbeispiel als den Gottesbegriff. Auf die Gefahr hin, eines Rückzugs verdächtigt zu werden, möchte ich an diesem Beispiele fassbarer machen, was ich unter den drei Bildern der Welt und unter der gottlosen Mystik verstehe, in welche meine Religionskritik ausläuft. Für die substantivische Welt ist es weniger eine Leugnung als eine Rettung, wenn ich den Gegenstand hinter dem Worte Gott zu den Erscheinungen rechne, die nicht wirklich sind. Wie das Feuer, wie das Eisen. Wir leugnen ja auch das Feuer nicht, weil es nicht wirklich ist, nicht außer und neben den Sinneseindrücken ist, deren Gesamtheit wir Feuer nennen; wir werden das Dasein des Eisens nicht leugnen, wenn wir dereinst dazu gelangen sollten, alle Sinneseindrücke eines Eisenstücks als Bewegungen, Verhältnisse, Wirkungen u. dgl., von Atomen, Energien u. dgl. zu begreifen. Aber nicht nur Götter und Geister sind Mythen, auch die scheinbar wohlbekannten Kräfte der Physik und der Biologie, ja auch die Dinge selbst sind nur Symbole, unter denen wir die mythologischen Ursachen adjektivischer Wirkungen sprachlich zusammenfassen. Die substantivische Welt ist die unwirkliche Welt des Raums, die Welt des Seins, bei welcher wir von dem Werden in der Zeit willkürlich absehen. Die Lehre von der Unwirklichkeit des Seins ist ja uralt. »Alles fließt«.

Der Wirklichkeit scheint nur das adjektivische Bild der Welt zu entsprechen, die sensualistische Weltanschauung. Alle unsere Sinneseindrücke, aber auch alle unsere seelischen Empfindungen und unsere ursprünglichen Werturteile sind adjektivischer Art. Nur dass das Adjektiv, in der Geschichte der Vernunft der älteste Redeteil, in der Geschichte der Grammatik einer der jüngsten ist. Was die Sinnesorgane uns von der Welt bieten, das ist — wenn ich den Ausdruck vom Gesichtssinn weiter ausdehnen darf — pointilliert. Nicht einmal einen Apfel nehmen wir wahr, neben und außer seinen Eigenschaften. Ein unwiderstehlicher Instinkt zwingt uns aber, an das mythische, das mystische Symbol adjektivischer Wirkungen als an einen Gegenstand zu glauben, einen Apfel zu sehen, — was man so Sehen nennt. Man vergesse jedoch nicht, dass auch die adjektivische Welt nicht in den Niederungen des materialistischen Sensualismus stecken zu bleiben braucht; der Idealismus, zu dem der mystische Instinkt, der substantivische, sich in außerordentlichen Menschen steigern kann, wandelt die normalen Täuschungen der adjektivischen Welt in die schönen Täuschungen der Kunst.

Nun sind aber auch unsere Sinne geworden, durch den Zufall der Entwicklung geworden; wie also die scheinbaren Dinge draußen nur Symbole von Sinneswirkungen sind, so sind auch diese Sinneswirkungen wieder nur Symbole von einer unbekannten Wirklichkeit, von irgendwelchen Bewegungen, die in der Zeit stattfinden. Begreifen können wir die Welt weder in dem was wir von ihr durch die Sinne erfahren, noch in ihrem vermeintlichen Sein, sondern allein in ihrem Werden. Im Geschehen. Nur dass es um das »Begreifen« eine eigene Sache ist. Die verbale Welt ist ja die Welt unserer wissenschaftlichen Erklärungen; wir wissen aber (seit Kirchhoff), dass sogar die Naturwissenschaften die Erscheinungen beschreiben, nicht erklären können wir wissen nur durch die Kritik der Sprache, dass der Redeteil der Verben, der Zeitwörter ursprünglich eine menschliche Absicht voraussetzte, daß die Zeitwörter des Zustandes — das substantivische »Sein« etwa ausgenommen — nach der Analogie der Zweckverben gebildet worden sind, dass die Zeit nur eine Bedingung des Werdens ist, nicht eine Ursache.

Meine drei Bilder der Welt sind nur sprachkritisch zu verstehen und sollen nicht erinnern: weder an den Dreitakt Hegels, der die Bewegung der Ideen in Thesis, Antithesis und Synthesis ontologisch, metaphysisch verstand, noch an die Dreistufigkeit Comtes, der allerdings in der theologischen, metaphysischen und positivistischen Weltbetrachtung ungefähr wenigstens die substantivischen und verbalen Bilder meinte, seine drei Stufen jedoch für eine notwendige historische Folge ansah, nicht für drei Gesichtspunkte, die einander zu Hilfe kommen müssen, wie ein Punkt im Raume durch drei gleichzeitige Koordinaten bestimmt wird. Wäre es möglich oder doch mitteilbar, für jedes der drei Bilder der Welt eine besondere künstliche Sprache zu erfinden, eine rein substantivische, eine rein adjektivische und eine rein verbale Sprache, dann würde ganz deutlich werden, dass wir die drei Gesichtspunkte zu einem ähnlichen Bilde der Wirklichkeit nur vereinigen könnten, wenn wir in einer vierten Sprache den gesamten Wortschatz der drei künstlichen Sprachen beisammen hätten; aber eine solche Übersprache ist ebensowenig vorstellbar wie die mathematisch denkbare und formelhaft benutzbare, niemals aber vorstellbare vierte Koordinate, die der Zeit. Die Natur ist uns stumm, weil wir die Übersprache nicht verstehen können, die die Natur allein besitzt.

Wir haben von Trendelenburg gelernt, dass die Kategorienlehre des Aristoteleswie ich es ausdrücken möchte — nur eine Analyse des einfachen griechischen Satzes ist; er hat eine werdende Grammatik logisch gedeutet und seine Hauptkategorien entsprechen den Redeteilen Substantiv, Adjektiv und Verbum. So durfte ich die drei Bilder der Einen Welt mit dem uralten Worte Kategorien bezeichnen, auf deutsch: Aussage-Möglichkeiten, kürzer: Aussäglichkeiten. Meine Sprachkritik unterscheidet sich darin von den meisten andern Weltbetrachtungen, daß diese insofern immer rationalistisch, vernünftelnd waren, als sie gewissermaßen die sittliche Forderung aufstellten, menschliches Denken oder Sprechen müsse der Natur entsprechen, müsse ein ähnliches Bild der Natur zeichnen können. Die Resignation der Sprachkritik ist in diesem Sinne nicht rationalistisch. Übrigens hat Kant schon einmal gesagt, Aristoteles habe seine zehn Kategorien »zusammengerafft«; und Laurentius Valla hat im 15. Jahrhundert die Zahl der Kategorien auf die drei beschränkt, die genau mit meinen drei Bildern zusammenfallen: substantia, qualitas, actio. Valla hat sehr gut gesehen, dass Aristoteles bereits den logischen Fehler begangen hatte, die erste seiner Kategorien, die des Seins, höher zu bewerten als die andern; alle spätern Aufsteller neuer Kategorientafeln sind in den gleichen Fehler verfallen und Valla selbst hat ihn nicht ganz vermieden. Da darf ich mich wenigstens rühmen, dass meine drei Aussäglichkeiten es gar nicht gestatten, einen solchen Fehler zu begehen; es hängt von der Richtung der Aufmerksamkeit ab, es ist relativ, ob man die Welt oder auch nur einen Ausschnitt aus der Welt als adjektivisch, als substantivisch oder als verbal betrachten will, ob man z. B. den Wärmebegriff als Bezeichnung für eine Empfindung, für eine geheimnisvolle Energieart oder für eine Ursache-Wirkung auffassen will.

Freilich sind die drei Gesichtspunkte der Weltbetrachtung schon vorher ausgezeichnet worden, doch nicht von einer einzelnen Philosophie, vielmehr von Denkrichtungen sehr verschiedener Art.

Die adjektivische Welt ist die Welt der menschlichen Gemeinsprachen, die Welt des naiven Materialismus, der die Einseitigkeit lehrt, es sei nichts im Denken, was nicht vorher in den Sinnen gewesen sei. Die Gemeinsprachen sind darum wesentlich materialistisch und wären unerträglich, wenn sie nicht, eigentlich inkonsequent, auch substantivische (mystische) und verbale (wissenschaftliche) Begriffe aufgenommen hätten. In einem gewissen Sinne könnte man diese nichtadjektivischen Begriffe, weil sie über die Sinnesdaten hinausgehen, doch übersinnlich nennen.

Die substantivische Welt ist, so angesehen, die Welt der Metaphysik. Das metaphysische Bedürfnis der Menschen hat diese Welt eben schon in die Alltagssprache eingeführt, durch die unzähligen Dingwörter; aber der philosophische Bearbeiter dieser substantivischen Welt war erst Platon, mit seiner Ideenlehre, die ursprünglich gewiss nicht nur hohe Ideen annahm, sondern alle Einzeldinge als (adjektivische) Erscheinungen aus ihren Ideen hervorgehen ließ. Die Verwirrung, mit welcher Kant mehr als 2000 Jahre später eine Idee (das Ding an sich) zur Ursache der Erscheinung machte, also die verbale Welt zu Hilfe rief, findet sich schon bei Platon vorgebildet; nur hätte man diese Verwirrung nicht einen Fehler nennen sollen.

Die verbale Welt ist die Welt der Wissenschaft, als Ahnung schon bei den Griechen vorhanden (Herakleitos), seit der Renaissance in überzeugender Annäherung an das begriffen, was man Naturerkenntnis nennt. Eine Annäherung an die Wahrheit, die selbst unerreichbar bleibt, weil sie ja — das Wort sagt es — der mythologischen oder metaphysischen Welt angehört. Da gibt es kein Sein, da gibt es nur ein Werden. Niemand kann zweimal in denselben Flu
ss hinabsteigen; denn es gibt weder einen bleibenden Fluss noch einen bleibenden Menschen.

Erkenntnis besäßen wir etwa, wenn wir die drei Gesichtspunkte vereinigen könnten; was wir ausdenken aber nicht ausführen können. Immer erblicken wir nur das Feuer entweder als eine Empfindung oder als die Summe von Empfindungen oder als eine Ursache von Wirkungen. Die Vereinigung der drei Bilder, die Deckung ihrer drei Bildsprachen, ist nur eine Sehnsucht. Wie bei der sogenannten Photographie in natürlichen Farben drei Bilder, die durch Lichtfilter hergestellt worden sind, zur Deckung gebracht werden und annähernd die natürlichen Farben treffen. Doch sowohl die Lichtfilter als die chemischen Farben für das Druckverfahren werden nach dem zufälligen Farbensinne einzelner Menschen ausgewählt. So sind auch die Filter des menschlichen Verstandes und die Sphären der gebrauchten Sprachworte nicht übermenschlich genug, um jemals eine Deckung der drei Bildersprachen zu ermöglichen. Die drei Bilder der Welt sind, alle drei, hoministisch; für das Bild der Welt, das eine ähnliche, ist unser Gesicht, ist unsere Sprache nicht geeignet. Der Übermensch ist eine Sehnsucht, kann also nie wirklich sein.
S.18ff.
Aus: Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Herausgegeben von Dr. Raymund Schmidt. Dritter Band: G. Heymans / Wilhelm Jerusalem / Götz Martius / Fritz Mauthner / August Messer / Julius Schultz / Ferdinand Tönnies. Leipzig / Verlag von Felix Meiner / 1922


Wörterbuch der Philosophie
Gott
»Wenn Gott nicht existierte, man müßte ihn erfinden.« So wird oft gesagt. Man müßte? Soll heißen: man sollte. Aus höchsten moralischen Gründen. Aus Gründen der Moral, die auf Befehle des existierenden oder erfundenen Gottes zurückgeht. Wirklich mußte man ihn erfinden. Aber nicht, weil man sollte, sondern nach der Natur der Menschen und ihrer Sprache. Man mußte Gott erfinden heißt also: man hat ihn erfunden, notwendig. Der Sinn des berühmten Satzes ist also: weil Gott nicht existiert, darum haben ihn die Menschen nach ihrer Natur erfunden.

Gott, der Gott unsres Wörtervorrats, der einige oder einzige Gott des christlichen Abendlandes, ist nicht als ein Allgemeinbegriff der vorgestellten Wesen zu fassen, die bei den Heiden Götter hießen. Die Götter waren nach dem Bilde des Menschen gedacht. (Nicht erst Feuerbach hat diesen parodistischen Gedanken ausgesprochen; ich finde ihn schon in der »Götterlehre« von K. Ph. Moritz [3. Ausg. S. 22]: »Den Göttern selber konnte die Phantasie keine höhere Bildung als die Menschenbildung beilegen.«)

So waren sie wenigstens Bilder, Bilder einer reichen, jungen, schönen Phantasie. Der einige Gott ist ein Wort bloß, ein mühsam konstruiertes Wort, ohne Bild, seinen Inhalt darzustellen. Alle Versuche, diesen Gottvater bildhaft zu sehen, sind heidnisch. Der Protestantismus mit seiner Bilderstürmerei ist nur konsequent gewesen.

Will man diesen abstrusen Gottesbegriff zur Vergleichung mit andern Begriffen zusammenstellen, so ergibt sich die Schwierigkeit: Worte von ähnlicher Nonsensität und doch ähnlicher historischer Macht aufzufinden. Der Stein der Weisen war nie, und dennoch wurden ihm Wunderkräfte beigelegt. Aber der Stein der Weisen war nicht nur Menschenglaube, sondern auch sonst, real, so wie er von einem Betrüger hergestellt und verkauft wurde, Menschenwerk.

Ich vergleiche den Gott lieber mit dem Phlogiston der Chemie. Gegen hundert Jahre, vom Ende des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, haben die Theologen der Chemie und mit ihnen die Welt an dieses Wort geglaubt, das die Verbrennung der Körper, also die Wärme, also die Herkunft der wichtigsten irdischen Kraft erklären sollte. Heute wissen wir: Bleioxyd ist Blei und noch etwas, Pb + O. Damals lehrte man, gegen den Augenschein - da man das höhere Gewicht des Bleioxyds schon beobachtet hatte -: Blei ist Bleikalk und noch etwas, Blei ist Bleikalk (Bleioxyd) + Phlogiston. Etwas, was gar nicht auf der Welt war, sollte die Ursache dessen sein, was da war. Wie Phlogiston in alle Metalle hineingedacht wurde, so der Gott in alle Geschehnisse: der Zufall wird zur Geschichte durch Gottes Vorsehung, Rache am Verbrecher wird zur Strafe durch Gottes Gerechtigkeit, die Aussage wird zum Eide durch Gottes Anrufung.

Der berüchtigte ontologische Beweis für das Dasein Gottes ist nur ein Fall unter vielen; die Gewohnheit der Menschen, Scheinbegriffe zu gebrauchen, lässt deren Existenz mitvorstellen. Das hat schon Oldenburg in einem Briefe an Spinoza (III, vom 27. Sept. 1661) hübsch ausgesprochen: »Glauben Sie, klar und zweifellos aus ihrer eigenen Definition von Gott beweisen zu können, daß ein solches Ens existiere? Ich freilich denke, daß Definitionen einzig und allein Begriffe unsres Kopfes enthalten; daß aber unser Kopf vieles begreift, was nicht existiert, und äußerst fruchtbar ist in der Vermehrung und Steigerung der einmal begriffenen Dinge: also kann ich nicht einsehen, wie ich von meinem Gottesbegriff zur Existenz Gottes kommen soll.«

Die ehrenwerte Bemühung des Deismus, auf seine Weise dem Ruhebedürfnisse der Menschheit zu dienen und den regressus in infinitum zu vermeiden, hat zur Anerkennung eines Gottes geführt, mit dem das freie Denken auskommen zu können glaubte. Gott ist die Antwort auf die schönste und kindlichste Frage, auf das ewige Warum und das Warum des Warum. Gott ist also die letzte Ursache. Nur daß Subjekt und Prädikat dieses Urteils gleicherweise Anthropomorphismen sind. Der Gottesbegriff ist freilich auch in der fetischbildenden Volksvorstellung eine Antwort auf die alte kindliche Frage; aber dieser alte Gott ist nach dem Bilde des Menschen geschaffen. Und Hume hat die kühnste Lehre zu erweisen versucht, dass nämlich auch der Ursachbegriff eine Art Personifikation der Zeitfolge ist. Ich weiß nicht, was bei solchen Vorstellungen noch von dem deistischen Urteile übrig bleibt: Gott sei die letzte Ursache.

Sprachliche Herkunft der Wörter Götze und Gott
»Man hat denjenigen für einen Erzprahler zu halten, der da sagt, er wisse, wo alle unsre Wörter herkommen.« Dieser besonnene Satz des alten Frisch sollte vor jeder etymologischen Untersuchung beachtet werden. Auch unsre Zeit, die in der Etymologie wieder einmal zu einem Gipfel gelangt ist, prahlt, wenn sie ihre etymologischen Hypothesen mit Sicherheit aufstellt. Ich will ganz bescheiden eine kleine Vermutung über die Herkunft der Wörter Götze und Gott mitteilen.

Unsre Fachgelehrten haben sich nicht geeinigt. Es lag immer nahe, das Wort Götze als ein verächtliches Diminutiv (Schmälerung, Verringerung) von Gott aufzufassen und es mit Deunculus aus dem mittleren Latein zu vergleichen, das aber bei Du Gange nicht zu finden ist. Schon Frisch und nach ihm Adelung leiteten Götze von gießen, ahd. giozan ab; das Wort sollte ein gegossenes und später jedes künstlich hergestellte Bild bezeichnet haben. Die gegenwärtige Sprachwissenschaft brachte das Wort weiter mit dem griechischen Stamme chy (cheô usw.), ferner mit der Sanskritwurzel hu (opfern) in Zusammenhang. Kluge macht zu der Herleitung Gußbild ein kleines Fragezeichen und neigt dazu, Götze für eine Kurzform von Götterbild zu halten, so wie Götz und Spatz als Koseformen von Gottfried und Sperling (mhd. Spar) zu verstehen sind. H. Paul lehnt in der II. Aufl. seines Wörterbuches beide Herleitungen entschieden ab; jedenfalls sei die Ableitung aus gießen zurückzuweisen. Aber Paul weist doch darauf hin, daß Götze früher überhaupt für ein Bildwerk gebraucht wurde, noch bei Luther prägnant für ein Götzenbild (»die Götzen ihrer Götter«).

Da das Wort eigentlich ein christenkirchlicher Begriff ist und ursprünglich genau das bedeutet, was wir heute mit äußerster Verachtung einen Fetisch nennen, so ist es mit einiger Wahrscheinlichkeit nur aus der Wortgeschichte der Bibel zu erklären. Und da scheint mir ein Zwischenglied übersehen worden zu sein, das griechische Wort chôneuein, gießen, aus geschmolzenem Metall bilden, mit seiner reichen Familie; chôneuton, chôneuma hieß das Gegossene, das Gußbild.

Die Griechen besaßen aus alter Zeit für die Nachbildung oder das Bildchen eines Gegenstandes das Wort eidôlon von eidos Bild; unser Idol; bei Homeros steht dieses eidôlon schon für künstlerische Gebilde, aber besonders häufig für die Schattenbilder der Toten. Im Sinne eines Gespenstes, der aus dem Seelenkult hervorging, ging das Lehnwort idolum und die freie Lehnübersetzung spectrum in die lateinische Gelehrtensprache über; beide Worte wurden seit den Stoikern auch zu einem Terminus für die Bildchen in der Seele, die Vorstellungen. Mit eidôlon, aber auch mit chôneuton übersetzten die Verfasser der Septuaginta und die Kirchenschriftsteller die hebräischen Ausdrücke, in denen den Juden die Herstellung von Götterbildern verboten worden war.

Die Vulgata und Augustinus haben dafür sculptile et conflatile; conflatile von conflare, zusammenblasen, anfachen, schmelzen, gießen. Mir scheint nun, daß der Weg über chôneuton und conflatile zu Götze etymologisch gangbar ist. Nun vergleiche man Luthers Übersetzung mit der Vulgata: non facies tibi sculptile neque omnem similitudinem (II, 20, 4.), du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen; non facietis vobis idolum et sculptile, nec titulos erigetis, nec insignem lapidem ponetis in terra vestra, ut adoretis eum (III, 26, I), ihr sollt euch keinen Götzen machen, noch Bilde, und sollt auch keine Säule aufrichten, noch keinen Malstein setzen in eurem Lande, daß ihr darvor anbetet; non vidistis aliquam similitudinem in die qua locutus est vobis Dominus in Horeb, de medio ignis, ne forte decepti faciatis vobis sculptam similitudinem aut imaginem masculi vel feminae (V, 4, 15), denn ihr habet kein Gleichnis gesehen des Tages, da der Herr mit euch redete... auf daß ihr euch nicht verderbet und machet euch irgendein Bild, das gleich sei einem Manne oder Weibe; maledictus homo, qui facit sculptile et conflatile, abominationem Domini, opus manuum artificum, ponetque illud in abscondito (V, 27, 15), verflucht sei, wer einen Götzen oder gegossen Bild machet, einen Greuel des Herrn, ein Werk der Werkmeister Hände, und setzet es verborgen.

Das hebräische Wort, das überall steht, [...], wird von Fürst erklärt: »Bild, das entweder aus Holz geschnitzt oder aus Stein gemeißelt ist, seltener von einem Gußbilde.« Daß die Bedeutung sich mit dem Fortschreiten der Technik wandelte, daß das Wort zuerst Schnitzerei, dann Erzguß bezeichnete, kann natürlich nicht auffallen; Feder bedeutet jetzt ganz vulgär die Metallfeder; und am Ende hat Skulptur, das jetzt jedes plastische Werk bedeutet, die gleiche Entwicklung durchgemacht. Ich wollte auch hier auf die merkwürdig stetige Reihe von Lehnübersetzungen hinweisen: [...], chôneuton, Götze; wenigstens scheint mir sicher, daß Luther, im letzten der zitierten Beispiele, da er sculptile et conflatile mit Götze oder gegossen Bild übersetzte, ausdrücklich auf die Gleichheit der beiden Ausdrücke hinweisen wollte. Und mir ist gewiß, daß wir es da nicht bloß mit einer gelehrten Volksetymologie zu tun haben, daß Götze doch nur eine dritte Lehnübersetzung des Bibelwortes für Bildnis ist.

Nicht behaupten, aber fragen möchte ich: warum sollte Gott nicht das gleiche Wort sein? Man achte besonders darauf, daß die alte nordische und gotische Form des Wortes (gud und gub) trotz der maskulinischen Verwendung neutral war, etwa das Gegossene. »Das Wort guþ, welches der Form nach Neutrum ist, wird für den Christengott als Maskulinum gebraucht. Dagegen für die heidnischen Götter ist der neutrale Plural guda noch im Gebrauch.« (Braune, Gotische Gramm. S. 35.) Wir hätten dann nicht Götze in Bedeutung und Form aus Gott abzuleiten, sondern umgekehrt Gott aus Götze. Götze wäre als das Gegossene der gemeinsame Ausdruck gewesen. Und nur der Form nach wäre Gott aus Götze abzuleiten. Wenn man einen Bedeutungswandel dabei anerkennt (wie bei der Herleitung des abschätzigen Götze aus dem heiligen Gott), so scheint mir das schon christelnden Hochmut zu verraten. Denn einen ernsthaften Unterschied der Bedeutung kann ich nicht wahrnehmen. Gott wäre die sächsische Form zu Götze (Witze und wit, Schütze und shoot, nütze und ags. nyttu). Wäre es nicht möglich, daß heidnische Sachsen den Crucifixus, welchen die südwestlichen Germanen schon verehrten, in ihrer Verstocktheit das Gott, das Gegossene genannt hätten? Daß der Name nach der Bekehrung blieb, während die ältere, südwestgermanische Form Götze als Übersetzung des biblischen sculptile et conflatile auf die nichtchristlichen Götter eingeschränkt wurde? Wäre es gar so unerhört, daß das Wort einmal Gottesdienst, den Kultus des richtigen Gottes, das andre Mal Götzendienst, den Kultus des falschen Gottes, bedeutete? Schlicht und schlecht ist nur eines von vielen Beispielen, die sich beibringen ließen.

Unsrer dogmatischen Sprachwissenschaft liegt es näher, Gott mit einer Sanskritwurzel in Zusammenhang zu bringen, als mit dem deutschen Worte Götze. Man knüpft an sansk. hu an, die Wurzel für opfern, anrufen, und gibt zwei verschiedene Etymologien, als ob nicht offenbar opfern und anrufen nur zwei verschiedene Übersetzungen oder Kulturstufen der gleichen Handlung wären. Gott (sansk. huta, got. guþa) soll danach heißen: der viel angerufen wird, dem viel geopfert wird. Nach meiner Vermutung wäre die letzte Erklärung nur grammatisch zu ändern; nicht dem viel gegossen wird, sondern der Gegossene.
(Ich wage noch - ohne zu einer Vermutung zu gelangen - an gueuse zu erinnern, ein französisches Wort, das bei Littré und Diez von gueux etymologisch separiert wird, und das einen gegossenen Metallklotz bedeutet; es wäre fast zu hübsch, wenn dieses gueuse am Ende doch mit gueux, unbekannter Herkunft, zusammenhinge, das jetzt Lump geworden ist.)

Bei allen diesen Zusammenhängen könnte man höchstens darüber staunen, daß die Menschen nicht früher schon den kindlichen Unverstand einsahen, der sie die eigenen Götzen oder Bilder knechtisch verehren, die fremden Götzen oder Bilder mit äußerstem Hochmut verachten ließ. Warum sollten die heidnischen Sachsen den bildlich sichtbaren Gott der Franken und Alemannen nicht einen Götzen geheißen haben, da doch christliche Kirchenväter es wagten, die menschlich schönen Kultbilder der Griechen Götzen zu nennen? Hier wie dort auf der einen Seite Glaube, auf der andern Seite Unglaube. Für den Gläubigen ist der Fetisch Bild und Sitz des wunderwirkenden Gottes; für den Ungläubigen ist das Gottesbild eine abominatio, ein Fetisch. Wenn die allgemein angenommene Etymologie richtig ist, so wendeten die Portugiesen ja ihr Wort feitiço (von facticius künstlich, vielleicht auch schon: von Zauberkunst stammend) auf die (für sie) lächerlichen und wundertätigen Puppen, Tiere und Gerätschaften an, die sie bei den Negern der Westküste als Gegenstände der Verehrung vorfanden. Das Wort (Fetisch, fetiscio, fétiche, fetish) ist dem gemeinsamen Hochmut der christlichen Völker gemein.

Wir müssen von dem verschiedenen Stimmungswert, mit dem zweitausendjährige Christengewohnheit uns die Worte Gottesdienst und Götzendienst trennen läßt, absehen; wir müssen völlig durchdrungen sein davon, daß das gleiche Ding dem einen Gott und dem andern Götze sein kann, wenn wir uns von der Tyrannei dieser Wortwerte befreien wollen. Wollen wir Ernst machen mit einer vergleichenden Religionswissenschaft, so haben wir zu einer Unterscheidung zwischen Gott und Götze kein Recht mehr; wir wollten denn das grobsinnliche Bild, von dem der Gläubige wunderbare Hilfe erwartet, einen Götzen, den abstrakten, geläuterten Gottesbegriff, dessen Wunder und Hilfe der Gläubige mit Worten anruft, Gott nennen. Und weil die Bezeichnung Götze durch christlichen Hochmut im Mittelalter den immerhin humanen und ganz und gar nicht widerwärtigen antiken Göttern angeworfen worden war, brauchte die Neuzeit für die gröbstsinnlichen Götzen der Naturvölker ein neues Wort und sagte Fetisch. Zwischen dem Fetisch der Neger und den Götzenbildern der Griechen ist natürlich ein ästhetischer Unterschied. Kein so großer Unterschied besteht zwischen dem Fetisch des Negers und (in der Vorstellung des gemeinen Mannes) den alten Kultrequisiten der Christen. Dem abendländischen Forschungsreisenden mag der Fetisch ein Gelächter oder eine Scham sein. Dem katholischen Missionar sollte der hausgemachte Gott, der mobile Gott vertrauter sein. Die Neger haben ihre Leichenteile in Fetischhütten wie in Reliquienschreinen. Ihre Priester benützen die Fetischhütten als Opferstock. Die Neger haben für Krieg und Krankheit, für Trank und Geburt Spezialfetische, wie es im Katholizismus Spezialheilige gibt, deren Wunderkraft für das Volk, das aber von den Priestern selten eines bessern belehrt wird, am Bilde haftet.

Erwähnung verdient, daß auch bei den Negern Königtum und Gott, Thron und Altar fest aneinander geknüpft scheinen. Bei einigen Negerstämmen ist der König »ein lebendiges Kultgerät« (Lippert, Gesch. d. Priestertums I. 87). Der König wird wie ein Fetisch abgesetzt, wenn der Fisch oder der Regen ausbleibt.
Von protestantischen Freigeistern ist oft und hart darauf hingewiesen worden, daß das Allerheiligste des Katholizismus völlig der Definition des Fetisch entspricht. Kein Zweifel, daß diese Protestanten recht haben. Nur vergessen sie selbstgerecht, daß das Wunder nicht an der Substanz der Hostie haftet, sondern erst durch das sakrale Wort, das der geweihte Priester spricht, geschaffen wird. (Die sakralen Worte, welche die Wandlung bewirken, dürfen nicht einmal in populären Erklärungen zum Meßtexte übersetzt werden; so eng haftet der Zauber an den lateinischen Worten hoc est enim corpus meum usw.; die katholische Kirche und Papst Alexander VII., der durch Dekret vom 12. Jan. 1661 die Übersetzung verboten, haben wohl nicht bedacht, daß das Neue Testament die Zauberworte in griechischer Sprache anführt, daß sie also ihre Kraft schon durch die lateinische Übersetzung der Vulgata verloren haben müßten.) Der Protestant, der also in der Substanz einen Fetisch sieht, wo er in der Wandlung einen Wortfetisch sehen sollte, will nicht bemerken, daß er den Worten der Bibel, beileibe nicht den lateinischen Worten, sondern dem hl. Texte Luthers, ebensolche Zauberkraft zuschreibt: Wahrsagekraft bei den immer noch üblichen Nadelproben, wunderbare Hilfe beim Gesundbeten und (wenn der Protestant ganz modern und aufgeklärt ist) wenigstens Trost in Widerwärtigkeiten. Leistet ihm der Wortfetisch nicht einmal diesen Dienst mehr, dann dürfte der Protestant wohl kein Recht haben, sich noch einen gläubigen Christen zu nennen. Die Protestanten waren es, die für ihren Priester, den gonga der Fetischneger, sicherlich ohne den Humor zu empfinden, die Bezeichnung »Diener am Wort« gefunden haben.

Da ich so, von außerhalb, über Wortheiligtümer spreche, die vielen guten Abendländern wert sind, habe ich vielleicht die Pflicht, mit einigen Worten meine Stellung zur religiösen Frage zu präzisieren. Ich schicke voraus, daß ich Gretchens Frage: »Nun sag, wie hast du's mit der Religion?« nicht für so wichtig halte, wie sie traditionell, nach jahrhundertlanger Katechisation, genommen zu werden pflegt. Es gibt wichtigere Fragen. Ob es eine Entwicklung oder einen Fortschritt gibt? Ob Erkenntnis durch Sprache möglich ist? Ob überhaupt etwas wie Ordnung in der Natur vorhanden ist? Das ob ist die Frage. Wir suchen Entwicklung, Erkenntnis, Ordnung. Wenn wir eins davon gefunden hätten, dann wäre noch lange nicht nach dem Urheber der Entwicklung, der Erkenntnismöglichkeit, der Ordnung zu fragen. Die Menschen haben von jeher die Neigung gehabt, die letzten Fragen zuerst zu beantworten, die letzte Ursache zuerst entdecken zu wollen. Und so haben sie lange vor jeder Naturforschung schon das Wort Gott oder so ähnlich als letzte Antwort gebrauchen gelernt. Wie das Wort Seele. Wie das Wort Phlogiston. Wenn die Menschen gewartet hätten, so besäßen sie heute das Wort Gott nicht und ich hätte nicht nötig, mein Verhältnis zu einem Worte zu präzisieren, das ich nicht verstehe.

Ich will aber durch Berufung auf meinen sprachkritischen Standpunkt nicht auszuweichen scheinen. Ich nehme ja doch instinktiv eine bestimmte Stellung zu diesem unverstandenen Worte ein. Ich verstehe es nicht nur nicht; ich glaube auch, daß es keinen Sinn hat. Ich glaube, daß der alte Judengott nebst seiner Übersetzung ins Christentum ein totes Symbol geworden ist, ein totes Wort. Die Physik hat dem Judengott seine Substanz genommen, die Naturgeschichte seinen Ursachcharakter, die Astronomie den Ort, auf welchem stehend er die Erde bewegen könnte. Der Atheismus, rein als Negation des Gottesbegriffs genommen, ist wirklich auf einer gewissen Stufe des Wissens die einzige anständige Weltanschauung. Nur einbilden soll man sich nichts auf diese Weltanschauung. Andre Fragen sind wichtiger, wie gesagt. Nicht einmal tapfer ist es mehr, sich zu dieser kleinen Negation zu bekennen. Nur anständig wäre es für jeden geistigen Arbeiter. Und infam scheint es mir, daß unsre vom Staate angestellten Gelehrten, seltene Ausnahmen abgerechnet, das Bekenntnis zu dieser kleinen Negation vor der Öffentlichkeit scheuen, irgendein Wortkompromiß mit dem alten Judengott suchen. Infam scheint es mir und dumm dazu. Wenn alle deutschen Professoren, die es angeht, sich zu ihrem Atheismus bekennen würden, so könnte und wollte der Staat ihnen kein Haar krümmen; und wir hätten es nicht erlebt, daß ein so unbedeutender Kopf wie Haeckel, bloß um dieser einen Ehrlichkeit willen, zu einem Führer des jungen Deutschland gemacht worden ist, das schon seit Schopenhauer einfach atheistisch ist.

Der alte Judengott ist tot.
Aber auch der Materialismus, der ihn umbringen geholfen hat, liegt in den letzten Zügen.
Und das metaphysische Bedürfnis der Menschen, die ahnungslos in ihrem Materialismus ebenso metaphysisch waren wie in ihrem Gottglauben, ringt überall nach einem neuen Ausdruck für die alte Sehnsucht. Die armen Menschen suchen den Sinn der Welt, in die sie hineingestellt sind. Wer ein tiefes Gefühl für diese Sehnsucht hat und das Wort nicht findet, der flüchtet aus der Welt in die Mystik. Der Okkultismus, der gegenwärtig unter vielen Namen sich gebärdet, als ob er eine neue Religion und einen neuen Gott gebären wollte, ist doch nur die Mystik des dummen Kerls. Die großen Mystiker aus der Nachfolge Buddhas und Jesus‹ hatten den Sinn der Welt gefunden, in ihrem Gefühl, jeder für sich, nicht mitteilbar.

Wollte einer für dieses nicht mitteilbare Gefühl vom Sinne der Welt das tote Wort Gott wieder gebrauchen, so hätte die Sprache ja nichts dagegen. Ich liebe nur die Worte nicht, die keine mitteilbare Vorstellung ausdrücken können. Auch den großen Mystikern war Gott nur in ihrem Gefühl, unsagbar; wie sie ihn nannten, wurde er zum Götzen.

Der bescheidenen Ehrlichkeit, sich zu der einfachen Negation des Gottesbegriffs zu bekennen, zum Atheismus, zu dem Eingeständnis, daß man den Sinn des Wortes Gott nicht verstehe - dieser kleinen Tapferkeit steht der christliche Sprachgebrauch gegenüber, der das Epitheton gottlos nicht als schlichte Bezeichnung einer theoretischen Überzeugung gelten läßt, sondern eine praktische Disqualifikation mit dem Worte verbindet einen ähnlichen Makel wie mit dem
Worte ruchlos. Apologeten des Christentums berufen sich auf diesen Sprachgebrauch, der zwar nicht unter den Atheisten (das ginge nicht mehr gut seit Spinoza und Bayle), wohl aber unter den Gottlosen einen schlechten Menschen verstand.

Auf die Scheu vor der öffentlichen Meinung des Sprachgebrauchs mag manche Feigheit der Philosophen zurückzuführen sein. Manche feige Umgehung der Wahrheit. Auch der Atheismus hat seine Jesuiten gehabt: Sophisten für und gegen den Gottesbegriff. In jedem einzelnen Falle ist für die Zeit vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart sehr schwer zu entscheiden, ob der jeweilige Anwalt des Gottesbegriffs gläubig war oder ein feiger Heuchler. Auch dürfte man nicht vergessen, daß ein Wort, solange an der bezeichneten Sache nicht gezweifelt worden ist, wie die Sache selbst verteidigt zu werden pflegt; wird die Existenz der Sache geleugnet, so entbrennt ein erbitterter Kampf um das Wort allein. Ich habe vorhin unter den Worten, die so gegenstandslos geworden sind wie Gott, auch das alte Prinzip Phlogiston angeführt. Als dieses Phlogiston gegen Ende des 18. Jahrhunderts von Priestley und Lavoisier unter die Erdichtungen geworfen wurde, fand das Unding Phlogiston dennoch seine altgläubigen Anwälte. Und die, weil sie langsam oder dumm oder treu waren, pflegt man in der Geschichte der Naturwissenschaften doch auch nicht Heuchler zu nennen. Freilich, die Anwälte des Gottesbegriffs werden von Staat und Kirche gelohnt; und dennoch ist es in jedem einzelnen Falle sehr gewagt, von Unehrlichkeit zu sprechen, wo vielleicht nur Unklarheit vorlag.

Unklarheit bis zur völligen Konfusion möchte ich annehmen, wenn ich den kleinen Artikel Atheist (Gottesleugner) in Maimons »Philosophischem Wörterbuch« (S. 25) lese. Er scheint zu einem Keulenschlag gegen den Atheismus auszuholen, um nachher schärfste Kritik an dem landläufigen Gottesbegriff zu üben. »Sollte dieser (der Atheist) auch einen Platz in einem philosophischen Wörterbuche verdienen? Allerdings, aber nur, um auf ewig daraus verbannt zu werden.«

Das Wort bezeichne »etwas Unmögliches«, wie das Wort Hypogriph (so!). Denn nur der Leugner eines anthropomorphischen Gottes, eines falschen Gottes, sei möglich. Der Begriff des wahren Gottes, »eines unendlich vollkommenen Wesens«, enthalte keinen Widerspruch, könne also nicht geleugnet, d.h. als unmöglich verworfen werden. Eine Realität dieses Begriffs sei freilich nirgends anzutreffen, weil das Objekt dieses Begriffs, seinem Wesen nach, nicht Gegenstand der Wahrnehmung sein könne. Der Gottesbegriff sei also problematisch, wie eine mathematische Formel, solange man sie nicht konstruieren könne. Wer nun »keines Weges die Möglichkeit und das Dasein Gottes leugnet, sondern diese Annehmung nur für uns unerweislich hält«, der sei darum noch kein Atheist. Wenn einer lehrt, die Engel seien bärtig, der zweite, die Engel seien unbärtig, und nun ein dritter käme und sagte, die Engel seien so wenig bärtig als unbärtig, indem sie überhaupt keinen Körper hätten, so leugne er weder die Existenz noch die Nichtexistenz des Engelbartes. So Maimon, nachdem er den Atheismus für ewig aus der Philosophie zu verbannen versprochen hat. So ungefähr sagen das die schlimmsten Atheisten auch. Und dennoch glaube ich in diesem krassen Falle sogar nicht an eine Unehrlichkeit.

Bacon von Verulam
ist nicht unklar; aber der Vater der modernen Naturwissenschaft ist tiefsinnig bis zur theosophischen Grenze, und darum zögere ich auch bei ihm, die kleine Abhandlung »über den Atheismus« für Heuchelei zu erklären, Da findet sich der oft zitierte Satz: Verum est tamen, parum philosophiae naturalis homines inclinare in atheismum, at altiorem scientiam eos ad religionem circumagere. Sehr fein ist weiter der Gedanke: es gebe Atheisten, die eher Tod und Marter auf sich nähmen, als daß sie ihre Überzeugung verleugneten; das wäre doch wunderbar (monstri simile), wenn sie nicht an etwas wie einen Gott glaubten. (Die Sophisma besteht darin, daß Gott zum Urheber alles Guten, also auch der Glaubenstreue, gemacht wird.) Einen abscheulichen Vorwurf gegen die Gottlosen, die schlechten Menschen, enthält der Satz: Nemo Deos (sic!) non esse credit, nisi cui Deos non esse expedit. (Niemand leugnet das Dasein der Götter außer denen, denen die Nichtexistenz der Götter nützlich wäre.) Nun denn, ich möchte diesen Schimpf in einen hohem Sinn kehren und den Gedanken so aufnehmen: jawohl, wir modernen Menschen leugnen das Dasein Gottes, weil unsre Weltanschauung diese Leugnung nötig hat.

Wollte aber jemand diese Stelle der Sermones fideles, wie manch andre, für Heuchelworte des schlauen und wahrlich nicht heiligen Kanzlers ansprechen, so könnte ich nicht heftig protestieren. Bacon hat das prächtige Bild von den menschlichen Vorurteilen oder Gespenstern oder Idolen geschaffen, die seit jeher den Fortschritt der Erkenntnis gehindert haben; er spricht (vgl. Art. Bacons Gespensterlehre) von den Gespenstern oder Idolen des Stammes, der Höhle, des Marktes und des Theaters. Sollte es ihm entgangen sein, daß der Gottesbegriff zugleich ein Gespenst des Stammes, der Höhle, des Marktes und des Theaters ist? Das freilich konnte Bacon kaum für möglich halten, was uns jetzt am Ende klar geworden ist: daß Gott nur eine Übersetzung von Idol ist, daß wir für Idol oder Gespenst ebenso gut Götze oder Gott sagen könnten, daß Bacon recht gut strafend von den Göttern oder Götzen des Stammes, der Höhle, des Marktes und des Theaters hätte sprechen können. Gott ist das oberste, das allgemeinste, das unwahrste Idol. Ein Bild, zu dem kein Modell gesessen hat. Ein Idealbild meinetwegen.

Ein Wort jedenfalls. Götter sind Worte. Aus der Existenz des Wortes hat man wieder einmal auf die Existenz der Sache geschlossen, als ob der ontologische Beweis zu den Instinkten der redenden Menschen gehörte. Und mir fällt eine Wortfolge Luthers ein, die nicht etwa gedankenlos entstanden ist; sie steht vielmehr gleich im ersten Artikel der wohlüberlegten und fast diplomatisch stilisierten Augsburgischen Konfession. »Erstlich wird einträchtiglich gelehret und gehalten..., daß ein einig göttlich Wesen sei, welches genennet wird, und wahrhaftiglich ist, Gott.«

Gotteswort
Es ist schwer, ernst zu bleiben, wenn man den Begriff Gottes Wort untersuchen will. Wirklich: im Anfang war das Wort, und Gott war ein Wort. Götter sind Worte. Und diesem verstiegensten aller Worte, dem Gotte, hat insbesondre die Gruppe von Religionen, die wir die monotheistischen nennen, Worte in den anthropomorphen Mund gelegt, Menschenworte, Worte der Weisheit und der Unwissenheit, die da und dort lange Zeit nur das Ansehen besaßen, wie etwa die Bücher alter Schriftsteller, die aber jedesmal zu authentischen Worten Gottes gestempelt wurden, sobald Ketzerei an der Echtheit zu zweifeln begann.
Der Mensch mag auf das Tier hinuntersehen, soviel er will; ein Tier, das Gottes Wort zu besitzen behauptete, gibt es denn doch nicht in der sprachlosen Natur.

Seit etwa 2000 Jahren bemühen sich Juden und Christen, einen authentischen Text von Gottes Wort herzustellen; der Islam steht zu seinem Glücke etwas abseits, weil er unsre Philologie und ihre Anwendung auf die hl. Schrift nicht kennt. Fragen wir nun, was die Kirche unter authentisch versteht, so müssen wir natürlich von den Märchen absehen, mit denen die Gehirne unsrer armen Kinder entartet werden: von dem Finger Gottes, der nach dem Judenmärchen z.B. die zehn Gebote in die Tafeln eingedrückt hat, und von dem hl. Geist des Christenmärchens, der immer dabei war, wenn von Moses bis auf die Evangelisten ein Mann eines der Kanonbücher schrieb, der dabei war, wenn ein andrer Mann eines der Bücher übersetzte, der wieder in der Nähe war, wenn die Übersetzung übersetzt wurde, d.h. ins Lateinische, die offizielle Sprache der kath. Kirche.

Auf die neueren Sprachen ließ der hl. Geist sich nicht mehr ein. Was will es nun heißen, wenn das Konzil von Trient die Vulgata für authentisch erklärte? Wobei die groteske Tatsache nicht vergessen werden sollte, daß - wie wir alsbald erfahren werden - dieser authentische Text ja erst einige Jahrzehnte nach dieser Erklärung hergestellt wurde, daß also der hl. Geist die Männer des Konzils Textworte authentisieren ließ, die erst eine spätere Generation aus philologischen Gründen für die richtigen ansehen lernte. Auf dem Konzil war der vernünftige Antrag gestellt worden, zuerst die hebräischen und griechischen Originaltexte authentisch zu machen und dann auch authentische Übersetzungen in die neuen Nationalsprachen zu schaffen. Die Anträge gingen nicht durch. Man gestand sich ein, authentische, d.h. verbürgte Originaltexte nicht zu besitzen, und erklärte dennoch die gebräuchliche lateinische Übersetzung dieser ungeprüften Originale für authentisch. Was war das nun?

Seltsam genug bedeutet das Stammwort des Begriffs, authentês, auf dessen schwierige Etymologie ich nicht eingehen will, den Urheber nicht einer Schrift, sondern eines Mordes, gewissermaßen den eigenhändigen Mörder, dann wohl auch den Gewalthaber überhaupt, den gewalttätigen oder den unumschränkten Herrn. Wir werden kaum mehr erfahren, wie aus dieser Bedeutung heraus (authentia = Selbstherrschaft) das Adjektiv authentikos Griechischen, authenticus im Lateinischen zu dem Sinne: zuverlässig, verbürgt, eigenhändig, urschriftlich gelangte. Aber in diesem juristischen, gerichtsprozessualischen Sinne allein kann die Vulgata authentisch genannt worden sein. Wie der römische Richter eine behördlich für zuverlässig erklärte Kopie des Testaments als authentisch behandelte, falls das Original nicht beizutreiben war, so nannte die Kirche die alte lateinische Übersetzung der Bibel authentisch, weil sie sich ein Urteil über die hebräischen und griechischen Originale nicht zutraute. Übrigens stammt auch die übliche Bezeichnung der Bibel aus der Juristensprache; die alten Juden faßten das ihnen hinterlassene Wort Gottes als ihren Bund mit Gott auf, ihren Vertrag mit ihm, schwarz auf weiß; die Septuaginta übersetzte das hebräische Wort mit diathêkê, was dann lateinisch in wortwörtlicher Lehnübersetzung testamentum hieß; trotz des ganz andern Verhältnisses (Jesus Christus schloß keinen Vertrag, am wenigsten mit einem auserwählten Volke) wurde dieses Wort auf die Büchersammlung der Apostel und der Evangelisten angewendet, und so bekamen wir zu dem Alten ein Neues Testament.

Die kirchliche Authentisierung der Vulgata entsprach aber gerade ihrem juristischen Vorbilde sehr schlecht. Tausend Jahre lang hatte sich die Kirche wohl oder übel mit der Ungleichheit und Unzuverlässigkeit ihrer Bibelhandschriften abgefunden. Sie nahm aus lokalen Streitigkeiten niemals Veranlassung, entweder einen der alten Bibeltexte, den hebräischen, chaldäischen, syrischen, griechischen, oder eine der neuen Übersetzungen, die deutsche, die französische, die vlämische, für authentisch zu erklären. Erst als die Reformation daran ging, Gottes Wort ohne Mitwirkung des hl. Geistes zu deuten, wissenschaftlich, soweit Theologie Wissenschaft sein kann, philologisch, als die Reformation die Verwegenheit hatte, die relativ authentischen Texte, den hebräischen und den griechischen, philologisch zu Rate zu ziehen, da fuhr die Kirche mit ihrer Erklärung dazwischen: die sogenannte Vulgata, haec vetus et vulgata editio pro authentica habeatur.

Mit gewohnter Klugheit hat die römische Kirche, wie wir sehen werden, den Streit über diese Deklaration nicht austoben lassen, ohne den Begriff authentisch authentisch zu interpretieren. Von der einen Seite wurde behauptet, authentisch heiße soviel wie vom hl. Geiste inspiriert; von der andern Seite wurde gelehrt, die Erklärung hätte nur den Wert einer Approbation, die Feststellung des echten Vulgatatextes sei nach wie vor wissenschaftliches Menschenwerk, dem Wunder des hl. Geistes und der Infallibilität [Unfehlbarkeit] des Papstes entrückt. So konnte es kommen, daß heute, scheinbar ohne Widerspruch, den Schulkindern die Worte der Vulgata als verbürgte Worte Gottes eingebleut werden, daß aber katholische Gelehrte behaupten dürfen, die römische Kirche lasse der Bibelforschung und der Textkritik freie Hand. In Wahrheit ist die Vulgata auch für gute Katholiken nicht das authentische Wort Gottes, sondern nur das offizielle, an das man sich zu halten hat. Als ob ein Richter wüßte, daß er nicht das echte Testament vor sich habe, aus unjuristischen Gründen aber die Fälschung für authentisch erklärte.

Unglaublich wäre es, wenn nicht eine bekannte Tatsache, daß die römische Kirche es versucht hat, das Wort Gottes, das doch zur Erlösung der Menschheit da sein sollte, der lesenden Menschheit zu verbieten. Die Einschränkung des Bibelverbots auf solche Bibelübersetzungen, die nicht approbiert waren, stammt erst aus der ängstlichen Zeit der Kirche (1757); die alten Bibelverbote galten den Übersetzungen in die Volkssprachen überhaupt: im 11. Jahrhundert wurden den Böhmen, im 13. den Waldensern, im 14. den Wiglifianern ihre Übersetzungen verboten. Selbst der Besitz einer Bibelübersetzung war strafbar. Während des 30jährigen Krieges endlich wurde das Lesen der Bibel in einer Volkssprache generell verboten. Wer mir einwerfen wollte, daß ein solches kirchenpolitisches Verbot nichts zu tun habe mit dem Gange meiner Untersuchung, der mag bedenken, daß die Christen der ersten Jahrhunderte nichts hatten zum Tröste in der elenden Welt als Gottes Wort, keine Kirche, keinen Klerus, keine Dogmen (Kirche, Klerus, Dogmen im Sinne von heute), daß noch zur Zeit des hl. Hieronymus Erbauung einzig und allein aus dem Worte Gottes geschöpft werden konnte, daß es nachher die äußerste Frechheit der Worthändler war, der Christenheit die Worte nur noch in einer fremden Sprache zu reichen, wie uralte, unverständlich gewordene Zaubersprüche, die einzige Möglichkeit aber des Gebrauchs, die Übersetzung der alten Worte, zu verweigern.

Es ist nicht meines Amtes, hier wenigstens nicht, die Person der Dreieinigkeit zu kritisieren, die der hl. Geist heißt; wohl aber darf und muß ich auf die Frage eingehen, wie weit der hl. Geist nach der Kirchenlehre für den offiziellen Wortlaut des Gottesworts verantwortlich gemacht wird. Die Entscheidung über diese Frage hat das Urteil der Theologen über die Güte der lateinischen Übersetzung beeinflußt. Auf der mittleren Linie bewegen sich die Gelehrten, die die Sprache der Vulgata tadeln (Ludwig de Dieu: suos habet naevos, habet et suos barbarismos), die aber auch von der Übersetzung zugeben, daß sie nichts gegen den Glauben, nichts wider die guten Sitten enthalte. Päpstlicher als der Papst sind die Gelehrten, die (wie Morinus) den hl. Geist nicht nur für den Inhalt, sondern auch für die Form der lat. Übersetzung bemühen: vulgatam versionem theopneuston non sine gravibus argumentis existimamus.

Mit Rücksicht auf die größere oder geringere Wichtigkeit der Bibelstellen unterscheiden theologische Schriftsteller bei der Mitwirkung des hl. Geistes 3 Grade: die revelatio (Offenbarung), die inspiratio (Eingebung) und die assistentia (Beistand). Da die Inspiration, um die es sich besonders handelt, den Verfassern des Alten Testaments eher bewußt war als denen des Neuen, da die Inspiration überaus selten behauptet wird, so ist es doch wohl dem Irrtum unterworfene menschliche Ansicht, die über den Grad der Mitwirkung des hl. Geistes zu entscheiden hat. Die kompromittierende Lehre, daß man im Hinblick auf die vielen naturwissenschaftlichen und historischen Schnitzer der Bibel bei »natürlichen Dingen« nur von einer inspiratio concomitans reden solle, ist von der Kirche bereits zurückgewiesen worden. Da nun das Gotteswort, das Wort des allwissenden und wahrhaftigen Gottes, auch in natürlichen Dingen nicht irren kann, da die Inspiration des hl. Geistes bei der ersten Niederschrift nicht ein bloßer Beistand, sondern eine zwingende Macht war, eine Determination, da unwesentliche Irrtümer und Widersprüche von den gläubigsten Männern zugestanden werden müssen, so bleibt nichts andres übrig, als die Form der lat. Vulgata preiszugeben. Gottes Allmacht wollte die Abfassung ihrer Worte in den drei hl. Sprachen; aber sie wollte in die Natürlichkeiten des Sprachgeistes sich nicht hineinmischen: sie sorgte nur dafür, daß der hl. Geist bei den entscheidenden Worten in Aktion trat.

Die Sorge für die Tradition der hl. Schriften (man achte auf die bewundernswerte Konsequenz der römischen Kirche) hat Gott vor Christi Geburt der Synagoge und später der Kirche überlassen. Die Kirche hat also ein Recht, die ihr aus irgend welchen, auch praktischen, politischen Gründen genehme Form des Gottesworts für authentisch zu erklären; für ihre Zwecke; fremde Zwecke, z.B. die der modernen Wissenschaft, gehen die Kirche nichts an.

Die Geschichte des Vulgata-Textes lehrt uns, daß die katholische Kirche niemals die Existenz eines authentischen Textes behauptet hat. Die Vulgata ist immer ein Kompromiß gewesen. Die Vorstellung, die den Kindern beigebracht wird, daß nämlich jedes Wort und jeder Buchstabe der hl. Schrift den Verfassern und den Übersetzern vom unfehlbaren hl. Geiste diktiert worden sei, ist nach den eigenen Lehren der Kirche eine widerspruchsvolle Vorstellung. Nur um den Inhalt, nicht um die Sprachform soll der hl. Geist sich gekümmert haben: alle Schriftstellen jedoch, die für den Inhalt der Lehre von Bedeutung sind, werden bis aufs Jota, bis aufs Komma der Übersetzung für sakrosankt erklärt. Die Kirche definiert die Richtigkeit des Vulgata-Textes ebenso geschickt wie die Verbindlichkeit der Dogmen; quod semper, quod ubique, quod ab omnibus creditum est, hoc est catholicum. Nur daß es kaum einen Satz der lateinischen Bibelübersetzung gibt, von dem man mit Recht behaupten könnte, daß er immer, überall und bei allen Gläubigen in Gebrauch gewesen wäre. Zählt man doch über 150000 Varianten.

Nicht einmal die Bezeichnung vetus et vulgata latina editio, die seit der 4. Sitzung des Trienter Konzils offiziell ist für den Jetzt noch üblichen Text, ist eindeutig. Der hl. Hieronymus, der verantwortliche Redaktor unseres Textes, nennt öfter die griechische Septuaginta editio in toto orbe vulgata oder ähnlich; ebenso der hl. Augustinus. Dann wurde im 4. Jahrhundert auch die Itala, deren Text trotz aller Barbarismen von Hieronymus sehr pietätsvoll in seine neue Übersetzung herübergenommen wurde, die usitata, die communis oder auch die vulgata genannt.

Die Redaktion des hl. Hieronymus, trotzdem sie die Autorität dieses Heiligen und eines Papstes für sich hatte, machte der Unsicherheit im Gebrauche lateinischer Bibeln noch lange kein Ende. Bis zum Ausgange des 6. Jahrhunderts herrschte große Freiheit in der Wahl des Textes. Päpste und Heilige zitierten nach persönlicher Überzeugung oder nach zufälligen Umständen bald die Itala, bald die Übersetzung des Hieronymus. Noch Gregor der Große, der starke Realpolitiker, bringt Stellen bald aus der alten, bald aus der neuen Übersetzung, quia sedes apostolica utraque utitur. In einigen Teilen der beim Gottesdienste gesungenen Liturgie ist der Text der Itala heute noch beibehalten. Etwa vom 8. Jahrhundert an war allerdings die Übersetzung des Hieronymus für Predigt u. dgl. allein üblich; sie hieß aber im Verhältnis zur Itala emendata oder recens; Gregor nannte sie, wie wir eben gesehen haben, die nova gegenüber der vetus; aber auch hebraica translatio wurde das Übersetzungswerk des Hieronymus mit leiser Missbilligung genannt. Ohne daß es zu einer offiziellen Erklärung kam, wurde aber die alte Itala in der Praxis von dem Texte des Hieronymus verdrängt, so daß schon im 12. Jahrhundert der Glaube aufkommen konnte, dieser Text sei von der Kirche offiziell befohlen worden. Damals war die Kenntnis des Hebräischen bei den christlichen Theologen noch so selten, daß immer noch die Septuaginta gelegentlich als Vulgata zitiert wurde, die auf das Hebräische zurückgehende Übersetzung des Hieronymus als die letzte Quelle angesehen, als hebraica veritas.

Die wachsende Verbreitung des Textes von Hieronymus konnte bei der damaligen Technik der Vervielfältigung eine Einheitlichkeit nicht herstellen. Mit noch mehr Recht als Hieronymus einst von der Itala hätte man jetzt sagen können: quot codices, tot exemplaria (Praefatio zum B. Josua). Die Abschreiber änderten, bald nach ihrer Unwissenheit, bald nach ihrer Gelehrsamkeit; die einzelnen Länder hatten ihre besonderen Texte, so das Frankenreich die Biblia Caroli Magni, auch Biblia Alcuini genannt. Trotzdem wird schon im 13. Jahrhundert der Text, der im ganzen und großen gemeinsam war, vulgaris genannt, und um 1266 gebraucht Roger Baco den Ausdruck exemplar vulgatum zum ersten Male in unserm Sinne von einer Edition, die die Fakultät von Paris und der Primas von Frankreich approbiert hatten; was die Dominikaner und wieder die Franziskaner nicht hinderte, abweichende Texte für ihr Machtgebiet aufzustellen. Da nun jeder gelehrte Abschreiber um diese Zeit es für Ehrensache hielt, zur Ermittlung des authentischen Hieronymus-Textes ältere Handschritten zu vergleichen, Varianten in seinen Text aufzunehmen oder an den Rand zu notieren, da diese Gelehrtenhandschriften wieder kopiert wurden, aber nicht genau, sondern mit voller Freiheit, unter den Varianten zu wählen, da diese sogenannten Correctorien, jede für sich, den authentischen Text des Hieronymus zu finden hofften, so gab es bald keinen zuverlässigen Text mehr. Roger Baco, der sich selbst dem Papste für Herstellung einer offiziellen Edition empfohlen zu haben scheint, urteilt sehr hart über die Bibelhandschriften seiner Zeit: quot sunt lectores per mundum, tot sunt correctores seu magis corruptores, quia quilibet praesumit mutare quod ignorat, quod non licet facere in libris poetarum. Die letzten Worte erinnern daran, daß wir uns bei dem Überblicke der Zeit der Renaissance langsam nähern. Auch diese Bewegung hinterließ Spuren in dem Texte; so ähnlich die deutschen und die italienischen Codices waren, feinere Sprachkenner entdeckten doch Germanismen in den deutschen Texten, einen gewissen color latinus in den italienischen. Als nun jetzt der übliche lateinische Bibeltext endlich durch die neue Buchdruckerkunst vervielfältigt wurde, in gotischen Lettern natürlich, da lautete der Titel: Biblia oder Textus bibliae oder Biblia sacra latina juxta vulgatam editionem; eine Nürnberger Ausgabe von 1471 hat zum ersten Male den Titel: Biblia Vulgata.

Gerade um diese Zeit, als der Titel Biblia vulgata aufkam und man das vorzubereiten begann, was heute noch in der katholischen Welt offiziell die Vulgata heißt, gab es einen allgemein anerkannten lateinischen Bibeltext weder für die Theorie noch für die theologische Wissenschaft. Für die kirchliche Praxis genügte die ungefähre Gleichförmigkeit der Bibeln. Es ist nun schwer zu sagen, ob die Reformation oder der schon damals beginnende humanistische Alexandrinismus das Hauptmotiv war, den biblischen Text Buchstab für Buchstab zu untersuchen: ob die Bibelphilologie den reformatorischen Gedanken geweckt hat oder dieser Gedanke die Bibelphilologie. Jedenfalls vereinigten sich auf dem Konzil von Trient seltsamerweise humanistische Neigungen und das energische Streben nach Gegenreformation zur endlichen Forderung eines authentischen Bibeltextes. Der Antrag wurde am 8. April 1546 zum Beschluß erhoben. Dabei wird, wie in all diesen Kämpfen, die Fiktion aufrecht erhalten, als ob es bereits einen einzigen, in der ganzen Kirche gebräuchlichen Text gäbe, den man nur zu approbieren, für authentisch zu erklären brauchte. Unter dieser Fiktion ging es an, die neue Ausgabe mit Strafandrohungen zu schützen: gegen willkürliche Änderungen der Gelehrten, wie gegen leichtsinnige Fehler der Drucker.

Sehr wichtig ist für die Herausgabe eines authentischen Gottesworts, daß die Kirche den Charakter der Übersetzung, den die Vulgata trägt, zwar nicht leugnet, aber doch im Grunde verschweigt; in den Dekreten ist immer nur von einer editio die Rede, nicht von einer versio; die gelehrtere Vorrede zum Clementinischen Text (1502) erwähnt die alten hebräischen und griechischen Handschriften, nennt sie aber Quellen (fontes), nicht Originale; wohl gab es auf dem Konzil - wie gesagt - schon philologische Gemüter, die authentische Ausgaben der hebräischen und der griechischen Texte verlangten; aber dazu ist es bis zum heutigen Tage nicht gekommen. Die römische Kirche brauchte für ihre immer praktischen Zwecke nur einenoffiziellen Text, den lateinischen.

Bekanntlich dauerte es noch lange, bevor die Beschlüsse des Konzils ausgeführt wurden. Der Papst war zeitgemäßer, fast möchte man sagen liberaler als das Konzil, neigte zu einer gründlicheren Revision des Textes, vielleicht auch zu der Kühnheit, wirklich einen authentischen Text der hebräischen und griechischen Originale herstellen zu lassen. Am Ende siegte aber der konservative Zug der römischen Kirche. Mochten Humanisten und Reformierte spotten, mochten selbst gutkatholische Kardinäle wünschen, daß bei dieser einzigen Gelegenheit ganze Arbeit gemacht würde, die Entscheidung fiel dennoch so aus, wie
mehr als tausend Jahre früher: möglichst wenig ändern.

So lange dauerten die Vorbereitungen, daß die Kirche inzwischen, von der berühmten Plantinischen Druckerei, eine provisorische authentische Ausgabe herstellen ließ.

Unter Pius V., der die Gegenreformation mit der gleichen Energie betrieb wie den Kampf gegen die Türken, war die Kommission sehr fleißig dabei, den offiziellen Vulgatatext festzustellen. Wir erfahren aus den Protokollen, daß Stimmenmehrheit über die Annahme einer Lesart entschied. Dann bildete der uralte
Codex Amiatinus, auf den ein Zufall aufmerksam machte, die Grundlage der Revision. Wieder wurde die Arbeit ein Kompromiß: das Ideal schien womöglich den Originaltext des hl. Hieronymus wieder herzustellen; dabei sollte die Tradition möglichst geschont, sollte auf Wörtlichkeit der Übersetzung und auf gutes Latein kein besonderer Wert gelegt werden.

Anfangs 1589 wurde die Arbeit dem Papste, es war Sixtus V., übergeben. Sixtus mühte sich persönlich, mehrere Stunden täglich, mit der Revision. Er entschied strittige Fälle, änderte aber auch willkürlich viele Beschlüsse der Kommission. Wieder mit der Tendenz, die letzte offiziöse Ausgabe gegen den Beschluß der Kommission zu konservieren. Die durch Sixtus revidierte Handschrift ist noch vorhanden; sie wurde unter der Leitung eines Augustiners und eines Jesuiten von dem berühmten Manutius gedruckt. Aber auch noch jeden einzelnen Druckbogen hat der Papst persönlich durchgesehen, ohne unbegreiflicherweise Druckfehler ganz vermeiden zu können. Die Ansicht der katholischen Gelehrten, der Papst habe da als gelehrter Mensch eingegriffen und nicht kraft seines Lehramts, wäre wohl nicht ausgesprochen worden, wenn die Sixtinische Ausgabe zufällig die offizielle geblieben wäre. Jedenfalls war es nicht die Ansicht des Papstes Sixtus. Denn in der Bulle, die seiner Ausgabe vorgedruckt ist, sagt Sixtus V. feierlich genug: nos enim rei magnitudinem perpendentes ac provide considerantes, ex praecipuo ac singulari Dei privilegio et ex vera ac legitima successione apostolorum principis beati Petri, pro quo Dominus et Redemptor noster, ab eterno patre pro sua reverentia procul dubio exauditus non semel tantum, sed semper rogavit, ut eius fides non humana carne et sanguine, sed eodem patre inspirante ei revelata, umquam deficeret...

Da Sixtus so die schon damals und besonders von ihm selbst angenommene Unfehlbarkeit für seine philologische Arbeit in Anspruch nahm, war es ganz konsequent, daß er seine Edition nicht nur für den Gebrauch der Kirche (in Liturgie und Predigt) allein erlaubte, sondern auch für die private, d.h. wissenschaftliche Beschäftigung mit der Bibel. Aber es kam anders. Kurz nachdem die ersten Exemplare der Sixtinischen Bibel in prächtigen Einbänden an die katholischen Fürsten verschickt waren, starb Sixtus, und die Kommission unter der Leitung Caraffas, nach dessen Tode unter der Leitung Bellarmins, ging sofort daran, den Verkauf der Sixtinischen Ausgabe zu sistieren. Da es aber unschicklich gewesen wäre und gegen römische Tradition, wenn der fast unmittelbare Nachfolger (zwischen Sixtus V. und Clemens VIII. gab es in 11/2 Jahren drei Päpste) seinen Vorgänger desavouiert hätte, so wurde die neue Fiktion aufgestellt, daß die Kirche die Arbeit des Papstes Sixtus nur ein wenig verbessert habe.

Diese Fälschung findet sich schon in der Selbstbiographie Bellarmins, auf dessen Rat die neue Ausgabe unternommen wurde; coram Pontifice demonstravit Biblia illa (die Sixtinische) non esse prohibenda, sed esse ita corrigenda ut salvo honore Sixti V. Pontificis Biblia illa emendata prodirent. Die Seele der neuen Edition war der Jesuit Toletus, der doch schon den Druck der Sixtinischen Ausgabe überwacht hatte. Einem andern Gelehrten, der wiederum eine Vergleichung mit dem Hebräischen empfahl und in einer Denkschrift mehr als 200 Stellen aus der Arbeit des Toletus, aus der jetzigen Vulgata also, als fehlerhaft angriff, wurde einfach Schweigen auferlegt. Eine Fälschung ist auch der Titel dieser offiziellen Ausgabe von 1592; er lautet: Biblia sacra Vulgatae editionis Sixti V. Pontificis Max. jussu recognita et edita (neuere Ausgaben haben nur: Biblia sacra Vulgatae editionis). Die offizielle Ausgabe der Vulgata, welche seit 1592 bei Kirchenstrafe die einzige authentische ist, wurde nicht nur durch diese kleine Fälschung für ein Werk des Sixtus ausgegeben. Die Vorrede Bellarmins, die man heute noch, außer den tridentinischen Dekreten, den Prologen und den Vorreden des hl. Hieronymus, vor jeder approbierten Vulgata-Ausgabe finden kann, enthält über diesen Punkt eine feste Lüge: Sixtus habe nach Vollendung des Drucks und vor der Ausgabe wegen der vielen Druckfehler beschlossen und verordnet (censuit atque decrevit), das ganze Werk neu herauszugeben. So ist das authentische Gotteswort zustande gekommen.

Die Luther-Bibel
Ein Deutscher kann von der Geschichte der Bibelübersetzungen nicht sprechen, ohne Luthers zu gedenken. Seine deutsche Bibel hat unsere neue deutsche Sprache geprägt. Nicht nur das protestantische, auch das katholische Deutschland bildete Sich an Luthers Sprache. Das ist nicht erst ein Ergebnis jüngerer Forschung; das wußte Luther selbst und sprach es in seinem tumultuarischen Selbstbewußtsein gern aus. In seinem Sendbriefe vom Dolmetschen (8. Sept. 1530) sagt er: »Das merkt man aber wohl, daß sie (die Papisten) aus meinem Dolmetschen und Deutsch lernen deutsch reden und schreiben, und stehlen mir also meine Sprache, davon sie zuvor wenig gewußt, danken mir aber nicht dafür, sondern brauchen sie viel lieber wider mich; aber ich gönne es ihnen wohl, denn es tut mir doch sanft, daß ich auch meine undankbaren Jünger, dazu meine Feinde, reden gelehrt hab.«

In diesem selben Sendbriefe, der in jeder Geschichte der deutschen Sprache abgedruckt werden sollte, verteidigt er sich besonders gegen den Vorwurf, den entscheidenden Satz, daß der Glaube allein selig mache, falsch übersetzt zu haben, weil das Wort allein bei Paulus nicht stehe. »Wahr ist's, diese 4 Buchstaben sola stehen nicht drinnen, welche Buchstaben die Eselsköpfe ansehen wie die Kühe ein neu Tor. Sehen aber nicht, daß gleichwohl die Meinung des Texts in sich hat; und wo man's will klar und gewaltiglich verdeutschen, so gehört's hinein; denn ich habe deutsch, nicht lateinisch oder griechisch reden wollen, da ich deutsch zu reden im dolmetschen fürgenommen hatte.« Darauf die berühmten Worte:

»Denn man muß nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll deutsch reden, wie die Esel tun, sondern man muß die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt darum fragen, und denselbigen auf das Maul sehen wie sie reden, und darnach dolmetschen; so verstehen sie es denn und merken, daß man deutsch mit ihnen redet.«

Er folgt nicht »den Esel und Buchstabilisten«, nicht »der Eselkunst«; weiß auch, daß er das gute Deutsch »leider nicht allewege erreicht noch getroffen habe, denn die lateinischen Buchstaben hindern aus der Maaßen sehr gut zu reden«. Manchmal ist er aber so recht mit sich zufrieden, wie da er den englischen Gruß anstatt »Maria voll Gnaden« zum tollen Ärger der Papisten »du holdselige« übersetzt hat. »Und hätte ich das beste Deutsch hie sollen nehmen und den Gruß also verdeutschen: Gott grüße dich, du liebe Maria! denn soviel will der Engel sagen und so würde er geredet haben, wenn er hätte wollen sie deutsch grüßen. Ich halte, sie (die Papisten) sollten sich wohl selbst erhenkt haben für große Andacht zu der lieben Maria, daß ich den Gruß so zunicht gemacht hätte. Aber was frage ich darnach, sie toben oder rasen?... Wer deutsch kann, der weiß wohl welch ein herzlich fein Wort das ist: die liebe Maria, der liebe Gott, der liebe Kaiser, der liebe Fürst, der liebe Mann, das liebe Kind. Und ich weiß nicht, ob man das Wort liebe auch so herzlich und gnugsam in lateinischer oder andern Sprachen reden möge, das also dringe und klinge in das Herz durch alle Sinne wie es tut in unser Sprache.«

Es fällt fast schwer, bei Luther zu scheiden zwischen seiner unvergleichlichen, unerhörten Sprachkraft und seiner Unfreiheit im Glauben an das Gotteswort. Nur offiziöse protestantische Geschichtsschreibung kann übersehen, daß er als Theologe ein Bauerndickschädel war, daß er seine Erfolge mit seiner Schwäche und seiner Unfreiheit verdankte. Auf die entscheidende Lehre, daß der Glaube allein selig mache, ist ihm die nötige Antwort vor bald 200 Jahren gegeben worden, aus protestantischen Kreisen, in dem Meisterwerke aller Ironie, in Liscows nicht genug zu preisender und auch in Deutschland fast völlig unbekannter Schrift über die »Unnötigkeit der guten Werke zur Seligkeit«. Wäre dieser Liscow ein Franzose gewesen, jeder französische Schulknabe wüßte ihn auswendig und deutsche Bibliotheken wären voll von Liscow-Dissertationen. Und wer mir dafür eins auf die Nase geben wollte, der brauchte mir nur vorzuhalten, mit Recht, daß ich es zustande bringe, Luther und Liscow zu lieben.

Luthers Stellung zum Gotteswort, sein fanatisches Vertrauen auf die Schrift läßt sich kaum logischer ausdrücken als in einem alten handschriftlichen Vermerk, den ich im 5. Bande der Jenaischen Ausgabe von 1575 (Universitäts-Bibl. v. Freiburg i. B.: K. 9024) gefunden habe: »Quid est sacra scriptura nisi quaedam epistola Omnipotentis Dei ad creaturam suam... omne effectum praestantiam atque autoritatem habet a sua causa... omnis Ecclesiae autoritas est a scriptura sacra. Ergo scripturae sacrae autoritas non est ab Ecclesia.« In diesen für die Lutherzeit unwiderleglichen Sätzen ist die Bedeutung des Gottesworts für Rom und Wittenberg festgelegt. Die Autorität der Schrift stammt nicht von der Kirche; also ist die katholische Lehre falsch. Die Autorität der Kirche stammt aus der Schrift; also haben die Protestanten recht. Nur daß aus der Reformation heraus sich langsam die Kritik entwickelte, die Frage: ob die Schrift wirklich ein Brief Gottes an die Menschen sei, ob wir irgend ein Gotteswort besitzen. Mit abgründiger Gelehrsamkeit ist Schritt für Schritt zur verneinenden Antwort emporgestiegen worden. Niemand aber hat bisher sich genugsam gewundert über das Denken oder die Sprache der Menschen, die ernsthaft die Frage aufstellten, ob ein Wort dieser Sprache, der Gott, uns authentische Sprachworte hinterlassen habe. S.1251-1293
Aus: Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philosophie, Digitale Bibliothek Band 3: Geschichte der Philosophie
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