Meister Eckehart (um 1260 – 1328)

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Maria und Martha

Intravit Jesus in quoddam Castellurn.
(Luk. 10, 38)

St. Lukas schreibt im Evangelium, daß unser Herr Jesus Christus in ein Städtlein kam, allwo ihn eine Frau empfing, die hieß Martha. Die hatte eine Schwester, die Maria hieß. Die saß zu den Füßen unseres Herrn und hörte sein Wort. Aber Martha ging umher und diente unserem Herrn.

Drei Dinge zogen Maria, niederzusitzen zu den Füßen unseres Herrn. Das eine war: die Güte Gottes hatte ihre Seele ergriffen. Das andere war: großes, unaussprechliches Verlangen; sie begehrte, sie wußte nicht, wonach; sie wollte, sie wußte nicht, was. Das dritte war: süßer Trost und Entzücken, das sie aus dem ewigen Worte schöpfte, das da aus Christi Munde geheimnisvoll raunte.

Auch Martha zogen drei Dinge, die sie antrieben, umherzugehen und dem lieben Christ zu dienen. Das eine war ihre frauliche Reife und ihre wohlgeübte Gründlichkeit im Zunächstliegenden, davon sie vermeinte, daß niemandem die Arbeit so wohl gelingen könne als ihr. Das andere war das weise Verständnis, mit dem sie die äußere Arbeit dem, was die Minne gebot, wohl einzuordnen wußte. Das dritte aber war die große Würdigkeit des lieben Gastes.

Die Meister sagen, daß Gott einem jeden Menschen bereit sei, ihm genugzutun nach geistiger oder nach sinnlicher Art, je wie einer es begehrt. Ob uns Gott genugtue, sofern wir Vernunftwesen sind, oder uns genugtue als empfindenden Wesen, das hängt von den lieben Freunden Gottes selber ab.

Genüge fürs Gefühl geschieht uns darin, daß uns Gott Trost gibt, Entzücken und Gewährung, und uns hiermit verwöhnt. Dies alles aber geschieht den lieben Freunden Gottes nach ihrem inneren Empfinden. Vernunftgemäße Befriedigung aber geschieht aus dem Geiste. Und ich spreche da von vernünftigem Genügen, wo bei aller Entzückung doch der oberste Wipfel nicht herabgebeugt wird und nicht in der Verzückung ertrinkt, so gewaltig sie sich auch erhebe. Dann erst ist ein solcher Mensch in einem vernunftgemäßen Genügen, wenn Lieb‘ und Leid der Kreatur den obersten Wipfel nicht zu beugen vermag.

Nun spricht Martha: ,,Herr, heiße sie mir helfen.“ Dies sprach Martha nicht gehässigerweise, sondern sie sagte es aus einer Minnegunst, von der sie bezwungen ward. Wir können auch wohl sagen, aus einem Minnescherzen.

Nun merket: Martha sah, daß Marias ganze Seele von Verzückung ergriffen war. Martha kannte Marien besser, als Maria Marthen, weil Martha lange und wohlgefällig gelebt hatte. Solch ein Leben verleiht mehr Erleuchtung als alles, was man sonst in dieser Körperlichkeit empfangen kann, ausgenommen Gott selbst.

St. Paulus schaute in seiner Verzückung Gott und sich selber in Gott. Dennoch war es ihm nicht gemäß, eine jegliche Tugend deutlich zu erkennen. Dies darum, daß er sich nicht in Werken geübt hatte. Die Meister aber gelangten durch Werke der Tugend zu so hohen Erkenntnissen, daß sie sich eine jegliche Tugend beispielsweise besser einbilden konnten als Paulus oder irgendein Heiliger in seiner ersten Verzücktheit.

Auf solcher Stufe der Meister stand Martha. Daher ihre Mahnung: ,,Herr, heiße sie mir helfen“; so, als spräche sie: ,,Meiner Schwester dünket, sie vermöge schon alles, was sie wolle, dieweil sie bei dir im Troste sitzt. Laß schauen, ob dem so sei, und heiße sie aufstehen und von dir gehen.“ Maria aber war so voller Verlangen, daß sie sich sehnte, sie wußte nicht wonach, und wollte, sie wußte nicht was. Wir argwöhnen indessen, daß die liebe Maria mehr zu ihrer Freude dagesessen sei als um geistiger Förderung willen. Darum sprach Martha: ,,Herr, heiße sie aufstehen.“ Denn sie fürchtete, daß Maria in dem Verlangen verbliebe und nicht weiter vorwärts käme.

Doch Christus antwortete ihr und sprach: ,,Martha, Martha, du bist sorgsam, du wirst von vielem betrübt. Eins ist not: Maria hat den besten Teil erwählt, der ihr nimmer genommen werden mag.“ Das sagte Christus nicht strafenderweise zu Martha, sondern er antwortete ihr und gab ihr Trost, daß Maria das zuteil werden solle, was sie begehrte. Warum aber sprach Christus: ,,Martha, Martha“, und nannte sie zweimal? Ohne Zweifel hat Gott, da er Mensch ward, nie einen Menschen mit Namen genannt, der ihm verloren gewesen wäre. Die er nicht benannte, um die steht es zweifelhaft. Denn von Christo bei Namen genannt zu werden, das heiße ich sein ewiges Wissen darum, ob einer vor Erschaffung aller Kreaturen im Buche des Lebens stehe, im Buche des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, unwandelbar und ewig.

Warum aber nannte Christus Marthas Namen zweimal? Er meinte, daß Martha alles zeitliche und alles ewige Gut, das die Kreatur besitzen soll, allzumal hätte. Mit dem ersten „Martha“ bezeugte er ihr die Vollkommenheit ihres zeitlichen Wirkens. Mit dem anderen Male, daß er ,,Martha“ sagte, bewies er ihr, daß nichts ihr ermangele an dem, was da zum ewigen Heile gehört. Darum sprach er: ,,Du bist sorgsam“, weil er damit meinte: ,,Du stehest mitten in den Dingen, aber dennoch stehen die Dinge nicht über dir.“ Man muß sorgsam sein, sich unbehindert zu halten bei aller Tätigkeit. Und nur die sind unbehindert, die all ihr Tun nach dem Vorbilde des Ewigen Lichtes richten. Geschäftigkeit ist ein äußerliches Getue; aber Tätigkeit, das ist, was man mit Bescheidenheit von innen her ausübt [vgl. 5. 32, Abs. 3]. Nur diese Menschen, die geziemenderweise so neben den Dingen stehen und nicht in ihnen, sind rechte Menschen. Sie stehen nahe zu dem ihrigen, sie verwalten das ihrige wohl recht, aber sie halten es nicht anders, als stünden sie dabei doch jederzeit am Rande der Ewigkeit. Denn alles Geschaffene ist nur ein Mittel.

Dies Mittel ist zwiefach. Das eine, ohne das ich nicht in Gott kommen kann, das ist Arbeit und Tätigkeit in der Zeit; und dies Tun beeinträchtigt nicht das ewige Heil. Das andere Mittel aber ist: des Tuns ledig sein. Denn darum sind wir hier in der Zeit, damit wir durch unser vernünftiges Tun Gott näherkommen und ihm immer mehr gleichen. Das meinte auch St. Paulus, wenn er sagte: ,,Befreiet euch von der Zeit, die Tage sind übel.“ Die Zeit überwinden, das heißt, daß man ohne Unterlaß im Geiste eindringe in Gott. Und ,,die Tage sind übel“, das müßt ihr also verstehen: Der Tag weist hin auf die Nacht; denn gäbe es keine Nacht, so wäre auch nicht Tag, sondern alles wäre ein Licht. Und das meinte Paulus, daß ein lichtes Leben allzu geringe sei, in dem es noch Finsternis gibt, die einem hochgemuten Geist das ewige Heil zu bewölken und zu beschatten vermag. Das meinte auch Christus, als er sprach: „Wirket, solange ihr das Licht habt.“ Denn wer da wirkt im Licht, der geht ledig aller Vermittelung zu Gott. Sein Licht ist Schaffen, und Schaffen ist sein Licht. Also stand es mit Martha. Darum sprach Christus zu ihr: „Eines ist not.“ Not ist dieses, daß ich und du, umfangen vom Ewigen Licht, eins werden, obwohl wir zwei sind. Ein brennender Geist, der über allen Dingen steht und unter Gott im Umkreis der Ewigkeit, der ist dennoch geschieden und zwiespältig, weil er Gott nicht unmittelbar schaut. Sein Erkennen und das Urbild des Erkennens, die werden nimmer eines, er sähe denn Gott selber da, wo der Geist frei ist von allen Dingen. Getrenntes wird nur da geeint; Licht und Geist, diese zwei werden eines nur in der Umfangung des Ewigen Lichtes.

Nun merket, was das heißt: ,,im Umkreis der Ewigkeit“. Die Seele hat drei Wege zu Gott. Der eine ist: mit mannigfaltigem Tun, mit brennender Liebe Gott suchen in allem Geschaffenen. Das meinte König David, wenn er sprach: ,,In allen Dingen habe ich Ruhe gesucht.“ Der andere Weg ist der: Erhaben über sich und alle Dinge sein, entrückt sein über alles Begreifen in des himmlischen Vaters Machtbereich. Der dritte Weg heißet Weg und ist doch ein Heimweg: es ist Gott schauen in seiner reinen Selbstheit ohne Mittelung. Christus spricht: ,,Ich bin Weg, Wahrheit und Leben.“ Dreies und doch nur eines in Christo. Auf diesem Weg geleitet werden vom Licht seines Wortes, umfangen von der Minne, die beides, Licht und Wort, vereint, das geht über alles, was man in Worten sagen kann. Wunder über Wunder: Außen stehen und innen begreifen und ergriffen werden; sehen und das Geschaute selber sein; halten und gehalten werden; das ist das Ende, da der Geist ruht in der Einigkeit der Ewigkeit.

Auf drei Punkte sollen wir bei unserem Tun achten: daß man ordentlich, vernünftig und bewußt arbeite. Nun nenne ich dies ein ordentliches Tun, daß man allerwärts das Nächstliegende tue. Vernünftiges Tun aber ist dies, daß man zur Zeit kein besseres Ding als eben dieses eine tun kann. Und bewußtes Wirken nenne ich das, wo man lebendige Wahrheit mit fröhlicher Gegenwärtigkeit in guten Werken verbindet. Wo diese drei Punkte beisammen sind, da bringen Werke uns ebenso nahe zu Gott und sind uns genauso förderlich wie alles verzückte Schwelgen Maria Magdalenens in der Wüste.

Nun sagt Christus zu Martha: „Du betrübst dich um das Viele, aber nicht um das Eine!“ Das soll heißen: Wenn die Seele in lauterer Einfalt bei allem Tun gerichtet ist in ihrem Sinn auf den Umkreis der Ewigkeit, so wird sie doch betrübt, wenn Dinge geschehen, die sie von dort oben abziehen. Und solch ein Mensch steht dann gänzlich in Sorge und Betrübnis. Aber Martha stand in wohlbefestigter Tüchtigkeit und freien Gemütes, ungehindert von allen Dingen. Deswegen begehrte sie, daß ihre Schwester in den gleichen Stand gesetzt würde, als sie sah, daß sie noch nicht im Wesentlichen gefestigt war. Aus einem herrlichen Grunde wünschte sie, daß auch jene fest im ewigen Heil stehe. Darum spricht Christus:,, Eines ist not.“ Was aber ist dies?

Das Eine, das ist Gott. Dies Eine ist allen Kreaturen notwendig. Denn zöge Gott das Seine an sich, so würde alles Geschaffene zunichte. Martha fürchtete, daß ihre Schwester in Lust und Verzückung verhaftet bleibe. Und sie begehrte, sie möchte so sein, wie sie selber war. Darum sprach Christus so, als ob er sagte: ,,Gib dich nur zufrieden, Martha. Maria hat den besten Teil erwählt. Jenes Nächste, was den Kreaturen beschieden sein kann, das möge ihr immerhin abgehen. Ihr soll zuteil werden: sie soll heilig werden wie du.“

Vernehmet nun die Lehre von der Tugend. Zu einem tüchtigen Leben gehört dreierlei im Willen: Das erste ist, seinen Willen Gott hingeben; denn das muß sein, um das zu vollbringen, was man für recht erkennt. Das bestehe nun darin, etwas herzugeben oder etwas auf sich zu nehmen. Dieses ist ein sinnlicher Wille. Der andere ist ein geistiger, der dritte ein ewiger Wille. Der geistige Wille besteht darin, daß man den Werken Christi und der Heiligen nacheifere und Wort, Wandel und Tun dem Höchsten unterordne. Wo dies vollbracht wird, da senkt Gott in der Seele Grund ein anderes: das ist der dritte, der ewige Wille mit dem freudevollen Gebot des Heiligen Geistes. Dies spricht die Seele: ,,Herr, verkünde mir deinen ewigen Willen.“ Wenn also die Seele dem ewigen Wort Genüge tut, dann mag es dem lieben Vater gefallen, sein ewiges Wort in die Seele zu sprechen.

Nun verlangen unsere guten Leute, man müsse dermaßen vollkommen werden, daß keinerlei Liebe uns mehr bewegen könne, und man unberührbar stehe von Liebe wie von Leid. Sie tun darin unrecht. Ich sage, daß nie ein Heiliger so groß war, daß er nicht hätte bewegt werden können. Auch widerspreche ich dem, dass einen Heiligen nichts mehr von Gott abwenden könne. Selbst Christus entging dens nicht. Das bewies er damit, daß er sprach: ,,Meine Seele ist betrübt bis in den Tod.“ Christus taten Worte also wehe, daß — wäre das Leid aller Kreatur auf eine einzige Kreatur gefallen — dies Leid nicht so groß wäre, als Christi Leid war. Und das kam von seinem angeborenen Adel und der heiligen Vereinigung göttlicher und menschlicher Natur. Darum sage ich, den Heiligen hat es nimmer gegeben, dem Schmerz nicht wehe und Freude nicht wohlgetan hätte.

Es geschieht etwelchen wohl einmal aus Minne, etwa wenn ihnen jemand den Glauben abspräche, daß sie durch Gnade doch den Gleichmut behalten in Lieb‘ und in Leid. So mag es Heiligen zuteil werden, daß nichts sie von Gott abwendig zu machen vermag. Wird auch das Herz gepeinigt, als stünde solch ein Mensch nicht in der Gnade, so beharrt doch der Wille einfältiglich in Gott, also sprechend: ,,Herr, ich dir und du mir.“ Was ihn auch anfallen mag, es verhindert nichts sein ewiges Heil, dieweil es nicht den obersten Wipfel des Geistes trifft, dort, wo er im allerliebsten Willen und in der Einheit Gottes steht.

Nun sagt Christus: ,,Du sorgst und betrübst dich um das Viele“; denn Martha war so im Wesentlichen, daß alle Wirksamkeit sie nicht hinderte und daß alles Tun und alle Geschäftigkeit sie auf ihr ewiges Heil hinleitete. Maria mußte erst eine Martha werden, ehe sie wirklich eine Maria werden konnte. Denn da sie unserem Herrn zu Füßen saß, da war sie das noch nicht. Sie saß da noch um der Freude und Entzückung willen. Hingegen stand Martha so fest im Wesentlichen, daß sie sagen konnte: ,,Herr, heiße sie aufstehen“, so, als ob sie spräche: ,,Herr, ich wollte, sie säße nicht verzückt da, ich wollte, sie lernte leben, daß es ihr zum Wesensbesitz werde. Heiß sie aufstehen, damit sie vollkommen werde.“

Denn sie hieß noch nicht Maria, da sie zu Christi Füßen saß. Ich nenne das Maria: ein wohlgeübter Leib sein, gehorsam einer weisen Lehre. Und gehorsam sein nenne ich: mit Willen der inneren Mahnung genugtun. Maria, da sie zu unseres Herrn Füßen saß, da war sie eben erst zur Schule gekommen und lernte leben.

Hernach aber, da Christus gen Himmel fuhr und sie den Heiligen Geist empfing, da allererst begann sie zu dienen und fuhr übers Meer und lehrte und predigte und ward den Jüngern eine Helferin.

So werden die Heiligen erst dann zu Heiligen, wenn sie anfangen zu wirken durch ihre Tugenden, denn dann sammeln sie den Hort ewigen Heiles. Was sie dadurch gewirkt haben, das macht alle Schuld und alles Leid wett. Christus ist des ein Zeugnis. Vom Anbeginn, da Gott Mensch ward und dieser Mensch Gott, da fing er zu wirken an zu unserer Seligkeit, bis an das Ende, welches er starb am Kreuze.

Daß wir ihm im rechten Sinne nachfolgen in Betätigung echter Bewährung, dazu helfe uns Gott. Amen.
Aus: Meister Eckehart, Vom Wunder der Seele, Eine Auswahl aus den Traktaten und Predigten
Neu durchgesehen und herausgegeben von Friedrich Alfred Schmid Noerr
Reclams Universalbibliothek Nr. 7319 (S. 25-33)
© 1951 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages