Pico della Mirandola (1463 - 1494)

 
Italienischer Humanist und Philosoph, der zum Kreis von Lorenzo de Medici, dem Prächtigen gehörte. Mirandola war in seiner Philosophie von den neuplatonischen Gedanken Ficinos beeinflusst und versuchte das christliche Weltbild im Sinne eines Bildungs-Humanismus weiter zu entwickeln. Sein Rede »De dignitate hominis« (Über die Würde des Menschen) gilt als Zentraldokument der Renaissance. Leitidee dieser Schrift ist, dass menschliches Handeln nicht im voraus determiniert ist, sondern die Natur des Menschen und seine Stellung im Kosmos in einem - von Gott selbst ausdrücklich gewollten - freien Entscheidungsakt vom Menschen selbst bestimmt werden soll. Bis 1493 in päpstlichem Bann, wurde er kurz vor seinem Tod von Savonarola zum strengen Christentum bekehrt.

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»Götter seid ihr und Söhne des Höchsten alle«
Schon hatte der höchste Vater und Schöpfergott dieses Haus der Welt, das wir hier sehen, den hocherhabenen Tempel seiner Göttlichkeit nach den Gesetzen geheimer Weisheit kunstvoll errichtet. Die Gegend oberhalb des Himmels hatte er mit Geistern ausgestattet, des Himmels Sphären mit unsterblichen Seelen belebt und die schmutzigen und unreinen Bereiche der unteren Welt mit einer Schar von Lebewesen aller Art gefüllt. Doch als das Werk vollendet war, da wünschte sein Erbauer, es sollte jemanden geben, der imstande wäre, die Einrichtung des großen Werkes zu beurteilen, seine Schönheit zu lieben, seine Größe zu bewundern. Deswegen dachte er, als alles schon vollendet war (wie Moses (1. Mose 1,25ff) und Timaios es bezeugen), zuletzt daran, den Menschen zu erschaffen. Doch gab es unter den Urbildern keines, wonach er den neuen Sprößling hätte formen können, auch fand sich in den Schatzkammern nichts, das er dem neuen Sohn als Erbgut hätte schenken können, und nirgends auf der ganzen Welt gab es noch einen Platz, auf dem dieser Betrachter des Universums sitzen konnte. Schon voll besetzt war alles und alles an die obersten, die mittleren und untersten Rangordnungen verteilt. Es hätte aber nicht für eines Vaters Schöpferkraft gesprochen, wenn diese bei ihrer letzten Zeugung gleichsam erschöpft versagte, es hätte auch der Weisheit nicht entsprochen, aus Mangel an Entschlusskraft bei etwas Notwendigem geschwankt zu haben, auch nicht wohltätiger Liebe, wenn der, der göttliche Freigebigkeit bei anderen loben sollte, gezwungen würde, sie bei sich selbst als unzulänglich zu verwerfen. So traf der beste Bildner schließlich die Entscheidung, dass der, dem gar nichts Eigenes gegeben werden konnte, zugleich an allem Anteil habe, was jedem einzelnen Geschöpf nur für sich selbst zuteil geworden war. Also nahm er den Menschen hin als Schöpfung eines Gebildes ohne besondere Eigenart, stellte ihn in den Mittelpunkt der Welt und redete ihn so an: »Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluss erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.«

Welch übergroße Freigebigkeit des Vatergottes, welch übergroßes und bewundernswertes Glück des Menschen, dem gegeben ist zu haben, was er wünscht, und zu sein, was er zu sein verlangt. Die Tiere bringen bei ihrer Geburt aus dem Mutterleib (so sagt Lucilius) alles mit sich, was sie besitzen werden. Die höchsten Geister sind entweder von Beginn an oder bald darauf gewesen, was sie von Ewigkeit zu Ewigkeit sein werden. Dem Menschen hat bei der Geburt der Vater Samen jedweder Art und Keime zu jeder Form von Leben mitgegeben. Die, die jeder pflegt, werden sich entwickeln und ihre Früchte an ihm tragen: Sind sie pflanzlicher Natur, wird er zur Pflanze werden. Sind es Keime der Sinnlichkeit, so wird er zum Tier werden. Sind es Keime der Vernunft, so wird er zum himmlischen Lebewesen werden. Sind es Keime des Geistes, wird er ein Engel sein und Gottes Sohn. Und wenn er unzufrieden ist mit jedem Lose der Geschöpfe und sich zurückzieht in den Mittelpunkt des eigenen einheitlichen Wesens, wird er mit Gott zu einem Geist vereint im einsamen Dunkel des Vaters, der über alle Dinge gesetzt ist, alle Geschöpfe übertreffen.

Wer wollte dieses unser Chamäleon nicht bewundern? Öder wer sollte überhaupt etwas anderes mehr bewundern? Asklepios von Athen hat unter Hinweis auf seine wechselnde und sich selbst verwandelnde Natur nicht ohne Recht von ihm gesagt, der Mensch werde durch die Gestalt des Proteus in den Mysterien symbolisch dargestellt. So wird verständlich, dass bei den Juden und bei den Pythagoreern jene Verwandlungsmythen weit verbreitet sind. Denn auch die geheimere Theologie der Juden kennt die Verwandlung bald des Enoch in einen heiligen Engel Gottes, den sie »malakh hashekhinah« nennen, bald die anderer Menschen in andere göttliche Wesen. Und auch die Pythagoreer lassen verbrecherische Menschen sich in die Gestalt von Tiere und, glaubt man Empedokles, sogar in Pflanzen wandeln. Ihnen folgte Mohammed, der immer wieder betonte, wer vom Pfad des göttlichen Gesetzes abweiche, werde zum Tier, und zwar verdientermaßen. Denn nicht die Rinde macht den Baum aus, sondern seine Natur ohne Verstand und irgendein Gefühl, und nicht das Fell die Tiere, sondern ihr Leben, das vernunftlos nur dem Instinkt gehorcht, den Himmel nicht die Rundung seines Baus, sondern seine vernunftgemäße Ordnung, und nicht die Körperlosigkeit bezeichnet einen Engel, sondern die Fähigkeit zu geistiger Erkenntnis. Denn siehst du einen Menschen, der seinem Bauche frönend auf der Erde kriecht, so ist es nur ein Strauch, kein Mensch, was du siehst; und siehst du einen, der sich blenden läßt vom leeren Gaukelspiel der Phantasie, als narrte ihn Kalypso, und der, gelockt von den Verführungen der Wollust, als Sklave seiner Sinne lebt, ist es nur ein Tier, kein Mensch, was du siehst. Erblickst du einen Philosophen, der mit rechtem Maßstab alles unterscheidet, so sollst du ihn verehren: er ist ein himmlisches, kein irdisches Wesen; gewahrst du schließlich einen reinen Betrachter, der seinen Leib vergaß und sich ins Innere des Geistes ganz zurückgezogen hat, der ist kein irdisches und nicht einmal ein himmlisches Geschöpf, er ist ein noch erhabeneres göttliches Wesen, gekleidet freilich in die Hülle menschlichen Fleisches.

Wer also sollte den Menschen nicht bewundern, der nicht zu Unrecht in den heiligen Schriften des Alten und des Neuen Testamentes bald mit dem Ausdruck »alles Fleisch«, bald mit dem Ausdruck »alle Kreatur« mit vollem Recht bezeichnet wird, da er sich doch selbst zur äußeren Gestalt von allem Fleisch und zur Beschaffenheit von aller Kreatur ausprägt, ausbildet und umgestaltet? Deswegen schreibt der Perser Euantes in seinem Kommentar zur chaldäischen Theologie, der Mensch besitze keinen besonderen ihm angeborenen Typus, dagegen viele von außen kommende und vom Zufall bestimmte. Darauf bezieht sich jener Ausspruch der Chaldäer: »Enosh hu shinnuim vekammah tebhaoth baal haj«, das heißt: »Mensch, du Lebewesen von bunter und vielgestaltiger und sprunghafter Art.« Doch wozu trage ich dies vor? Damit wir begreifen: Wir sind geboren worden unter der Bedingung, dass wir das sein sollen, was wir sein wollen. Daher muss unsere Sorge vornehmlich darauf gerichtet sein, dass man uns jedenfalls nicht das nachsagen kann, wir hätten, als wir in Ansehen standen, keinen Verstand gezeigt, dem Vieh und vernunftlosen Tieren ähnlich (Ps. 48,21). Vielmehr soll jener Ausspruch des Propheten Asaph für uns gelten: »Götter seid ihr und Söhne des Höchsten alle« (Ps. 81,6), damit wir nicht das gütigste Geschenk des Vaters, den freien Willen, den er uns verliehen hat, missbrauchen und ihn gebrauchen statt zu unserem Heil, zu unserem Schaden. Geradezu heiliger Ehrgeiz soll uns befallen, dass wir, nicht zufrieden mit dem Mittelmaß, nach dem Höchsten lechzen und, um es zu erreichen (was wir ja können, wenn wir wollen), mir allen Kräften uns bemühen.

Lasst uns das Irdische verschmähen, lasst uns, was unterhalb des Himmels ist, für unbedeutend halten, und lasst uns, indem wir alles, was zur Welt gehört, endlich hinter uns lassen, in den überweltlichen Palast eilen, der sich in nächster Nähe der hocherhabenen Gottheit findet. Dort nehmen, wie die heiligen Mysterien überliefern, die Seraphim, die Cherubim und die Throne die ersten Plätze ein. Wenn wir nun nicht gewillt sind, hinter ihnen zurückzustehen, und wir den zweiten Rang für unerträglich halten, so lasst uns nach ihrer Würde und ihrem Ruhm streben. Wir werden ihnen, wenn wir wollen, keineswegs nachstehen. Wie aber ist dies zu erreichen, oder was müssen wir doch endlich dazu tun? Betrachten wir, was jene tun, welches Leben sie führen. Wenn auch wir so leben (denn das können wir), haben wir ihren Rang schon erreicht. Es glüht der Seraph vom Feuer der Liebe; es strahlt der Cherub im Glanz des Geistes; es fußt der Thron auf der Festigkeit des Urteils. Wenn wir also, dem tätigen Leben verpflichtet, die Sorge für die Dinge von minderer Bedeutung nach rechter Prüfung übernehmen, werden wir Kraft schöpfen aus der unerschütterlichen Festigkeit der Throne. Wenn wir, frei von Geschäften, das Werk betrachten und dabei an den Schöpfer denken, beim Schöpfer denken an das Werk, und so in ruhiger Betrachtung geschäftig sind, dann werden wir rundum im Licht der Cherubim erstrahlen. Entbrennen wir in Liebe allein zum Schöpfer selbst, so werden wir durch deren Feuer, das zehrend ist, plötzlich zu einem Ebenbild der Seraphim entflammt werden. Über dem Thron, also dem gerechten Richter, sitzt Gott als Weltenrichter. Über dem Cherub, also dem Betrachter, schwebt er und hegt ihn, indem er gleichsam sein Gefieder wärmend um ihn legt. Denn es schwebt der Geist des Herrn über den Wassern (1. Mose, 1,2), die Wasser meine ich, die über den Himmeln sind, und die bei Hiob (Hiob 38,4ff) schon vor Tag den Herrn mir Hymnen preisen. Wer aber Seraph ist, also ein Liebender, der ist in Gott und Gott in ihm, ja Gott und er sind eins. (Joh. 17,21)

Aus: Pico della Mirandola, Oratio de hominis dinitate – Rede über die Würde des Menschen, Lateinisch/Deutsch
Auf der Textgrundlage des Editio princeps herausgegeben und übersetzt von Gerd von der Gönna
Reclams Universalbibliothek Nr. 9658 (S. 7, 9, 11, 13, 15)
© 1997 Philipp Reclam jun., Stuttgart
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