Julius Müller (1801 - 1878)

Deutscher evangelischer Theologe, der u. a. Schriften zur Prädestinationslehre, zur Geburt Jesu sowie zu Luther und Calvin verfasste.


Siehe auch Wikipedia

Die christliche Lehre von der Sünde.
1. Aufl. 1844 (zit. nach der 1. Aufl., spätere 5 Auflagen wenig verändert).
Eine Ausführung der Lehre von der Sünde ist nicht möglich, ohne vielfach mit Fragen in Berührung zu kommen, welche auch für die Philosophie das höchste Interesse haben. Gerade weil die Sünde es ist, die eine bloß spekulative, also rein theoretische Lösung der höchsten Erkenntnisprobleme auf entscheidende Weise unmöglich und eine Praxis - die Erlösung - als Bedingung der theoretischen Lösung notwendig macht, gewinnen jene Probleme der Spekulation vorzugsweise für eine wissenschaftliche Entwicklung der Lehre von der Sünde Bedeutung (15). Das Böse nimmt zwar teil an dem empirisch wirklichen Sein, aber als das Nichtseinsollende; nur als Störung und Widerstreit mit einer idealen Forderung existiert es (217).

Die Störung der wahren Harmonie zwischen den beiden Seiten unseres Wesens - welche übrigens nicht bloß Auflösung dieser Harmonie ist, sondern in unzähligen Fällen, überall wo der Geist den sinnlichen Begierden willig dient, Vertauschung der wahren Einheit mit einer falschen, umgekehrten - kann nur in einer Zerrüttung unseres höchsten Verhältnisses, unseres Verhältnisses zu Gott, ihr Prinzip haben. Und nur wenn dieses Prinzip hier gefunden, wenn die Sünde ihrem innersten Wesen nach als Abfall von Gott zur Selbstvergötterung erkannt ist, wird uns der furchtbare Zwiespalt
[geistiges Gespaltensein] , das unermessliche [nicht messbare] Elend, welches sich von der Sünde aus über das ganze menschliche Leben verbreitet hat, wahrhaft verständlich; wer die eigentliche Quelle der Sünde in eine Unempfänglichkeit der Sinnlichkeit für die bestimmende Kraft des Geistes setzt, der kann sich vor der unübersehbaren Masse dieses Jammers, die auf einen ohne Vergleich schlimmeren Kern alles sündigen Wesens hinweist, nur dadurch retten, dass er sie sich möglichst zu verbergen sucht (376).

Ist ein solches Prinzip, wie wir es als Bedingung des Schuldbewusstseins und der Ausschließung der Sünde von der göttlichen Ursächlichkeit fördern, im Wesen des Menschen, so kann es nur der Wille sein, und die Selbständigkeit seiner Kausalität, wie sie ihm zukommen muss, wenn sie jener Forderung entsprechen soll, ist offenbar das, was man als seine Freiheit zu bezeichnen pflegt. Ist hiernach die Freiheit das höchste Selbstsein, die Sünde aber in ihrer innersten Wurzel Selbstsucht, was kann sie dann anders sein als die sich verkehrende Freiheit? Die Freiheit des menschlichen Willens ist es also, auf deren Begriff, innere Möglichkeit und Zusammenhang mit dem Bösen wir unsere Forschung richten müssen (113).

So zwingt uns der Gang unserer Untersuchung, die Region der Zeitlichkeit zu überschreiten, um die Quelle unserer Willensfreiheit zu finden. Soll der sittliche Zustand, in welchem wir, abgesehen von der Erlösung, den Menschen antreffen, in ihm selbst, in seiner Selbstbestimmung beruhen, soll der Ausspruch des Gewissens, welcher uns unsere Sünde zurechnet, soll das Zeugnis der Religion, dass Gott nicht Urheber der Sünde, sondern ihr Feind ist, Wahrheit sein, so muss die Freiheit des Menschen ihren Anfang im Gebiet des Außerzeitlichen haben, in welchem allein eine unbedingte Selbstbestimmung möglich ist. In dieser Region ist die Macht der ursprünglichen Entscheidung zu suchen, welche allen sündhaften Entscheidungen in der Zeit bedingend vorangeht (36).

Die Kausalität Gottes, in der es begründet ist, dass es außer ihm Freiheit, Selbstbestimmung gibt, ist ein wahres Schaffen; denn sie ist ein freibewusstes, in sich unbedingtes Bedingen andern Seins. Aber zugleich liegt darin ein Ansichhalten des Willens Gottes in seiner verursachenden Wirksamkeit, das freie Gestalten, dass dieses andere Sein sich seinen Inhalt als sittliches Wesen durch Selbstbestimmung setze. Es ist dies der in seiner Art schlechthin einzige Charakter der Kausalität, durch welche kreatürliche Freiheit ist - ein Hervorbringen, welches seine höchste Unbedingtheit darin setzt, dass es sein Produkt nicht einen Moment weiter bedingt, als schlechterdings nötig ist, um ihm Existenz zu verleihen (195).

Bis zu diesem Punkte vermögen wir auf dem Wege der Notwendigkeit - freilich keineswegs bloß einer rein metaphysischen, sondern einer durch sittliche Ideen vermittelten - zu gelangen, bis zur Einsicht, dass das Böse den persönlichen Geschöpfen möglich sein kann und dass ihnen diese Möglichkeit zum Bewusstsein kommen muss. Was darüber hinausgeht, die Verwirklichung dieser Möglichkeit, ist zunächst ein bloß Tatsächliches und nur durch Erfahrung zu erkennen, es lässt sich aus den ihm vorangehenden Momenten durch keinerlei Notwendigkeit ableiten, wiewohl es, insofern es vorhanden ist, aus dem Zusammenhange mit ihnen natürlich ein tieferes Verständnis empfängt (218).

Mit alledem ist der entscheidende Punkt, das Wirklichwerden des Bösen, keineswegs begriffen. Vielmehr müssen wir in dieser Beziehung das Böse, da es nur durch Willkür zustande kommt, die Willkür aber das Abbrechen von vernünftigem Grund und Zusammenhang ist, als das seinem Wesen nach Unbegreifliche anerkennen ... das Böse ist das unergründliche Geheimnis der Welt; in seiner innersten Tiefe bleibt es immer undurchdringliche Finsternis
(232).

Die Unbegreiflichkeit der Entstehung des Bösen
ist nicht etwa eine Schranke, die nur an unserer subjektiven Erkenntnis desselben haftet, sondern in der Natur des Bösen selbst gegründet (234).

Der Widerspruch zwischen der Allgemeinheit der Sünde und ihrem Ursprung aus der Selbstentscheidung des persönlichen Willens verschwindet, wenn jeder, der in diesem irdischen Zeitleben mit der Sünde behaftet erscheint, in seinem außerzeitlichen Urstande seinen Willen abgewendet hat von dem göttlichen Lichte zur Finsternis der in sich versunkenen Selbstheit.

Allerdings liegt hiernach die Lösung des tiefsten Rätsels unseres Daseins nicht unmittelbar in den Tatsachen selbst, die das Rätsel enthalten. Die aufmerksamste Betrachtung und sorgfältigste Analyse dieser Tatsachen wird für sich schwerlich zu einem anderen Ergebnis kommen als zu der Anerkennung, dass hier ein unauflöslicher Widerspruch vorhanden sei. Die Erklärung liegt aber hinter den zu erklärenden Tatsachen, und doch wieder in solcher Nähe, dass sie aus einer genauen Beziehung und lebendigen Zusammenfassung derselben unmittelbar hervorspringt (489).

Enthalten in: Textbuch zur deutschen systematischen Theologie und ihrer Geschichte vom 16. bis 20. Jahrhundert, Band I 1530 – 1934 von Richard H. Grützmacher 4.Auflage, 1955 C. Bertelsmann Verlag Gütersloh (S.160-162)