Paul Natorp (1854 - 1924)

  Deutscher Philosoph und Pädagoge; Sohn eines protestantischen Pfarrers. Natorp studierte Geschichte, alte Sprachen, Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften in Berlin, Bonn und Straßburg. 1885 wurde er Professor in Marburg, wo er sich zu einem der Hauptvertreter der Marburger Schule des Neukantianismus entwickelte. Seine Schrift »Die Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme« enthält eine leicht verständliche Darstellung der Grundpositionen des Marburger Neukantianismus. In seinem philosophiegeschichtlichen Hauptwerk »Platos Ideenlehre« vertritt er die Meinung, dass das »Grundprinzip der (platonischen) Ideenlehre« mit dem »methodischen Prinzip der Wissenschaft« übereinstimmt. In seinem Spätwerk »Philosophische Systematik« versucht er die Kategorienlehre neu zu konzipieren.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon
 

Inhaltsverzeichnis

Logos – Psyche - Eros
... am Ende ist doch wohl Gott das Maß der Dinge

Religion und Humanität
  Anteil der Religion an der Willenserziehung
Religion als Letztletztes

Logos – Psyche - Eros
Eros war hoch gepriesen worden als Gott. Aber das ist er nicht, denn er ist nicht schön, gut, weise (201 E, 202 A), da er dahin ja erst strebt. Er ist gewiss auch nicht das Gegenteil. Also zwischen beiden. So zwischen Weisheit und Unwissenheit. Das Mittlere zwischen diesen ist Doxa, das Rechturteilen ohne Rechenschaft-geben-können. Denn das ist nicht Erkenntnis, weil ohne Rechenschaft, und nicht Nichtwissen, da es das Rechte doch trifft. Also zwischen beiden in der Mitte (202 A, 203 E). So bleibt der Eros auch in schwebender Mitte zwischen Gut und Ungut, Schön und Hässlich, Selig und Unselig, Unsterblich und Sterblich. Er ist nicht Gott sondern Dämon, ein Mittleres, darum Mittler zwischen Gott und Mensch, den Austausch, die »Dialektos« zwischen beiden vermittelnd, so dass die Kluft sich schließt, das Ganze zur Einheit verbunden ist (202E). Darauf wird (was vielleicht auf den Meno und Phaedrus bewusst zurückweist) Wahrsagung, Beschwörung, Zauberkunst gegründet.

Aus Bedürftigkeit (Penia-Aporia) und Erwerbstrieb (Poros) ist der Eros geboren, darum ist er um Vernunft bemüht, sie zu erwerben unablässig geschäftig, also wiederum nicht Sophos, aber Philosophos; immer sterbend und wiederauflebend, so auch an Geist weder dürftig noch reich, sondern in der Mitte zwischen Weisheit und Nichtwissen. Und da er Seligkeit nicht besitzt, aber umso mehr nach ihr strebt, so hat er sein Wesen in der Schöpfung, Poiesis, die, als Überführung aus dem Nichtsein ins Sein, am genauesten und positivsten die Eigenheit jenes geheimnisvollen »Zwischen« ausdrückt. Die Poiesis aber verschärft sich weiter zur Erzeugung (206 f.), die für das Sterbliche Unsterblichkeit, ewige Selbstverjüngung bedeutet (206 E, 207 D).

In ihr beweist sich das Streben nach Möglichkeit immer zu sein und unsterblich. Das erstreckt sich auf alles Seelische sowohl wie Leibliche; was das Merkwürdigste: selbst auf die Erkenntnis, die das »Gedächtnis«, die Mneme nur wahrt in beständiger Selbsterneuerung, denn nur so erhält sich überhaupt das Sterbliche und hat an Unsterblichkeit teil, anders nicht (208 B). Daraus wird alle geistige Schöpfung: Technik, Gewerbe, Staatsordnung, Heldentum, Dichtung, Erziehung vor allem erklärt, und auf dieser Grundlage sodann der große Stufengang beschrieben, der von der Leibesschönheit durch die Schönheit all solcher geistigen Gestaltung hindurch‘) zur höheren Schönheit der Wissenschaften, von diesen aber in letztzentraler Vereinigung zum reinen, absoluten Schönen, hinaus über alles Sinnliche nicht bloß und Zeit-Räumliche, sondern auch über Logos und Episteme, nämlich irgendwie noch abgrenzende, doch als zum Gegenstand einer höchsten Wissenschaft, und durch diese gerade zur innersten, zentralsten, zeugenden Kraft sich zu erheben.

So ist das Zwischen nicht ein leerer oder mit irgendwelcher, sei es noch so vielgestaltiger Materie gefüllter Raum, sondern lebendige, in allem, zwischen allem, in allseitiger Wechselbeziehung wirkende Kraft; Kraft der Schöpfung, der Zeugung; vermittelnd im Sinne zeugender Gemeinschaft. Es ist zugleich Anschauung, die aber in der gleichen Lebendigkeit in sich selbst zurückgewandter, sich selbst immer neu erzeugender Energie, nicht passiver Entgegennahme gedacht sein muß. Hier ist der strengste Sinn des reinen Aktes erreicht, hinaus aber alle bloße Abstraktion, in unerschöpflich schöpferischer, quellhaft ursprünglicher Lebens- und Gestaltungsfülle.

Als Ziel wahrer »Philosophie«, als das »Sophon« selbst, enthüllt sich damit, nicht irgendein, wäre es auch allumfassendes, allvereinigendes, doch ruhendes, also totes Wissen und Haben der Weisheit, sondern lebendiges, aus Urgrund schöpfendes, zugleich schauendes Schaffen und Zeugen, im Sterblichen, aber in der allein wahren Unsterblichkeit ewig junger Wiedergeburt, im Leiblichen, Seelischen, Geistigen, kurz in allem, bis zum Höchsten hinauf.

Darin ist nichts tot, der Tod selbst gründlicher bezwungen als in den mühseligen Unsterblichkeitsbeweisen des Phaedo, die bestenfalls zu dieser tieferen Ansicht sich erst zu reinigen hätten. So ist das Sophon nicht getrennt vom Kalon und Agathon, sondern mit ihm ganz ungetrennt Eins. Auch die ergreifende Vorführung der Gestalt des SOKRATES durch ALKIBIADES stellt dies lebendig vor Augen in der völligen Einheit der Weisheit mit der inneren Schönheit und Güte in sich vollendeten Lebens und Tuns. Dieser SOKRATES ist nicht, wie der »Geburtshelfer« des Theaetet (150 C), zeugungsunfähig an Weisheit — oder nur an der falschen; um so fähiger aber, ewig lebendige »Philosophie« in sich selbst und in Andern zu wecken und unablässig lebendig zu erhalten.

Hier zuerst ist der wahre Springpunkt nicht der Erkenntnis allein, sondern des Lebens, nicht des Einzelnen allein, oder bloß des Philosophen, sondern des Menschen, des Menschentums und seiner ewigen Selbstwiedererzeugung, das ist der Menschengeschichte getroffen; es ist erstmals der Grund gelegt zum tiefsten Sinn humaner Kultur zugleich — das ist im Grunde dasselbe — der Sinn der Idee erst ganz frei enthüllt. Als schöpferische Kraft ist sie unendlich mehr als was sie schafft. Lebendiger als alles Geschaffene, das selber nur lebt, sofern es weiter, immer weiter sich selbst wieder schafft, aus der gleichen Kraft, durch die es selbst geschaffen worden. Aller Tod ist gestorben, damit das Leben allein lebe.

[...] Wäre damit die Gleichsetzung von Doxa und Logos, vielmehr Ersetzung jener durch diesen, die uns im Theaetet und Phaedo begegnete, wieder preisgegeben? — Nein: von Anfang an war Doxa und Logos doch nicht völlig dasselbe; sondern Doxa das plötzliche Aufleuchten: So ist es! in der Psyche, Logos das Befestigen solcher sonst nur zu flüchtigen Aufklärung durch die vom Grunde zur Folge fort- oder von der Folge zum Grunde zurückschreitende Rechenschaft; aktiv, spontan aber dieser wie jene. Sonst möchte die Doxa wohl gar als das allein schöpferische Vermögen erscheinen, die Rechenschaft hinkte hinterdrein, könnte am Ende auch unterwegs bleiben. Aber sie selbst vollzieht sich in stetig fortgeführter Schöpfung, die Voraussetzung in der Folge, den Grund in dem darauf Gegründeten erhaltend und deren Kraft nur weiter und weiter tragend.

So überbietet sie an schöpferischer Kraft bei weitem die flüchtige, gleichsam punktuelle Doxa, indem sie sie in gesetzmäßig bestimmte Linien und Liniensysteme, in Gestaltungen mannigfachster Art im gedanklichen Raum entwickelt. DIOTIMAS Ausführung als ganze ist dafür nur ein einziges wundervolles Beispiel, Folgen zwingend gerade durch die ruhige Sicherheit, in der die tiefsten und weitesten Durchblicke sich wie im leichten Spiel erschließen, um endlich das volle strahlende Licht überwältigend. beseligend hereinfluten zu lassen. Doch bleibt der schlichten Doxa die im Meno schon vorgebildete, im Theaetet klar begriffene hohe Bedeutung des plötzlich auf die Seele überspringenden Funkens, der dann »schon sich selbst nähren wird« um die ewig ruhiges Licht spendende Flamme lebendig zu erhalten. Es ist das zeugende Nu.

In der Punktualität des Metaxy, des Meson, des Exaiphnes liegt die ganze, recht eigentlich paradoxe Eigenheit der Doxa, ihre »widersinnische« doch schlechthin notwendige Zweideutigkeit des Treffens und doch Verfehlens, Seins und doch Nichtseins, der Wahrheit und doch Falschheit, Erkenntnis und doch Nichterkenntnis. Sie trifft eigentlich und löst das alte Zeno-Rätsel der Bewegung durch die Koinzidenz des Plus und Minus im bloßen Durchgangspunkt der Null, in den und aus dem wird, was immer wird. So offenbart sich in ihm der wahre, schöpferische Ursprung, der doch nichts überspringt, sondern in sich selbst den Zusammenhalt, die Kontinuität herstellt und damit die festigende, den Gedanken zur Ruhe bringende Rechenschaft des Logos erst ermöglicht. Es ist, im geometrischen Bilde, der Krümmungspunkt der Kurve. Als Punkt scheint es jede Mehrheit der Richtungen auszuschließen, insofern ist die Doxa stets identisch gerichtet, »recht«, gerade; und doch eben im Punkte vollzieht sie die Umbiegung, wandelt die Richtung, verneint also, und zwar zugleich, wiederum die Identität, die sie selbst gesetzt hat, nein schon im Augenblick des Setzens selbst; und gerade so, in diesem steten »Stirb und Werde« gründet sie die ewige Ruhe der Usia, Aletheia, Episteme, als Ruhe der Bewegung, Bewegung der Ruhe selbst.

Und damit stehen wir unmittelbar vor dem Eidos, der Idee. Und das Gleichnis der Kurve vertieft sich. Sei es zuerst der heraklitische Kreis, der Anfang und Ende kraft der Koinzidenz ineinanderschlingt, so muß, indem der Fortgang selbst nicht steht sondern weiter schreitet, indem die Kreisung selbst wieder kreist, der Kreis sich zur Spirale weiten. Überträgt sich dann, aus der gleichen Notwendigkeit sich unendlich fortentwickelnder Bezüglichkeit, die Konstruktion in weitere und weitere Dimensionen, so ergeben sich unerschöpflich neue Gebilde im unendlich sich selbstpotenzierenden Raume des Gedankens, in überschwänglicher Freiheit der Gestaltung. Das sind die Eide, die Ideen — Durchblicke nannten wir sie. Es sind ebensoviele »Einheiten«(Henades, Monades, Phileb.); Einheiten der Sicht. ...

Aber hinter ihnen allen, ihnen zugrunde liegt — nicht das bloße leere Projektionsfeld des Topos (Tim.), sondern der einende Ur-Grund — wie soll man ihn nennen? Einheit der Einheiten (Einheit »selbst«), Idee der Ideen (Idee »selbst«)? Jeder Ausdruck erweist sich alsbald unzulänglich; jeder gibt die »Sache selbst« (auch wieder ein ebenso unzulänglicher Ausdruck!) nur gleichsam von unten gesehen, sagt bestenfalls, was es nicht ist, nicht, was es ist —
Aus: Paul Natorp, Platos Ideenlehre, Eine Einführung in den Idealismus (S.491-495)
Meiner Philosophische Bibliothek Band 471

Am Ende ist doch wohl Gott das Maß der Dinge
und nicht, was man so sagt, der Mensch, wie Plato einmal spottend dem berühmten Protagoras-Wort entgegenhält. Zuletzt ist aber auch »Gott« nur ein Wort menschlicher Sprache und als solches so menschlich, allzu menschlich wie nur irgend ein anderes Menschenwort. Aber die scharfe, eindeutige Gegenstellung (Gott gegen Mensch), die durchaus nicht irgendwie auf den Boden des Menschlichen, dessen, wobei der Mensch noch irgendetwas zu sagen hätte, nivelliert werden darf, kommt in diesem Wort immerhin eher zur Geltung als in »Religion« oder »Glaube« oder auch in jenem unbestimmten »Göttlichen«, von dem heute so viele reden, ängstlich bemüht, nur ja der verdächtigen Rede von Gott aus dem Wege zu gehen. Unvorgreiflicher freilich wäre es als Philosoph bloß vom Ewigen zu reden.

Dieses pflegt dem Zeitlichen gegenübergestellt zu werden. Aber wie Zeitlichkeit nur eine Seite der Endlichkeit bezeichnet, während diese irgendwie vollständig allenfalls nur durch das Ganze der Kategorienordnungen auszudrücken wäre, so müßte hier der Ausdruck des Ewigen in entsprechender Weite verstanden werden, d. h. er müßte das Überendliche, das Epekeina, in seiner Ganzheit vertreten, welche, soweit überhaupt begrifflich, nur auszudrücken wäre durch die Entgegensetzung gegen das Kategoriale überhaupt. (Einen Versuch in dieser Richtung findet man in Josef Heiler: Das Absolute.)

Ewigkeit nun ist, wie wir längst wissen, als Überendlichkeit, etwas ganz andres als die bloße Unendlichkeit erster oder zweiter Stufe; mit ihr hat sie nichts als die Verneinung endlicher Abgegrenztheit gemein. Sie bedeutet aber nicht nur Nicht-Abgegrenztheit, sondern Totalität, und zwar absolute, unbedingte, d. h. nicht Totalität von etwas anderem (dessen Begriff damit dem ihrigen übergeordnet würde), sondern die Totalität überhaupt von allem, was ist, und damit unbedingte Wirklichkeit; das, was ich öfters das unbedingte Ja genannt habe. Dagegen bleibt die Unendlichkeit der Zeit, des Raumes, irgendwelcher Bestimmungen überhaupt, wie sie andererseits Endlichem zukommen können,

1) von diesem anderen, dem sie als Charakter beigelegt wird, begrifflich abhängig (z. B. zeitliche Unendlichkeit gibt es nur vom Zeitlichen, räumliche nur vom Räumlichen u.s.f.),

2) eben damit erreicht sie nie den unbedingten Ja-Sinn des schlechthin Wirklichen, sondern höchstens einen Existenz-Sinn, wie er auch dem ihm entsprechenden Endlichen zukommt (Existenz in der Zeit, im Raume überhaupt u.s.f.).

Man sollte gar nicht reden von Unendlichkeit der Zeit, des Raumes, sondern nur von Unendlichkeit (eines irgendwie andersbestimmten, in der Zeit, im Raume u.s.f. Existierenden) in Hinsicht dieses zeitlichen, räumlichen u.s.f. Existierens; z. B. die sinnliche oder die körperliche Welt ist in Hinsicht der Zeit, in Hinsicht des Raumes unendlich, oder ist es nicht. Immerhin gewinnt die Verneinung der Endlichkeit, welche selbst Verneinung ist, auch so eine sehr ernste positive Bedeutung, nicht etwa der Überendlichkeit (das wäre absolute Totalität), aber doch immer noch einer bedingten Totalität: unendlich und also total in Hinsicht der Zeit (oder des Raumes usw.) heißt, nicht gebunden in irgend welche Abgrenzung (der Zeit oder dem Raume nach), sondern fortbestehend für alle zeitliche (räumliche etc.) Erstreckung (nach außen) oder auch Teilung (nach innen). Erweitern wir den Begriff (wie wir müssen) auf den ganzen Umfang des Kategorialen (d. h. kategorial zu Bestimmenden), so wird um so zwingender der Allheitssinn, der schon dem Unendlichen zweiter Stufe zukommt. Er umfaßt das Ganze des Kosmischen, auch des Psychischen, bis an die äußerste Grenze des Logischen (weil Kategorialen) überhaupt, nur nicht auch diese Grenze selbst; denn letztlich begrenzt wird es nicht durch das Unendliche zweiter Stufe (in dessen Begriff gar kein Charakter eines Begrenzenden, sondern schlechthin nur Verneinung endlicher Begrenzung liegt), sondern durch das Überendliche. Zu diesem verhält es sich so wie die unendliche Reihe zu ihrem Grenzwert, den die Reihe nie erreicht, durch den und auf den hin sie vielmehr von vornherein bestimmt, vielmehr ewig weiter bestimmbar und zu bestimmen ist.

Damit rücken beide, die Unendlichkeit zweiter und die letzter Stufe, sich so nahe, daß die fast regelmäßige Verwechselung beider oder wenigstens partielle Verwischung des Unterschieds nur zu begreiflich ist. Beide sind gleich unmittelbar und dem, worauf sie sich zurückbeziehen (im einen Fall dem endlich Abgegrenzten, im andern dem Gebiete der Endlichkeit überhaupt, deren Unendlichkeit — das heißt die Unendlichkeit zweiter Stufe — selbst eingerechnet), logisch unbedingt voraufgehend (denn auch das Unendliche zweiter Stufe ist nicht eine bloße Summation oder in irgend einem Sinn Hinaufsteigerung des Endlichen); so aber liegen sie, jede von beiden im Vollsinne ihrer Totalität verstanden, nicht außer- sondern ganz ineinander; mit gehöriger Erklärung darf man sagen, sie koinzidieren, d. h. es ist eine und dieselbe Grenzlinie (oder besser Grenzfläche, im Vergleich der dreidimensionalen Körperlichkeit müßte man sagen: Kugeloberfläche), in welcher das Überendliche den ganzen Bereich der Endlichkeit letztgültig begrenzt, und zu welcher andererseits das Unendliche zweiter Stufe ewig nur hinstrebt, ohne sie zu erreichen; in welcher sie aber, wenn sie ihr erreichbar wäre, sich abschließen würde; sie bedeutet aber gerade
Nie-Abgeschlossenheit und -Abschließbarkeit. So verhält sich die unendliche Reihe zu ihrem Grenzwert, oder die Allheit der diskreten Punkte zum Kontinuum, in welchem die Punkte, jeweils als Abgrenzungen, gedacht werden.

Dies eigentümliche Verhältnis einer Koinzidenz, bei dennoch absoluter innerer Entgegengesetztheit und Unvereinbarkeit, hat Friedrich Gogarten in dem Vortrag über »Offenbarung und Zeit« scharf beleuchtet und zum Ausgang einer höchst radikalen Betrachtung über die (wie wir sagen) transzendentalen Voraussetzungen der Religion genommen. Die Koinzidenz der Gegensätze des Ewigen und Zeitlichen besagt für ihn nicht irgend einen Ausgleich ihres Widerspruchs gegeneinander; sondern gerade sofern sie in einer einzigen Linie zusammentreffen müssen und doch miteinander schlechthin unverträglich sind, so sind sie miteinander im härtesten Kampf, einem Kampf um das Ganze, in welchem nur der eine Teil am anderen zerbrechen kann. Zerbrechen aber kann natürlich nur die bloße Nicht-Endlichkeit des Endlichen an dem absolut Überendlichen, dem Ewigen. Die Zeit selbst muß also vergehen. Sie ist überhaupt nichts anderes als Vergang.

Und wir? Wir sind nicht etwa die Streitenden, auch nicht die Objekte des Streits, sondern wir sind der Streit selbst. »Wir«, überhaupt die ganze Welt (diese, unsere Welt), sind nicht nur Kampfplatz oder Kämpfende und Kampfpreis (Beute), sondern wir sind der Kampf. Denn wir sind nicht Eins (wie das Ewige), noch bloß in uns entzweit (wie das Unewige), sondern sind Eins und mit uns selbst entzweit zugleich; wir sind damit selbst der Vergang; denn Zeit kann mit Ewigkeit, Entzweiung mit Einheit nicht bestehen. Dieser Vergang aber kann selbst nicht in der Ewigkeit geschehen; in ihr hat der Vergang überhaupt keine Stelle. Auch vergehen kann er nicht in ihr, eben weil es in ihr keinen Vergang gibt, auch nicht den des Vergangs selbst.

Es wurde schon gesagt: der unverrückbare Ja-Sinn des Ewigen kann nicht in der Verneinung der Verneinung den Grund seines Seins haben, sondern nur selbst der Grund sein, aus welchem das Nein an sich selbst die Verneinung vollziehen muß (zu der es von sich aus nie kommen würde). Dies alles aber trifft nach dem Gesagten nicht bloß unsere Welt, sondern buchstäblich uns, ja es betrifft in letztem Betracht ausschließlich uns, nur folgeweise alles, was unser ist, unsere ganze »Welt«. Wir selbst erfahren nicht nur diesen Vergang, sondern wir sind er selbst; der unterscheidende Charakter unseres Seins, unseres ganzen Seins, ist dieser Vergang. Doch ist es auch wiederum nicht so. daß wir aus uns selbst, aus unserer eigenen Kraft oder Schwäche, vergehen und vergangen sind, sondern wir vergehen am höheren, am allein unbedingten Ja-Sinn des Ewigen. Hierbei ist es nun am Platze, sich des Unterschieds zwischen Dasein und Wirklichkeit zu entsinnen. Wir »sind« der Vergang nur im Existenzsinne des Seins.

Unsere Existenz hat diesen Sinn des Vergangs; Wirklichkeit, auch unsere letzte Wirklichkeit, kennt ihn nicht. Am Ende aber kommt doch »uns« nicht nur Existenz, sondern in letzter Instanz auch etwas von Wirklichkeit zu. Muß es nicht so sein, da doch Existenz überhaupt nicht in sich beruht, sondern in jedem Falle eine Wirklichkeit voraussetzt, aus der sie stammt, die in ihr aus sich selbst zwar heraustritt, aber — Wunder über Wunder — eben als sie selbst dennoch aus sich selbst heraustritt, also in diesem Heraustreten aus sich doch ganz sie selbst bleibt. Dies scheint mir von Gogarten, mangels der klaren Unterscheidung der sehr verschiedenen Seinssinne von Existenz und Wirklichkeit, übersehen zu sein. Die Folge ist, daß »wir« selbst der Vergang, und nichts als das, sein sollen. Dann würden aber, indem der Vergang selbst vergeht, damit wir, und zwar ganz und gar, in jedem Sinne zunichte. Aber das kann nicht sein, und kann auch seine Meinung nicht sein. Sondern ohne allen Zweifel müssen wir irgendwie teilhaben am Ewigen.

Gogarten selbst sagte doch: wir sind nicht eins (mit Ausschließung der Entzweiung) und nicht entzweit (mit Ausschließung der Einheit), sondern eins und entzweit; also doch, nach der einen Seite, selber eins, eins mit dem Einen, also mit dem Ewigen; und nur andererseits entzweit mit und in uns selbst und mit dem Einen, welches zugleich doch auch Wir selbst ist. Jenes aber nach der Seite der Ewigkeit, dieses nach der Seite der Zeitlichkeit. Also sind wir der Zeitlichkeit doch nicht ganz und gar, mit völliger Ausschließung der Ewigkeit, verhaftet; sondern, wie es alle ernsten Transzendentalisten einmütig behauptet haben, eben zweiseitig (nach Kant etwa Homo phaenomenon und Homo noumenon), und dabei und eben damit doch sehr ernsthaft diese selben »Wir«. Damit löst sich der Konflikt, der bei Gogarten in härtester Ungelöstheit stehen bleiben mußte. Ich habe an ihn die Frage gerichtet, aber noch keine rechte Antwort darauf gehört: Wieso sind wir reiner Vergang, und soll es doch möglich und wirklich sein, daß wir umgeschaffen, »neu konstituiert« (in biblischer Sprache »wiedergeboren«) werden in die Ewigkeit?

Wieso sind wir dann noch wir, da wir doch Vergang, einzig Vergang, ja der Vergang selbst sein sollen, der doch, als Vergang, nicht irgendwie in der Ewigkeit bestehen (oder auch vergehen) kann? Also müssen wir doch wohl nicht bloß Vergang sein, sondern selbst, und zwar ganz als das, was wir wesenhaft sind, am Ewigen irgendwie teilhaben.

Ich habe öfters gesagt: Kindschaft ist nicht etwas, das nachträglich aufgeprägt werden kann, sondern sie muß ursprünglich sein. Nicht sie, nur das Bewußtsein von ihr, kann uns verloren gehen, und dann wiedergewonnen werden. Damit sind wir dann erlöst aus der von uns selbst über uns selbst verhängten Verdammnis und Gottferne, und sind dann wieder Gottes Kinder, das heißt wissen wieder, daß wir es sind, daß wir es uranfänglich waren und immer geblieben waren; ganz wie es die schöne Erzählung vom »Verlorenen Sohn« voraussetzt. Nicht die Sohnschaft war verloren, sie blieb unverlierbar bestehen, so verloren der Sohn selbst schien. Darum, nur darum war die Rückkehr zum Vater möglich. Es ergibt sich damit vor allem eine ganz freie Stellung zur Frage nach der Idee des Christus und nach der Bedeutung der einzelnen geschichtlichen Person für diese Idee; worauf hier nicht einzugehen ist. Auch die nach einer Seite sehr richtige und sehr gewichtige Konsequenz, daß in der Endlichkeit, nach der geschehenen Erlösung von ihr, doch alles bleibt wie zuvor, verliert damit immerhin etwas von ihrer sonst kaum erträglichen Härte. Das wiedergewonnene Wissen um die Gotteskindschaft kann doch keinesfalls ohne Einfluß bleiben auf die ganze Stellung zur Endlichkeit, auf das ganze Verhalten zu ihr und in ihr, die freilich, als ganze, für uns als Endliche bestehen bleibt. Auch das bleibt durchaus stehen, daß nicht wir selbst uns von der Endlichkeit erlösen können, sondern allein Gott.
Aus: Paul Natorp, Philosophische Systematik, (S.402-407) Meiner Philosophische Bibliothek Band 526

Religion und Humanität (§ 33)
Über den Quell der Religion im menschlichen Gemüt und ihr Verhältnis zur Humanität, d. i. zu Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst in ihrer wesentlichen Zusammengehörigkeit und inneren, organischen Einheit, ist in einer früheren Schrift: eigens gehandelt worden. Indem ich zur Ergänzung des hier und im letzten Kapitel zu Sagenden darauf verweise, benutze ich gern die von selbst sich bietende Gelegenheit, um hier und da hervorgetretenen Mißverständnissen oder Einwendungen durch minder biegsame Fassungen zu begegnen.

Religion, behauptete ich zuerst, verfüge nicht über eine eigene, von den drei vorgenannten etwa grundverschiedene G e s t a l t u n g s w e i s e. Sondern, soweit sie eines objektivierenden Ausdrucks nicht etwa ganz entbehren zu können oder zu müssen glaubt, bedient sie sich lediglich der Ausdrucksmittel, die von Jenen ihr zur Verfügung gestellt werden. So gibt es einen eigenartigen religiösen Lehrbegriff in den Formen der Wissenschaft., eine religiöse »Dogmatik«, die durchaus bewiesene, theoretische Wissenschaft ein, zugleich aber alle bloß menschliche Wissenschaft. überragen und (wo sie es ganz ernst meint) unterjochen will.

Es gibt ebenso eine eigene, wiederum dem Anspruch nach die höchste, alle andern überragende, religiöse Sittlichkeit, die den Menschen in ein völlig neues, der bloß humanen Sittlichkeit; unbekanntes. gleichwohl sittliches, jedenfalls in den Formen und gleichsam im Stile der Sittlichkeit gedachtes Verhältnis setzen will, nämlich zu »Gott«; aus welchem Verhältnis ferner auch ein neues sittliches Verhältnis unter den Menschen, als Angehörigen der Gottesgemeinde, als Gotteskindern, sowie auch zu sich selbst, abgeleitet wird; und wiederum soll die bloß humane Sittlichkeit sich dieser höheren schlechterdings unterordnen, durch sie erst geheiligt werden.

Es gibt endlich auch eine eigentümliche, mit besonderem Geltungsauspruch auftretende, in ihren Mitteln aber von der bloß humanen gar nicht verschiedene, religiöse Weise der Kunstgestaltung: die religiöse Symbolik. Eine weitere, von diesen dreien verschiedene, etwa ganz eigene Weise des objektivierenden Ausdrucks, eine andere Sprache der Religion als diese gibt es meines Wissens nicht. Ich folgere: also vertritt Religion nicht eine vierte, jenen dreien koordinierte Gestaltungsweise bewußten Inhalte An dieser ersten, bloß negativen, ihrem Kern nach übrigens schon bei Schleiermacher erreichten Feststellung dürfte nicht zu rütteln sein.

Nun aber will Religion keinesfalls restlos in diesen drei Weisen objektivierender Gestaltung aufgehen. Sie behauptet über einen G e h a l t zu verfügen, der in keiner einzelnen von ihnen, auch nicht in allen zusammen, sich erschöpfe. Wohl spricht die Seele der Religion in ihnen, aber sie spricht sich niemals aus; ja zuletzt gilt wohl von ihr das Wort. Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr. Das alles sind Äußerungen, vielleicht die natürlichen und notwendigen Äußerungen, aber es ist nicht Wurzel und Grund der Religion. Sie möchte des Begriffs sogar entbehren oder mit sehr unzulänglichen Begriffen sich behelfen - sie darf es, eben weil zuletzt auch der höchste m e n s c h l i c h e Begriff ihr nicht Genüge tut; die Tiefe des religiösen Lebens braucht dabei nicht Schaden zu leiden.

Sie möchte selbst in der Sittlichkeit es nicht gar weit bringen - auch die reinste m e n s c h l i c h e Sittlichkeit befriedigt ja nicht ihre Ansprüche; so würde selbst das nicht den Quell der Religion im menschlichen Herzen verschütten; ja recht aus der Seele der Religion gesprochen ist das Wort des Mystikers, das selbst die Sünde selig preist, die einer solchen Erlösung (wie Religion sie bietet) wert sei. Und vollends unwesentlich bleibt der Religion ihr symbolischer Ausdruck, dessen Unzulänglichkeit von den ernst Religiösen allzeit betont worden. ist. Umgekehrt - der Mensch, der in jenen objektivierenden Gestaltungen seine ganze Welt erblickt, der Forscher in der rein aufs Objekt gerichteten Arbeit seiner Forschung, der sittlich strebende Mensch, in eben diesem Streben, als bloß auf sein Objekt, das menschlich Gute, gerichtet; vollends der künstlerische Mensch, ganz versenkt in die Tätigkeit der ästhetischen Gestaltung, in jenes freie, rein sich selber genügen wollende Spiel der gestaltenden Kräfte, nichts darüber hinaus suchend noch verlangend, ist insoweit, nach dem Urteil der Religiösen, nicht religiös, weiß nichts von Religion.

Auch wer das »Wahre, Gute, Schöne« in irgend einer letzten Einheit zu verstehen glaubte und darin nun sein Alles fände, auch der wäre, ja er vielleicht erst recht, für die Auffassung des Religiösen ein Irreligiöser, ein Atheist. Er möchte der vollkommen g e b i l d e t e M e n s c h sein, so ist er damit noch nicht im mindesten religiös. Also hatte Kepler nicht Recht, in seiner Astronomie, noch Michelangelo, in seiner Bildnerei seinen besten Gottesdienst zu sehen, noch ist es recht gesagt von einem Goethe: Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat (damit und darin) auch Religion; es würde auch noch nicht richtig, wenn man das vergessene Dritte, die humane Sittlichkeit, hinzusetzte. Sondern auch wer das alles besitzt, und nichts darüber, wird noch immer den Vorwurf der Irreligiosität erfahren, der denn auch gerade den wissenschaftlichsten, den sittlichsten, den künstlerischsten Menschen niemals erspart worden ist. Mit diesem allen ist - das möge man nicht mißverstehen - nichts für noch gegen Religion gesagt, es ist nur ihr eigenster, fort und fort tatsächlich erhobener A n s p r u c h formuliert.

Nun fragen wir weiter: aus welchem Quell im M e n s c h e n t u m wird dieser eigene Anspruch der Religion begreiflich? Denn v o m M e n s c h e n verlangt man, daß er Religion nicht bloß als etwas Äußerliches habe oder sich zuzueignen trachte, sondern sie in sich, im eigenen Innersten f i n d e ; er selber soll religiös sein, in Religion leben, ein tieferes, eigneres Leben als in irgend einem andern Erlebnis, etwa des Wahren, des Guten, des Schönen. Bildung h a t man; das Wahre, Gute, Schöne, so weit es sich uns überhaupt erschließt, bleibt immer, als »Objekt«, ein uns Äußeres; Religion l e b t man; es genügt nicht einmal zu sagen, man erlebe sie; denn man ist nicht bloß dabei, um dann mehr oder weniger davon zu ergreifen und gleichsam an sich zu bringen, sondern man lebt sie unmittelbar, sie ist nur da in unserem Selbstleben. Umso mehr muß der Quell der Religion im Menschen selbst aufgezeigt werden können.

Ich bezeichnete nun diesen Quell, nach Schleiermachers Vorgang, durch das Wort G e f ü h l. Bei der schillernden Natur dieses psychologischen Kunstworts, die auch in der Ästhetik Verwicklungen herbeiführte, ist es begreiflich, daß man, trotz aller beigegebenen Erklärungen, an diesem Worte sich gestoßen hat; daher wird besonders hier eine weitere Aufhellung - nötig sein.

Auch das Ästhetische hat unzweifelhaft eine nahe Beziehung zum Gefühl; obgleich uns schien, daß mit (frei gestaltender) »Phantasie« sein Wesen unzweideutiger bezeichnet werde. Soweit aber Gefühl, ist es schlechthin nur Gestaltungsgefühl. Zwar ist es gewiß auch Selbstgefühl, aber nur das Selbstgefühl im Gestalten, das Gefühl des Selbst als des Gestaltenden. Das ästhetische Gefühl haftet ganz allein an der Gestaltung, es lebt nur von ihr und in ihr; es erlischt., sobald die gestaltende Kraft der Phantasie erlahmt. Es entbehrt deswegen auch eigentlich ganz des (im ausschließenden Sinn) individuellen Charakters. Nicht, daß ich, und nicht der und jener, Herr dieser Gestaltungen bin, ist sein Inhalt; das ist durchaus nichts Ästhetisehes, sondern ein nebenher gehender, ziemlich unaufrichtiger Selbstbetrug. Sondern allein, daß der gestaltende Geist Herr der Gestaltung ist, ist tiefster Quell der ästhetischen Freude. Das besagt aber im G runde nur, das Gesetz der Gestaltung sei Herr; und im rein ästhetischen Empfinden wird in der Tat nur dies empfunden.

Das religiöse Gefühl hingegen hängt durchaus n i c h t an der Gestaltung. Zwar sucht es auch alle Gestaltung zu durchdringen, da es überhaupt eine unumschränkte Herrschaft beansprucht über alles, was im Bewußtsein Sein und Leben hat. Aber es will noch etwas unergründlich Tieferes sein als alle einem Menschenbewußtsein faßliche, notwendig doch e n d l i c h e Gestaltung. Dieser über alle objektivierende Gestaltung (menschlicher Art) hinausgehende Anspruch der Religion ist es, für den ich keine andre Erklärung finde als in der Eigen¬heit des Gefühls. Was damit gemeint ist, die U n m i t t e l b a r k e i t rein innerlichen Erlebens, im Unterschied von aller objektivierenden und damit v e r ä u ß e r n d e n Gestaltung, der doch gerade das eigen ist, den »Gegenstand« vom unmittelbaren Erlebnis des Subjekts abzulösen und als ein Anderes, für sich Seiendes, ihm gegenüberzustellen.

Es ist die ursprüngliche Konkretion des unmittelbaren Erlebnisses, der gegenüber jede objektivierende Gestaltung zur blassen, unzulänglichen Abstraktion herabsinkt. Auch das Gefühl in der von Psychologen gemeinhin angenommenen Bedeutung der Lust und Unlust ist nur eine solche Abstraktion, in der nur gleichsam nach dem Pegelstand des augenblicklichen subjek¬tiven Befindens gefragt, von allem aber, w a s dabei innerlichst erlebt wird, geflissentlich abgesehen wird. Darin ist bestenfalls eine und zwar die äußerlichste, daher faßlichste Seite des Gefühls zum Ausdruck gebracht, sein wirklicher Gehalt aber ist ein ohne allen Vergleich reicherer.

Daß es so schwer ist, von diesem letzten Gehalt des Gefühls zu reden - »Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch« - versteht sich eben aus dieser seiner unnahbaren Innerlichkeit. Ausdrückbar wird es etwa nur durch die unausführbare Vorschrift: setze alle möglichen Abstraktionen, die irgend welchen besonderen Inhalt des Bewußtseins heraus¬lösen und damit objektivieren, voraus, laß aber dann diese Ablösung wieder ungeschehen und die herausgelösten Inhaltsbestandteile in die ursprüngliche V e r b i n d u n g, die alles mit allem im unmittelbaren »subjektiven« Bewußtsein hatte, zurückversetzt sein. Aber auch das ist schließlich nur ein abstraktives Verfahren, welches dem angeblich Unmittelbaren erst durch weite, ja grenzenlose Vermittlungen beizukommen unternimmt und es so erst recht nicht erreichen wird; aber eben indem auf diese Weise seine Unnahbarkeit durch den vergeblichen Versuch, ihm zu nahen, erst recht zum Bewußtsein gebracht wird, so wird damit die Existenz dieses Unnahbaren dem Zweifelnden gewiß gemacht. Für das Erlebnis des, Gefühls übrigens ist es in der Tat ganz gleichgültig, ob es einen zulänglichen Ausdruck überhaupt findet oder nicht; es will nur in reiner Gegenwart gelebt, es will nicht gedacht d. h. mittelbar vergegenwärtigt sein. In jener Klage: »Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr« ist das »ach« grundlos: eben diese Unaussprechlichkeit des Gefühls ist sein Höchstes.

Findet man für das so mehr Umschriebene als Beschriebene, zweifellos aber Vorhandene ein andres Wort passender als das Wort Gefühl, so wird niemand zögern, dies Wort preiszugeben.; es wurde gewählt, weil ein andres (meines Wissens) nicht gebräuchlich, dieses aber zweifellos oft so gebraucht, namentlich in die Sprache der Religionsphilosophie seit Schleiermacher als technischer Terminus eingeführt ist: Jedenfalls dürfte es in einer so gewichtigen Sache förderlicher sein um Sachen zu streiten als um Wörter. Man hätte meiner Aufstellung nicht entgegenhalten dürfen: Religion beruhe eben nicht auf einer seelischen Kraft allein, sondern auf allen zusammen; Verstand und Wille gehöre auch dazu. Eben dies »Alles in allem« der seelischen Kräfte ist, nach dargelegter Auffassung, das »Gefühl«.

Der Begriff, sofern er selbst und das darin Begriffene mir unmittelbares, subjektives Erlebnis ist, ist darin mitbefaßt; und so alles, was man sonst noch nennen mag; nur daß es eben jene Unmittelbarkeit besagt, in der nicht ein Besonderes sich als solches abgrenzt. Unter Denken aber verstehen wir ein solches Begrenzen, und so unter Wollen und so fort; insofern ist dieses alles nicht Gefühl; insofern, aber, behaupte ich, ist es auch nicht Religion. Daß aber der bloße, abgelöste Begriff, und wäre es der Begriff des Göttlichen, ohne diesen Grund der Innerlichkeit, aus dem er quillt, etwas Religiöses sei, ja, daß es überhaupt möglich wäre diesen Begriff mit der lebendigen Überzeugung seiner Wahrheit zu haben, anders als auf diesem Grunde innerlichen Erlebens, oder daß die bezügliche sittliche oder künstlerische Haltung oder was sonst noch als für Religion charakteristisch an¬gesehen werden mag, in der Seele lebendig sein könnte ohne diesen Grund der Innerlichkeit, das hat der Einwand ver¬mutlich nicht sagen wollen; wenn doch, so wäre er tatsächlich widerlegt durch das einhellige Zeugnis der ernst Religiösen aller Zeiten.

Es wird, wie man sieht, in dieser Grundbestimmung über den Gefühlsquell der Religion nur das unzählige Male Gesagte ganz beim Wort genommen, daß Religion unmittelbares Leben und nicht mittelbarer Begriff, oder ein bloßes Werk des Willens oder der Kunst oder sonst irgend ein äußerlich sich darstellendes Werk sei. Daraus aber erklärt sich nunmehr, weshalb auch die vollendetste menschliche Erkenntnis, menschliche Sittlichkeit oder menschliche Kunstgestaltung, oder auch dies alles im Verein, dem von Religion Erfüllten geradezu irreligiös erscheint. Das ist eben immer Abstraktion, Mittelbarkeit, Partikularisation des in sich konkreten, unmittelbaren, unzerstückten Ganzen des Erlebnisses, Veräußerlichung -V e r e n d l i c h u n g des in sich rein Innerlichen - Unendlichen.

Darin liegt nun der Kern des ganzen Problems, in diesem Begriff des Innerlichen, im Gefühl unmittelbar Erlebten, als des »Unendlichen«. Denn dies ist der Quell der T r a n s z e n d e n z, die von Religion untrennbar gehalten wird, und von ihr, sofern sie, ohne sonstige Rücksicht, rein als Religion sich vollenden will, auch in der Tat untrennbar ist. Man erkläre den Hang zur Transzendenz anders als aus dieser Rücksichtslosigkeit, in der reine Innerlichkeit des Gefühls sich aller objektivierenden Veräußerung gegenüber behaupten will-, ich habe eine andere Erklärung bisher nicht gefunden; glaubt man sich in ihrem Besitz, so werde ich dem dankbar sein, der sie mir faßlich zu machen der Mühe wert hält.

Denn aus keiner der drei Grundrichtungen der Objektivierung ist sie etwa begreiflich zu machen. Begreifen heißt begrenzen. Das Unendliche des bloßen Verstandes besagt; nur, negativ, die Unmöglichkeit, mit dem jederzeit endlichen und auf endliche Anwendungen allein zugeschnittenen Verfahren des verstehenden Bewußtseins je zu Ende d. h. zu einem abschließenden Ziel des Erkennens zu gelangen; allenfalls auch positiv die Immer-wieder-Anwendbarkeit desselben Verfahrens dieses verstehenden Bewußtseins.

So bedeutet die Unendlichkeit der Zahl: das Verfahren der Zählung sei so geartet, daß ein Weiterzählen, soviel an der Natur des Verfahrens liegt, immer möglich bleibt, daß es keinen Begriff einer letzten Zahl gibt. Und dem ähnlich verhält es sich mit jedem andern bloß verstandmäßigen Ausdruck des Unendlichen. Auch das »Absolute« bezeichnet nur negativ die Grenze des Begreifens, kein Begriffenes, keinen in einem positiven Begriff erfaßten oder erfaßlichen Gegenstand des Erkennens; es ist bestenfalls der Begriff davon, wie wir den Gegenstand begriffen haben müß t e n, um ihn ganz, ohne Einschränkung begriffen zu haben. Es ist für den Standpunkt des wirklichen Begreifens sogar ein sich selbst mißverstehender Aufgabenbegriff; denn menschliches Begreifen besteht nur und hat mir seine Aufgabe in einem Fortschreiten von Grenze zu Grenze, ohne Abschluß in einem solchen Begriffenen, woran nichts weiter zu begreifen übrig bliebe.

So ist aber nicht das Unendliche, das die Religion im Erlebnis des Innern, nicht sucht, sondern unmittelbar zu h a b e n, zu l e b e n glaubt. Zwar unternimmt sie wohl nachträglich auch das in den Formen des begreifenden Denkens auszudrücken, da sie, kraft ihres universellen Anspruchs auf das ganze Reich des Bewußtseins, auch das Gebiet des Verstandes, der theoretischen Erkenntnis, für sich zu erobern trachten muß. So arbeitet sie etwa ihr Dogma vom Unend¬lichen in aller Form begrifflich aus, und man empfindet vielleicht eine »innere«, d. h. subjektive Notwendigkeit dabei, die über die Skrupel des objektivierenden Verstandes hinweghilft; die Subjektivität ist ja, für den Standpunkt der Religion, eigentlich ein Lob und eine Tugend; das Subjektive, nicht das Objektive, ist ja für diesen Standpunkt eben das »Wahre«. Als bloßer, von Abstraktion zu Abstraktion, von Objektivierung zu Objektivierung in grenzenloser Stufenfolge fortschreitender, somit »endlicher« Verstand mag er im Recht sein; aber diesem stellt man gegenüber den höheren Verstand, und wäre es allein der göttliche. Das besagt aber in Wahrheit, man v e r s t e h t nicht, sondern postuliert ein Verstehen, das über alles (menschliche) Verstehen sei.

Im Gebiete des Willens aber hat zwar das »Unbedingte« eine ganz positive Bedeutung, doch nur die der Unbedingtheit des S o l l e n s, der A u f g a b e, nämlich einer geforderten, aber für Endliche nie erreichbaren letzten Einheit der Zwecke. Auch diese positivere Bedeutung des Unbedingten, Unendlichen also ist doch lediglich f o r m a l, mithin grundverschieden von dem, was Religion, wie gesagt, nicht sowohl sucht als zu haben behauptet. Reine Sittlichkeit - ein unerbittliches, abstraktes, unpersönliches Gebot ohne Erfüllung; ein Gericht, das nur verdammt, niemals freispricht; ein Gesetz, das uns in eine Schuld stürzt, für die es kein Lösegeld gibt - das ist nicht, worin Religion sich zu befriedigen vermag. Das ist nicht Gott, der nicht hilft, nicht uns nahe kommt oder vielmehr ewig nahe ist.

Man tut der Religion Unrecht, wenn man ihr vorwirft, daß sie nur die »Glückseligkeit« des Ich im Auge habe. Nein, sie will, jedenfalls in ihren höheren Formen, in der Tat die sittliche Reinheit; diese allerdings ganz individuell: »Was soll i c h tun, daß i c h selig werde« - selig in Reinheit, in Gerechtigkeit - so allerdings lautet ihre Frage. Und zwar verlangt sie in diesem gegenwärtigen Leben schon solcher Seligkeit gewiß zu werden, wenn auch nur mit der Gewißheit einer zweifellosen Verheißung; da sie sich doch nicht völlig dagegen verschließen kann, daß die ganze Erfüllung die Bedingungen dieses irdischen Lebens übersteigt.

Gerade die kühne These, dass nichts als »Glaube« dazu gehöre, um diese ewige Errettung und Erlösung von aller Schuld sich anzueignen (nämlich nicht etwa sich zu erwerben, sondern geschenkt zu erhalten), wird hieraus ganz begreiflich. Es gehört wirklich dazu nichts als die unbekümmerte Hingabe an jenen Drang des Gefühls, der in keine Grenze des Verstandes- oder Willensgesetzes sich einengen läßt, sondern kraft des souveränen Rechts seiner Unendlichkeit unendliche Gnade bereit hält für die unendliche Schuld des endlichen Willens, unendliche Macht, den unendlichen Abstand des Endlichen vom Ewigen zu überbrücken, unendliche Fülle unmittelbarer Wahrheit, um den unendlichen Zweifel des im Endlichen, Mittelbaren endlos verirrten Verstandes zu beschwichtigen.

Religion ohne Transzendenz ist nicht mehr Religion
: das hat man in allen Tonarten meiner früheren Darlegung entgegengehalten. Eine wunderliche Antwort, da ich doch eben dies behauptete, daß der Religion, bloß als solcher, die Transzendenz in der Tat unvermeidlich sei. Allein, eben diesen schier unüberwindlichen Hang zur Transzendenz zu e r k l ä r en, das war die Aufgabe, die ich mir stellte. Bliebe nun auch nur der negative Teil dieser Erklärung stehen: daß der Transzendenzanspruch sich n i c h t erklärt gemäß den eigenen Gesetzen des Verstandes oder des Willens oder der ästhetischen Gestaltung, so wie diese Gesetze bekannt sind aus der reinen, menschlichen Wissenschaft, aus der reinen, humanen Sittenlehre und der reinen, humanen Kunst, oder auch aus irgend einer letzten Vereinigung dieser aller etwa in einer (nicht selbst auf ein andres, nämlich religiöses Fundament gestützten) Philosophie der Erkenntnis - so bliebe zum wenigsten die Folgerung aufrecht: d a ß also ein K o n f l i k t b e s t e h t - wie denn angesichts der Geschichte dieser Konflikt sich ehrlicherweise nicht leugnen oder als bloßer Mißverstand Einzelner verstehen läßt - zwischen Religion und Humanität. Man kann dann diesen Konflikt von der einen oder andern Seite her zu überwinden versuchen; da ich nun von Seiten der Religion (der Transzendenz) die Möglichkeit seiner Überwindung nicht abzusehen vermag, so versuche ich es von Seiten der Humanität.

So kommen wir zu der zweiten, größeren Frage nach dem R e c h t e, und nicht bloß dem U r s p r u n g e, der Transzendenz. Der nichts-als-Religiöse zwar wird diese Frage gleich von der Schwelle abweisen: Begreiflich: h a b e ich Gott, was vermag dann wider mich aller Zweifel menschlichen Verstandes, menschlicher Sittlichkeit, menschlicher Kunstgestaltung? Dieser Zweifel selbst ist schon ein Beweis tiefer »Gottlosigkeit« oder doch Gottferne. Nicht die Religion überhebt sich, wird ein solcher sagen; was kann demütiger sein als das Gefühl: »Gott ist gegenwärtig«? Sondern die Überhebung ist auf der Seite der menschlichen Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, die sich vermißt, ihr gebrechliches »Gesetz«, jenes Kantische ABC, womit wir Erfahrung buchstabieren, zum Maßstab zu machen für - Gott den Unendlichen; während sie doch selber eingestehen muß, nichts als dies ABC und was sich damit buchstabieren läßt, zu kennen.

Das alles ist nur folgerichtig. Freilich ein seltsames Geschick, das der kritischen Vernunft begegnet. Lehrt sie die Selbstbescheidung, auf Transzendenz zu verzichten, so wird ihr Schuld gegeben, daß sie eben damit ihre Kompetenz überschreite und sich des Einbruchs in ein Gebiet schuldig mache, das ihr grundsätzlich verschlossen sei.

Eine Verständigung scheint hier ausgeschlossen; und daß sie ausgeschlossen ist, kann jenem nichts-als-Religiösen nur gerade recht sein. Man tritt nicht in Friedensverhandlung mit dem, den man niederzuwerfen gewiß ist; warum paktieren, wenn man Gott auf seiner Seite hat? Abfinden übrigens kann sich die Religion der Transzendenz mit der humanen Kultur ganz wohl: sie läßt sie ganz gelten, wofern sie sich nur dahin demütigt, ihr dienstbar zu werden und die Schranken sich gefallen zu lassen, die sie ihr bestimmt; nur leider nicht in reiner Anerkennung ihrer objektiv gesetzlichen Ansprüche. Abfinden kann sich umgekehrt die humane Kultur mit der Religion; aber nicht mit der Religion der Transzendenz, sondern allein mit einer solchen, die auf die »Grenzen der Menschheit« sich bereits zurückbesonnen hat. Wird diese von den Transzendenzgläubigen nicht mehr als Religion anerkannt, so vermag umgekehrt die reine Wissenschaft, die rein menschliche Sittlichkeit und die rein menschliche Kunstgestaltung das, was die Religion der Transzendenz aus diesem allen macht, nicht für echt und ehrlich zu erkennen.

Auf diesem toten Punkt ist der Streit gegenwärtig angekommen. Es fragt sich, ob es hierbei bleiben, ob also die Menschheit in diese zwei unversöhnlichen Parteien für immer auseinanderfallen soll. Warum nicht? wird der Religiöse sagen, dessen ganzes Denken ja darauf eingestellt ist, eine solche schließliche Dualität als unvermeidlich hinzunehmen; auch wenn ihm Hölle und Teufel zu etwas verblaßten Realitäten geworden sein sollten. Anders der Humanist. Er wird, nicht aus schwächlicher Friedenssehnsucht oder gar im Gefühl der eigenen Kampfunfähigkeit, sondern nach dem ganzen Prinzip seiner Denkweise den Ausgleich für möglich und notwendig halten; möglich und notwendig eben auf dem Boden - der Humanität.

Er wird versuchen, Religion selbst als eine Geburt des Menschentums zu begreifen; er wird versuchen zu zeigen, daß der Quell und innere Grund der Religion - derselbe . innere Grund, der, wenn ausschließlich wirkend, nicht in ein reines Verhältnis gesetzt zu Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, die Transzendenz und damit jenen unheilbaren Konflikt unvermeidlich herbeiführt - dann, wenn er dies reine Verhältnis zu suchen nicht verschmäht, auf die Transzendenz verzichten, und gerade so erst in seiner Reinheit, seiner echten Menschlichkeit sich enthüllen wird. Ich möchte, daß man auf diese Grundthese meiner früheren Schrift ernstlich eingegangen wäre. Die Antwort: Religion ohne Transzendenz sei eben keine Religion mehr, bedeutet, dieser These gegenüber, nicht eine Antwort, sondern ein Achselzucken.

Alle edleren Gestaltungen der Religion, gerade die, die man als die edelsten immer hat anerkennen müssen, enthalten rein humane, namentlich menschlich-sittliche Elemente von tiefster Bedeutung. Man kann dagegen einwenden: das beweise nur, daß solche Elemente sich mit Religion also verträglich erwiesen haben, und zwar mit der Religion der Transzendenz, die doch diese selben Religionen nicht etwa preisgegeben haben. Allein auf der Höhe ihrer Bewußtheit treten diese Elemente in unvermeidlichen Konflikt mit der Religion, sofern sie Transzendenz ist; während sie, wie ich behaupte, verträglich bleiben mit der Religion, die auf die Transzendenz verzichtet. Ob man das nun noch Religion nennen will oder nicht, ist gleichgültig. Es fließt aus demselben Quell, aus dem allein auch die Religion der Transzendenz fließt, es lebt in gleicher Art in der Seele des Menschen, es wirkt in gleicher Art, ja es i s t dasselbe, was jemals in der Religion r e i n e Kraft und Wirkung bewiesen hat, was in ihr W a h r h e i t gewesen und für immer ist. Mit dem Wegfall der Transzendenz wird nicht der Quell der Religion verschüttet, nicht ihre Kraft und Wahrheit entwurzelt. Ist dies so, so ist es wahrlich die müßigste aller Doktorfragen, ob man über das alles auch den Namen Religion beibehalten soll oder nicht.

Betrachten wir nun noch die Folgen, die aus der gedachten Umwandlung der Religion sich ergeben müßten. Die erste dieser Folgen ist der Wegfall aller und jeder Dogmatik.

Ursprüngliche Religion kennt kein Dogma. Sie hat Vorstellungen des Göttlichen, aber ohne irgendwelchen Anspruch wissenschaftlicher Geltung. Erst auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung nicht sowohl der Religion als der Wissenschaft stellt sich das Bedürfnis einer wissenschaftlichen Rechtfertigung der Religion allerdings naturgemäß ein. Aber auf dieser selben Stufe der bis zur Kritik entwickelten Wissenschaft wird diese Rechtfertigung auch sofort zurückgewiesen, da sie nun einmal die Grenzen und Gesetze menschlicher Wissenschaft übersteigt.

Bleibt nun dieser Einwand im Recht - fällt damit also die W a h r h e i t der Religion? Vielmehr bloß jener neue, u n w a h r e A n s p r u c h religiöser Vorstellungen auf schlechthin objektiven Erkenntniswert fällt hin. Die religiöse Vorstellungsbildung unterliegt eigenen Gesetzen, verschieden von denen der theoretischen Erkenntnis; aber sie tritt eben darum mit diesen nicht in Widerspruch, solange sie nicht den Anspruch objektiv-wissenschaftlicher Geltung erhebt, solange sie keine andre Bedeutung als die eines Haltes für das Gefühl beansprucht.

Aber man müsse von der W i r k l i c h k e i t des Vorgestellten überzeugt sein, hält man entgegen. Es ist zu antworten; diese Wirklichkeit wird anfangs naiv geglaubt, wie die der täglichen Drehung des Himmels um die Erde; ist aber einmal diese Naivität zerstört, ist die Frage nach der Wirklichkeit eine wissenschaftliche erst geworden, so kann auch nicht länger verborgen bleiben, daß die Bestimmung »Wirklichkeit« dem Gesetze des erkennenden Verstandes unter¬liegt und an ganz bestimmte erkenntnisgesetzliche Bedingungen gebunden ist. Diese aber schließen eine erkennbare Wirklichkeit des Unbedingten aus; eine theoretische Behauptung von Wirklichkeit, die diese Grenze nicht innehält, ist wissenschaftlich unzulässig.

Aber vielmehr ist die »Wirklichkeit«, deren die Religion bedarf, gar nicht im Gebiet und gemäß den Begriffen theoretischer Erkenntnis zu suchen. Religion will gar nicht ver¬mittelte Erkenntnis, sondern unmittelbares Erlebnis sein. Es hat aber keinen Sinn, eine andre Wirklichkeit unmittelbar im Gefühl erleben zu wollen als die Wirklichkeit des Gefühls selbst. Die religiöse Vorstellung ist rechtmäßigerweise nur Gefühlshalt, nur Ausspruch, Buchstabe; es ist widersinnig für diesen Buchstaben noch eine besondere Buchstabenwahrheit zu verlangen, verschieden von der Wirklichkeit des Gefühlserlebnisses, das darin zwar sich aussprechen möchte, aber sich dabei doch bewußt bleibt, sich nie wirklich aussprechen zu k ö n n e n, und im Grunde auch nicht aussprechen zu w o l l e n.

Stark religiöse Naturen haben denn auch stets die Unzu¬länglichkeit jedes Dogmas mehr oder weniger empfunden. Sollte es nicht heißen mit der Innerlichkeit der Religion erst ganz Ernst machen, wenn man den Wegfall jeglicher Dogmatik fordert?

Jede Gottesvorstellung, jeder ausgeführte Gedanke von Gott ist nun einmal unvermeidlich anthropomorph. K a n n man unter Gott etwas Andres denken als die Menschheit - den »Geist«, den wir nur kennen als menschlichen - zur Idee erhoben? Weiß man auch nur ein einziges göttliches »Attribut« anzugeben, das etwas andres nennt als eine menschliche Eigenschaft, nur mit der an einer solchen leider unvollziehbaren näheren Bestimmung der Unendlichkeit, Absolutheit? Woher anders könnte uns wohl irgend ein Inhalt des Begriffs des Göttlichen kommen als aus uns selber? Wie nach alter Lehre alle »Offenbarung« Gottes an den Menschen die Sprache des Menschen redet, um doch von Menschen verstanden zu werden - weshalb man sich auch an dieser menschlichen Sprache nicht stoßen dürfe -, so muß ja all ihr Sinn menschlich sein, da er nur dadurch Menschen verständlich und von irgend welcher auch nur subjektiven Wahrheit für Menschen sein kann, daß es menschlicher Sinn ist. Sie macht Gott zum Vater, zum Bruder, zum Richter, Gesetzgeber und Kriegsherrn, schließlich zum höchsten Walter des Wissens, zum größten Geometer und Naturkundiger, zum vollkommenen Künstler - kurz, das ganze Universum des Menschentums muß dienen, die Idee des Göttlichen aufzuerbauen.

Wodurch anders sollte der Mensch zu dieser Potenzierung seines eigenen Wesens in der Idee des Göttlichen wohl geführt werden, als dadurch, daß eben dies Universum seines Innern ihm ahnend bewußt wird, und in dieser Ahnung er sich getrieben fühlt, an sein eigenes, reinstes Ideal sich mit vollem, ungehemmtem Gefühl hinzugeben? Somit ist die religiöse Vorstellung unverwerflich als Gefühlshalt, auf höchster Stufe als Symbol, nämlich im künstlerischen Sinne des »aufrichtigen Scheins«, nicht aber der Behauptung der wirklichen Gegenwart des Unendlichen in dem doch immer sterblichen Leibe der Vorstellung. Wir glauben nicht, daß bei voller Klarheit der Selbstbesinnung dieser Stufe der Reinigung der Religion ehrlicherweise mehr ausgewichen werden kann. Man kann wohl in Einzelrichtungen wissenschaftlich forschen, aber man kann nicht philosophieren, nicht Wissenschaft treiben mit reinem Bewußtsein dessen, was man tut, ohne diese Konsequenz.

Noch weit schwerer wird wohl manchen die zweite Forderung bedünken, die sich auf das sittliche Verhalten des religiösen Menschen bezieht. Auch dieses kann für das erwachte kritische Gewissen nicht unverändert das bleiben, was es war. Der Anspruch des unmittelbaren Ergreifens des sittlichen Heils, diese - so emporhebende, so weltüberwindende - Überzeugung, daß man seine »Rechtfertigung« und »Versöhnung«, die Wiederherstellung seiner Gotteskindschaft in begnadeter Stunde in der Seele unmittelbar erlebe, ist nicht haltbar.

Es ist auch hier, wie man sieht, nicht die Rede von dem vielgescholtenen Glückseligkeitsanspruch der Religion, sondern von ihrem Allerheiligsten, von der sittlichen Reinigung, die sie ihren Gläubigen verheißt. Es ist hart und kann selbst sittlich gefährlich scheinen; von sieh selbst und vollends vom Andern zu fordern, daß man sogar auf diesen rein sittlichen Glauben der Religion verzichte. Und doch ist es notwendig, denn dieser Glaube hält vor der ganzen Schärfe gerade der sittlichen Kritik nicht stand. Denn sie fordert Wahrheit über alles, und wäre es über unser Heil; obgleich sie den Glauben nicht verbietet, daß zuletzt Wahrheit auch unser Heil ist, auch wenn wir es jetzt nicht erkennen. Es ist aber nicht Wahrheit, was der Überschwang des sittlichen Gefühls, die Selbstgewißheit des Gefühlserlebnisses des Sittlichen, uns zu glauben verführt: daß wir in eben diesem Erlebnis nun sittlicher Reinheit und gottgleicher Schuldlosigkeit teilhaft geworden seien. Die Wucht der Schuld, wir müssen sie weiterschleppen, und in harter, resignierter Arbeit ihr ein reelles Gegengewicht schaffen; eine andre Erlösung gibt es sittlicherweise nicht.

Also gibt es keine, wird man antworten; denn dies Gegengewicht - wie oft hat man uns das vorgerechnet - vermögen wir nicht aufzubringen. - Nun denn, so muß man, wenn Friedrich Vischer trotzig dichtet: »Es gibt keinen lieben Vater im Himmel«, auch hinzusetzen: es gibt keine Erlösung, sondern Arbeit ist Menschenlos, ein Streben sonder Rast zum ewig fernen Ziel.

Und dennoch: »In Seelen, die das Leben aushalten und Mitleid üben und menschlich walten, mit vereinten Waffen wirken und schaffen trotz Hohn und Spott - da ist Gott«. Der in der Religion schlummernde sittliche Glaube hat Tausenden Kraft gegeben eben hierzu; solche Kraft kann nicht aus nichts, aus leerer Einbildung entstammen. Es muß also solche Kraft im Gefühlsgrunde der Religion liegen, eine Kraft zu trauen auf die Realität der sittlichen Aufgabe, allem zum Trotz. Aber braucht dies Zutrauen, neben diesem subjektiven, einen andern o b j e k t i v e n Grund als das Sittengesetz selbst, welches spricht: Du kannst, denn du sollst?

Erhebt sich nicht unsre Seele zum Sittlichen, indem sie es als ihr eigenes Gesetz erkennt, und liegt nicht in eben dieser Erkenntnis Grund genug zum Vertrauen, daß das Sittliche, dessen Idee wir haben und als letztes Gesetz unsres eigenen Wollens in uns finden, auch den Sieg behalten muß über alles, was in oder außer uns ihm widerstrebt? Kann nicht die Größe dieser Erkenntnis unsre Seele auch ausfüllen mit mächtigem und doch beruhigtem Gefühl: Hier ist das Heil, und es ist dir errungen, so du nur in deiner Seele es fest fassen und halten, so du nur »glauben« wolltest?

Ich kann nicht erkennen, daß Religion in ihrem wahren Grunde mehr oder andres sagte; was sie sonst noch sagt, verstehen wir nicht, und was nicht verstanden wird, ist so gut wie nicht gesagt. Der Fehler liegt allein in der überschwänglichen Beziehung dieses rein menschlich verständlichen Erlebnisses auf die in mir dem Individuum nun übernatürlich gegenwärtige Gottheit. Gewiß muß die reine Idee auch in Beziehung treten zu meinem individuellen Sein und Leben, wenn sie mir dem Individuum jene Erhebung bedeuten soll. Aber die Reinheit der Idee selbst leidet Schaden, wenn die mit noch so reiner Selbstgewißheit des Wollens ergriffene sittliche Aufgabe aufhört als Aufgabe verstanden zu werden; wenn das ewig Seinsollende als in diesem Augenblick wahr und wirklich g e w o r d e n geglaubt wird.

Gerade das heißt den tiefsten Quell des Sittlichen verunreinigen, denn das sittliche Wollen fließt allein aus dem Bewußtsein der ewigen Aufgabe. »Glaube« ist ein gutes Wort dafür, gerade sofern es einschließt, daß wir »nicht sehen und doch glauben«. Überbietet also nicht der sittliche Glaube den religiösen (im Sinne der Transzendenz) sogar in der Energie des Glaubens selbst?

Die r e l i g i ö s e S y m b o l i k endlich vermag ihre Bedeutung unverkürzt zu erhalten, bis auf das Eine, daß sie das endliche, ja sinnliche Zeichen nicht bloß als Zeichen, als Stützpunkt des Gefühls ansieht, sondern eine Gegenwart des Unendlichen im Endlichen, des Ewigen in der Zeit dabei dogmatisch behauptet, daß das Symbol des Heiligen zu dem Heiligen selbst gemacht wird, und in dieser Meinung etwa der Gestus der Anbetung sich gegen es richten darf. Ganz hat auch der bilderfeindlichste Kultus das nicht gemieden. Das Angebetete, Göttliche soll unsichtbar, ohne körperliche Sinne, auch keinem menschlichen Laut erreichbar sein; aber die sichtbare Gebärde, die hörbare Sprache der Anbetung scheint doch es in den Ort und Augenblick bannen zu wollen. Sobald die Gegenwart des Göttlichen so genommen wird, ist der Sinn des »aufrichtigen Scheins« verletzt, und eine Dogmatik in die an sich rein ästhetische Gestaltung hineingetragen, die doch dem Ästhetischen seinem ganzen formalen Grunde nach fremd und feindlich ist.

Auch hier wird nur die Wahrheit der Sache in ihrer Reinheit wiederhergestellt, wenn man den transzendenten Sinn des Symbols abstreift und ihm die klare, unangreifbare Bedeutung der künstlerischen Gestaltung zurückgibt, die einzige, die es ehrlicherweise behaupten kann und die es erfahrungsmäßig auch an dem unverkürzt beweist, der den dogmatischen Sinn des Symbols ganz verwirft. Der Transzendenzgläubige wird freilich eben hieran sich stoßen; so wie selbst einer der feineren Gelehrten aus dem ultramontanen Lager den Faust-Epilog für eine Blasphemie erklären konnte. Uns Andern ist es eine gewichtige Betätigung, daß die Kunst und Dichtung schon längst den Weg gegangen ist, den wir vorschlagen, und zu einigen ihrer unsterblichsten Schöpfungen auf diesem Wege gelangt ist.

So also ist die Wandlung, der Religion, die wir nicht fordern, sondern erwarten; die, in Vielen ohne klares Wissen, in Wenigen bewußt, schon jetzt vollzogen ist. Es bleibt übrig zu untersuchen, welche Wirkung die so gereinigte Religion - aber auch die überkommene Religion, insofern sie die aufgezeigten wesentlichen Momente, wenngleich in noch nicht abgeklärter Reinheit, dennoch enthält - in sittlicher Hinsicht, im Verein mit allen früher aufgewiesenen Faktoren der sittlichen Bildung, zu üben imstande ist.

Anteil der Religion an der Willenserziehung (§ 34)
Wie allgemein die Harmonie der menschlichen Kräfte dadurch bedingt ist, daß jede in ihrer unvermischten Eigenart zur Geltung kommt, so hat auch die Hilfe, welche die Religion der Sittlichkeit leistet, zur Voraussetzung, daß die Grenzen zwischen beiden sich nicht verwischen. Dauernd wird sich Religion nicht zu einer bloßen Krücke der Sittlichkeit, einer mehr neben so vielen andern, hergeben; wie umgekehrt eine gereinigte Sittenlehre sich weigert anzuerkennen, daß sie dieser Krücke an sich bedürfte.

Einen neuen Inhalt hat Religion der Sittlichkeit in der Tat nicht anzubieten, wie wir uns überzeugten. Wohl aber kann sie durch den Einfluß, den sie auf das Gefühlsleben überhaupt gewinnt, von Seiten des letzteren der bereits fest in sich gegründeten, ihres Inhalts gewissen sittlichen Überzeugung neue Kräfte zuführen, dieser Überzeugung auch nachzuleben. Aber gerade nicht die Hochflut des Enthusiasmus vermag dies, der so oft ein Niedergang oder bleierne Wind¬stille folgt; sondern allein die stetige Wärme eines durch richtige Einsicht und reine Entschließung geläuterten, am »aufrichtigen Scheine« der Kunst oft erquickten und erbauten Gefühls, insbesondere des an der Gemeinschaft genährten. Das »mit vereinten Kräften Wirken und Schaffen«, das besonders gibt dem Gefühl den Halt, ohne den es schwer sein möchte, »das Leben auszuhalten«.

Daß aber der Individualitätscharakter des Gefühls an sich der Gemeinschaft nicht widerstrebt, dafür ist gerade die Religion bestätigend, die sich allzeit gemeinschaftbildend bewiesen hat. Selbst die Idee einer Gemeinschaft des ganzen Menschengeschlechts hat sie zuerst uns errungen. Desgleichen hat sie den Begriff einer gemeinsamen Geschichte der Menschheit zuerst aufgestellt. Sie konnte es, weil in ihr das Erlebnis der Idee verborgen lag, das erst eine Menschheit geschaffen hat. Das ist es, worin die religiöse Geschichte alle Geschichten überragt und eine schlechthin unvergleichliche Bedeutung gewinnt: daß sie die Idee einer die Menschheit umspannenden Einheit des Erlebens schlicht und konkret, als Tatsache, nicht bloße Lehre, hinstellt, dem einfachsten Gemüt offenbar, und dem erhabensten Verstande unergründlich. Angesichts dessen will es doch allzu ahnungslos erscheinen, wenn man die religiösen Stoffe in einem »ethischen« Unterricht etwa auf einer Linie mit Grimms Kindermärchen, Robinson und Homer aufmarschieren läßt.

Also: Religion kann nur als etwas Eigenes, nicht als bloßer Bestandteil oder Anhang der Sittenlehre, für die Erziehung fruchtbar gemacht werden. Desto näher freilich rückt die Gefahr der Transzendenz. Es wäre schon etwas gewonnen, wenn diese wenigstens dem ganzen übrigen Unterricht ferngehalten würde, nicht in Geschichte und Literatur und gar in die Naturlehre sich einmengen dürfte. Andrerseits kann dem Privaten, der seiner Gewissenspflicht als Erzieher nur durch eine religiöse Erziehung im Sinne der Transzendenz zu genügen glaubt, das Recht, eine solche seinem Kinde zu geben oder geben zu lassen, gegenwärtig nicht bestritten werden, da die öffentliche Erziehung bisher nicht in der Lage ist, die Sorge und Verantwortung für die Erziehung etwa ausschließlich auf ihre Schultern zu nehmen. Dagegen, wenn die Religion der Transzendenz mit allgemeinem Zwang jedem ohne Unterschied aufgedrungen wird, so wird damit nicht minder die Gewissensfreiheit dos andern Teils vergewaltigt. Also ist der Grundsatz, Religion im Sinne der Transzendenz als »Privatsache« anzusehen, für eine heutige Schulpolitik der einzig annehmbare.

Aber muß nun darum Religion i n j e d e m S i n n e aus der öffentlichen Erziehung verbannt werden? Das ist es, was ich nicht einsehen kann. Ich habe in meiner früheren Schrift ausgeführt, weshalb diese Folgerung, selbst für den Fall, daß man nicht mit mir eine Religion ohne Transzendenz anerkennt, nicht berechtigt scheint. Religion, das kann einmal nicht verkannt werden, ist bis jetzt viel zu sehr ein unablöslicher Bestandteil des wirklichen, uns rings umgebenden Lebens, und ein Bestandteil dessen, was sich von heimischer Geschichte, Literatur und Kunst noch lebenskräftig im Volke erweist, als daß es zulässig oder überhaupt möglich wäre, die allgemeine und öffentliche Erziehung mit einem gewaltsamen Riß, heute oder in naher Zukunft, von ihr ganz zu lösen. Und so müssen freilich die, welche nur eine Religion der Transzendenz kennen und diese mit uns ablehnen, die ernsteste Schwierigkeit finden, mit der öffentlichen Erziehung, wie sie gegenwärtig ist und nur sein kann, sich überhaupt auf erträgliche Weise abzufinden.

Nachdem sich uns aber eine Möglichkeit eröffnet hat, den menschlichen Kern der Religion festzuhalten und nur den unhaltbaren Anspruch der Transzendenz abzulehnen, wird damit das Problem lösbar. Nur was allgemein überzeugend gemacht werden kann, darf Gegenstand eines für alle pflichtmäßigen Unterrichts sein.

Dieser Bedingung aber genügt nicht die Religion, insofern sie den Transzendenzanspruch einschließt, dagegen wohl die Religion in ihrer rein humanen Bedeutung. Tatsächlich hat die Religion der Transzendenz die allbeherrschende Bedeutung, die ihr ehedem willig zugestanden wurde, schon längst eingebüßt. Selbst, wer sie zurückwünscht, sollte doch für ehrlicher erkennen, daß sie abließe, Ansprüche zum Scheine aufrechtzuerhalten, die sie in Wahrheit schon längst nicht mehr durchsetzt. Umso reinere Anerkennung würde dem echten Kerne der Religion zuteil werden. Das ist der einzige Weg, den ich für gangbar und zum Ziele der unverkürzten und in sich harmonischen menschlichen Bildung führend erkennen kann; der einzige daher auch, auf dem ich die sittliche Wirkung der Religion suchen kann.

Was nun den religiösen Erziehungsgang im besonderen betrifft, so scheiden sich wieder in größter Deutlichkeit die drei S t u f e n menschlicher Bildung.

Die unterste ist die des naiven, noch mit keinem Anspruch der Wissenschaft und der reinen humanen Sittlichkeit komplizierten und daher kollidierenden »Kinderglaubens«; die gefahrloseste von allen. Diese Stufe der Religion dem Kinde vorzuenthalten, sehe ich keinen stichhaltigen Grund. Von dogmatischer Verhärtung oder von irgend einer sittlichen Gefahr kann auf dieser Stufe doch nicht die Rede sein. Gott ist dem Kinde im menschlichsten Sinne Vater, das Christkind ein lieber Gespiele seiner Gedanken, in dem es das Beste, was es selbst sein möchte, dargestellt denkt. Es hat an diesen schlichten, ganz im Bereiche des Menschen verbleibenden Vorstellungen einen Gemütshalt, den man ihm, wo er sich natürlich aus seiner Umgebung aufdrängt, nicht vorenthalten oder durch altkluge Kritik verleiden sollte. Es ist reine Idealisierung sittlicher Grundbeziehungen des Menschen in einer dem Kinde durchaus faßlichen Form.

Will man etwas von dieser Bedeutung sich klar machen, so vergegenwärtige man sich den Christknaben der Sixtinischen Madonna; in diesem weit, ins Unermeßliche blickenden Auge liegt eine Ahnung von Wahrheit, von Schaffensgewalt und unergründlicher Liebe, die hoch über jede Märchengestalt hinausragt. Das ist nicht ein Menschenkind wie andre, oder ein wundersames Märchenkind etwa, sondern es ist das Kind Mensch, nach dem Höchsten, was dies Wort einschließen kann, mit dem Hinweis auf die Idee, die all-eine, ewige; so wie die Mutter, die unter dem Geleit der Himmlischen den Knaben uns, nein, der Menschheit zum Beschauen entgegenträgt, nicht bloß eine Mutter, sondern die Mutter, nicht bloß ein Weib, sondern das Weib, nach dem Anteil, der an der Idee der Menschheit ihm zukommt. Ja es darf wohl in der menschlichen Mutter des Mensch gewordenen Gottes die Ahnung gefunden werden, daß Gott, der Gott, den Menschen sollen glauben können, seinen Ursprung haben müsse in der Idee des Menschen selbst.

Und so hat es wiederum auch Sinn, daß der Mensch von Gott geschaffen sei. Denn nicht ohne den Inhalt der Idee, der den Völkern unter dem Namen Gott lebendig gegenwärtig ist, ist der Mensch Mensch. Will man sich auch das an einer künstlerischen Darstellung vergegenwärtigen, so denke man an die Erschaffung des Menschen im Deckenbild Michelangelos. Das S e l b s t b e w u ß t s e i n des zur Mannheit erstarkten Menschen ist es, das, auf den Wink des gewaltig in stürmender Wolke einherfahrenden Gottschöpfers, in dem vollendeten Mannesbilde dort wie aus tiefem Schlummer erwachend sich emporhebt.

So hat die Naivität der höchsten Kunst die religiösen Grundvorstellungen sich gedeutet. Und ganz in dieser Naivität nun vermöchte das Kind sie aufzunehmen. Pestalozzis wundervolle Schilderungen der frühesten, grundlegenden religiösen Bildung liegen ganz auf dieser Linie. Auf diesem Boden kann der Anhänger Feuerbachs mit dem Gläubigen alten Stils sich ruhig vertragen. Denn auch dieser kann nicht verlangen, daß dem Kinde etwas andres von Religion geboten werde als was kindlich und also menschlich ist. Ist es nicht aber ein Zeugnis für den humanen Ursprung der Religion, daß eben dieser Kindesglaube den Gläubigen immer als das wahre verlorene Paradies der Religion vorschwebt? Ist nicht gesagt: So ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr das Reich Gottes nicht schauen?

Die eigentliche Krise der religiösen Bildung gehört der zweiten Stufe, der des Begriffs. In wem der religiöse Drang einmal allbeherrschend geworden ist, der wird den Begriff entweder ganz ablehnen oder sofort zum Dogma verhärten; in wem umgekehrt der Sinn der Kritik früh erwacht, der wird in Gefahr kommen, sogleich mit allem Religiösen als leerem Kindertrug zu brechen. Und es ist, glaube ich, nicht so ganz selten, daß schon der Heranwachsende diese Wegscheide bestimmt vor Augen sieht. Daher sehe ich keinen andern Rat für die Erziehung, als daß sie die religiösen Begriffe zwar entwickle, denn man soll sie kennen, selbst um sie verwerfen zu dürfen, aber zugleich in keiner Weise ihre Partei nehme, und darauf halte, daß auch der Zögling sich nicht getraue vor der vollen Reife des Urteils, die er auf dieser Stufe noch nicht haben kann, für oder wider zu entscheiden.

Irgend eine dogmatische Entscheidung ist für das Schulalter ohne jede Frage verfrüht, also darf sie nicht verlangt, sondern muß, wenn möglich, sogar hintangehalten werden. Die erziehende Wirkung der Religion hängt an ihr durchaus nicht; es ist erziehender, vor eine so große Frage gestellt zu Werden als eine fertige Entscheidung diktiert zu erhalten, mit der Zumutung, sie um jeden Preis anzunehmen, selbst ohne Einsicht, selbst wider den vielleicht schon sich regenden Zweifel. Wer einmal als Vierzehnjähriger mit schon erwachtem Denken diesen Kampf mit sich hat kämpfen müssen, wird zwar vielleicht die erlebte innere Aufrüttelung auch später nicht aus seinem Bildungsgang wegwünschen, aber die Erinnerung daran wird ihm zeitlebens peinlich bleiben, daß ihm zugemutet wurde, bei seiner Seelen Seligkeit für dies und ein andres Leben sich in einem bestimmten Sinne zu entscheiden, bis dann und dann, und vor versammelter Gemeinde feierlich Zeugnis davon abzulegen.

Es ist darum nicht meine Meinung, daß die religiösen Begriffe in absichtlicher Kälte und Gleichgültigkeit gegen den Gefühlsgehalt, der sich unter ihnen birgt, sollten dargelegt werden. Da vielmehr die ganze Bedeutung der Religion im Gefühl liegt, da auch die religiösen Begriffe nur aus diesem Quell ihre Nahrung ziehen, so muß man im Gegenteil wünschen, daß sie nur auf der Grundlage eines starken religiösen Empfindens zu erwachsen scheinen, d. h, wir wünschen als Religionslehrer Menschen, denen Religion Herzenssache ist, die für ihren Gefühlsgehalt zum wenigsten nicht empfindungslos sind.

Daß Menschen zur Religion kommen, und gerade zu dieser, wird nur verständlich aus dem seelischen Konflikt,
von dem eigentlich das religiöse Pathos sich nährt: ist Gott und gilt für den Menschen sein heiliges Gebot, so vermag er doch als Mensch nicht es zu erfüllen, er ist also gegen Gott in ewiger Schuld; wer erlöst ihn von dieser Schuld? Nur Gott selbst, eben indem wir ihn in unsre Seele aufnehmen, und ganz in ihm leben. Dies, und so der ganze Gedankengang der Erlösungslehre, läßt sich nach seiner Gefühlsbedeutung auch dem verständlich machen, der diese Lehre als Dogma sich nicht anzueignen vermag, dem der zu Grunde liegende wahre Konflikt sich einmal anders, oder auch gar nicht, lösen wird. Auch er kann das verstehen als ein ungeheures Drama, an die Seele greifend wie kein anderes, weil es den Menschen, jeden besonders und das Geschlecht im ganzen, so unmittelbar, im Innersten trifft wie kein andres.

In solchem Sinn vor die F r a g e der Religion gestellt zu werden, kann auch in sittlicher Absicht dem heranreifenden Menschen sicherlich nicht schädlich sein; außer wenn, wie freilich jetzt, die Forderung der Entscheidung, und zwar in e i n e m ausschließlichen Sinne, bei Strafe ewiger Verwerfung, unmittelbar dahinter steht. Diese Forderung freilich muß den Konflikt, insofern er überhaupt ernst genommen wird, bis zum kaum Erträglichen verschärfen und droht dann die seelische Entwicklung ganz aus dem Geleise zu bringen. Die A u f r i c h t i g k e i t wird dadurch untergraben, indem eine für ewig bindende Entscheidung vor erlangter Reife erzwungen und die ganze Skala der Gemütserschütterungen von tiefster Zerknirschung bis zur überschwänglichsten Erhebung der jugendlich biegsamen Seele zugemutet, ja aufgedrängt wird. Und wiederum muß die offenbare Unnatur und schließlich Unwahrheit solcher Zumutung den, der sich in eigentlich gesunder Reaktion dagegen wehrt, dann fast unvermeidlich dahin bringen, sich des ganzen Ernstes der Frage lieber zu entschlagen, oder mit ein paar leichten Rührungen und noch weniger ernsten Gelübden sich äußerlich. mit ihm abzufinden; um dann entweder die öde Heuchelei lebenslang fortzusetzen, wie es doch leider recht viele fertig bringen, oder bald, von Ekel über sich selbst und über dies ganze Spiel erfaßt, der Religion ganz und auf immer den Rücken zu wenden.

Es muß wohl überaus schwer sein für den Religiösen, sich darein zu finden, daß das, was ihm als sein Heiligstes bewußt ist, einem Andern verständlich sein kann, ohne zugleich überzeugend zu sein; sonst wäre es gerade vom Standpunkt der Religion selbst schier unbegreiflich, daß man diese Art, Religion als notwendig anzunehmende Überzeugung und nicht bloß Gegenstand gemütlicher Aneignung dem Kinde von 12-14 Jahren mit allen Mitteln psychologischen Zwanges aufzudrängen, ja ganz eigentlich zu suggerieren, noch immer nicht bloß nicht bedenklich findet, sondern für hoch nötig, wohl gar für die einzige Rettung der gesunkenen Menschheit hält, so daß ein aufrichtiger Kampf dagegen schon als Friedensbruch, als Aufreizung zum geistigen Umsturz empfunden wird. Allein wenigstens die Pädagogik hat schon längst gegen solches Verfahren unerschrocken ihre Stimme erhoben, und sie muß es unermüdlich immer von neuem tun. Es fordert nichts weiter als Ehrlichkeit gegenüber der tatsächlichen Lage, anzuerkennen, daß religiöses Verständnis möglich ist ohne religiöse Überzeugung; daß das erstere von jedem normal Gebildeten erwartet und in einigem Maße auch verlangt werden kann, das letztere nicht.

Daraus ergibt sich die Forderung eines »undogmatischen« Religionsunterrichts, jedenfalls für die Öffentliche und allgemeine Erziehung, neben welcher, solange die patria potestas im bisherigen Sinne in der Erziehung gilt, eine, sei es ganz private oder korporative religiöse Erziehung im Sinne der einzelnen Bekenntnisse allerdings nicht ausgeschlossen werden kann. Auf dem Boden des Verständnisses ist Gemeinsamkeit möglich und wird immer möglich bleiben, auf dem Boden der Überzeugung ist sie zur Zeit ausgeschlossen; das allein müßte in unserm Sinne entscheiden, da die Gemeinsamkeit eine zu wesentliche Bedingung nationaler Erziehung ist, um je wieder aufgegeben werden zu können, selbst wenn dadurch (was ich nicht zugebe) eine erträglichere Lösung der religiösen Frage ermöglicht würde.

Daß auch das Tiefste der Religion, die Erlösungslehre, dem nicht religiös Überzeugten dennoch verständlich sein kann, dafür genügt es, sich auf die Wirkungen der gewaltigen künstlerischen Darstellungen, etwa der Matthäuspassion oder der H-moll-Messe Bachs zu berufen. Das ist aus den tiefsten Tiefen des religiösen Gemüts geschöpft, wie wohl nicht leicht einer wird leugnen wollen, und doch ergreift es den nicht religiös Überzeugten mit nicht geringerer Gewalt; jede innerste Regung des Gemüts, die da zu überzeugender Aussprache kommt, durch ihre Vermittlung aber schließlich auch die gedankliche Fassung, wird ihm verständlich.

Der Schluß liegt doch nahe genug: also muß wohl gerade dieser tiefste Gehalt der Religion rein menschlich, und er muß unabhängig sein von einer dogmatischen oder überhaupt irgend welcher Überzeugung; die auf eine andre Wirklichkeit als die des innersten Gemütslebens des Menschen selbst sich bezöge. Wollte man sich doch entschließen auf diesen unerschütterlichen Grund allein zu bauen, und gerade um der reinen Gemütswirkung willen lieber verzichten auf jeden auf die Überzeugung geübten Zwang, in einem Alter zumal, wo die verlangte Überzeugung ganz rein und unerzwungen kaum vorhanden sein kann.

Zuletzt freilich muß es auch Bedürfnis werden, eine feste Stellung zur Religion sich zu erringen. Dies ist die Aufgabe der dritten Erziehungsstufe, als der der autonomen Kritik. Ohne religionsgeschichtliche und wenigstens vorbereitend religionsphilosophische Belehrung würde aber diese Entscheidung der sicheren Basis entbehren. Denn das Ziel muß sein die Abklärung der Religion zur Ideenerkenntnis. Indem wir dieses Ziel der religiösen Bildung stecken, scheiden wir uns scharf von jedem »Illusionismus«, ebenso wie wir von der b l o ß e n Aufklärung uns geschieden haben durch die ausdrückliche Anerkennung der unzerstörlichen Gefühlsgrundlage der Religion.

Eine Illusion, einen subjektiv festgehaltenen Glauben an das objektiv als falsch oder doch nichtbegründet Erkannte empfehle oder verteidige ich nicht. Was ich als echten Gehalt der Religion festhalten will; woran zugleich die ganze Wärme des Gefühls sich heften darf und soll, es ist zuletzt die Idee und nichts andres; sie aber gilt mir als so objektiv erkennbar wie irgend ein Satz der Wissenschaft oder theoretischen Philosophie objektiv erkennbar ist. Es ist nur die unmittelbare Beziehung auf das Erlebnis des Individuums, was dem Ideenglauben das Pathos der Religion hinzufügt und zugleich die sinnbildliche Vorstellung, eben als Halt für das Gefühl, als Mittel seiner »Erbauung« herbeiruft. Dem zu wehren, sehe ich keinen Grund, obgleich es subjektiv ist; wofern nur der falsche Anspruch aufgegeben wird, daß in dem Sinnbild das Objekt der Idee mir dem Individuum leibhaft gegenwärtig und gegeben sei. Das geklärte Verständnis des ganzen Sinns einer Idee aber macht ja einen so verkehrten Anspruch zur vollen Unmöglichkeit.

Gerade so aber leuchtet erst ein, wie Religion der Sittlichkeit zu einer sehr gewichtigen, durch nichts andres zu ersetzenden Stütze werden kann. Sie macht für sich nicht sittlich; keiner der sonstigen Faktoren der Willenserziehung wird durch sie etwa ersetzt; aber auch sie selbst ist durch keinen der andern Faktoren ersetzlich; sondern im Verein mit ihnen allen erfüllt sie noch eine eigentümliche und wichtige Aufgabe - die sittliche Idee, die sonst nur als ungreifbar fernes Ziel dastände, zum unmittelbarsten, innerlichsten Leben des Individuums in Beziehung zu setzen, ihm nah und gegenwärtig zu halten, und so seinem Gemüt eine stetige und gleichmäßige Erwärmung für das Gute mitzuteilen, die die sittliche Entschließung auch im schwersten Fall aus voller Seele fließen und sie die Seligkeit des Glaubens nicht vermissen läßt, ohne die in den ersten Erschütterungen des Lebens auch der Starke vielleicht nicht aufrecht bliebe. Das ist doch, was man der Religion (in sittlicher Beziehung) zuschreibt; und ich glaube nicht, daß sie das weniger vermag, wenn sie sich auf ihre rein menschliche Grundlage zurückbesinnt und mit allem Menschlichen in reine Harmonie zu treten sich entschließt, statt daß sie entweder, in einseitiger Stärke im Menschen ertötet, oder aber als Trug des Gemüts erklärt und zu beklagenswerter Verarmung aus der Seele mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird.

Religion, das kann nicht verkannt werden, ist in den lebenskräftigsten Völkern oder doch in den lebenskräftigsten Schichten dieser Völker von sehr geschwächtem, fast ist man versucht zu sagen, von keinem merklichen Einfluß mehr. Hat sie also ihre Rolle ausgespielt? Sofern es sich um die Religion der Transzendenz handelt, zögere ich nicht die Frage zu bejahen. Aber ihr Platz ist leer, und er kann nicht leer bleiben. Der Mensch lebt nicht vom Brote der Vernunft allein, so wenig er dieser gesunden Kost entbehren kann. Er bedarf noch der Religion, und wenn die bisherige ihm nicht mehr genügen kann, so wird er sich eine neue, seinem gereifteren Stande angemessene schaffen. Ich möchte mit Vielen glauben, daß die alte Religion der notwendigen Umbildung an sich fähig ist, und ich meine auch zu beobachten, daß man sich dieser Erkenntnis von beiden Seiten, wenn auch langsam, nähert. Doch ist es zwecklos, darüber zu grübeln, wie künftig einmal der Mensch sich seine Religion gestalten wird. Es ist widersinnig, Religion machen zu wollen; sie wird, als eine Geburt des menschlichen Genius, eines Tages von selbst da sein - eine Frucht der sittlichen Erneuerung menschlicher Gemeinschaft.

Auf d i e s e aber läßt sich hinarbeiten, und dazu ein kleines beizutragen durch Klärung des vor uns liegenden Weges, war die Absicht dieser ganzen nun zu Ende gediehenen Untersuchung. S.361-369
Aus: Paul Natorp, Sozialpädagogik .Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft . Stuttgart 1925 . Fr. Frommanns Verlag (H. Kurtz)

Religion als Letztletztes
Aus: Sozialidealismus. Berlin, Julius Springer, 1920, S. 249ff.
Wieso gibt es nun noch ein Letztletztes, über beide, Finden und Schaffen, Empfangen und Geben, hinaus? Ich denke, eben insofern sie noch zwei sind, und auch diese letzte Zweiheit wiederum zurückweist auf einen letzten Einheitspunkt, aus dem sie selbst erst hervorgeht …

Das Finden ist Finden, das Schaffen Schaffen eines und desselben:
des - und das heißt schon, alles - geistigen Inhalts. Also muß jenes gesuchte Letztletzte, beiden und eben ihrer Zweiheit gegenüber, als das, was es unterschiedlich von beiden ist, wohl gar nicht mehr auf den geistigen Inhalt, folglich überhaupt nicht auf ein andres als es selbst, gerichtet sein, sondern - es bleibt nichts andres übrig - ihn, als ganzes den ganzen, in seiner letzten Urgestalt selbst darstellen; das heißt nicht bloß finden oder bloß schaffen, bloß empfangen oder bloß geben, sondern dies beides, Schaffen und Finden, Geben und Empfangen, muß in ihm völlig Eines sein, empfangendes Geben, gebendes Empfangen; eben damit auf den Inhalt nicht (als wäre er, ihm gegenüber, ein anderes) bloß gerichtet; richten könnte es sich auf ihn nur im einen oder im anderen Sinne, findend oder schaffend; indem es aber beides ganz in Einem begreift, richtet es sich gar nicht mehr auf den Inhalt, als sein Objekt, sondern steht ganz im Inhalt, und der Inhalt in ihm. In ihm »lebt, webt und ist« aller Gehalt des Geistigen, und es in diesem Gehalt. Es ist, in diesem genauen Sinne, nichts andres als er selbst der Geist.

Es ist also nicht das Schaffen selbst, aber der Schaffensgrund; es muß in dir sein, was du aus dir ewig hervorbringen sollst. Und ebenso ist es nicht das Finden selbst, aber das, wodurch allein das Finden, und zwar in sich selber Finden, möglich ist: eben dies, daß du es selber bist. Man kann nur geben, sich selber geben, indem man das in sich selber hat, was man gibt; nur finden, sich selbst finden, indem man selber ist, als was man sich findet ...

Nicht Geben, nicht Empfangen, aber schrankenlose Gebens- wie Empfängnisbereitschaft, und dies beides ganz in Eins gedacht, Eins seiend.
Selbst- und weltvergessenes Stillehalten, sein selbst und der Welt unbewußtes, eben damit aber Selbst und Welt ganz umfassendes Insichhalten, grenzenloshingegeben und hingebend, hingegeben in die Hingabe, sich hingebend in die Hingegebenheit, und so im vollkommen sich schließenden Zirkel eben Eines, in einer nicht mehr zu überbietenden Einheit, der Einheit selbst, die nicht wieder eine fernere Vereinigung mit etwas, das sie selbst nicht wäre, fordern kann, denn es gibt kein anderes mehr, mit dem sie erst wiederum zur Einheit kommen müßte.

Es ist die unbedingte Koinzidenz des unbedingt Individuellen mit dem unbedingt Universalen; in der Sprache der Religion - denn sie ist es, die damit erreicht ist -: das Einssein der Seele mit Gott, Gottes mit der Seele. S.205-207
Entnommen aus: Georg Wobbermin, Religionsphilosophie, 5. Band der Quellen-Handbücher der Philosophie, Pan Verlag Rolf Heise – Berlin 1925