Petar Petrovic Njegos (1813 – 1851)

  Montenegrinischer Dichter und Denker, dessen dichterisches Hauptmotiv sich um die metaphysische Bestimmung des Menschen und den Sinn seines Lebens dreht. In der »Leuchte des Mikrokosmos« (Luca mikrokozma), einer metaphysischen Allegorie, wird das leidgetränkte irdische Schicksal des Menschen im Lichte eines mystischen Dualismus mit präexistentieller Schuld gedeutet. Nur die »Flammenseele des Poeten« ist in der Lage dieses letzte Geheimnis des Daseins zu durchschauen.

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Leuchte des Mikrokosmos
Starr im Schlafe liegt der Mensch befangen,
heimgesucht von schreckhaften Gesichten,
kaum imstande, sich zurechtzufinden,
daß sein Wesen drin nicht untergehe.
Vielleicht dünkt ihn, daß er manche Male
sich aus Schlafesstarre losgerissen;
aber ach! nur trügerische Hoffnung:
er verstrickt sich damit desto tiefer
in das starre Dunkelreich des Schlafes,
bösen Spukgebilden preisgegeben.

Unsres Lebens Lenz ist kurz bemessen
und ihm folgt alsbald ein heißer Sommer,
drauf mit Sturm der Herbst, mit Eis der Winter.
Tag um Tag - sie schlingen sich zum Reigen,
jeder uns nur eigne Qual bescherend:
Nicht den Tag gibt es, den wir ersehnen,
nicht die Seligkeit, nach der wir lechzen.
Wer soll denn die wilde Windsbraut zügeln?
Wer dem Ozean das Schäumen wehren?
Wer soll der Begierde Grenzen setzen?

Magst den Menschen, wie du willst, betrachten,
magst du, wie du immer willst, ihn richten –
tiefstes Rätsel bleibt der Mensch dem Menschen,
er, des Schöpfers auserwählte Schöpfung.
So fürwahr der Osten zeugt die Sonne,
so das Sein im Glanz des Lichtes brodelt,
so die Erde nicht ein Traumgesicht nur,
ist des Menschen Seele unvergänglich,
sind ein Funken wir im Todessstaube,
sind ein Strahl, von Finsternis umschlossen.

Unfaßbarer, allerhöchster Schöpfer!
Ja, es spiegelt sich ein lichter Funke
deines grenzenlosen Geists im Menschen,
wie sich ein Gewölbe deines Palasts
in der Flut der Ozeane spiegelt.
Deiner Krone Glanz der Tag uns kündet
und die Nacht den Purpur deines Waltens,
hehre Wunder deiner Herrlichkeiten.
Unbegreiflich dem Geschöpf dein Wirken,
in Verzückung nur kann es erbeben.

Wenn den Toren wir vertrauen wollten,
sind Poeten ein Geschlecht von Narren.
Wenn die Nacht nicht unsre Sphäre heimsucht’,
würde so des Himmels Antlitz strahlen?
Würden ohne scharfen Zahn des Frostes
jemals wir der Wärme Wohltat kennen?
Würden ohne Toren stumpfen Blickes
je erlauchte Geister hell erstrahlen?
Allmacht spricht in heiligem Geheimnis
nur zur Flammenseele des Poeten.

Alle Wunderpracht des Alls, der Himmel,
alles, was in heiligen Strahlen blühet,
seien's Welten oder Geisteswesen,
alle Wonnen, sterblich und unsterblich –
was ist alles dies zusammen andres
denn die Poesie des Menschenvaters?
Heilig ist des Dichters hohe Sendung,
seine Stimme Eingebung des Himmels
und der lichte Strahl sein Weggeleiter,
seine Sprach' die Majestät des Schöpfers.

Enthalten in: Slavische Geisteswelt 3. West- und Südslavien, Mensch und Welt. (S.124ff) Herausgegeben von St. Hafner, O. Turecek und C. Wytrzens, Holle Verlag