Wilhelm von Ockham (um 1285 – 1350)

  In England geborener scholastischer Philosoph und Theologe, der Franziskaner war und in Oxford lehrte. 1324 wurde er der Irrlehre angeklagt und vor den päpstlichen Gerichtshof in Avignon geladen. 1328 entfloh er von dort zu Ludwig dem Bayern nach München und blieb bis zu seinem Tod dessen literarischer Verteidiger gegen die Päpste in Avignon. Ockham hat den spätmittelalterlichen Nominalismus begründet und vertrat einen ethischen Positivismus. Nach seiner Auffassung sind Wirklichkeit und Sittengesetz freie Setzungen des göttlichen Willens. Gottes Gnadenwahl sei von keinem menschlichem Verdienst abhängig. Besonders gefördert hat er die Entwicklung der Logik. Man nannte ihn deshalb auch »doctor invincibilis«, den Unbezwingbaren, weil er mit großer Denkschärfe (Ockham’s Rasiermesser) die Bedingungen des Denkens untersuchte.

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis
Gottes absolute und anordnungsgemäße Macht
Der Beweis der Existenz Gottes


Gottes absolute und anordnungsgemäße Macht
(Sechstes Quodlibet, Quaestio 1)

Kann ein Mensch ohne geschaffene Liebe erlöst werden?

Dagegen spricht, dass jeder Mensch, der erlöst wird, Gott lieb ist. Keiner aber kann ohne Liebe Gott lieb sein, also kann keiner ohne Liebe erlöst werden.

Dagegen wiederum kann man einwenden: Gott kann jedes für sich Bestehende, das von einem anderen unterschieden ist, von ihm abtrennen und ohne dieses im Sein erhalten. Gnade und Herrlichkeit aber sind zwei für sich bestehende und voneinander unterschiedene Seins-Wirklichkeiten. Also kann Gott die Herrlichkeit in der Seele erhalten und die Gnade zunichte machen.

Hierzu werde ich erstens eine Unterscheidung hinsichtlich der Macht Gottes einführen. Zweitens werde ich zur Frage sprechen.

Zum ersten Punkt sage ich, dass Gott gewisse Dinge nach seiner anordnungsgemäßen
[anordnenden, anweisenden] Macht tun kann und einige nach seiner absoluten [unbedingten] Macht. Diese Unterscheidung ist nicht so zu verstehen, als gäbe es in Gott real zwei Mächte, deren eine anordnungsgemäß ist und die andere absolut. Denn in Gott gibt es nach außen nur eine einzige Macht, die ganz und gar mit Gott selbst identisch ist. Die Unterscheidung ist aber auch nicht so zu verstehen, dass Gott manches anordnungsgemäß machen kann, manches hingegen absolut und nicht anordnungsgemäß. Denn Gott kann nichts nicht anordnungsgemäß machen.

Vielmehr ist diese Unterscheidung so zu verstehen, dass »etwas können« manchmal im Blick auf die von Gott angeordneten und erlassenen Gesetze verstanden wird. Dann wird gesagt, Gott könne das gemäß der anordnungsgemäßen Macht tun. Anders wird »können« in folgendem Sinne verstanden: als »alles machen können«, was nicht impliziert, dass ein Widerspruch entstünde — unabhängig davon, ob Gott angeordnet hat, dass er dies tun werde oder nicht.

Denn Gott kann, gemäß dem Sentenzenmeister, Buch l, Distincio 43, vieles machen, was er jedoch nicht machen will. Hiervon heißt es, das mache Gott gemäß der absoluten Macht. Ebenso kann ja der Papst nach den von ihm angeordneten Rechten manches nicht, was er gleichwohl absolut kann.

Diese Unterscheidung wird durch den Ausspruch des Heilands Joh. 3, 5 bewiesen: »Wenn jemand nicht«, sagt er, »aus Wasser und Heiligem Geist wiedergeboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen.« Nun ist ja Gottes Macht jetzt dieselbe wie früher, und es gab einst manche, die ungetauft in das Reich Gottes eingingen — das ist bei den beschnittenen Knaben zur Zeit des Gesetzes offenkundig, die gestorben waren, ehe sie den Verstandesgebrauch besaßen. So ist das auch jetzt möglich. Und doch ist das, was damals nach den damals erlassenen Gesetzen möglich war, jetzt nach den jetzt erlassenen Gesetzen nicht möglich. Absolut ist es gleichwohl möglich.

Zum zweiten Artikel sage ich zunächst, dass ein Mensch nach der absoluten Macht Gottes ohne geschaffene Liebe erlöst werden kann. Dieser Schluss ist erstens folgendermaßen zu beweisen: Alles, was Gott vermittels einer Wirk- oder Zielursache als Zweitursache machen kann, kann er auch unmittelbar von sich aus machen. Wenn aber die geschaffene Liebe eine Ursache sein sollte — das kann eine bewirkende oder eine vorbereitende (insofern sie auf das ewige Leben vorbereitet) sein —, wird es sich bei ihr um eine Wirk- oder Zielursache handeln, die als Zweitursache fungiert. Also kann Gott jemandem das ewige Leben auch ohne sie schenken.

Außerdem kann etwas, das [ursächlich] handelt, ohne auf eine ganz bestimmte Reihenfolge und Anordnung der Seinswirklichkeiten festgelegt zu sein, diese Seinswirklichkeiten auch nach einer anderen Ordnung hervorbringen. Gott aber ist ein Wesen, das in dieser Weise handelt; also kann er jemandem, der ein gutes Werk tut, das ewige Leben ohne eine derartige Gnade geben.

Außerdem: Was jemandem zuteil werden kann, ohne Belohnung für ein Verdienst zu sein, kann ihm nach der absoluten Macht Gottes auch ohne jeden vorausgehenden Habitus, der Voraussetzung der Verdienstlichkeit wäre, zuteil werden. Der seligmachende Akt aber wurde Paulus in seiner Entrückung nicht als Belohnung für ein Verdienst zuteil, denn damals hat er das göttliche Wesen geschaut [2 Kor. 12,1—10]. Also kann Gott ihm das ewige Leben ohne eine solche Gnade, die die Voraussetzung der Verdienstlichkeit wäre, geben.

Außerdem ist der Gegensatz zwischen dem verdienstlichen Akt und der reinen Natur nicht größer als der zwischen eben dieser [Natur] und dem nichtverdienstlichen Akt. Nun ist aber der Wille aus sich heraus zu einem nichtverdienstlichen Akt in der Lage. Also hat der allein aus Natürlichem bestehende Wille nach Gottes absoluter Macht das Vermögen zu einem verdienstlichen Akt. Der Untersatz ist klar. Der Obersatz ist folgendermaßen zu beweisen: Wo etwas schlicht gar nicht existiert, da existiert es auch nicht in höherem Maße, so wie etwas, das nicht weiß ist, auch nicht »weißer« ist. Aber zwischen einem verdienstlichen Akt und der reinen Natur besteht kein Widerspruch. Also ist da auch kein »größerer Widerspruch«.

Außerdem ist nichts verdienstlich, wenn es nicht in unserer Macht steht. Jene [gnadenhaft geschenkte] Liebe aber steht nicht in unserer Macht. Also ist der Akt [um dessen Verdienstlichkeit es hier geht] nicht zunächst wegen jener [diese Liebe bewirkenden] Gnade verdienstlich, sondern wegen des frei verursachenden Willens; dann aber könnte Gott einen solchen vom Willen gewählten Akt auch ohne eine solche Gnade annehmen.
Zweitens sage ich, dass gemäß den jetzt von Gott erlassenen Gesetzen kein Mensch jemals ohne geschaffene Gnade erlöst werden wird oder auch nur erlöst werden könnte und [ebensowenig wird nach diesen Gesetzen jemals ein Mensch] einen verdienstlichen Akt wählen oder auch nur wählen können. Dieser Meinung bin ich aufgrund der Heiligen Schrift und der Aussprüche der Heiligen.

Und wenn du sagst, dass der erste Schluss den Irrtum des Pelagius enthält, so antworte ich, dass dem nicht so ist. Denn Pelagius hat behauptet, dass tatsächlich keine Gnade erforderlich sei, um das ewige Leben zu erhalten. Vielmehr sei ein ausschließlich aus natürlichen Beweggründen gewählter Akt aufgrund seiner Würdigkeit im Blick auf das ewige Leben verdienstlich. Ich dagegen behaupte, dass ihn ausschließlich die absolute Macht Gottes verdienstlich macht, indem sie ihn annimmt.

Zum Hauptargument sage ich, dass»Liebe« auf zweierlei Weise zu verstehen ist: einerseits [als Bezeichnung] für eine Qualität der Seele, andererseits aber [als Bezeichnung] für die Annahme durch Gott. Folgt man dem ersten Verständnis von »Liebe«, kann ein Mensch Gott ohne Liebe lieb sein, beim zweiten hingegen nicht.

Der Beweis der Existenz Gottes
Sentenzenkommentar, 1. Teil, Distinctio 2, Quaestio 10

[Gibt es nur einen Gott?]


Ich sage also, was den ersten Artikel angeht, dass das Argument, das die Existenz einer ersten Wirkursache beweist, ausreicht [um die Existenz Gottes zu beweisen]. Das ist auch das Argument praktisch aller Philosophen. Doch scheint es, dass man die Existenz einer ersten Wirkursache besser beweisen kann, wenn man mit der Erhaltung einer Seinswirklichkeit durch ihre Ursache argumentiert, als wenn man mit der Hervorbringung argumentiert — wenn man Hervorbringung so versteht, dass es bedeutet anzunehmen, dass auf die Nichtexistenz einer Seinswirklichkeit unmittelbar ihr Existenz folge.

Der Grund hierfür ist, dass es schwer, wenn nicht unmöglich ist, gegen die Philosophen zu beweisen, dass eine Kette von Ursachen derselben Art, deren eine ohne die andere existieren kann, nicht bis ins Unendliche fortgesetzt werden kann. Sie haben ja auch angenommen, dass es bis ins Unendliche vor [jedem] Menschen, der sich fortpflanzte, einen [anderen] Menschen gegeben habe, der sich ebenfalls fortgepflanzt habe. Nicht weniger schwer ist es, mit dem Gedanken der Hervorbringung zu beweisen, daß ein Mensch von einem anderen [Menschen] nicht in der Art einer Totalursache hervorgebracht werden könne. Wenn nun diese zwei Überlegungen richtig sein sollten, wäre es schwer, zu beweisen, daß diese Kette ins Unendliche nur dann Bestand haben könnte, wenn es eines gebe, das immer bliebe und von dem diese gesamte Unendlichkeit abhinge.

Daher kann man den Nachweis folgendermaßen führen: Alles, was real von etwas hervorgebracht wird, wird, solange es in der Realität bleibt, real von etwas erhalten. Nun können wir von einer bestimmten Wirkung ausgehen, von der es sicher ist, daß sie hervorgebracht wird. Sie wird dann, solange sie anhält, von etwas anderem erhalten. Zur genaueren Bestimmung dessen, was da erhält, prüfe ich: Entweder wird es [seinerseits] von etwas anderem hervorgebracht oder nicht. Wenn nicht, ist es nicht nur das erste Erhaltende, sondern auch das erste Wirkende, denn alles, was erhält, ist auch wirkend, wie ich im zweiten Buch erklären werde. Wenn aber das, was auf diese Weise erhält, von einem anderen hervorgebracht wird, so wird es auch von einem anderen erhalten. Und zur genaueren Bestimmung dieses anderen stelle ich dieselbe Frage wie zuvor. Folglich muß man entweder eine Kette bis ins Unendliche annehmen oder zu einer Größe kommen, die erhält und auf keine Weise erhalten wird. Das dürfte dann die erste Wirkursache sein. Man kann aber nicht annehmen, daß eine Kette von einander erhaltenden Größen bis ins Unendliche führe, denn dann gäbe es tatsächlich unendliche Seinswirklichkeiten. Das aber ist unmöglich, wie man vermittels der Argumente des Philosophen und anderer darlegen kann, die hinreichend vernünftig sind. Anscheinend muß man demnach aufgrund dieses Argumentes eine erste Erhaltungs- und folglich eine erste Wirkursache annehmen.

Dieses Argument nun unterscheidet sich von dem Argument in der zunächst vorgebrachten Fassung dadurch, daß es vom Erhaltenden ausgeht: Alles, was etwas anderes — mittelbar oder unmittelbar — erhält, besteht fortwährend mit dem Erhaltenen zusammen; aber es ist nicht für alles, was von einem anderen hervorgebracht wird, erforderlich, daß alles, was es — mittelbar oder unmittelbar — hervorbringt, zugleich mit dem Hervorgebrachten besteht. Daher kann man zwar eine Kette aus hervorbringenden Ursachen bis ins Unendliche ohne wirkliche Unendlichkeit annehmen, eine Kette aus erhaltenden Ursachen hingegen kann man nicht ohne wirkliche Unendlichkeit bis ins Unendliche annehmen.

Aus: Wilhelm von Ockham, Texte zur Theologie und Ethik, Lateinisch/Deutsch
Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Volker Leppin und Sigrid Müller
Reclams Universalbibliothek Nr. 18083 (S. 67-79)
© 2000 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags