Rudolf Otto (1869 - 1937)

Deutscher evangelischer Theologe und Religionshistoriker, der als Professor in Göttingen (seit 1904), in Breslau (seit 1914) und in Marburg (1917 – 1929) tätig war. In seiner »Theologenarbeit«, wie er seine Beschäftigung mit der Theologie gerne nannte, befasste er sich mit dem zwischen Rationalität und Irrationalität angesiedelten Gefühl für das überweltliche Göttliche. Nach der Devise »nomen est omen« (lat.: Im Namen liegt eine Vorbedeutung) bezeichnete er das unbegreifliche Göttliche als das Numinose. Dabei war er der Meinung, dass eine objektive, transzendente Wirklichkeit des »Heiligen«, des Numinosen (lat. numen = Gottheit, göttliches Wesen im Sinne einer gestaltlos wirkenden Macht) als eines »ganz Anderen« existiert, die vom Menschen als ein »Gewaltig-Furchtbares« (tremendum) erfahren wird, das ihn einerseits bis in seine innerste seelische Tiefe zum Erbeben, Erzittern und Erschüttern bringt ( zwingt) und zugleich aber andererseits als ungemein fesselnde und »anziehende« (fascinosom) Macht - gleichsam wie in einem zauberberhaften magischen Bann erfahren wird

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis
Rational und Irrational (1. Kapitel)
Das Numinose (2. Kapitel)
Momente des Numinosen I (3. Kapitel)
Momente des Numinosen II (4. Kapitel)
a. Das Moment des »tremendum« (des Schauervollen)
b. Das Moment des Übermächtigen (»majestas«)
c. Das Moment des »Energischen«
d. Das Moment des Mysterium

Rational und Irrational
Erstes Kapitel

1. Für jede theistische Gottesidee überhaupt, ausnehmend und überragend aber für die christliche, ist es wesentlich dass durch sie die Gottheit in klarer Bestimmtheit gefasst und bezeichnet werde mit Prädikaten wie »Geist« »Vernunft« »zwecksetzender Wille« »guter Wille« »Allmacht« »Wesens-Einheit« »Bewusstheit« und ähnlichen, und dass sie somit zugleich gedacht werde in Entsprechung zu dem »Persönlich-Vernünftigen« wie es der Mensch in beschränkter und gehemmter Form in sich selber gewahr wird. (Zugleich werden alle diese Prädikate am Göttlichen als »absolute«, das heißt »vollendete« gedacht.) Alle diese Prädikate nun sind klare und deutliche Begriffe , sind dem Denken, der denkenden Zergliederung, ja der Definition zugänglich. Wollen wir einen Gegenstand, der einer solchen begrifflich klaren Denkarbeit fähig ist rational nennen, so ist das in diesen Prädikaten beschriebene Wesen der Gottheit als ein »Rationales« zu bezeichnen, und eine Religion, die sie anerkennt und behauptet, ist insofern eine rationale Religion. Durch sie allein ist »Glaube« als eine Überzeugung in klaren Begriffen möglich im Gegensatze zu bloßem »Gefühl«. Und mindestens vom Christentum ist das Wort Fausts nicht wahr:

»Gefühl ist alles, Name Schall und Rauch«.

»Name« ist in diesem Worte Fausts soviel wie Begriff. Wir hatten es aber geradezu für ein Kennzeichen des Höhengrades und der Überlegenheit einer Religion, dass sie auch »Begriffe« habe und Erkenntnisse (nämlich Glaubenserkenntnisse) vom Übersinnlichen in Begriffen, und zwar in den eben genannten und in anderen, sie fortsetzenden Begriffen. Und dass das Christentum Begriffe hat und diese Begriffe in überlegener Klarheit, Deutlichkeit und Vollzahl, ist zwar nicht das einzige, auch nicht das hauptsächliche, aber ein sehr wesentliches Merkmal seiner Überlegenheit über andere Religionsstufen und Religionsformen.

Die ist zunächst und entschieden zu betonen. Aber zugleich ist vor einem Missverstand zu warnen, der zu einer fehlerhaften Einseitigkeit führen würde, nämlich vor der Meinung, dass die rationalen Prädikate, die genannten und etwa noch hinzuzufügende ähnliche, das Wesen der Gottheit erschöpften. Ein solcher Missverstand kann sich nahe legen aus der Redeweise und Begriffswelt der erbaulichen Sprache, der lehrhaften Behandlung in Predigt und Unterricht, ja weithin auch unserer heiligen Schriften. Hier steht das Rationale im Vordergrunde, ja scheint oft alles zu sein. Aber dass hier das Rationale im Vordergrunde stehen muss, ist schon von vornherein zu erwarten: denn alle Sprache, soweit sie aus Worten besteht, will vornehmlich Begriffe überliefern. Und je klarere und eindeutigere, desto besser ist die Sprache. Aber wenn die rationalen Prädikate auch gewöhnlich im Vordergrunde stehen, so erschöpfen sie die Idee der Gottheit so wenig, dass sie geradezu nur von und an einem Irrationalen gelten und sind. Sie sind durchaus auch wesentliche Prädikate, aber sie sind synthetische wesentliche Prädikate, und sie werden selber nur recht verstanden, wenn sie so verstanden werden: das heißt, wenn sie einem Gegenstande als Träger beigelegt werden, der selber in ihnen noch nicht mit erkannt ist, sondern, auch nicht in ihnen erkannt werden kann, sondern der auf eine eigene andere Weise erkannt werden muss. Denn irgendwie auffassbar muss er sein: wäre das nicht so, wäre von ihm ja überhaupt nichts anzugeben. Selbst die Mystik meint das im Grunde nicht, wenn sie ihn das arrêton
(unaussprechlich, was kein Wort erfasst, unbestimmbar) nennt, denn sonst könnte sie nur im Schweigen bestehen. Aber gerade die Mystik ist sehr beredt gewesen.

2. Wir treffen hiermit auf den Gegensatz von Rationalismus und tieferer Religion. Dieser Gegnsatz und seine Merkmale werden uns noch öfters beschäftigen: das erste und bezeichnendste Merkmal von Rationalismus aber, mit dem alle übrigen zusammenhängen, liegt hier.. Der oft angegebene Unterschied, dass Rationalismus Leugnung des »Wunders« sei, sein Gegensatz aber Behauptung des Wunders, ist offensichtlich falsch oder mindestens sehr oberflächlich. Denn die gängige Theorie des Wunders als gelegentlicher Durchbrechung der natürlichen Ursachenkette durch ein Wesen, das diese selber gesetzt habe, als Herr derselben sein müsse, ist selber so »rational« wie nur möglich. Rationalisten haben oft genug die »Möglichkeit des Wunders« in diesem Sinne zugelassen oder selber sie geradezu a Priori konstruiert. Und entschiedene Nichtrationalisten sind oft genug gegen die »Wunderfrage« gleichgütig gewesen. Es handelt sich vielmehr bei Rationalismus und seinem Gegenteil um einen eigentümlichen Qualitäts-unterschied in der Stimmung und indem Gefühls-gehalte des Fromm-seins selber. Und dieser ist wesentlich dadurch bedingt, ob das Rationale dem Irrationalen in der Gottesidee überwiegt oder es vollends ausschließt oder umgekehrt. Die oft gehörte Behauptung, dass die Orthodoxie selber die Mutter des Rationalismus gewesen sei, ist in der Tat zum Teil richtig. Aber auch dies ist nicht einfach dadurch, dass sie auf Lehre und Lehrbildung überhaupt ausging. Das haben die rabiatesten Mystiker auch getan. Sondern dadurch, dass sie in ihrer Lehrbildung kein Mittel fand, dem Irrationalen ihres Gegenstandes auf irgeneine Weise gerecht zu werden und dieses selber im frommen Erleben lebendig zu halten, dass sie vielmehr in offensichtlicher eigener Verkennung desselben die Gotteside einseitig rationalisierte.

3. Dieser Zug zum Rationalisieren herrscht bis heute noch vor, und nicht nur in der Theologie, sondern auch in der allgemeinen Religions-forschung bis zum untersten hin. Auch unsere Mythen-forschung, die Erforschung der Religion der »Primitiven«, die Versuche zur Konstruktion der Ausgänge und Anfangsgründe der Religion usw. unterliegen ihm. Man verwendet zwar hierbei nicht von vornherein jene hohen rationalen Begriffe, von dennen wir ausgegangen sind, aber man sieht in ihnen und ihrer allmählichen »Entwicklung« das Hauptproblem und konstruiert als ihre Vorläufer geringerwertige Vorstellungen und Begriffe: immer aber sieht man es doch auf Begriffe und Vorstellungen ab, und obendrein auf »natürliche« Begriffe, das heißt auf solche, die in dem allgemeinen Bereiche menschlichen Vorstellens auch vorkommen. Und mit einer fast bewunderswerten zu nennenden Energie und Kunst verschließt man die Augen vor dem ganz Eigenen des religiösen Erlebens wie es sich auch in seinen primitivsten Äußerungen schon regt. Bewundernswert, oder doch erstaunlich: denn wenn überhaupt auf einem Gebiete menschlichen Erlebens etwa in diesem Gebiete Eigenes und so nur in ihm Vorkommendes zu bemerken ist, so auf dem religiösen. Wahrhaftig, das Auge des Feindes sieht hier schärfer als das mancher Freunde der Sache oder neutraler Theoretiker. Auf der Seite des Gegners weiß man oft sehr genau, dass der ganze »mystische Unfug« mit »Vernunft« nichts zu tun habe. Immerhin ein heilsamer Ansporn, zu bemerken, dass Religion nicht in ihren rationalen Aussagen aufgeht, und das Verhältnis ihrer Momente so ins Reine zu bringen, dass sie sich selber deutlich werde.
S. 1-4

Das Numinose

Zweites Kapitel
Wir werden diese hier versuchen in Bezug auf die eigentümliche Kategorie des Heiligen. Etwas als »heilig« erkennen und anerkennen ist in erster Linie eine eigentümliche Bewertung, die so nur auf religiösem Gebiete vorkommt. Sie greift zwar alsbald auf anderes, z. B. auf die Ethik, über, aber sie entspringt nicht selber aus anderem. Sie hat als solche ein völlig artbesonderes Moment in sich, das sich dem Rationalen, im oben angenommenen Sinne entzieht, und das ein arrêton, ein ineffibale
(unaussprechlich, nicht streng bezeichenbar) ist, sofern es begrifflicher Erfassung völlig unzugänglich ist.

1. Diese Behauptung wäre nun von vornherein falsch, wenn das Heilige das wäre als was es in manchem Sprachgebrauche, im philosophischen und gewöhnlich auch im theologischen, genommen wird. Wir haben uns nämlich gewöhnt, »heilig« in einem Sinne zu gebrauchen, der ein durchaus übertragener, keineswegs ein ursprünglicher ist. Wir verstehen es nämlich gewöhnlich als das absolute sittliche Prädikat, als vollendet gut . So nennt Kant einen heiligen Willen den Willen, der aus Antrieb oder Pflicht ohne Wanken dem moralischen Gesetz gehorcht: das würde aber einfach der vollkommene moralische Wille sein. So redet man auch von der Heiligkeit der Pflicht oder des Gesetzes wenn man nichts anderes meint als eben ihre praktische Notwendigkeit, ihre allgemeingültige Verbindlichkeit. Aber ein solcher Gebrauch des Wortes heilig ist nicht streng. Heilig schließt zwar alles dies mit ein, enthält aber, auch noch für unser Gefühl, einen deutlichen Überschuss, den es hier zunächst zu besondern gilt. Ja, die Sache liegt vielmehr so, dass das Wort heilig und seine sprachlichen Gleichwerte im Semitieschen, Lateinischen, Griechischen und in anderen alten Sprachen zunächst und vorwiegend nur diesen Überschuss bezeichneten und das Moment des Moralischen überhaupt nicht oder nicht von vornherein und niemals ausschließlich befassten. Da unser Sprachgefühl immer das Sittliche unter Heilig einbezieht, so wird es dienlich sein bei Aufsuchung jenes eigentümlichen Sonder-bestandteiles , wenigstens für den vorübergehenden Gebrauch unserer Untersuchung selbst, einen besonderen Namen dafür zu erfinden, der dann bezeichnen soll das Heilige minus seines sittlichen Momentes und, wie wir gleich hinzufügen, minus seines rationalen Momentes überhaupt.

Das, wovon wir reden und was wir versuchen wollen einigermaßen anzugeben, nämlich zu Gefühl zu bringen, lebt in allen Religionen als ihr eigentliches Innerstes und ohne es wären sie gar nicht Religion. Aber mit ausgezeichneter Kräftigkeit lebt es in allen semitischen Religionen und ganz vorzüglich hier wieder in der biblischen. Es hat hier auch einen eigenen Namen: nämlich qâdosch (sanctus und sacer zugleich), dem hagios (heilig) und sanctus (heilig) und noch genauer sacer (numinos) entsprechen. Dass diese Namen in allen Sprachen das »Gute« und schlechthin Gute mitbefassen, nämlich auf der höchsten Stufe der Entwicklung und Reife der Idee, ist gewiss, und dann übersetzen wir sie mit »heilig«. Aber dieses »heilig« ist dann erst die allmähliche ethische Schematisierung und Auffüllung eines eigentümlichen ursprünglichen Momentes, das an sich selber gegen das Ethische auch gleichgültig sein und für sich erwogen werden kann. Und in den Anfängen der Entwicklung dieses Momentes bedeuten alle diese Ausdrücke fraglos zunächst etwas ganz anderes als das Gute. Das ist von den heutigen Auslegern wohl allgemein zugestanden. Man erklärt es mit Recht für eine rationalistische Umdeutung, wenn qâdosch einfach mit Gut gedeutet wird.

2. Es gilt also, für dieses Moment in seiner Vereinzelung einen Namen zu finden, der erstens es in seiner Besonderheit festhält, und der zweitens ermöglicht die etwaigen Unter-arten oder Entwicklungs-stufen desselben mit zu befassen und mit zu bezeichnen. Ich bilde hierfür zunächst das Wort: das Numinöse, (wenn man von omen ominös bilden kann, dann auch von numen
[übernatürliches Wesen noch ohne genauere Vorstellung] numinös, und rede von einer eigentümlichen numinosen Deutungs- und Bewertungs-kategorie und ebenso von einer numinosen Gemüts-gestimmtheit, die allemal da eintritt, wo jene angewandt, das heißt da wo ein Objekt als numinoses vermeint worden ist*.
*Erst später habe ich gesehen, dass ich hier keinen Anspruch auf Entdecker-rechte habe. Vergl. GDÜ, Kap.I: Zinsendorf als Entdecker des sensus numinis. Und Calvin redet in seiner Instutio von einem »divinitatis sensus, quedam divini numinis intelligentia«.

Da diese Kategorie vollkommen sui generis (von eigener Art) ist, so ist sie wie jedes ursprüngliche und Grund-datum nicht definibel im strengen Sinne, sondern nur erörterbar. Man kann dem Hörer nur dadurch zu ihrem Verständnis helfen, dass man versucht, ihn durch Erörterung zu dem Punkte seines eigenen Gemütes zu leiten, wo sie ihm dann selber sich regen, entspringen und bewusst werden muss. Man kann dieses Verfahren, indem man ihr Ähnliches oder auch chakteristisch Entgegengesetztes, das in anderen bereits bekannten und vertrauten Gemütsbereichen vorkommt, angibt und dann hinzufügt: »Unser X ist dieses nicht, ist aber diesem verwandt, jenem entgegengesetzt. Wird es dir nun nicht »selber« einfallen?« Das heißt: unser X ist nicht im strengen Sinne lehrbar, sondern nur anregbar, erweckbar – wie alles, was »aus dem Geiste« kommt. S. 5-7

»Das Kreaturgefühl «
als Reflex des numinosen Objekt-Gefühls
im Selbstgefühl

Momente des Numinosen I
Drittes Kapitel

1. Wir fordern auf, sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen.

Wer das nicht kann oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten nicht weiter zu lesen. Denn wer sich zwar auf seine Pubertäts-gefühle, Verdauungs-stockungen oder auch Sozial-gefühle besinnen kann, auf eigentümlich religiöse Gefühle aber nicht, mit dem ist es schwierig Religionskunde zu treiben. Er ist entschuldigt, wenn er für sich versucht mit den Erklärungs-prinzipien, die er kennt, soweit zu kommen wie er kann, und sich etwa »Ästhetik« als sinnliche Lust und»Religion« als eine Funktion geselliger Triebe und sozialen Wertens oder noch primitiver zu deuten. Aber der Ästhetiker, der das Besondere des ästhetischen Erlebens in sich selber durchmacht, wird seine Theorien dankend ablehnen, und der Religiöse noch mehr.

Wir fordern weiter auf, bei Prüfung und Zerlegung solcher Momente und Seelen-zustände feiernder Andacht und Ergriffenheit möglichst genau auf das zu achten, was sie mit Zuständen etwa nur sittlicher Erhobenheit bei Beschauung einer guten Tat nicht gemein haben, sondern was sie an Gefühlsinhalten vor ihnen voraus und für sich besonders haben. Wir stoßen als Christen hier zweifellos zunächst auf Gefühle, die wir in verminderter Stärke auch auf anderen Gebieten kennen: auf Gefühle der Dankbarkeit, des Trauens, der Liebe, der Zuversicht, der demütigen Unterordnung und der Ergebenheit. Aber das erschöpft den frommen Moment keineswegs und das alles ergibt noch nicht die ganz artbesonderen Züge des »Feierlichen«, ergibt noch nicht das »Solemmne«
(feierlich) der seltsamen und nur hier so vorkommenden Ergriffenheit. --

2. Ein sehr bemerkenswertes Element solchen Erlebnisses hat Schleiermacher glücklich herausgegriffen: er nennt es das Gefühl der »Abhängigkeit«. Aber zweierlei ist an dieser seiner bedeutenden Entdeckung auszusetzen.
Erstens, das von ihm eigentlich gemeinte Gefühl ist nach seinem besonderen Wie eben nicht Abhängigkeitsgefühl im »natürlichen« Sinne des Wortes, nämlich so wie Abhängigkeitsgefühle auch auf anderen Gebieten des Lebens und Erlebens als Gefühle eigener Unzulänglichkeit, Ohnmacht und Gehemmtheit durch Verhältnisse der Umgebung vorkommen können. Es hat zu solchen Gefühlen wohl eine Entsprechung, kann darum durch sie analogisch bezeichnet werden, kann durch sie »erörtert« werden, und durch sie kann auf die Sache selber hingewinkt werden, damit sie dann selber durch sich sich selber fühlbar werde. Aber die Sache seber ist doch eben trotz aller Ähnlichkeiten und Analogien in sich qualitativ anders als soche analogen Gefühle. Auch Schleiermacher unterscheidet ja selber nachdrücklich das Gefühl frommer Abhängigkeit von allen anderen Abhängigkeits-gefühlen. Aber doch eben nur als das »schlecht-hinnige«
(schlichthin=absolut) von bloß bezüglichen: das heißt, er unterscheidet es nur als das absolute vom relativen, als das vollendete vom gradweisen, aber nicht durch eine besondere Qualität. Er übersieht, dass wir eigentlich doch nur eine Analogie zur Sache selber im Auge haben, wenn wir es Abhängigkeitsgefühl nennen.

Findet der Leser jetzt wohl – durch solche Vergleichung und Entgegensetzung – bei sich selber, was ich zu sagen meine, was sich aber durch anderes nicht ausdrücken kann, eben weil es ein ursprüngliches und Grund-datum , darum nur durch selbst bestimmbares Datum im Seelischen ist? Vielleicht kann ich nachhelfen durch ein wohlbekanntes Beispiel, in welchem sich gerade das Moment, von dem wir hier reden möchten, sehr drastisch geregt hat. Als Abraham in 1.Mos. 18, 27 mit Gott zu reden wagt über das Los der Sodomiter, spricht er:

Ich habe mich unterwunden mit dir zu reden, ich, der ich Erde und Asche bin.

Das ist sich selber bekennendes »Abhängigkeits-gefühl«, das doch eben noch viel mehr und zugleich qualitativ etwas anderes ist als alle natürlichen Abhängigkeits-gefühle. Ich suche nach einem Namen für die Sache und nenne es Kreaturgefühl – das Gefühl der Kreatur, die in ihrem eigenen Nichts versinkt und vergeht gegenüber dem, was über aller Kreatur ist.
Man sieht leicht, dass auch dieser Ausdruck »Kreatur-gefühl« nichts weniger gibt als eine begriffliche Aufklärung der Sache. Denn worauf es hier ankommt, ist nicht bloß das, was der neue Name ausdrücken kann, nämlich nicht bloß das Moment des Versinkens und der eigenen Nichtigkeit gegenüber dem schlechthin Übermächtigen [= das über jeder Macht stehenden Allmächtige] überhaupt, sondern gegenüber einem solchen Übermächtigen. Und diese »solch«, dieses Wie des gemeinten Objektes selber ist eben in rationalen Begriffen nicht fassbar, ist »unsagbar«; es ist angeblich nur auf einem Umwege, nämlich durch die Selbstbesinnung und den Hinweis auf den eigentümlichen Ton und Gehalt der Gefühls-reaktion, die sein Erfahren im Gemüte auslöst und die man selber in sich erleben muss.

3.Der zweite Fehler (von einem dritten wird später noch zu reden sein) der Bestimmung Schleiermachers ist, dass er durch das Abhängigkeitsgefühl oder wie wir nun sagen: durch das Kreatur-gefühl den eigentlichen Inhalt des religiösen Gefühls selbst bestimmen will. Unmittelbar und in erster Hinsicht wäre das religiöse Gefühl dann ein Selbst-gefühl, das heißt: ein Gefühl einer eigentümlichen Bestimmtheit meiner selbst, nämlich meiner Abhängigkeit. Erst durch einen Schluss, indem ich nämlich zu ihr eine Ursache außer mir hinzudenke, würde man nach Schleiermacher auf das Göttliche selber stoßen. Das ist aber völlig gegen den seelischen Tatbestand. Das »Kreatur-gefühl« ist vielmehr selber erst subjektives Begleitmoment und Wirkung, ist gleichsam der Schatten eines anderen Gefühlmomentes (nämlich der »Scheu«), welches selber zweifellos zuerst und unmittelbar auf ein Objekt außer mir geht. Das ist eben das numinose Objekt. Nur wo numen als praesens erlebt wird, wie im Falle Abrahams, oder wo ein Etwas numinosen Charakters gefühlt wird, also erst infolge einer Anwendung der Kategorie des Numinosen auf ein wirkliches oder vermeintliches Objekt, kann als deren Reflex das Kreatur-gefühl im Gemüt entstehen.
Das ist eine so klare Erfahrungstatsache, dass sie sich auch dem Psychologen bei der Zergliederung des religiösen Erlebnisses als erste aufdrängen muss. So sagt William James in seinem Buche: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit (deutsch von Wobbermin, S. 46) , als er die Entstehung der griechischen Götter-vorstellungen streift, fast naiv:

Auf die Frage nach dem Ursprunge der griechischen Götter haben wir hier nicht einzugehen. Aber die ganze Reihe unserer Beispiele führt uns ungefähr zu folgendem Schluss: Es ist, als wenn im menschlichen Bewusstsein die Empfindung von etwas Realem, ein Gefühl von etwas wirklich Vorhandenem, eine Vorstellung von etwas objektiv Existierendem lebte, die tiefer und allgemeingültiger ist als irgendeine der einzelnen und besonderen Empfindungen, durch welche nach der Meinung der heutigen Psychologie die Realität bezeugt wird.

Da ihm von seinem empiristischen und pragmatischen Standpunkte aus, der Weg zur Anerkennung von Erkenntnis-anlagen und Ideen-grundlagen selber verbaut ist, so muss James dann zu etwas seltsamen und mysteriösen Annahmen greifen, um diese Tatsache zu erklären. Die Tatsache selber aber fasst er klar auf, und er ist Realist genug um sie nicht wegzudeuten. – Zu einem solchen »Realitäts-gefühle« als erstem und unmittelbarem Datum, das heißt zu dem Gefühle eines objektiv gegebenen Numinosen ist dann das »Abhängigkeitsgefühl« oder besser das Kreaturgefühl eine erst nachfolgende Wirkung, nämlich eine Abwertung des erlebenden Subjektes hinsichtlich seiner selbst. Oder anders ausgedrückt: Das Gefühl einer »schlecht-hinnigen Abhängigkeit« meiner hat zur Voraussetzung ein Gefühl einer »schlechthinnigen Überlegenheit (und Unahbarkeit)« seiner. S. 8 - 12

Mysterium Tremendum
Momente des Numinosen II
Was aber und wie ist nun dieses – objektive, außer mir gefühlte – Numinose selbst?
Viertes Kapitel

Da es selbst ja irrational, das heißt in Begriffen nicht explizibel (erklärbar) ist, wird es angebbar nur sein durch die besondere Gefühls-reaktion , die es im erlebenden Gemüt auslöst . »Es ist so, dass es ein menschliches Gemüt mit der und der Gefühlsbestimmtheit ergreift und bewegt« . Diese »die und die« Gefühls-bestimmtheit müssen wir versuchen anzudeuten, indem wir sie wieder durch Entsprechungen und Entgegensetzungen verwandter Gefühle und durch symbolisierende Ausdrücke zugleich anklingen zu lassen versuchen. Und zwar suchen wir hier nun im Unterschiede von Schleiermacher eben jene primäre objektbezogene Gefühlsbestimmtheit selbst, welcher, wie wir soeben gesehen haben, das Kreaturgefühl als sein Schatten im Selbst- gefühle erst sekundär folgt.

Betrachten wir das Unterste und Tiefste in jeder starken frommen Gefühls-regung , sofern sie noch mehr ist als Heilsglauben, Vertrauen oder Liebe, dasjenige was auch ganz abgesehen von diesen Begleitern auch in uns zeitweilig das Gemüt mit fast sinn-verwirrender Gestalt erregen und erfüllen kann; verfolgen wir es durch Einfühlen durch Mit- und Nachgefühl bei anderen um uns her, in starken Ausbrüchen des Frommseins und seinen Stimmungs-äußerungen, in der Feierlichkeit und Gestimmtheit von Riten und Kulten, in dem was um religiöse Denkmäler, Bauten, Tempel und Kirchen wittert und webt, so kann sich uns als Ausdruck der Sache nur einer nahe legen: Gefühl des mysterium tremendum , des schauervollen Geheimnisses. Das Gefühl davon kann mit milder Flut das Gemüt durchziehen in der Form schwebender ruhender Stimmung versunkener Andacht: es kann so übergehen in eine stetig fließende Gestimmtheit der Seele, die lange fortwährt und nachzittert bis sie endlich abklingt und die Seele wieder im Profanen (vor dem heiligen Bezirk liegend, ungeheiligt, gemein, ungeweiht, unheilig etc.) lässt. Er kann auch mit Stößen und Zuckungen plötzlich aus der Seele hervorbrechen. Es kann zu seltsamen Aufgeregtheiten, zu Rausch, Verzückung und Ekstase führen. Es hat seine wilden und dämonischen Formen. Es kann zu fast gespenstischem Grausen und Schauder hreabsinken. Es hat seine rohen und barbarischen Vorstufen und Äußerungen. Und es hat seine Entwicklung ins Feine, Geläuterte und Verklärte . Es kann zu dem stillen demütigen Erzitten und Verstummen der Kreatur werden vor dem – ja wovor? Vor dem, was im unsagbaren Geheimnis über aller Kreatur ist.

So sagen wir um doch etwas zu sagen. Es leuchtet aber gleich wieder sofort ein, dass wir damit eigentlich nichts sagen, oder wenigstens, dass auch hier unser Versuch einer Bestimmung durch einen Begriff wieder nur negativ ist. Mysterium benennt ja begrifflich nichts weiter als das Verborgene , das heißt das nicht Offenkundige, nicht Begriffene und Verstandene, nicht Alltägliche, nicht Vertraute, ohne dieses selber näher zu bezeichnen nach seinem Wie. Gemeint ist damit aber etwas schlechterdings Positives . Sein Positives wird erlebt rein in Gefühlen. Und diese Gefühle können wir uns erörtend auch wohl verdeutlichen, indem wir sie gleichzeitig zum Anklingen bringen.

a. Das Moment des »tremendum« (des Schauervollen)

Auf das positive Wie der Sache weist zunächst das Beiwort tremendum. Tremor ist an sich nur Furcht: ein wohlbekanntes »natürliches« Gefühl. Es dient uns hier als nächstgelegene, aber selber doch nur analogische Bezeichnung für eine ganz art-besondere Gefühls-reaktion , die zwar Ähnlichkeit hat mit der Furcht und darum durch sie analogisch angedeutet werden kann, die aber selber noch ganz etwas anderes ist, als Sich-Fürchten.

In einigen Sprachen gibt es Ausdrücke, die teils ausschließlich, teils vornehmlich diese »Furcht«, die mehr als Furcht ist, bezeichnen. Zum Beispiel hiq'dîsch = heiligen im Hebräischen. Eine Sache »heiligen in seinem Herzen« heißt, sie durch Gefühle einer eigetümlichen, mit anderen Scheuen, nicht zu verwechselnden Scheu auszeichnen, heißt, sie zu bewerten durch die Kategorie des Numinosen. Das Alte Testament ist reich an gleichläufigen Ausdrücken für dieses Gefühl. Besonders merkwürdig ist hier die »ehmât Jahveh«, der »Gottes-schrecken«, den Jahveh ausströmen, ja aussenden, wie einen Dämon , der Menschen lähmend in die Glieder fährt und der ganz verwandt ist dem deîma panicón (dem panischen Schrecken) der Griechen. Man vergleiche 2. Mos. 23, 27:

Einen Gottes-schrecken werde ich vor dir hersenden und alle Völker, unter die du kommst, in Verwirrung bringen.

Oder Hiob 9, 34; 13, 21.

Dass er seine Rute von mir nehme und mich nicht mehr ängstige. Lass deine Hand fern von mir sein, und dein Schrecken erschrecke mich nicht.

Das ist ein Schrecken voll innerem Grauen wie es nichts Geschöpfliches, auch nicht das Bedrohlichste und Übermächtigste, einflößen kann. Es hat etwas vom »Gespenstischen« an sich.

Das Griechische hat hier sein »sebastós« (majestätisch, ehrwürdig). Es war den alten Griechen deutlich fühlbar, dass der Titel sebastos keiner Kreatur, auch dem Kaiser nicht, zukomme, dass es eine numinose Bezeichnung war, und dass man Abgötterei trieb, wenn man einen Menschen durch die Kategorie des Numinosen bewertete, indem man ihn sebastos nannte. Das Englische hat sein »awe« (Ehrfurcht, heilige Scheu) , das nach seinem tieferen und eigensten Sinn ungefähr auf unseren Gegenstand geht. Man vergleiche auch: »he stood aghast« (entgeistert, bestürzt , entsetzt) . Im Deutschen haben wir das »Heiligen« dem Sprachgebrauche der Bibel nur nachgebildet, aber einen eigenen selbstgewachsenen Ausdruck haben wir für die roheren und niederen Vor- und Unter-stufen dieses Gefühls, nämlich unser »Grauen« und »Sich-Grauen«; und für die geadelten höheren Stufen hat sich unser »Erschauern« ziemlich bestimmt und überwiegend mit diesem Sinn-gehalte erfüllt. »Schauervoll« und »Schauer« ist uns gewöhnlich schon auch ohne Zusatz des Adjektives gleich heiliger Schauer.*
*Ein derberer, volkstümlicher Ausdruck für seine depotenzierten Formen ist das »Gruseln« und das »Gräsen«. In ihm und eigentlich auch in »grässlich« wird das numinose Moment sehr bestimmt gemeint und bezeichnet. – Ebenso ist »Greuel« ursprünglich ein sozusagen negativ-numinoses. Mit Recht gebraucht es Luther in diesem Sinne für das Hebräische schiqqûß .

Ich habe seinerzeit in meiner Auseinandersetzung mit Wundts Animismus für die Sache den Namen »die Scheu« vorgeschlagen, wobei das Besondere, nämlich das Numinose dann allerdings nur den Gänsefüsschen steckt. Oder auch die »religiöse Scheu«. Ihre Vorstufe ist die »dämonische« Scheu (= panischer Schrecken) mit ihrem apokryphen Absenker , der »gespenstischen Scheu«. Und in dem Gefühle für das »Unheimliche« (uncanny. Unbekannte) hat sie ihre erste Regung. Von dieser »Scheu« und ihrer »Roh«-form, von diesem irgend wann einmal in erster Regung durchgebrochenen Gefühle eines »Unheimlichen«, das fremd und neu in den Gemütern der Urmenschheit auftauchte, ist alle religionsgeschichtliche Entwicklung ausgegangen. Mit seinem Durchbruche begann eine neue Epoche des Menschentumes. In ihm wurzeln »Dämonen« wie »Götter« und was sonst die »mythologische Apperzeption« oder die »Phantasie« an Verdinglichungen dieses Gefühls hervorbrachten. Und ohne dasselbe als ersten, qualitativ eigentümlichen, aus anderem nicht ableitbaren Grundfaktor und Grundtrieb des ganzen religionsgeschichtlichen Verlaufes anzuerkennen, sind alle animistischen, magischen und völker-psychologischen Erklärungen der Entstehung der Religion von vornherein auf Irrwegen und führen am eigentlichen Problem vorbei.

Nicht aus natürlichem Fürchten, auch nicht aus einer vermeintlichen »Weltangst« ist Religion geboren. Denn Grauen ist nicht natürliche gewöhnliche Furcht, sondern selber schon ein erstes Sich-Erregen und Wittern des Mysteriösen, wenn auch zunächst in der noch rohen Form des »Unheimlichen«, ein erstes Werten nach einer Kategorie, die nicht im übrigen gêwöhnlichen natürlichen Bereiche liegt und nicht auf Natürliches geht. Und es ist nur demjenigen möglich, in welchem eine eigentümliche, von den »natürlichen« Anlagen bestimmt, verschiedene Anlage des Gemütes wach geworden ist, die sich zunächst nur zuckend und roh genug äußert, aber die auch als solche auf eine eigene, neue Erlebens- und Wertungs-funktion des menschlichen Geistes deutet.

Verweilen wir noch einen Augenblick bei den ersten, primitiven und rohen Äußerungen dieser numinosen Scheu. Sie ist in der Form der »dämonischen Scheu« das eigentlich eigene Merkmal für die sogenannte »Religion der Primitiven« als eine naive, rohe und erste Regung. Sie und ihre Phantasiegebilde werden später überwunden und ausgetrieben durch die höheren Stufen und Entwicklungs-formen eben des geheimnisvollen (dunkel, verborgen, unzugänglich, unbekannt, rätselhaft) Triebes, der sich in ihnen zum ersten Male und noch roh erregt, nämlich des numinosen Gefühles. Aber auch, wo dieses Gefühl längst zu seinem höheren und reineren Ausdrucke gelangt ist, können seine Urerregungen immer wieder ganz naiv aus der Seele brechen und neu erlebt werden. Das zeigt sich z. B. in der Gewalt und dem Reiz den auch auf hohen Stufen der allgemeinen Gemüts-bildung immer noch das »Grausen« in den »Spuk«- und »Gespenster«- Erzählungen hat. Merkwürdig ist, dass diese eigentümliche Scheu vor dem »Unheimlichen« auch eine völlig eigentümliche bei natürlicher Furcht und Schrecken neimals so vorkommende körperliche Rückwirkung hervorbringt: »Es lief ihm eiskalt durch die Glieder«, »Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken«. (Vergl. das Englische: his flesh crept). Die Gänsehaut ist etwas »Übernatürliches«. Wer imstande ist zu schärferer seelischer Zergliederung, der muss sehen, dass sich solche »Scheu« von natürlicher Furcht durchaus nicht nur durch Grad und Steigerung unterscheidet und keineswegs nur etwa ein besonders hoher Grad der letzteren ist. Ihr Wesen ist ganz unabhängig von Intensitätsgraden. Sie kann so stark sein, dass sie durch Mark und Bein geht, dass sich die Haare sträuben und die Glieder schlottern , aber sie kann auch in ganz leichter Regung und als kaum bemerkte und flüchtige Anwandlung des Gemütes auftreten. Sie hat in sich ihre eigenen Steigerungen, aber sie ist nicht selbst Steigerung eines anderen. Keine natürliche Furcht geht durch bloße Steigerung in sie über. Ich kann über die Maßen voller Furcht, Angst und Schrecken sein, ohne dass auch nur eine Spur vom Gefühle des »Unheimlichen« darin liegt. – Wir würden hier klarer sehen, wenn die Seelenforschung im allgemeinen entschiedener versuchen würde, die »Gefühle« auf Qualitäts-unterschiede zu untersuchen und darnach zu sortieren. Immer noch hindert uns hier die allzugrobe Einteilung in »Lust« und »Unlust« [Fehlen bzw. Mangel an allen Eigenschaften, die das Leben lebenswert machen, wie z. B. Lust, Freude, Liebe, Vergnügen, innerem Antrieb, Widerwille] überhaupt. Auch die »Lüste« unterscheiden sich keineswegs nur als Grade der Spannung. Sie lassen sich scharf sonder nach art-besonderen [eigenen] Unterschieden. Es sind artlich andere Zuständlichkeiten, ob sich die Seele befindet in Lust, oder in Vergnügen, oder in Freude, oder in ästhetischer Wonne, oder in ethischer Erhobenheit, oder endlich in religiöser Seligkeit des Andacht-erlebnisses. Solche Zustände haben untereinander zwar Entsprachen und Ähnlichkeiten und darum lassen sie sich unter einen gemeinsamen Klassen begriff bringen, der sie als Klasse gegen andere Klassen seelischer Erfahrungen abhebt. Aber dieser Klassenbegriff macht die unterschiedenen Arten nicht zu bloßen Grad-verschiedenheiten derselben Sache, ja er dient nicht einmal dazu das »Wesen« jedes Einzelnen unter ihm Befassten zu verdeutlichen.

Weit ist das Gefühl des Numinosen auf seinen höheren Stufen verschieden von dem der bloßen dämonischen Scheu. Aber seine Herkunft und Verwandtschaft verleugnet es auch hier nicht. Auch wo der Dämonen-glaube sich längst zum Götter-glauben erhöht hat, behalten die »Götter« als numina immer etwas »Gespenstisches« an sich, nämlich den eigentümlichen Charakter des »Unheimlich-furchtbaren«, der geradezu mit ihre »Erhabenheit« aus macht oder durch sie sich schematisiert. Und dieses Moment verschwindet auch nicht auf der höchsten Stufe, auf der Stufe des reinen Gottesglaubens, und darf hier wesensmäßig nicht verschwinden: es dämpft und adelt sich nur. Das »Grauen« kehrt hier wieder in der unendlich geadelten Form jenes tiefst innerlichen Erzitterns und Verstummen der Seele bis in ihre letzten Wurzeln hinein. Es packt auch im christlichen Kult in voller Gewalt das Gemüt bei den Worten: »heilig, heilig, heilig«. Es bricht auch in Tersteegens Liede.

Gott ist gegenwärtig.
Alles in uns schweige.
Und sich innigst vor ihm beuge.


Es hat sein Sinn-verwirrendes verloren, aber nicht sein unsagbar Befangenes. Es bleibt mystisches Erschauern, und es löst als Begleit-reflex im Selbstgefühl das beschriebene Kreatur-gefühl aus, das das Gefühl ist, eigener Nichtigkeit, eigenen Versinkens gegenüber dem in der »Scheu« objektiv erlebten Schauervollen und Großen selber.*
*Dass auch Schleiermacher mit seinem »Abhängigkeits-gefühl« diese »Scheu« im Grunde meinte , geht aus gelegentlichen Aussagen hervor. So in der zweiten Auflage seiner Reden, bei Pünjer, S. 84:

Von jener heiligen Ehrfurcht will ich euch gern zugeben, dass sie das erste Element der Religion ist.

Und ganz übereinstimmend mit unseren Ausführungen bemerkt er hier den völlig verschiedenen Charakter socher »heiligen« Furcht von aller natürlichen Fucht. – Völlig im
»numinosen Gefühle« ist er bei Pünjer, S.90:


Jene wunderbaren, schauerlichen, geheimnisvollen Erregungen - - und

. . . den wir zu unbedingt Aberglauben nennen, da ihm doch offenbar ein frommer Schauder, dessen wir selbst uns nicht schämen, zum Grunde liegt.

Hier sind fast alle unsere eigenen Termini für das numinose Gefühl zusammen. Und hier ist durchaus nicht eine Art des Selbst-gefühles, sondern das Gefühl eines realen Objektes außerhalb des Selbst »das erste Element« in der Religion. Zugleich erkennt Schleiermacher das numinose Gefühl wieder in seinen »rohen« Regungen, die »wir zu unbedingt Aberglauben nennen«. – Alle diese hier genannten Elemente aber haben zugleich offensichtlich nichts zu tun mit einem »Abhängigkeits-gefühl« im Sinne von »Schlechthin-gesetzt-sein«, das heißt von Kausiert-sein . Hierüber auf S. 23.

Als Bezeichnung für das den numinosen tremor erregende Moment des numen, ergibt sich eine »Eigenschaft« des numen , die in unseren heiligen Texten eine wichtige Rolle spielt und durch ihre Rätselhaftigkeit und Unfassbarkeit den Auslegern wie den Glaubens-lehrern viele Schwierigkeitengemacht hat. Das ist die orgé , der Zorn Jahve's , der im Neuen Testament als orgé theoy (Zorn Gottes) wiederkehrt. Weiter unten werden wir die Stellen im Alten Testament zu prüfen haben, in denen noch die Verwandtschaft dieses »Zornes« mit dem Dämonisch-Gespenstischen , von dem wir eben redeten, deutlich fühlbar wird. Er hat zugleich seine deutliche Entsprechung in der in vielen Religionen vorkommenden Vorstellung von der geheimnisvollen »ira deorum« (Zorn der Götter).*
*Wenn man das indische Pantheon [Gesamtheit der Götter eines Volkes] durchwandert, so scheint es hier Götter zu geben, die überhaupt ganz aus solcher ira gemacht sind, und selbst die hohen Gnadengötter Indiens haben neben ihrer gütigen Form der siva-mûrti sehr häufig ihre »Zorn«- Form, die krodha-mûrti, wie umgekehrt auch die zornigen ihr gütige.

Das Seltsame am »Zorn Jahveh's« ist schon immer aufgefallen. Zunächst ist nun an manchen Stellen des Alten Testamentes handgreiflich, dass dieser »Zorn« von Haus aus nichts mit sittlichen Eigenschaften zu tun hat. Er »entbrennt« und äußert sich rätselhaft, »wie eine verborgene Naturkraft (Naturgewalt) «, wie man zu sagen pflegt, wie gespeicherte Elektrizität, die sich auf den entlädt, der ihr zu nahe kommt. Er ist »unberechenbar« (weil es sich nicht voraus berechnen lässt infolge von nicht vorhersehbaren, zufallsbedingten, sprunghaft auftreten Faktoren) und »willkürlich«. Er muss dem, der nur gewöhnt ist, die Gottheit nach ihren rationalen Prädikaten zu denken, vorkommen wie Laune und Willkür-leidenschaft – eine Auffassung, die die Frommen des Alten Bundes sicher mit Nachdruck zurückgewiesen haben würden: denn ihnen erscheint sie keineswegs als eine Minderung, sondern als ein natürlicher Ausdruck und ein Moment der »Heiligkeit« selber, und ein ganz unaufhebliches. Und ganz mit Recht. Denn diese ira (Zorn) ist gar nichts anderes als das »tremendum« selber, das, in sich selbst völlig irrational, hier aufgefasst und ausgedrückt wird durch ein naive Entsprache aus dem natürlichen Gebiete, nämlich aus dem menschlichen Gemüts-leben, und zwar durch eine höchst drastische und treffende Entsprache, die als solche immer ihren Wert erhält behält und uns auch beim Ausdruck des religiösen Gefühls noch ganz unvermeidlich ist. Es ist ganz zweifellos, dass auch das Christentum »vom Zorne Gottes« zu lehren habe, trotz Schleiermacher und Ritschl.

Dabei ist wieder sogleich einleuchtend, dass wir es bei diesem Wort nicht mit einem rationalen »Begriffe« zu tun haben, sondern nur mit einem Begriffs-ähnlichen, mit einem Ideogramm [Schriftzeichen, das einen ganzen Begriff darstellt] oder reinen Deute-zeichen eines eigentümlichen (zugehörigen) Gefühls-momentes im religiösen Erleben, eines solchen , aber das seltsam abdrängenden mit Scheu erfüllenden Charakters ist und durchaus die Kreise derer stört, die nur Güte, Milde, Liebe, Vertraubarkeit und im allgemeinen nur Momente der Welt-Zugekehrtheit im Göttlichen anerkennen wollen. Die Rationalisierung dieser, wie man fälschlich zu sagen pflegt »naturhaften«, in Wahrheit vielmehr durchaus unnaturhaften, nämlich numinosen ira besteht in ihrer Auffüllung mit den rational-ethischen Momenten der göttlichen Gerechtigkeit in Vergeltung und Strafe für sittliche Verfehlung. Man achte darauf, dass in der biblischen Vorstellung der göttlichen Gerechtigkeit stets das Auffüllende mit dem Ursprünglichen verschmolzen bleibt. Fühlbar zuckt und leuchtet im »Zorn Gottes« immer dies Irrationale mit und gibt ihm einen Schrecken, den der »natürliche Mensch« nicht zu fühlen vermag.
Neben dem »Zorn« oder »Grimm« (heftiger Zorn, Wut, Groll) Jahveh's steht als verwandter Ausdruck der »Eifer Jahveh's«. Und auch der Zustand des »Eifern um Jah'veh« ist ein numinoser Zustand, der nochauf den, der in ihm weilt, Züge des tremendum überträgt. Vergleiche den drastischen Ausdruck in Ps. 66, 10:

Der Eifer um dein Haus hat mich gefressen.

b. Das Moment des Übermächtigen (»majestas«)

Man kann das bisher vom tremendum Entwickelte zusammenfassen in das Ideogramm »schlechthinnige Unnahbarkeit«. Man fühlt dann gleich, dass noch ein Moment hinzukommen muss, um es ganz zu erschöpfen: nämlich das Moment von »Macht«, »Gewalt«, »Übergewalt«, »schlechthinniger Übergewalt«. Wir wollen hierfür als Symbol-Namen »majestas« wählen. Um so eher als selbst in »Majestät« auch für unser Sprachgefühl noch eine leise letzte Spur des Numinosen nachzittert (weswegen für das religiöse Gefühl dieser Ausdruck, auf Menschen angewandt, immer eine halbe Lästerung ist.)

Das Moment des tremendum ist uns dann voller wiedergebbar als »tremenda majestas«. Das Moment der majestas kann lebhaft erhalten bleiben, wo das erste Moment, das der Unnahbarkeit, zurücktritt und abklingt, wie es z. B. in der Mystik geschehen kann. Besonders auf dieses Moment der schlechthinnigen Übermacht, dieser »majestas«, bezieht sich als sein Schatten und subjektiver Reflex jenes »Kreatur-gefühl«, das als Kontrast zu dem objektiv gefühlten Übermächtigen als das Gefühl eigenen Versinkens, Zunichtewerdens, Erde-, Asche- und Nichts-sein (=Abhängigkeit, Bedeutungslosigkeit, Einflusslosigkeit, Machtlosigkeit, Wirkungslosigkeit) sich verdeutlicht und sozusagen der numinose Rohstoff (die unbekannte Substanz, aus dem nicht nur unsere Träume, sondern alles gewebt ist , was lebt, sich regt,und bewegt), für das Gefühl der religiösen »Demut«. (Vergl. Eckehart).

Auch hier ist noch einmal Schleiermachers Ausdruck der Sache als Abhängigkeits-gefühles zurückzukommen. Wir tadelten schon oben, dass er dabei zum Ausgange macht, was selber erst Reflex und Wirkung ist, und dass er das Obektive erst durch einen Schluss erreichen will von dem Schatten aus, den es in das Selbstgefühl wirft. Hier müssen wir noch ein Drittes anfechten. Mit »Sich abhängig fühlen« meint Schleiermacher nämlich »Sich bedingt fühlen« und entwickelt daum dieses Moment der »Abhängigkeit« ganz folgerecht in seinen Paragraphen von »Schöpfung und Erhaltung«. Das Gegenstück zur »Abhängigkeit« wäre dann auf Seiten der Gottheit die Kausalität , nämlich die Allursächlichkeit , oder besser die Alles-bedingendheit. Dieses Moment ist aber durchaus nicht das erste und umittelbarste, was wir vorfinden, wenn wir uns auf das »fromme Gefühl« im Augenblicke der Andacht besinnen. Dies Moment ist auch nicht selber ein Numinoses, sondern nur sein »Schema«. Es ist kein irrationales Moment, sondern gehört durchaus auf die rationale Seite der Gottesidee [der Gedanke, die Idee, die logische Überlegung, dass es ein göttliches Wesen geben muss] lässt sich in Begriffen scharf entwickeln und hat einen ganz anderen Quell seines Ursprunges. Jene »Abhängigkeit« aber, die in Abrahams Worten sich ausdrückt, ist nicht die der Geschaffenheit (als Bedingtheit oder Kausiert [verursacht] sein), sondern die der Geschöpflichkeit, ist Ohnmacht gegenüber der Übermacht, ist eigene Nichtigkeit , und die »majestas« und das »Erd- und Asche sein«, von dem hier die Rede ist, führt, sobald die Spekulation sich ihrer bemächtigt, auf eine ganz andere Vorstellungs-reihe , als auf die Ideen von Schöpfung und Erhaltung. [Gewährleistung des Unterhalts und Weiterbestehens] ] Sie führt zu der »annihilatio« (Vernichtung) des Selbst auf der einen Seite und zu der Allein- und All- realität des Tranzendenten auf der anderen Seite, wie sie gewissen Formen der Mystik eigen sind. In diesen Formen der Mystik begegnen wir als einem ihrer Hauptzüge einerseits einer charakteristischen Abwertung des Selbst , die in deutlicher Ähnlichkeit die Selbst-abwertung Abrahams wiederholt, nämlich die Abwertung des Selbst [Verringerung des Eigenwertes] und des Ich und der »Kreatur« überhaupt als des nicht vollkommen Wirklichen, Wesentlichen oder gar als des völlig Nichtigen, und diese Abwertung wird dann zu der Forderung , sie gegenüber dem angeblich falschen Wahn der Selbstheit praktisch zu vollziehen und so das Selbst zu annihilare (vernichten). Dem entspricht anderseits die Wertung des transzendenten Beziehungsobjektes als des schlechthin durch Seinsfülle Überlegenen, dem gegenüber das Selbst sich eben in seinem Nichts fühlbar wird. »Ich nichts, Du alles!«. Von einem Ursachenverhältnis ist hier nicht die Rede. Nicht ein Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit (meiner selbst als gewirkten)*, *[das würde ja gerade auf die Realität des Selbst führen], sondern ein Gefühl schlechthinniger Überlegenheit (Dominanz, Vormacht, Übermacht, Vorrangstellung) (Seiner als des Übermächtigen) ist hier der Ausgang der Spekulation, die, wo sie sich durch ontologische Termini vollzieht, dann die »Macht«-Fülle [Reichhaltigkeit, Reichtum, Wohlstand, Mangellosigkeit] des tremendum in »Seins«-Fülle abwandelt. Man vergleiche etwa folgenden Ausspruch eines christlichen Mystikers:

Der Mensch versinkt und verschmilzt in sein eigenes Nicht und seine Kleinheit. Je klarer und bloßer ihm die Größe Gottes einleuchtet, um so kenntlicher wird ihm seine Kleinheit;
C. Greith, Die deutsche Mystik im Predigerorden, S. 144f.

oder die Worte des islamischen Mystikers Bajesid Bostami:

… Da entschleierte mir der Herr, der sehr hohe, seine Geheimnisse und offenbarte mir all seine Glorie. Und da, indem ich ihn (nicht mehr mit meinen, sondern) mit seinen Augen schaute, sah ich, dass mein Licht, verglichen mit dem Seinigennichts war als Finsternis und Dunkel. Und ebenso war meine Größe und meine Herrlichkeit nichts vor der Seinigen. Und als ich mit dem Auge der Wahrhaftigkeit die Werke der Frömmigkeit und Ergebenheit, die ich in seinem Dienste getan hatte, prüfte, , da erkannte ich, dass sie alle von Ihm selber stammten, und nicht von mir.
Tezkereh-i-Evlia (Tadhkiratu 'lavlia = Memoiren der Gottesfreunde; Acta sanctorum), übersetzt von de Courteille, Paris 1889, S. 132.

Oder die Ausführungen des Meister Eckehart über Armut und Demut. Indem der Mensch arm und demütig wird, wird Gott alles in Allem, wird er das Sein und das Seiende schlechthin. Aus Demut erwächst ihm der »mystische« Gottesbegriff, das heißt, nicht aus Plotinismus und Pantheismus, sondern aus dem Abraham-Erlebnis.

Man könnte diese aus majestas und Kreaturgefühl, durch Übersteigerung, entspringende Mystik »Majestas-mystik« nennen. Diese Majestas-mystik ist hinsichtlich ihres Ursprunges sehr bestimmt, verschieden von der Mystik der »Einheits-schau« [Visionäres Erlebnis, indem scheinbar die Vereinigung mit der Gottheit gefühlt wird], so innig sie sich mit dieser verbinden kann. Sie erwächst nicht nur aus ihr, sondern sie ist deutlich eine Höchstspannung und Überspannung des irrationalen Moments im sensus numinis, das wir hier erörtern, und nur wenn sie als solche verstanden wird, wird sie verständlich. Sie bildet bei Meister Eckehart einen deutlich fühlbaren Einschlag, der sich sogleich mit seinen Seins-Spekulationen und mit seiner »Einheits-schau« aufs Innigste verbindet und durchdringt und der doch ein völlig eigenes Motiv hat, wie es sich z. B. bei Plotin durchaus nicht findet. Dieses Motiv spricht Eckehart selber aus, wenn er sagt:

»Sorget, dass Gott euch groß werde«,

oder in noch deutlicher Übereinstimmung mit Abraham:

Wenn du dich nun dein selber also verzeigen hast, sieh so bin Ich und du bist nicht.

(Spamer, Texte aus der deutschen Mystik, S. 52)

oder:

Gewerlich! Ich und alle creatur sind nücz (nichts). Du bist allain und du bist alle ding.

(Spamer, S. 132)

Das ist Mystik, aber eine Mystik, handgreiflich nicht erwachsen ist aus seiner Seins-metaphysik, wohl aber diese sich dienstbar machen kann. Ganz dasselbe liegt vor in den Worten des Mystikers Tersteegen:

Herr Gott, notwendiges und unendliches Wesen, höchstes Wesen, ja Alleinwesen und mehr als Wesen! Du kannst mit Nachdruck sagen: Ich bin, und dieses Ich ist so uneingeschränkt und unzweifelbar wahrhaftig, dass kein Eidschwur zu finden ist, der die Wahrheit mher außer allem Zweifel, wenn dieses Wort aus deinem Munde gehet: Ich bin, ich lebe.

Ja, Amen. Du bist. Mein Geist beuget sich, und das Allerinnerste in mir stattet mir dieses Bekenntnis ab, dass du seiest.

Doch, was bin ich? Und was ist alles? Bin ich wohl und alles wohl? Was ist dieses Ich? Was ist dieses alles? Wir sind nur, weil du willst, dass wir sein sollen. Arme Weselein, welche in Vergleichung mit dir und vor deinem Wesen eine Gestalt (Schemen), ein Schatten und nicht eine Wesen genannt werden müssen. Mein Wesen und aller Dinge Wesen verschwindet gleichsam vor deinem Wesen, viel eher und mehr als ein Kerzlein im hellen Glanz der Sonne, welches man nicht siehet und das dermaßen von einem größerem Lichtwesen überwunden wird, dass es gleichsam nicht mehr ist.

(vergl. Tim Klein: Gerhard Tersteegen, München 1925. – »Der Weg der Wahrheit«, S. 73)

Was aber Abraham, Eckehart und Tersteegen vorkam, das kann auch heute noch, und mit den Zügen eines deutlich mystischen Erlebens sich finden. [...]

c. Das Moment des »Energischen«

Endlich aber befassen die Momente des Tremendum und der majestas noch ein drittes Moment mit in sich, das ich die Energie des Numinosen benennen möchte. Es ist besonders in der »orgê« lebhaft fühlbar und drückt sich in den Ideogrammen von Lebendigkeit, Leidenschaft, affektvollem Wesen, Wille, Kraft, Bewegung (die »mobilitas dei« bei Lactanz), Erregtheit, Tätigkeit, Drang aus. Diese seine Züge kehren wesensmäßig wieder von den Stufen des Dämonischen an bis hin zur Vorstellung des »lebendigen« Gottes. Sie sind dasjenige Moment am numen, das, wo es erfahren wird, das Gemüt des Menschen aktiviert, zum »Eifern« bringt, mit ungeheuer Spannung und Dynamik erfüllt, sei es in Askese, sei es im Eifern gegen Welt und Fleisch [Leibesfülle und -Hülle], sei es in heroischem Wirken und Handeln, in dem die Erregtheit nach außen ausbricht. Sie sind dasjenige irrationale Moment der Gottesidee, das überall am meisten und stärksten den Widerspruch gegen den »philosphischen« Gott bloß rationaler Spekulation und Definition geweckt hat. Wo man es ins Feld führte, haben es die Philosophen immer als »Anthropomorphismus« verurteilt. Mit Recht, sofern seine Verteidiger slber zumeist den bloß analogischen Charakter dieser Ideogramme, die sie dem menschlichen Gemüts-bereiche entlehnten, verkannt haben. Mit Unrecht, sofern doch – trotz dieses Fehlers – ein echtes, nämlich ein irrationales Moment des »theîon« (= numen) richtig gefühlt wurde und durch solche Ideogramme Religion gegen ihre Rationalisierung in Schutz genommen wurde. Denn, wo immer man für den »lebendigen« Gott und für »Voluntarismus« gestritten hat, da stritten Irrationalisten gegen Rationalisten, wie Luther gegen Erasmus. Luthers »omnipotentia dei« (Allmacht Gottes) in seinem »De servo arbitrio« (Über den unfreien Willen) ist nichts anderes als die Verbindung der majestas als schlechthinniger Überlegenheit mit dieser »Energie« als des rastlos Drängenden, Tätigen, Bezwingenden, Lebendigen. Auch in gewissen Formen der Mystik lebt dieses Energische sehr stark, nämlich in der »voluntaristischen«. Man vergleiche hierzu das Kapitel über »dynamische Mystik bei Eckehart«, auf S. 237 meines inzwischen erschienen Buches »Westöstliche Mystik«. Auch in Fichte's voluntarischer Mystik und seiner Spekulation über das Absolute als den gigantischen unrastenden Tatendrang, und in Schopenhauers dämonischen »Willen« kehrt dieses »Energische« wieder – bei beiden mit demselben Fehler, den schon der Mythus begeht: dem nämlich, dass auch hier »natürliche« Prädikate, die nur als Ideogramme für ein ineffabile (Unaussprechliches, nicht genau Definierbares) gebraucht werden dürfen, auf das Irrationale real übertragen werden und dass reine Symbole des Gefühls-ausdruckes für ädaquate Begriffe und für Grundlagen »wissenschaftlicher Erkenntnisse« genommen werden. – Auf ganz eigentümliche Weise erlebt und betont ist dies Moment des des numinos-Energischen, wie wir weiter unten sehen werden, von und bei Goethe in seinen seltsamen Schilderungen dessen, was er das »Dämonische« nennt.

d. Das Moment des Mysterium
Das »Ganz Andere«
Ein begriffener Gott ist kein Gott. Tersteegen

»Mysterium tremendum« nannten wir das numinose Objekt und wandten uns zunächst der Erörterung des Beiwortes tremendum (das Furcht und Zittern auslösende Erschauern/Erbeben) zu, weil diese leichter ist als die des Hauptwortes mysterium. Wir müssen jetzt versuchen auch diesem deutend näher zu kommen. Denn das Moment des tremendum ist keineswegs eine bloße Explikation von »mysterium«, sondern ein synthetisches Prädikat desselben. Zwar die Gefühls-reaktionen, die dem einen antworten, fließen uns leicht von selber über in die, die dem anderen antworten. Ja, für unser Sprachgefühl ist mit dem Momente des »Mysterium« sein synthetisches Prädikat, das tremendum, gemeinhin so fest verbunden, dass man das eine Moment kaum nennen kann, ohne dass das andere sogleich mit anklingt. »Geheimnis« ist leicht von selber schon »schauervolles Geheimnis«. Aber das muss keineswegs immer sein. Die Momente des tremendum und mysteriosum sind in sich doch bestimmt verschieden, und das Moment des des Mysteriösen im Numinosen kann im Gefühlserlebnisse dem des tremendum überwiegen, ja so stark in den Vordergrund treten, dass das Moment des tremendum neben ihm fast abklingt. Das eine kann gelegenlich auch für sich ganz allein das Gemüt hinnehmen, ohne dass das andere eintritt.

A. Das Mysterium minus des Momentes des tremendum können wir näher bezeichnen als das Mirum (das außerordentlich Erstaunliche) oder das Mirabile (das Wunderbare). Dieses mirum ist an sich noch nicht ein admirandum [ein Bewunderswertes]. (Dazu wird es erst durch die später zu nennenden Momente des fascinans und des augustum [Erhabenes, Ehrwürdiges] .) Noch nicht das »Bewundern« sondern erst »Sich Wundern« [über etwas erstaunt sein, weil es ganz anders als das Übliche ist] entspricht ihm. »Sich wundern« kommt aber – wie wir fast schon vergessen haben - von Wunder und bedeutet in seinem ersten Sinne: im Gemüte von einem Wunder, einem Wunderding, einem mirum betroffen sein. Das Sich Wundern im echten Sinne ist also ein rein im Gebiete des numinosen Gefühles liegender Gefühlszustand, und nur in abgeblasster und verallgemeinerter Form wird es zum Erstaunen im allgemeinen.*
*Genau der gleiche Bedeutungswandel findet sich bei dem Sanskrit-Worte âscarya , von dem später die Rede sein wird; auch hier wird ein ursprüngliche der numinosen Sphäre angehörender Begriff säkularisiert. Er sinkt ab in die profane Sphäre. Das geschieht mehrfach: Vergl. z.B. , was in GDÜ, S. 187 über die zunächst rein numinosen Termina deva und asura gesagt ist.

Suchen wir für die dem mirum entsprechende Gefühlsreaktion nach einem Ausdrucke, so finden wir auch hier zunächst einen Namen, der selber durchaus auf eine »natürliche« Gemüts-zuständlichkeit geht und deswegen wieder nur analogische Bedeutung hat: das ist etwa »stupor« [Erstarrung, Starrheit, Gefühllosigkeit] , Stupor ist deutlich verschieden von tremor [Zittern. Beben]. Es bedeutet das starre Staunen, das »völlig auf den Mund geschlagen sein«, das absolute Befremden. Man vergleiche auch das obstupefacere. Noch genauer ist das griechische thámbos und thambeîsthai. Der Laut thamb malt den Gemütszustand dieses starren Staunens ausgezeichnet gut. Die Stelle Mc. 10, 32 kaì ethamboynto, hoi dè akoloythoyntes efoboynto gibt den Unterschied zwischen den Momenten des »stupentum« und des »tremendum« sehr fein an. Anderseits gilt gerade vom thámbos, was auf S.29 von der leichten und schnellen Mischung beider Momente gesagt wird, und dann ist thámbos geradezu ein klassischer Terminus für den Edel-Schauder des Numinosen überhaupt. So Mc. 16, 5. Luther übersetzt hier ganz richtig: »Und sie entsetzten sich«. – Das Malende des Stammes thamb kehrt wieder im hebräischen tâmahh. Auch dieses heißt »bestürzt sein«, auch dieses geht über in »sich entsetzen« und auch dieses blasst sich ab zu bloßem »sich wundern«.*
*Ein ähnlich malendes Wort wie thamb, mit ähnlichem Sinne ist unser »baff-sein«[erstaunt, verdutzt sein wie nach einem plötzlichen Schuss (paff)], oder das holländische »verbazen«. Beide meinen den völligen stupor.

Mysterium, Mystés, Mystik leiten sich wahrscheinlich ab von einem Stamme, der im Sanskrit mûs noch erhalten ist. Mûs heißt »verborgenes verstecktes geheimes treiben« (und kann darum den Sinn von betrügen und stehlen erhalten). Mysterium , im allgemeinen Sinne genommen, heißt zunächst nur Geheimnis im Sinne des Fremdartigen [nicht Vertrautem, Unbekanntem] , Unverstandenen [nicht Begriffenem], Ungeklärten [Unklaren] überhaupt und insofern ist selbst mysterium für das von uns Gemeinte nur ein Analogie-begriff aus dem Bereiche des Natürlichen, der sich zur Bezeichnung anbietet eben um einer gewissen Analogie willen ohne die Sache wirklich zu erschöpfen [vollständig aufbrauchen, verbrauchen, ausnutzen]. Diese aber, nämlich das religiös Mysteriöse , das echte [nicht nachgemachte, nachgeahmte, imitiierte, unverfälschte] Mirum, ist, um es vielleicht am treffendsten auszudrücken, das »Ganz andere«, das tháteron , das anyad, das alienum [fremdes Gut oder Eigentum], das valiud valde [ , das Fremde [Unbekannte, nicht Vertraute] und Befremdende [unangenehm Berührendes] , aus dem Bereiche des Gewohnten [durch Gewohnheit bekannt, vertraut geworden] , Verstandenen [Erfassten, Begriffenen] und Vertrauten [mit etwas oder jemanden gut bekannt sein] und darum »Heimlichen« [geheim, verborgen, versteckt] überhaupt Herausfallende und zu ihm in Gegensatz sich Setzende und darum das Gemüt mit starrem Staunen Erfüllende.*
*GDÜ, Kap. VIII: »Das Ganz-andere in außerchristlicher und in christlicher Spekulation und Theologie«. – S.229: »Das Aliud valde bei Augustin«.
Rudolf Otto: Das Heilige - Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, 23. -25. Auflage,S. 1-31, C, H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung München