Blaise Pascal (1623 - 1662)
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Inhaltsverzeichnis Vision
Das
Gedenkblatt (Mémorial)
913 Im Jahre des Heils 1654.
Montag, 23. November, Tag des heiligen Clemens, des Papstes und Märtyrers,
und anderer im Martyrologium.
Vigil des heiligen Chrysogonus, des Märtyrers, und anderer.
Seit ungefähr halb elf Uhr abends
bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht Feuer.
Der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs (2. Mose 3,6),
nicht der Philosophen und der Gelehrten.
Gewißheit, Gewißheit, Empfinden, Freude, Frieden.
(Der Gott Jesu Christi.)
Der Gott Jesu Christi.
Deum meum et deum vestrum. (»[Ich fahre auf
zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu] meinem Gott und [zu] eurem Gott.«
Joh. 20,17.)
Dein Gott ist mein Gott (Ruth 1,16).
Vergessen der Welt und aller Dinge, nur Gottes nicht.
Er ist allein auf den Wegen zu finden, die im Evangelium gelehrt werden.
Größe der menschlichen Seele.
Gerechter Vater, die Welt kennt dich nicht; ich aber kenne dich (Joh. 1,25).
Freude, Freude, Freude, Freudentränen. Ich habe mich von ihm getrennt.
Dereliquerunt mefontem aquae vivae.
(»Mich, die lebendige Quelle, verlassen sie.« Jer. 2,13.)
Mein Gott, wirst du mich verlassen?
Möge ich nicht auf ewig von ihm getrennt sein.
Das ist aber das ewige Leben, daß sie dich, der du allein wahrer Gott
bist, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen (Joh. 17,3).
Jesus Christus.
Jesus Christus.
Ich habe mich von ihm getrennt, ich habe mich ihm entzogen, habe ihn verleugnet
und gekreuzigt.
Möge ich niemals von ihm getrennt sein.
Er ist allein auf den Wegen zu bewahren, die im Evangelium gelehrt werden.
Vollkommene und süße Entsagung.
Usw.
Vollkommene Unterwerfung unter Jesus Christus und meinen geistlichen Berater.
Ewige Freude für einen Tag der Mühe auf Erden.
Non obliviscar sermones tuos.
(»Ich [habe Lust zu deinen Rechten und] vergesse deiner Worte nicht.«
Ps. 119,16.) Amen.
Aus: Blaise Pascal, Gedanken über die Religion
und einige andere Themen. Herausgegeben von Jean-Robert Armogathe . Aus dem
Französischen übersetzt von Ulrich Kunzmann
Reclams Universalbibliothek Nr. 1622 (S. 484-485) © 1997 Philipp Reclam
jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis
des Reclam Verlags
Betrachtungen
über die Unendlichkeit
Die beiden Unendlichkeiten
Betrachtungen über die
Geometrie im Allgemeinen
Man wird es vielleicht sonderbar finden, dass die Geometrie keinen von den Hauptgegenständen
ihrer Betrachtung definieren kann. Denn sie kann weder Bewegung noch Zahlen
noch Raum definieren; und doch sind diese Gegenstände gerade die, welche
sie besonders betrachtet und je nach deren Erforschung sie die drei verschiedenen
Titel der »Mechanik«, der »Arithmetik«,
der »Geometrie« trägt, indem dieser
letztere Titel dem Geschlecht und der Art zugleich zukommt.
Man wird indes nicht davon nicht überrascht sein, wenn man erwägt,
dass, da diese wunderbare Wissenschaft
sich nur an die einfachsten Dinge hält, die Eigenschaft gerade, welche
sie ihrer Beobachtung würdig macht, sie undefinierbar macht; so dass der
Mangel an Definition
eher ein Vorzug als ein Fehler ist, weil er nicht etwa aus ihrer Dunkelheit,
sondern im Gegenteil gerade aus ihrer außerordentlichen Deutlichkeit folgt,
die so groß ist, dass sie auch ohne die Überzeugung der Beweisführung
doch ganz dieselbe Gewissheit
hat. Sie setzt also voraus, dass man weiß, was man unter den Worten »Bewegung«,
»Zahl«, »Raum« versteht; und ohne sich mit unnützen
Definitionen aufzuhalten, durchdringt sie ihre Natur und entdeckt darin die
wunderbarsten Eigenschaften.
Diese drei Dinge, welche das ganze Universum umfassen, nach den Worten:
»Deus fecit omnia in pondere in numero et mensura« stehen
in notwendig gegenseitiger Wechselwirkung.
Denn man kann sich keine Bewegung
denken ohne ein Ding,
was sich bewegt, und wenn dies Ding eins ist, so ist diese Einheit
der Ursprung
aller Zahlen. Da ferner
die Bewegung nicht ohne Raum
sein kann, so sieht man alle drei Dinge im ersten beschlossen.
Sogar die Zeit ist auch mit inbegriffen: denn Bewegung
und Zeit stehen zu einander in Bezug, da
Schnelligkeit und Langsamkeit, die Unterschiede der Bewegungen notwendige Beziehung
zur Zeit haben.
So gibt es allen diesen Dingen gemeinsame Eigenschaften,
deren Kenntnis den Geist
für größere Wunder
der Natur öffnet.
Das hervorragendste umfasst die beiden Unendlichkeiten, die sich überall
vorfinden, die der Größe und die der Kleinheit.
Denn wie schnell eine Bewegung auch sein mag, man kann eine denken, die es noch
mehr ist, und diese letztere auch noch beschleunigen; und so stets weiter ins
Unendliche, ohne je zu einer zu kommen, die es dermaßen ist, dass man
sie nicht mehr verstärken könnte; und umgekehrt, wie langsam eine
Bewegung auch sein mag, man kann sie noch hemmen, und wieder diese letztere
ebenso; und so ins Unendliche, ohne je zu einer solchen Stufe von Langsamkeit
zu kommen, dass man nicht noch zu einer Unendlichkeit
anderer hinabsteigen könnte, ohne zur Ruhe zu kommen. Ebenso wie groß
eine Zahl auch sein mag, man kann eine größere denken, und wieder
eine, welche die letztere noch übersteigt; und so ins Unendliche, ohne
zu einer zu gelangen, die nicht noch vergrößert werden könnte;
und umgekehrt, wie klein auch eine Zahl sein mag, wie der hundertste oder zehntausendste
Teil, man kann noch eine kleinere denken und immer ins Unendliche weiter, ohne
zu Null oder Nichts zu gelangen. Wie groß auch ein Raum sein mag, man
kann einen größeren denken, und wieder einen, der es noch mehr ist;
und so ins Unendliche, ohne je zu einem zu gelangen, der nicht mehr vergrößert
werden könnte; und umgekehrt, wie klein auch ein Raum sein mag, man kann
einen kleineren ausdenken und so stets weiter ins Unendliche, ohne je zu einem
zu gelangen, der unteilbar und ohne jegliche Ausdehnung wäre.
Ebenso ist es mit der Zeit. Man kann stets eine größer denken ohne
Ende, und eine kleinere, ohne zu einem Augenblicke und einem reinen Nichts
an Dauer zu gelangen.
Das heißt in einem Worte, welche Bewegung, welche Zahl, welcher Raum und
welche Zeit es auch sein mag, es gibt stets eine größere und eine
geringere, so dass sich alle zwischen dem Nichts und der
Unendlichkeit halten und zugleich stets unendlich weit von diesen Extremen entfernt
sind.
Alle diese Wahrheiten sind nicht zu beweisen; und gleichwohl sind sie die Grundlagen
und Prinzipien der Geometrie. Wie aber der Grund, der sie unbeweisbar macht,
nicht ihre Dunkelheit, sondern gerade ihre außerordentliche Deutlichkeit
ist, so ist dieser Mangel eines Beweises kein Fehler, sondern vielmehr ein Vorzug.
Daraus sieht man, dass die Geometrie ihr Gegenstände nicht anders definieren
noch ihre Prinzipien anders beweisen kann, als durch diese einzige und vorteilhafte
Überlegung, dass die einen wie die andern eine außerordentliche natürliche
Klarheit besitzen, welche die Vernunft mächtiger überzeugt, als es
die Rede könnte.
Denn was ist deutlicher als diese Wahrheit, dass eine Zahl, wie sie auch sei,
vermehrt werden kann, dass man sie verdoppeln kann;
dass die Geschwindigkeit einer Bewegung verdoppelt werden kann, dass ebenso
ein Raum verdoppelt werden kann? Und andererseits, wer könnte zweifeln,
dass eine Zahl, wie sie auch sei, halbiert werden
kann, und diese Hälfte ebenso? Denn wäre diese Hälfte dann etwa
ein Nichts? Wie könnten dann zwei Hälften, die zwei Nullen wären,
eine Zahl ausmachen?
Ebenso, wie langsam eine Bewegung sei, kann sie nicht noch um die Hälfte
abgeschwächt werden, so dass sie denselben Raum in der doppelten Zeit durchläuft,
und dann wieder diese letztere Bewegung? Denn würde das dann eine reine
Ruhe sein? Und wie wäre es möglich, dass diese beiden Hälften
von Schnelligkeit, die zwei Ruhen wären, die erste Schnelligkeit ausmachten?
Schließlich ein Raum, wie klein er auch sei, kann er nicht in zwei geteilt
werden, und diese zwei Hälften wiederum? Und wie könnte es geschehen,
dass diese Hälften unteilbar, ohne jede Ausdehnung wären, sie, welche
mit einander verbunden, die erste Ausdehnung bewirkt haben?
Es gibt im Menschen durchaus keine natürliche Erkenntnis, welche diesen
vorausginge und sie an Klarheit überträfe. Trotzdem findet man, damit
es zu allem ein Beispiel gäbe, Geister, ausgezeichnet in allen anderen
Dingen, welche von diesen Unendlichkeiten abgestoßen werden, und welche
in keiner Weise zustimmen können.
Ich habe nie jemanden gekannt, der es für unmöglich gehalten, dass
ein Raum vergrößert werden könne. Dagegen habe ich manche sonst
sehr tüchtige Leute getroffen, welche versicherten, ein Raum könne
in zwei unteilbare Teile zerlegt werden, wie groß auch die Absurdität
dabei sein mag.
Ich habe an ihnen zu erforschen versucht, welches der Grund dieser Unwissenheit
sein könne, und habe gefunden, dass es nur einen Hauptgrund gibt, nämlich,
dass sie ein beständig ins Unendliche Teilbare nicht zu begreifen vermögen;
woraus sie dann schließen, dass es also auch nicht teilbar ist. Es ist
dies eine dem Menschen natürliche Schwäche, zu glauben, er besitze
die Wahrheit unmittelbar, und daher ist er stets geneigt alles ihm unbegreifliche
einfach zu leugnen, während er in der Tat von Natur aus doch nur die Lüge
erkennt und die Dinge für die wahren ansehen muss, deren Gegenteil ihm
falsch erscheint.
So oft daher eine Behauptung unbegreiflich ist, muss man sein Urteil darüber
aussetzen, wenn sie nicht dieser Eigenschaft wegen leugnen, sondern ihr Gegenteil
prüfen; findet man dieses handgreiflich falsch, so kann man die erste Behauptung
kühnlich bejahen, so unbegreiflich sie auch sein mag. Wenden wir diese
Regel auf unseren Gegenstand an.
Es gibt keinen Geometer, der nicht den Raum bis ins Unendliche teilbar hält.
Man kann es ohne diesen Grundsatz ebenso wenig sein, als man ohne Seele Mensch
sein kann. Dennoch gibt es keinen, der eine unendliche Teilung begriffe; und
man versichert sich dieser Wahrheit auch nur durch die einzige, sicherlich aber
genügende Überlegung, dass man vollkommen begreift, die Behauptung,
durch Teilung eines Raumes könne man zu einem unteilbaren Teil, d. h. zu
einem ohne jede Ausdehnung gelangen, sei falsch. Denn was ist törichter,
als die Behauptung, durch ständig fortgesetzte Teilung eines Raumes gelange
man schließlich zu einem solchen Teil, dessen Hälften, wenn man ihn
in zwei zerlegt, einzeln unteilbar und ohne jegliche Ausdehnung blieben? Diejenigen,
welche sich das einbilden, möchte ich fragen, ob sie klar begreifen, dass
zwei Unteilbare sich berühren: wenn in allen Teilen, so sind sie doch nur
ein Ding, und also sind auch beide zusammen unteilbar; wenn nicht in allen Teilen,
so also nur in einem Teil, so haben sie also Teile, so sind sie also nicht unteilbar.
Mögen sie, wenn sie bekennen – wie sie es in der Tat tun, wenn man
sie drängt – dass ihre Behauptung ebenso unbegreiflich ist als die
andere, mögen sie dann erkennen, dass wir nicht vermöge unserer größeren
Fassungskraft in diesen Dingen über ihre Wahrheit aburteilen müssen,
sondern, wenn auch beide entgegengesetzten Ansichten alle beide unbegreiflich
sind, so muss doch notwendiger Weise eine von beiden wahr sein.
Diesen fabelhaften Schwierigkeiten aber, die nur zu unserer Schwachheit in einem
Verhältnis stehen, mögen sie diese natürlichen Einsichten und
festen Wahrheiten entgegensetzen: wäre in der Tat der Raum zusammengesetzt
aus einer bestimmten begrenzten Zahl von Unteilbaren, so würde daraus folgen,
dass von zwei Räumen, deren jeder ein Quadrat, d. h. gleich und ähnlich
an allen Seiten, der eine, wenn er um den andern verdoppelt würde, eine
Anzahl jener Unteilbaren enthalten würde doppelt so groß als die
Anzahl der Unteilbaren des andern. Diese Folgerung wohlbehalten mögen sie
sich daran machen, Punkte in Quadraten anzuordnen solange bis sie zwei gefunden
haben, wovon das eine doppelt so viele Punkte enthält als das andere; dann
sollen alle Geometer der Welt nachgeben. Aber wenn das Ding natürlich unmöglich
ist, d. h. wenn es absolut unmöglich ist, Punkte in Quadrate so zu ordnen,
dass da eine doppelt so viel enthält als das andere, wie ich hier selbst
beweisen würde, wenn die Sache verdiente sich dabei aufzuhalten, dann mögen
sie daraus die Konsequenz ziehen.
Und um sie in ihren Verlegenheiten bei gewissen Gelegenheiten zu trösten,
wie wenn es heißt zu begreifen, dass ein Raum eine Unendlichkeit von Teilbaren
habe, obgleich man ihn in so kurzer Zeit durcheilt, muss man sie bedeuten, dass
sie nicht außer Verhältnis stehende Dinge wie die Unendlichkeit der
Teilbaren und die kurze Zeit in der man sie durchläuft mit einander vergleichen
dürfen: sondern dass sie den ganzen Raum mit der ganzen Zeit vergleichen
müssen und die unendlichen Teile des Raumes mit den unendlichen Augenblicken
der Zeit; denn dann würden sie finden, dass man eine Unendlichkeit von
Teilen in einer Unendlichkeit von Augenblicken durchläuft und einen kleinen
Raum in kurzer Zeit, und darin ist nichts von dem Missverhältnis, was sie
in Erstaunen gesetzt hatte.
Wenn sie es endlich sonderbar finden, dass ein kleiner Raum ebenso viele Teile
habe wie ein großer, so müssen sie auch verstehen, dass sie im Verhältnis
viel kleiner sind; und mögen sie doch einmal das Firmament durch ein kleines
Glas betrachten, um sich, indem sie jeden Teil des Himmels und jeden Teil des
Glases sehen, mit dieser Erkenntnis zu befreunden.
Wenn sie aber nicht begreifen können, dass Teile, so klein, dass sie für
uns nicht wahrnehmbar sind, ebenso oft geteilt werden können als das Firmament,
so gibt es dagegen kein besseres Mittel, als ihnen jenen zarten Punkt unter
einem Vergrößerungsglase als ungeheuerliche Masse zu zeigen, in Folge
dessen sie dann mit Leichtigkeit begreifen, dass man mit Hilfe eines noch viel
feiner geschliffenen Glases sie bis zur Gleichheit mit dem Firmament, dessen
Ausdehnung sie bewundern, vergrößern könnte. Und wenn ihnen
so nun diese Gegenstände sehr leicht teilbar zu sein scheinen, dann mögen
sie sich daran erinnern, dass die Natur unendlich viel mehr kann als die Kunst.
Denn schließlich, wer gibt ihnen denn Gewissheit darüber, dass diese
Gläser die natürliche Größe jener Gegenstände verändern
und nicht vielmehr die wahrhafte wiederherstellen, welche die Form unseres Auges
verändert und verkürzt hatte, wie es Verkleinerungsgläser tun?
Es ist traurig, sich bei solchen Bagatellen aufzuhalten, aber man muss zuweilen
Spaß machen.
Vernünftigen Leuten genügt es in dieser Beziehung zu sagen, dass zwei
Nichts an Ausdehnung keine Ausdehnung machen können. Da es aber doch Leute
gibt, die dieser Einsicht entgehen wollen mit der wundervollen Antwort: zwei
Nichts an Ausdehnung könnten ebenso gut eine Ausdehnung machen, als zwei
Einheiten, deren keine eine Zahl durch ihre Verbindung eine Zahl ausmachen;
so muss man ihnen entgegenhalten, dass sie in derselben Weise erwidern könnten,
dass zwanzigtausend Menschen eine Armee machen, obgleich keiner von ihnen eine
Armee sei; dass tausend Häuser eine Stadt machen, obgleich keines Stadt
sei; oder dass die Teile das Ganze machen, obgleich keiner das Ganze sei; oder,
um bei der Vergleichung von Zahlen zu bleiben, dass zwei Zweier einen Vierer,
zehn Zehner einen Hunderter machen, obgleich keiner es sei.
Das heißt aber seinen gesunden Verstand zu nichts anderem gebrauchen,
als um durch solch’ falsche Vergleiche die unwandelbare Natur der Dinge
zu verwechseln mit ihren freien, beliebigen und, von der Willkür der Menschen,
die sie ihnen gegeben, abhängigen Namen. Denn es ist klar, um die Rede
zu erleichtern, hat man zwanzigtausend Menschen eine Armee, viele Häuser
eine Stadt, zehn Einheiten einen Zehner genannt, und sind aus dieser Freiheit
die Namen Einer, Zweier, Vierer, Zehner, Hunderter entstanden, die in unserer
Einbildung verschieden, wenn auch in der Tat vermöge ihrer unveränderlichen
Natur desselben Geschlechtes, unter einander durchaus verhältnismäßig
und nur durch mehr oder weniger unterschieden sind, und wenn auch zur Folge
jener Namen der Zweier kein Vierer, noch ein Haus eine Stadt und noch weniger
eine Stadt ein Haus ist. Aber wenn auch ein Haus keine Stadt ist, so ist es
trotzdem ein Nichts von Stadt; es ist ein großer Unterschied zwischen:
eine Sache nicht sein, und ein Nichts davon sein.
Denn man muss, um die Sache gründlich zu kennen, wissen, dass der einzige
Grund, weshalb die Einheit nicht zu den Zahlen gehört, der ist, dass, da
Euklides und die ersten Autoren, welche die Arithmetik
behandelt haben, mehrere Eigenschaften allen Zahlen, außer der Einheit,
gemeinsam zuerteilten und die öftere Wiederholung des Satzes: »bei
jeder Zahl, außer der Einheit, trifft diese Bedingung zu«
vermeiden wollten, sie diese Einheit, vermöge der Freiheit, die man, wie
gesagt, hat, beliebige Definitionen zu machen, überhaupt von der Bezeichnung
durch das Wort »Zahl« ausgeschlossen
haben. Wenn sie es gewollt, hätten sie auch ebenso gut die Zweier und die
Dreier und alles was ihnen sonst passend gewesen wäre, davon ausschließen
können; denn man kann es machen, wie man will, wenn man nur davon Bescheid
gibt: wie man ja umgekehrt, wenn man will, die Einheit so gut als die Brüche
unter die Zahlen setzen kann. Und man muss das in der Tat in allgemeinen Behauptungen
tun, damit man die jedesmalige Wiederholung des Satzes vermeide: »bei
jeder Zahl und bei der Einheit und bei den Brüchen gilt eine solche Eigenschaft«;
und eben in diesem unbestimmten Sinne habe ich es genommen in allem, was ich
darüber geschrieben habe.
Aber derselbe Euklides, welcher der Einheit den
Namen »Zahl« genommen, was ihm freistand,
definiert, um zu zeigen, dass sie trotzdem ein Nichts davon, sondern vielmehr
des selben Geschlechts sei, die gleichartigen Größen folgendermaßen:
»Die Größen, sagt er, gehören zu
demselben Geschlecht, weil die eine, mehrere Male gesetzt, dahin kommen kann,
größer als die andere zu sein«; und folglich, da die
Einheit mehrere Male gesetzt, irgend eine beliebige Zahl überschreiten
kann, gehört sie zu demselben Geschlecht wie die Zahlen, und zwar gerade
ihres Wesens und ihrer unveränderlichen Natur wegen, im Sinne desselben
Euklides, der da wollte, dass sie nicht »Zahl«
genannt würde.
Nicht so verhält es sich mit einem Unteilbaren gegenüber einer Ausdehnung;
denn es hat nicht nur einen anderen Namen, was zufällig ist, sondern es
gehört auch nach derselben Definition zu einem anderen Geschlecht, denn
ein Unteilbares, mag man es setzen so oft man will, bleibt doch soweit davon
entfernt eine Ausdehnung überschreiten zu können, dass es nie mehr
als ein einziges und alleiniges Unteilbare bilden kann; das ist natürlich
und notwendig, wie wir bereits bewiesen. Da aber dieser letzte Beweis gestützt
ist auf die Definition der beiden Dinge »unteilbar«
und »Ausdehnung«, so will man die Beweisführung
auch vollständig zu Ende führen.
Ein Unteilbares ist das, was keinen Teil hat, und Ausdehnung ist das, was verschiedene
getrennte Teile hat. Zufolge dieser Definition sage ich, dass zwei Unteilbare
durch ihre Vereinigung keine Ausdehnung werden.
Denn, wenn sie verbunden werden, berühren sie sich jedes in einem Teile;
also sind die Teile, womit sie sich berühren, nicht getrennt, da sie sich
sonst nicht berühren könnten. Nun aber haben sie nach ihrer Definition
gar keine anderen Teile; also haben sie keine getrennten Teile; also sind sie
keine Ausdehnung nach der Definition von Ausdehnung, die getrennte Teile hat.
Dasselbe kann man von allen anderen Unteilbaren, die man damit verbindet, beweisen
aus demselben Grunde. Folglich wird ein Unteilbares, so oft gesetzt wie man
will, niemals eine Ausdehnung. Also gehört es nicht zu demselben Geschlecht,
wie die Ausdehnung, nach der Definition von den Dingen desselben Geschlechtes.
So beweist man, dass die Unteilbaren nicht zu demselben Geschlecht gehören
wie die Zahlen. Daher können zwei Einheiten recht gut eine Zahl machen,
weil sie zu demselben Geschlecht gehören; und daher machen zwei Unteilbare
keine Ausdehnung, weil sie nicht zu demselben Geschlecht gehören.
Daraus folgt, wie wenig vernünftig es ist, die Beziehung zwischen der Einheit
und den Zahlen, mit der zwischen den Unteilbaren und der Ausdehnung zu vergleichen.
Aber wenn man in den Zahlen eine Vergleichung haben will, die mit Richtigkeit
angibt, was wir in der Ausdehnung betrachten, so muss es das Verhältnis
zwischen Null und den Zahlen sein; denn Null gehört nicht zu demselben
Geschlecht wie die Zahlen, weil sie, vervielfältigt, sie nicht überschreiten
kann. So ist ein wahres Unteilbare von Zahl, wie das Unteilbare eine wahre Null
von Ausdehnung.
Ein ähnliches Verhältnis wird man finden zwischen Ruhe und Bewegung
und zwischen einem Augenblick und der Zeit; denn alle diese Dinge sind in ihren
Größen ungleichartig, weil, wenn sie auch unendlich oft vervielfältigt
werden, sie doch stets nur Unteilbare bilden können, ebenso wie die Unteilbaren
der Ausdehnung und aus demselben Grunde. Und wird man zwischen all’ diesen
Dingen eine vollkommne Wechselbeziehung bemerken; denn all’ jene Größen
sind teilbar bis ins Unendliche, ohne je zu ihren Unteilbaren herabzusinken,
so dass sie alle die Mitte halten zwischen dem Unendlichen
und dem Nichts.
Das ist das bewunderungswürdige Verhältnis, welches die Natur zwischen
diesen Dingen aufgestellt hat, und die beiden wunderbaren Unendlichkeiten, welche
sie den Menschen vorgelegt hat, nicht um sie zu begreifen, sondern um sie zu
bewundern; und um ihre Betrachtung mit einer letzten Bemerkung abzuschließen,
will ich hinzufügen, dass diese beiden Unendlichkeiten, obwohl unendlich
verschieden, dennoch in einem solchen Verhältnis zu einander stehen, dass
die Erkenntnis der einen notwendig zur Erkenntnis der anderen führt.
Denn daraus, dass die Zahlen unaufhörlich vermehrt werden können,
folgt notwendig, dass sie unaufhörlich verkleinert werden können;
das ist klar; denn wenn man z. B. eine Zahl bis zu 100.000 vervielfältigen
kann, so kann man auch den 100.000 Teil davon nehmen, indem man sie durch dieselbe
Zahl teilt, womit man sie vervielfältigt; also kann jeder Ausdruck der
Vervielfältigung zu einem Ausdruck der Verkleinerung werden, wenn man das
Ganze in Bruch verwandelt. Also schließt die unendliche
Vervielfältigung auch notwendig die unendliche Teilung ein.
Und im Raume findet dasselbe Verhältnis zwischen jenen
beiden Unendlichkeiten statt, d. h. daraus, dass ein Raum unendlich erweitert
werden kann, folgt, dass er unendlich verringert werden kann, wie folgendes
Beispiel zeigt: wenn man durch ein Glas ein Schiff beobachtet, welches sich
stets in gerader Richtung entfernt, so ist klar, das die Stelle des durchsichtigen
Körpers, an welcher man einen beliebigen Punkt des Schiffes bemerkt, in
beständiger Fortbewegung stets steigen wird in demselben Verhältnis
wie das Schiff sich entfernt. Wenn also der Lauf des Schiffes stets fortgesetzt
wird bis ins Unendliche, so wird dieser Punkt unaufhörlich steigen, dennoch
aber wird er nie mit dem horizontalen Strahle von unserm Auge zum Glas zusammenfallen,
sondern sich ihm vielmehr stets nähern, ohne ihn je zu erreichen, und unaufhörlich
den Raum bis zu diesem horizontalen Punkte verringern, ohne ihn je zu erreichen.
Daraus folgt mit Notwendigkeit der Schluss von der unendlichen Ausdehnung der
Fortbewegung des Schiffes auf die unendliche und unendlich kleine Teilung des
Raumes, der unter dem Horizontalpunkte übrig bleibt.
Diejenigen, welche von diesen Gründen nicht zufrieden gestellt sind und
welche in dem Glauben verharren, der Raum sei nicht ins Unendliche teilbar,
können keinen Anspruch auf geometrische Beweisführungen machen und
wenn sie auch in anderen Dingen der Belehrung fähig sind, so sind sie es
hierin jedenfalls sehr wenig; denn man kann leicht ein tüchtiger Mensch
und ein schlechter Mathematiker sein.
Diejenigen dagegen, welche die Wahrheiten klar erkennen, vermögen die Größe
und Macht der Natur in dieser zwiefachen Unendlichkeit, die uns überall
umgibt, zu bewundern und sich selbst vermöge dieser wunderbaren Betrachtung
recht kennen zu lernen, indem sie sich hineingestellt sehen zwischen eine Unendlichkeit
und ein Nichts an Ausdehnung, zwischen eine Unendlichkeit und ein Nichts an
Zahl, zwischen eine Unendlichkeit und ein Nichts an Bewegung, zwischen eine
Unendlichkeit und ein Nichts an Zeit. Daraus kann man sich nach seinem wahren
Wert kennen lernen, und daraus sehr bedeutsame Betrachtungen ableiten, die mehr
wert sind, als die ganze übrige Geometrie.
Ich habe geglaubt diese lange Betrachtung zu Gunsten derjenigen machen zu müssen,
welche jene zwiefache Unendlichkeit zwar nicht
sofort begreifen, aber doch davon überzeugt werden können; und wenn
auch manche genug Verstand haben um ihr entraten zu können, so ist es doch
wohl möglich, dass diese Abhandlung, notwendig für die einen, nicht
völlig unnütz ist für die andern. S.38ff.
Aus: Blaise Pascal, Gedanken mit den Anmerkungen Voltaires. Aus dem Französischen
Heinrich Hesse. Eingeleitet von C. Gahlen
Reclams Universalbibliothek Nr. 1621-24, Philipp Reclam jun. Leipzig 1948
Was
ist der Mensch im Unendlichen?
Allgemeine Erkenntnis des
Menschen
Die erste Sache, die sich dem
Menschen bei einer Selbstbetrachtung darbietet, ist sein Körper, das heißt
eine gewisse Masse Materie, die ihm eigen ist. Um aber zu begreifen, was sie
sei, muß er sie vergleichen mit allem, was über, und mit allem, was
unter ihm ist, damit er seine rechten Grenzen erkenne.
Er bleibe doch nicht dabei stehen, einfach die Gegenstände zu betrachten,
welche ihn umgeben; er betrachte die ganze Natur in ihrer ganzen erhabenen Majestät;
er beschaue jenes glänzende Licht, welches gleich einer ewigen Fackel das
Universum erleuchtet; die Erde erscheine ihm wie ein Punkt, gegenüber dem
weiten Umkreis, den dieses Gestirn beschreibt; und er möge darüber
erstaunen, daß dieser weite Umkreis selbst nur ein verschwindender Punkt
ist gegenüber dem, den die Sterne, die im Firmamente dahinrollen, umfassen.
Wenn aber hier unser Denken stillsteht, so möge die Phantasie weiterschweifen.
Sie wird weit eher ermüden auszumalen, als die Natur, Farben darzureichen.
Alles, was wir von der Welt sehen, ist nur eine unmerkliche Spur in dem weiten
Busen der Natur. Keine Idee reicht an die Ausdehnung ihrer Räume. Wir haben
unsere Begriffe gut aufgeblasen, wir schaffen doch nur Atome gegenüber
den wirklichen Dingen. Es ist eine unendliche Sphäre, deren Zentrum überall,
deren Peripherie nirgends ist. Endlich ist es eins der größten deutlichen
Kennzeichen der Allmacht
Gottes, daß unsere Phantasie sich in diesem Gedanken verliert.
In sich zurückgekehrt, betrachte der Mensch, was er ist im Verhältnis
zu dem, was ist; er erkenne sich als verirrt in diesem abgelegenen Bezirk der
Natur; und darnach, wie ihm dieser kleine Kerker, in welchem er wohnt, das heißt
diese sichtbare Welt erscheint, lerne er die Erde, die König¬reiche,
die Städte, sich selbst, seinen wahren Wert schätzen.
Was ist der Mensch im Unendlichen? Wer kann es
begreifen? Aber um ihm ein anderes, ebenso erstaunliches Wunder zu zeigen, forsche
er in den kleinsten Dingen, die er kennt. Eine Milbe zum Beispiel biete ihm
in der Winzigkeit ihres Körpers Teile unvergleichlich viel winziger, Beine
mit Bändern, Adern in diesen Beinen, Blut in diesen Adern, Feuchtigkeit
in diesem Blut, Tropfen in dieser Feuchtigkeit, Dämpfe in diesen Tropfen;
er erschöpfe, indem er auch diese letzten Dinge noch teilt, all seine Begriffskräfte,
und der letzte Gegenstand, zu dem er gelangen kann, sei jetzt der unserer Betrachtung.
Er denkt vielleicht, dies sei die äußerste Kleinheit der Natur. Ich
will ihn darin einen neuen Abgrund sehen lassen. Ich will ihm nicht nur das
sichtbare Universum, sondern auch alles, was er von der Unendlichkeit der Natur
zu begreifen fähig ist, in dem Umkreis dieses unsichtbaren Atoms ausmalen.
Er erblicke darin eine Unendlichkeit von Welten, deren jede ihr Firmament, ihre
Planeten, ihre Erde hat in demselben Verhältnis, wie diese sichtbare Welt;
auf dieser Erde Tiere, schließlich auch wieder Milben, an denen er wieder
findet, was er an den ersten gesehen, und noch an diesen anderen findet er wieder
dasselbe ohne Ende und Ruhe. Er verliere sich in diesen Wundern, die vermöge
ihrer Kleinheit ebenso erstaunlich als die anderen vermöge ihrer Größe.
Denn wer wird nicht bewundern, daß unser Körper eben noch nicht wahrnehmbar
im Universum, das seinerseits nicht wahrnehmbar im Busen des Alls, jetzt ein
Koloß, eine Welt, ja vielmehr ein All ist gegenüber der äußersten
Kleinheit, zu der man nicht gelangen kann?
Wer sich so betrachtet, wird ohne Zweifel erschrecken, sich in der Masse, die
ihm die Natur gegeben, gleichsam schweben zu sehen zwischen den beiden Abgründen
der Unendlichkeit und des Nichts, von welchen beiden er gleichweit entfernt
ist. Er wird erzittern in der Erkenntnis dieser Wunder; und ich glaube, seine
Neugier wird sich in Bewunderung wandeln und er wird geneigter sein, sie mit
Schweigen zu beschauen, als mit Anmaßung zu erforschen.
Denn was ist schließlich der Mensch in der Natur? Ein Nichts
gegenüber der Unendlichkeit, ein All gegenüber dem Nichts, ein Mittelding
zwischen Nichts und All. Er ist von beiden Extremen unendlich entfernt, und
sein Dasein ist nicht weniger weit vom Nichts, aus dem er hervorgegangen, als
vom Unendlichen, in das er verschlungen ist.
Seine Urteilskraft nimmt in der Reihe der intelligiblen Dinge denselben Platz
ein wie sein Körper in der Ausdehnung der Natur; und alles, was er vermag,
ist, einen gewissen Schein von der Mitte der Dinge zu begreifen, während
er auf ewig daran verzweifeln muß, ihren Anfang und ihr Ende zu erkennen.
Alle Dinge kommen aus dem Nichts und gehen zur Unendlichkeit. Wer vermag solchen
erstaunlichen Schritten zu folgen? Der Schöpfer dieser Wunder begreift
sie; kein anderer ist dessen fähig.
Dieser Zustand, der die Mitte hält zwischen den Extremen, kehrt in all
unseren Fähigkeiten wieder. Unsere Sinne empfinden kein Extrem. Zuviel
Geräusch betäubt uns, zuviel Licht blendet uns, zu große Entfernung
und zu große Nähe hindert das Sehen, zu große Länge und
zu große Kürze verdunkeln eine Rede, zu viel Vergnügen belästigt,
zu viel Gleichklang mißfällt. Wir spüren weder die äußerste
Wärme noch die äußerste Kälte. Die extremen Eigenschaften
sind unsere Feinde und nicht empfindbar. Wir empfinden sie nicht mehr, wir erleiden
sie. Zu große Jugend und zu großes Alter hindern den Geist; zu viel
und zu wenig Nahrung bringt seine Tätigkeit in Unordnung; zu viel und zu
wenig Unterricht verdummt ihn. Die extremen Dinge sind für uns, als ob
sie nicht wären, und wir sind nicht in ihrem Betracht. Sie entgehen uns
oder wir ihnen.
Das ist unser wahrer Zustand. Das engt unser Erkennen ein in bestimmte Grenzen,
die wir nicht überschreiten, unfähig alles zu wissen und alles absolut
zu ignorieren. Wir befinden uns auf einer weiten Mitte; stets unsicher schwankend
zwischen Unwissenheit und Erkenntnis; und wenn wir denken, weiter vorwärts
zu schreiten, so schwankt und entschlüpft unser Gegenstand unseren Händen;
er verbirgt sich und flieht ewigliche Flucht: nichts kann ihn aufhalten. Das
ist unsere natürliche Lage und doch ist sie die unserer Neigung am meisten
widersprechende. Wir brennen vor Begier, alles zu ergründen und einen Turm
zu erbauen, der bis in die Unendlichkeit reicht. Aber unser ganzes Gebäude
kracht und die Erde öffnet sich bis in die Tiefen. S.64ff.
Aus: Blaise Pascal, Gedanken mit den Anmerkungen Voltaires. Aus dem Französischen
Heinrich Hesse. Eingeleitet von C. Gahlen
Reclams Universalbibliothek Nr. 1621-24, Philipp Reclam jun. Leipzig 1948
242/585
Der verborgene Gott
Gäbe es nur eine Religion, so wäre
Gott in ihr ganz offenbar.
Ebenso, wenn es Märtyrer nur in unserer Religion gäbe.
Da Gott solcherart verborgen ist, ist jede Religion, die
nicht sagt, daß Gott verborgen ist, nicht wahr, und jede Religion, die
nicht den Grund hierfür angibt, hat keine Lehren zu bieten. Die
unsrige tut dies alles. Vere tu es deus absconditus.
(»Fürwahr, du. bist ein verborgener Gott.« Jes. 45,15.)
S.154
Aus: Blaise Pascal, Gedanken über die
Religion und einige andere Themen. Herausgegeben von Jean-Robert Armogathe .
Aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Kunzmann
Reclams Universalbibliothek Nr. 1622 © 1997 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
Verlags
160/257 Es
gibt nur drei Arten von Menschen:
Die einen dienen Gott, da sie ihn gefunden haben, die anderen
bemühen sich, ihn zu suchen, da sie ihn nicht gefunden haben, und die dritten
leben dahin, ohne ihn zu suchen und ohne ihn gefunden zu haben. Die ersten sind
vernünftig und glücklich, die letzten sind töricht und unglücklich.
Die mittleren sind unglücklich und vernünftig. S.119
Aus: Blaise Pascal, Gedanken über die Religion
und einige andere Themen. Herausgegeben von Jean-Robert Armogathe . Aus dem
Französischen übersetzt von Ulrich Kunzmann
Reclams Universalbibliothek Nr. 1622 © 1997 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
Verlags
Vortrefflichkeit
dieser Art, Gott zu beweisen
189/547 Gott
durch Jesus Christus.
Wir erkennen Gott allein durch Jesus Christus. Ohne diesen
Mittler wird jede Gemeinschaft mit Gott aufgehoben. Durch Jesus Christus erkennen
wir Gott. All jene, die Gott ohne Jesus Christus erkennen und beweisen wollten,
besaßen nur unzulängliche Beweise. Doch um Jesus Christus zu beweisen,
haben wir die Prophetien, die stichhaltige und handgreifliche Beweise sind.
Und da diese Prophetien durch sein Erscheinen in Erfüllung gegangen und
als wahrhaftig erwiesen sind, beurkunden sie die Gewißheit dieser Wahrheiten
und folglich den Beweis für die Göttlichkeit Jesu Christi. In ihm
und durch ihn erkennen wir also Gott. Wenn man darüber hinweggeht und ohne
die Heilige Schrift, ohne die Erbsünde, ohne notwendigen Mittler, der verheißen
und erschienen ist, auskommen will, kann man Gott nicht im geringsten beweisen
und auch keine rechte Lehre oder rechte Moral begründen. Durch Jesus Christus
und in Jesus Christus aber beweist man Gott und begründet Moral und Lehre.
Jesus Christus ist also der wahrhaftige Gott der Menschen.
Doch wir erkennen zugleich unser Elend, denn dieser Gott
ist nichts anderes als der Heiland unseres Elends. Darum können wir Gott
nur richtig erkennen, wenn wir unsere Sünden erkennen.
So haben jene, die Gott erkannten, ohne ihr Elend zu erkennen, ihn nicht gerühmt,
sondern sich dessen gerühmt.
Quia non cognovit per sapientiam placsut deo per stultitiam
predicationis salvos facere. (»Denn
dieweil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte,
gefiel es Gott wohl, durch törichte Predigt selig zu machen die, so daran
glauben.« 1. Kor. 1,21.)
190/543 ... Die metaphysischen
Gottesbeweise liegen dem menschlichen Denken so fern und sind so verwickelt,
daß sie kaum zu Herzen gehen, und wenn das auch einigen nützlich
sein sollte, so würde es ihnen nur in dem Augenblick nützen, da sie
diese Beweisführung vor Augen haben, doch eine Stunde danach fürchten
sie, sich getäuscht zu haben.
Quod curiositate cognoverunt, superbia amiserunt.
(»Was ihre Neugier sie erkennen ließ, hat ihr Hochmut sie verlieren
lassen.« Augustinus, Sermo CXLI.)
Das bringt die Erkenntnis Gottes ein, die man ohne Jesus Christus gewinnt und
die darin besteht, ohne Mittler mit dem Gott zu verkehren, den man ohne Mittler
erkannt hat.
Jene hingegen, die Gott durch diesen Mittler erkannt haben, erkennen ihr Elend.
191/549 Es ist nicht allein unmöglich, sondern auch unnütz, Gott ohne Jesus Christus zu erkennen. Sie haben sich nicht von ihm entfernt, sondern haben sich ihm genähert; sie haben sich nicht erniedrigt, sondern ... Quo quisque optimus eo pessimus si hoc ipsum quod sit optimus ascribat sibi. (»Je besser man ist, desto schlechter wird man, wenn man sich selbst das zuschreibt, wodurch man am besten ist.« Sankt Bernhard, In cantica sermones LXXXIV)
192/527 Die Erkenntnis Gottes
ohne die Erkenntnis des eigenen Elends führt zu Hochmut.
Die Erkenntnis des eigenen Elends ohne die Erkenntnis Gottes führt zu Verzweiflung.
Die Erkenntnis Jesu Christi steht in der Mitte, weil wir in ihr sowohl Gott
wie auch unser Elend finden.
Aus: Blaise Pascal, Gedanken über die Religion
und einige andere Themen. Herausgegeben von Jean-Robert Armogathe . Aus dem
Französischen übersetzt von Ulrich Kunzmann
Reclams Universalbibliothek Nr. 1622 (S. 125-127) © 1997 Philipp Reclam
jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis
des Reclam Verlags
199/72
Mensch. Mißverhältnis
des Menschen
Der Mensch soll also die ganze Natur in ihrer großen
und vollkommenen Majestät betrachten, er soll seinen Blick von den niedrigen
Gegenständen abwenden, die ihn umgeben. Er beschaue
jenes strahlende Licht, das wie eine Ewige Lampe aufgestellt ist, um
das Universum zu erhellen, die Erde erscheine ihm wie ein Punkt im Vergleich
zu der weiten Kreisbahn, die dieses Gestirn durchläuft, und er erstaune
darüber, daß diese weite Kreisbahn selbst nur eine sehr schwache
Andeutung ist im Verhältnis zu jener, der diese anderen Gestirne, die am
Firmament dahinrollen, folgen. Wenn aber unser Blick dort stehenbleibt, so soll
die Phantasie darüber hinausgehen, sie wird eher der Gedankenbilder müde
werden als die Natur, solche zu liefern. Die ganze sichtbare Welt ist nur ein
unscheinbarer Strich im weiten Kreis der Natur. Keine Idee reicht an sie heran,
wir können unsere Gedankenbilder noch so sehr über die vorstellbaren
Räume hinaus ausweiten, wir bringen doch nur Atome im Vergleich zu den
wirklichen Dingen hervor. Es ist eine unendliche Kugel,
deren Mittelpunkt überall und deren Peripherie nirgendwo ist. Schließlich
ist es der fühlbarste Wesenszug der Allmacht Gottes, daß unsere Phantasie
bei diesem Gedanken den Boden verliert.
Wenn der Mensch zu sich selbst zurückgekehrt ist, soll er bedenken, was
er ist im Vergleich zu dem, was ist, er soll sich als ein Verirrter betrachten,
und er soll von dieser kleinen Kerkerzelle aus, wo er seine Heimstatt gefunden
hat — ich meine das Universum —, es lernen, die Erde, die Königreiche,
die Städte, die Häuser und sich selbst nach ihrem richtigen Wert zu
schätzen.
Was ist denn ein Mensch im Unendlichen?
Um ihm aber ein anderes, ebenso erstaunliches Wunder vorzuführen, soll
er die kleinsten ihm bekannten Dinge untersuchen, damit eine Milbe ihm an ihrem
winzigen Körper noch unvergleichlich winzigere Teile zeige, Beine mit Gelenken,
Adern in ihren Beinen, Blut in ihren Adern, Säfte in diesem Blut, Tropfen
in diesen Säften, Dämpfe in diesen Tropfen, so daß er, wenn
er auch diese letzten Dinge noch teilt, seine Kräfte bei diesen Vorstellungen
erschöpft und der letzte Gegenstand, zu dem er gelangen kann, nun jener
Unserer Darlegung sei. Er wird vielleicht denken, dies sei die äußerste
Kleinheit in der Natur.
Ich will ihn darin einen neuen Abgrund erblicken lassen. Ich will ihm nicht
allein das sichtbare Universum schildern, sondern auch die Unermeßlichkeit
die man sich bei der Natur im geschlossenen Raum dieses verkleinerten Atoms
vorstellen kann, er soll dort unendlich viele Welten erblicken, von denen jede
einzelne ihr Firmament, ihre Planeten, ihre Erde hat, die es im gleichen Verhältnis
wie bei der sichtbaren Welt gibt, auf dieser Erde nun Tiere und schließlich
auch Milben, an denen er wiederfinden wird, was die oben genannten ersten aufgewiesen
haben, und er wird außerdem an diesen zweiten das gleiche entdecken, und
so geht es ohne Ende und Unterlaß weiter, daß er die Fassung angesichts
dieser Wunder verlieren wird, die in ihrer Kleinheit ebenso erstaunlich sind
wie die anderen durch ihre Ausdehnung, denn wer wird sich nicht verwundern,
daß unser Körper, der gerade eben noch nicht wahrnehmbar war in dem
Universum, das wiederum im Kreis des gesamten Alls nicht wahrnehmbar war, daß
also dieser unser Körper nun ein Koloß, eine Welt oder vielmehr ein
All ist im Hinblick auf das Nichts, zu dem man nie ganz vordringen kann. Wer
sich auf diese Art betrachtet, wird über sich selbst erschrecken, und da
er sich von der Masse getragen meint, die ihm die Natur zwischen diesen beiden
Abgründen des Unendlichen und des Nichts verliehen hat, wird er beim Anblick
dieser Wunder erzittern, und ich glaube, wenn seine Neugier sich in Bewunderung
verwandelt, wird er eher bereit sein, sie schweigend zu betrachten, als sie
voll Anmaßung zu erforschen.
Denn was ist schließlich der Mensch in der Natur?
Ein Nichts im Vergleich mit dem Unendlichen, ein All im Vergleich mit dem Nichts,
ein Mittelding zwischen nichts und allem, unendlich weit davon entfernt, die
Extreme zu erfassen; das Ende der Dinge und ihre Anfänge sind ihm in einem
undurchdringlichen Geheimnis unerbittlich verborgen.
Er ist gleichermaßen unfähig, das Nichts zu sehen, dem er entrissen
wurde, und das Unendliche, das ihn verschlingt.
Was kann er also anderes wahrnehmen als ein äußerliches Bild von
der Mitte der Dinge, während er auf ewig verzweifelt, ihren Anfang oder
ihr Ende zu erkennen. Alle Dinge sind aus dem Nichts hervorgegangen und werden
bis ins Unendliche weitergetragen. Wer vermag diesen erstaunlichen Schritten
zu folgen? Der Schöpfer dieser Wunder begreift sie. Keinem anderen ist
es möglich.
Da die Menschen diese Unendlichkeiten nicht betrachtet haben, haben sie sich
in ihrer Vermessenheit der Erforschung der Natur zugewandt, als hätten
sie irgendein Verhältnis zu ihr.
Seltsam ist, daß sie die Anfänge der Dinge verstehen und davon ausgehend
so weit gelangen wollten, alles zu erkennen, wobei sie eine Anmaßung zeigen,
die ebenso unendlich wie ihr Gegenstand ist. Denn es besteht kein Zweifel, daß
man diese Absicht nicht ohne Anmaßung oder ohne eine der Natur gleiche
unendliche Fassungskraft hegen kann.
Wenn man Wissen erworben hat, versteht man, daß, weil die Natur ihr Bild
und das ihres Schöpfers allen Dingen aufgeprägt hat, sie fast alle
an ihrer doppelten Unendlichkeit teilhaben. So
sehen wir, daß alle Wissenschaften unendlich in der Ausdehnung ihrer Forschungen
sind, denn wer zweifelt daran, daß zum Beispiel die Geometrie eine unendliche
Zahl von unendlich vielen Lehrsätzen darzulegen hat. Sie sind ebenso unendlich
in der Vielzahl und Gedankenfeinheit ihrer Prinzipien, denn wer sieht nicht,
daß diejenigen, die man als die letzten vorbringt, durch sich selbst nicht
bestehen können und auf andere gestützt sind, die, weil sie wieder
andere als Stütze haben, niemals ein letztes zulassen.
Wir aber stellen letzte auf, die sich der Vernunft zeigen, wie man auch bei
den materiellen Dingen verfährt, wo wir einen unteilbaren Punkt jenen nennen,
über den hinaus unsere Sinne nichts mehr wahrnehmen, obgleich er seiner
Natur wegen unendlich teilbar ist.
Von diesen zwei Unendlichkeiten in den Wissenschaften
ist diejenige der Größe viel anschaulicher, und deshalb haben
wenige Menschen den Anspruch erhoben, alle Dinge erkennen zu wollen. Ich spreche
jetzt über alles, sagte Demokrit.
Die Unendlichkeit im Kleinen ist jedoch viel weniger sichtbar.
Die Philosophen haben viel eher den Anspruch erhoben, bis zu ihr vorzudringen,
und eben daran sind alle gescheitert. Das hat zu diesen so allgemein üblichen
Titeln wie Über die Grundlagen der Dinge, Über die Grundlagen der
Philosophie geführt und zu ähnlichen, im Grunde ebenso pomphaften,
obwohl sie es nach außen weniger scheinen, wie dieser, der die Augen blendet:
De omni scibili (Ȇber alles, was man wissen
kann«, Pico della Mirandola)
Man hält sich von Natur aus für weitaus fähiger, zum Mittelpunkt
der Dinge zu gelangen, als ihren Umkreis zu erfassen, und die sichtbare Ausdehnung
der Welt geht offensichtlich über uns hinaus. Doch da wir über die
kleinen Dinge hinausgehen, halten wir uns für fähiger, sie zu beherrschen,
und doch braucht man keine geringere Fähigkeit, um bis zum Nichts vorzudringen,
als bis zum All. Man braucht für beides eine unendliche Fähigkeit,
und es scheint mir, daß jemand, der die letzten Grundlagen der Dinge erfaßt
hätte, auch bis zur Erkenntnis des Unendlichen gelangen könnte. Das
eine hängt vom anderen ab, und das eine führt zum anderen. Diese Endpunkte
berühren einander und vereinigen sich, gerade weil sie sich so weit voneinander
entfernt haben, und sie finden sich in Gott und allein in Gott zusammen.
Erkennen wir also unsere Fassungskraft. Wir sind etwas und sind nicht alles.
Was unser Sein ausmacht, beraubt uns der Erkenntnis der ersten Grundlagen, die
aus dem Nichts hervorgehen, und das wenige an Sein, was wir haben, verbirgt
unseren Augen die Unendlichkeit.
Unser Verstand nimmt in der Reihe der verständlichen Dinge den gleichen
Platz ein wie unser Körper in der Weite der Natur.
Aus: Blaise Pascal, Gedanken über die Religion
und einige andere Themen Herausgegeben von Jean-Robert Armogathe . Aus dem Französischen
übersetzt von Ulrich Kunzmann
Reclams Universalbibliothek Nr. 1622 (S. 130-135) © 1997 Philipp Reclam
jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis
des Reclam Verlags
418/233
Pascals
Wette
Unsere Seele ist in den Körper gestoßen, wo sie
Zahl, Zeit und Ausdehnung vorfindet; sie denkt darüber nach und nennt das
Natur und Notwendigkeit, und sie kann nichts anderes glauben.
Wenn man dem Unendlichen eine bestimmte Einheit hinzufügt, vergrößert
diese es um nichts, nicht mehr als dies ein Fuß bei einem unendlichen
Maß tut; das Endliche verschwindet vor dem Unendlichen und wird zu einem
bloßen Nichts. So ist es mit unserem Geist vor Gott, so ist es mit unserer
Gerechtigkeit vor der göttlichen Gerechtigkeit. Es gibt kein so großes
Mißverhältnis zwischen unserer Gerechtigkeit und jener Gottes wie
zwischen einer Einheit und dem Unendlichen.
Gottes Gerechtigkeit muß unermeßlich wie seine Barmherzigkeit sein.
Nun ist aber die Gerechtigkeit den Verworfenen gegenüber weniger unermeßlich,
und sie muß weniger Anstoß erregen als die Barmherzigkeit den Auserwählten
gegenüber.
Wir erkennen, daß es ein Unendliches gibt, und sein Wesen ist uns unbekannt;
so wissen wir auch, daß es falsch ist, wenn man die Zahlen als endlich
bezeichnet. Also ist es wahr, daß es bei den Zahlen ein Unendliches gibt,
wir wissen aber nicht, was es ist. Es ist falsch, daß es eine gerade Zahl
sei, und es ist falsch, daß es eine ungerade Zahl sei, denn fügt
man ihm eine bestimmte Einheit hinzu, verändert es sein Wesen nicht. Trotzdem
ist es eine Zahl, und jede Zahl ist gerade oder ungerade. Allerdings gilt das
nur für jede endliche Zahl.
Also kann man sehr wohl erkennen, daß es einen Gott gibt, ohne zu wissen,
was er ist.
Gibt es keine wesentliche Wahrheit, wenn man so viele wahre Dinge sieht, die
doch nicht die Wahrheit selbst sind?
Wir erkennen also die Existenz und das Wesen des Endlichen, weil wir wie es
selbst endlich sind und eine Ausdehnung haben.
Wir erkennen die Existenz des Unendlichen, und sein Wesen ist uns unbekannt,
weil es wie wir eine Ausdehnung, aber keine Grenzen wie wir hat.
Wir erkennen jedoch weder die Existenz noch das Wesen Gottes, weil er keine
Ausdehnung und keine Grenzen hat.
Durch den Glauben aber erkennen wir seine Existenz, und durch die Seligkeit
werden wir sein Wesen erkennen.
Nun habe ich aber schon gezeigt, daß man sehr wohl die Existenz einer
Sache erkennen kann, ohne ihr Wesen zu erkennen. Umwenden.
Sprechen wir jetzt so, wie es dem natürlichen Erkenntnisvermögen entspricht.
Wenn es einen Gott gibt, so ist er unendlich unbegreiflich,
denn da er ja keine Teile und keine Grenzen hat, steht er in keinem Verhältnis
zu uns. Wir sind also unfähig zu erkennen, was er ist und ob er ist. Wer
wird es wagen, da dem so ist, die Lösung dieser Frage zu versuchen? Nicht
wir, die in keinem Verhältnis zu ihm stehen.
Wer wird also die Christen tadeln, daß sie ihren Glauben nicht begründen
können, sie, die sich ja gerade zu einer Religion bekennen, die sie nicht
begründen können; wenn sie diese der Welt vortragen, erklären
sie, daß sie eine Torheit, stultitiam (Torheit),
ist, und dann beklagt Ihr Euch, daß sie keine Beweise für
sie haben. Wenn sie diese bewiesen, würden sie nicht Wort halten. Gerade,
da es ihnen an einem Beweis fehlt, fehlt es ihnen nicht an Urteilsvermögen.
Ja, mag das auch diejenigen entschuldigen, die sie solcherart darbieten, und
sie von dem Tadel befreien, daß sie diese ohne Vernunft vorführen,
so entschuldigt es nicht diejenigen, die sie annehmen. Prüfen wir also
diesen Punkt. Und sagen wir: Gott ist, oder er ist nicht. Welcher Seite aber
werden wir uns zuneigen? Die Vernunft kann dabei nichts ermitteln. Ein unendliches
Chaos trennt uns davon. Man spielt ein Spiel auf das Ende dieser unendlichen
Entfernung hin, wo sich entweder Bild oder Schrift zeigen werden. Was werdet
Ihr wetten? Mit der Vernunft könnt Ihr nicht das eine und auch nicht das
andere bewirken; mit der Vernunft könnt Ihr keins von beiden unwirksam
machen.
Werft also nicht jenen Unwahrhaftigkeit vor, die eine Wahl getroffen haben,
denn Ihr wißt nichts darüber. Nein, aber ich werde ihnen nicht vorwerfen,
daß sie diese Wahl, sondern überhaupt eine Wahl getroffen haben,
denn der eine, der sich für Bild entscheidet, ist gleichwohl ebenso wie
der andere im Irrtum, sie haben alle beide unrecht; das Richtige ist, überhaupt
nicht zu wetten.
Ja, aber man muß
wetten. Das ist nicht freiwillig, Ihr seid mit hineingezogen. Wofür
entscheidet Ihr Euch also? Prüfen wir nach; da man ja wählen muß,
prüfen wir nach, was am wenigsten in Eurem Interesse liegt. Ihr habt zwei
Dinge zu verlieren: das Wahre und das Gute, und zwei Dinge einzusetzen: Eure
Vernunft und Euren Willen, Eure Erkenntnis und Eure Seligkeit, und Eure Natur
hat zwei Dinge zu meiden: Irrtum und Elend. Eure Vernunft wird nicht schlimmer
verletzt, weil man ja unbedingt wählen muß, wenn Ihr das eine eher
als das andere wählt. Damit ist ein Punkt klargelegt.
Aber Eure Seligkeit? Wägen wir Gewinn und Verlust, wenn wir uns für
Bild entscheiden, daß Gott ist. Schätzen wir diese beiden Fälle
ein: Wenn Ihr gewinnt, so gewinnt Ihr alles, und wenn Ihr verliert, so verliert
Ihr nichts: Wettet also, ohne zu zögern, daß er ist. Das ist
bewundernswert. Ja, man muß wetten, aber ich wette vielleicht zu hoch.
Prüfen wir nach, weil es ja gleiche Aussichten auf Gewinn und Verlust gibt,
wenn Ihr nur zwei Leben für eines zu gewinnen hättet, so könntet
Ihr noch wetten, wenn es aber drei zu gewinnen gäbe?
Man sollte spielen (da Ihr ja genötigt seid zu spielen),
und wenn Ihr gezwungen seid zu spielen, wäret Ihr unklug, Euer Leben nicht
einzusetzen, um drei bei einem Spiel zu gewinnen, wo es gleiche Aussichten auf
Verlust und Gewinn gibt. Aber es gibt ein ewiges glückliches Leben zu gewinnen.
Und da dem so ist — wenn es unendlich viele Aussichten gäbe,
von denen eine einzige für Euch wäre —, hättet Ihr immer
noch recht, eines zu wetten, um zwei zu erhalten, und da Ihr verpflichtet seid
zu spielen, handelt Ihr unvernünftig, falls Ihr es ablehnt, ein Leben für
drei bei einem Spiel einzusetzen, wo es unter unendlich vielen Aussichten eine
für Euch gibt, wenn es unendlich viele von unendlich glücklichen Leben
zu gewinnen gäbe. Aber hier gibt es ja auch unendlich viele von unendlich
glücklichen Leben zu gewinnen, es gibt eine Aussicht auf Gewinn gegenüber
einer endlichen Zahl von Aussichten auf Verlust, und was Ihr einsetzt, ist endlich.
Das hebt überall dort jede Entscheidung auf, wo das
Unendliche ist und wo es nicht unendlich viele Aussichten auf Verlust gegenüber
jener auf Gewinn gibt. Man darf nicht zögern, man muß alles aufwenden.
Und wenn man also gezwungen ist zu spielen, muß man der Vernunft entsagen,
um das Leben zu bewahren, oder es vielmehr für den unendlichen Gewinn einsetzen,
der ebenso augenblicklich eintreffen kann wie der Verlust jener Nichtigkeit.
Denn es nützt nichts zu sagen, es sei ungewiß, ob man gewinnen werde,
und es sei gewiß, daß man etwas aufs Spiel setze, und der unendliche
Unterschied, der bestehe zwischen der Gewißheit dessen, was man gefährde,
und der Ungewißheit dessen, was man gewinnen werde, stelle das endliche
Gut, das man gewiß gefährde, dem unendlichen gleich, das ungewiß
sei. Dem ist nicht so. Jeder Spieler wagt mit Gewißheit, um mit Ungewißheit
zu gewinnen, und dennoch wagt er mit Gewißheit das Endliche, um mit Ungewißheit
das Endliche zu gewinnen, ohne sich an der Vernunft zu versündigen. Es
gibt keinen unendlichen Unterschied zwischen dem, was man gewiß gefährdet,
und der Ungewißheit des Gewinns: Das ist falsch. Allerdings gibt es einen
unendlichen Unterschied zwischen der Gewißheit zu gewinnen und der Gewißheit
zu verlieren, doch die Ungewißheit zu gewinnen steht in einem angemessenen
Verhältnis zu der Gewißheit dessen, was man gefährdet, wie es
dem Verhältnis der Aussichten auf Gewinn und Verlust entspricht. Und daher
kommt es, daß, wenn es ebenso viele Aussichten auf der einen Seite wie
auf der anderen gibt, die Chancen im Spiel auf beiden Seiten gleichstehen. Und
dann ist die Gewißheit, daß man sich gefährdet, der Ungewißheit
des Gewinns gleich und weit entfernt davon, etwa unendlich von ihr verschieden
zu sein. Und darum besitzt unser Angebot eine unendliche
Kraft, wenn man das Endliche bei einem Spiel zu wagen hat, wo es gleiche Aussichten
auf Gewinn und Verlust gibt und man das Unendliche gewinnen kann.
Das ist beweiskräftig, und wenn die Menschen einige Wahrheiten aufnehmen
können, diese ist eine davon.
Ich gestehe es ein, ich gebe es zu, aber besteht nicht außerdem eine Möglichkeit,
die verdeckte Seite des Spiels zu sehen? Ja, die Heilige Schrift und das übrige
usw. Ja, aber mir sind die Hände gebunden, und mein Mund ist stumm, man
zwingt mich zu wetten, und ich bin nicht frei, man macht mich nicht los, und
ich bin so beschaffen, daß ich nicht glauben kann. Was soll ich also nach
Eurer Meinung tun? — Das ist wahr, doch begreift wenigstens, daß
Eure Unfähigkeit zu glauben von Euren Leidenschaften kommt. Da die Vernunft
Euch ja dazu bewegt und Ihr es dennoch nicht erreichen könnt, bemüht
Euch also, Euch nicht durch Vermehrung der Gottesbeweise, sondern durch Verminderung
Eurer Leidenschaften zu überzeugen. Ihr wollt zum Glauben gelangen, und
Ihr wißt den Weg zu ihm nicht. Ihr wollt Euch vom Unglauben heilen, und
Ihr fragt nach den Mitteln dafür: Lernt von denjenigen usw., die wie Ihr
gebunden waren und die nun ihr ganzes Gut einsetzen. Es sind Leute, die diesen
Weg kennen, dem Ihr folgen möchtet, und sie sind von einem Übel geheilt,
von dem auch Ihr genesen wollt; befolgt die Art, in der sie begonnen haben.
Das heißt, sie handelten in allem so, als glaubten sie, sie gebrauchten
Weihwasser, ließen Messen lesen usw. Ganz natürlich wird Euch eben
das gleiche zum Glauben führen und Euren Verstand demütigen. Aber
gerade das fürchte ich ja. — Und warum? Was habt Ihr zu verlieren?
Doch um Euch zu zeigen, daß dieser Weg zum Glauben führt: Das läßt
die Leidenschaften abnehmen, die Euch so stark behindern, usw.
Ende dieses Gesprächs:
Welches Übel wird Euch nun aber daraus erwachsen, wenn Ihr diesen Entschluß
faßt? Ihr werdet getreu, redlich, demütig, dankbar, wohltätig,
ein aufrichtiger, wahrer Freund sein . . . Freilich werdet Ihr ohne vergiftete
Freuden sein, ohne Ruhm und Vergnügungen, doch habt Ihr dafür nicht
andere Freuden?
Ich sage Euch, daß Ihr dabei in diesem Leben gewinnt und daß Ihr
bei jedem Schritt, den Ihr auf diesem Weg tut, die so große Gewißheit
des Gewinns und die so große Nichtigkeit dessen, was Ihr aufs Spiel setzt,
sehen werdet, daß Ihr schließlich erkennt, Ihr habt Euch bei der
Wette für etwas Gewisses und Unendliches entschieden, wofür Ihr nichts
hergegeben habt.
Oh, diese Rede begeistert und entzückt mich usw. Wenn diese Rede Euch gefällt
und sie Euch machtvoll scheint, so wißt, daß sie von einem Menschen
verfaßt wurde, der vorher und nachher auf die Knie gefallen ist, um dieses
unendliche und unteilbare Wesen, dem er sein ganzes Wesen unterwirft, zu bitten,
daß es sich auch zu Eurem eigenen Wohl und zu seinem Ruhm Euer Wesen unterwirft
und daß sich so die Macht mit dieser Niedrigkeit vereinigt.
420/231 Glaubt Ihr, es sei unmöglich, daß
Gott unendlich und ohne Teile sei? Ja. Ich will Euch also eine unendliche und
unteilbare Sache zeigen: nämlich einen Punkt, der sich überall mit
unendlicher Geschwindigkeit bewegt.
Denn er ist ein und derselbe an allen Orten, und er ist voll und ganz an jeder
Stelle.
Diese Naturerscheinung, die Ihr zuvor für unmöglich hieltet, soll
Euch erkennen lassen, daß es andere geben kann, die Ihr noch nicht kennt.
Zieht aus Euren ersten Lernversuchen nicht den Schluß,
daß Euch nichts zu wissen übrigbleibt, sondern, daß Euch unendlich
viel zu wissen übrigbleibt.
Aus: Blaise Pascal, Gedanken über die Religion
und einige andere Themen. Herausgegeben von Jean-Robert Armogathe . Aus dem
Französischen übersetzt von Ulrich Kunzmann
Reclams Universalbibliothek Nr. 1622 (S. 224-231) © 1997 Philipp Reclam
jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis
des Reclam Verlags
Das Herz
und nicht die Vernunft nimmt Gott wahr
424/278 Das Herz und nicht die
Vernunft nimmt Gott wahr. Das heißt glauben. Gott ist dem Herzen und nicht
der Vernunft wahrnehmbar. [...]
Ich weiß
nicht, wer mich in die Welt gesetzt hat . . .
427/194 [...]
»Ich weiß nicht, wer mich in die Welt gesetzt hat, und auch nicht,
was die Welt und ich selbst sind; ich bin schrecklich unwissend in allen Dingen;
ich weiß nicht, was mein Körper, meine Sinne, meine Seele und selbst
jener Teil meines Ichs sind, der denkt, was ich sage, der über alles und
über sich selbst Betrachtungen anstellt und sich nicht mehr als das übrige
erkennt.
Ich sehe diese entsetzlichen Weiten des Weltalls, die mich einschließen,
und ich finde mich an einen Winkel dieses gewaltigen Raums gefesselt, ohne daß
ich weiß, warum ich an diesen Ort und nicht vielmehr an einen anderen
gestellt bin und warum diese kurze Frist, die mir zu leben gegeben ist, mir
gerade zu diesem Zeitpunkt und nicht vielmehr zu einem anderen der ganzen Ewigkeit,
die mir vorausgegangen, und der ganzen Ewigkeit, die auf mich folgt, bestimmt
ist. Ich sehe überall nur Unendlichkeiten, die mich wie ein Atom und wie
einen Schatten einschließen, der nur einen unwiederbringlichen Augenblick
lang dauert. Alles, was ich erkenne, ist, daß ich bald sterben muß;
doch was ich am wenigsten begreife, ist gerade dieser Tod, dem ich nicht entgehen
kann.
Da ich nicht weiß, woher ich komme, weiß ich auch nicht, wohin ich
gehe; und ich weiß allein, daß ich, wenn ich diese Welt verlasse,
für immer entweder ins Nichts oder in die Hand eines erzürnten Gottes
falle, ohne zu wissen, welcher dieser zwei möglichen Zustände mir
ewig zuteil werden soll. So ist meine Lage: voller Schwäche und Ungewißheit.
Und aus alldem habe ich den Schluß gezogen, daß ich all meine Lebenstage
verbringen muß, ohne darüber nachzudenken, was mit mir geschehen
soll. Vielleicht könnte ich einige Aufklärung in meinen Zweifeln finden,
doch ich will mir damit keine Mühe machen und keinen Schritt tun, danach
zu suchen; und später, während ich jene mit Geringschätzung behandle,
die sich mit dieser Sorge herumplagen werden“ — (welche Gewißheit
sie auch immer haben mögen, so ist dies doch eher ein Grund zur Verzweiflung
als zur Eitelkeit) —, ,,will ich, ohne vorauszuschauen und ohne mich zu
fürchten, den Versuch machen, ein derart großes Ereignis zu bestehen,
und mich widerstandslos zum Tode führen lassen, ohne Gewißheit über
die Ewigkeit meines zukünftigen Zustandes zu haben«.
Wer würde einen Menschen zum Freund haben wollen, der so redet? Wer würde
ihn unter den übrigen auswählen, um ihm seine Angelegenheiten anzuvertrauen?
Wer würde sich in seinem Kummer an ihn wenden? Und für welchen Gebrauch
seines Lebens könnte man ihn schließlich ausersehen?
Es ist wahrhaft ruhmvoll für die Religion, derart unvernünftige Menschen
zum Feind zu haben; und deren Widerspruch ist ihr so wenig gefährlich,
daß er im Gegenteil dazu dient, ihre Wahrheiten fester zu begründen.
Denn der christliche Glaube geht beinahe nur so weit, daß er diese beiden
Dinge fest begründet: die Verderbnis der Natur und die Erlösung durch
Jesus Christus, Nun behaupte ich, daß sie, wenn sie nicht dafür zu
gebrauchen sind, die Wahrheit der Erlösung durch die Heiligkeit ihrer Sitten
zu bezeugen, sie doch wenigstens bewundernswert dazu dienen, die Verderbnis
der Natur durch solch unnatürliche Ansichten zu bezeugen.
Nichts ist für den Menschen so wichtig wie sein Zustand;
nichts ist ihm so furchtbar wie die Ewigkeit. Und daß es Menschen
gibt, die dem Verlust ihres Daseins und der Gefahr ewigen Elends gegenüber
gleichgültig sind, ist also durchaus nicht natürlich. Sie sind ganz
anders bei allen übrigen Dingen: Sie fürchten selbst die geringfügigsten,
sie sehen sie voraus und ahnen sie; und derselbe Mensch, der so viele Tage und
Nächte wütend und verzweifelt zubringt, weil er ein Amt verloren hat
oder sich irgendeine Verletzung seiner Ehre einbildet, ist gerade jener, der,
ohne sich zu beunruhigen und zu erregen, weiß, daß er durch den
Tod alles verlieren wird. Es ist etwas Ungeheuerliches zu sehen, daß es
in demselben Herzen und zu derselben Zeit dieses Empfindungsvermögen für
die kleinsten Dinge und diese sonderbare Unempfindlichkeit für die größten
gibt. Das ist ein unbegreiflicher Zauber und zugleich eine übernatürliche
Betäubung, die eine allmächtige, sie verursachende Kraft bezeugen.
Es muß eine sonderbare Umkehrung in der Natur des Menschen geben, daß
man sich dieses Zustandes rühmen kann, von dem es unglaublich scheint,
daß ein einziger Mensch darin verharren könnte. Die Erfahrung läßt
mich jedoch eine so große Zahl von ihnen erkennen, daß dies überraschend
wäre, wenn wir nicht wüßten, daß die meisten von jenen,
die sich mit derartigem abgeben, sich verstellen und tatsächlich nicht
so sind. Es sind Leute, die gehört haben, die feinen Manieren der Welt
bestünden darin, solcherart den Hitzkopf zu spielen. Das nennen sie »das
Joch abgeschüttelt haben«, und das wollen sie nachahmen. Doch
man könnte ihnen unschwer begreiflich machen, wie sehr sie sich täuschen,
wenn sie hierdurch Achtung gewinnen möchten. Mit diesem Mittel erwirbt
man sie nicht, selbst nicht, so sage ich, unter den Leuten von Welt, die gesund
über die Dinge urteilen und wissen, daß der einzige Weg, auf Erden
erfolgreich zu sein, darin besteht, ehrenhaft, treu, klug und fähig zu
erscheinen, seinem Freund eine nützliche Hilfe zu sein, weil die Menschen
von Natur aus nur das lieben, was ihnen nützlich sein kann. Welchen Vorteil
hat es nun aber für uns, wenn wir von einem Menschen hören, er habe
also das Joch abgeschüttelt, er glaube nicht, daß es einen gebe,
der über seine Handlungen wache, er sehe sich selbst als den einzigen Herrn
über sein Tun an, und er beabsichtige, nur sich selbst darüber Rechenschaft
abzulegen? Meint er, er habe uns damit bewogen, künftig großes Vertrauen
zu ihm zu haben und von ihm Tröstungen, Ratschläge und Hilfe in allen
Nöten des Lebens zu erwarten? Beanspruchen sie, uns hoch erfreut zu haben,
wenn sie uns sagen, sie seien der Ansicht, daß unsere Seele nur aus ein
wenig Luft und Rauch bestehe, und wenn sie es uns noch dazu in stolzem und zufriedenem
Ton sagen? Ist das also etwas, wovon man in heiterem Ton reden sollte? Und ist
das nicht im Gegenteil etwas, wovon man traurig reden sollte, etwas, was man
als die traurigste Sache der Welt behandeln müßte?
Wenn sie ernsthaft darüber nachdächten, würden sie erkennen,
daß dies so unüberlegt, so dem gesunden Menschenverstand zuwider,
so gegen die Ehrbarkeit und in jeder Hinsicht so weit von jenem guten Benehmen
entfernt ist, um das sie sich bemühen, daß sie fähig wären,
jene eher aufzurichten als zu verderben, die eine gewisse Neigung haben mögen,
ihnen zu folgen. Und tatsächlich, laßt sie Rechenschaft über
ihre Ansichten und die Gründe ablegen, um derentwillen sie an der Religion
zweifeln; sie werden euch so unbedeutende und so gewöhnliche Dinge sagen,
daß sie euch vom Gegenteil überzeugen werden. Gerade das hat ihnen
jemand eines Tages sehr zutreffend gesagt: »Wenn
ihr weiter so redet«, sagte er ihnen, »werdet
ihr mich wahrhaftig zum Glauben bekehren.« Und er hatte recht,
denn wer verabscheute es nicht, Ansichten zu vertreten, die so verächtliche
Menschen zu ihren Genossen machen?
Diejenigen, die solche Ansichten nur vortäuschen, wären also sehr
unglücklich, wenn sie ihre Natur unterdrücken, um sich zu den unverschämtesten
unter den Menschen zu machen. Wenn es sie im Grunde ihres Herzens kränkt,
daß sie keine größere Erkenntnis haben, so sollen sie es nicht
verbergen: Diese Erklärung wird sie nicht beschämen. Man muß
sich nur schämen, wenn man es unterläßt. Nichts bezeugt mehr
eine außerordentliche Geistesohnmacht, als wenn man nicht erkennt, wie
unglücklich ein Mensch ohne Gott ist; nichts bezeichnet mehr eine schlechte
Herzensneigung, als wenn man nicht wünscht, daß die ewigen Verheißungen
wahr seien; nichts ist feiger, als wenn man den Unerschrockenen gegen Gott spielt.
Sollen sie also derart gottloses Handeln jenen überlassen, die schlecht
genug veranlagt sind, um wirklich dessen fähig zu sein; sollen sie wenigstens
redliche Menschen sein, wenn sie nicht Christen sein können, und endlich
anerkennen, daß es nur zwei Arten von Menschen gibt,
die man vernünftig nennen kann: entweder diejenigen, die Gott von ganzem
Herzen dienen, weil sie ihn erkennen, oder diejenigen, die ihn von ganzem Herzen
suchen, weil sie ihn nicht erkennen.
Diejenigen aber, die dahinleben, ohne ihn zu erkennen und ohne ihn zu suchen,
halten sich selbst ihrer eigenen Sorge für so wenig wert, daß sie
nicht der Sorge der anderen wert sind und daß man die ganze Nächstenliebe
der von ihnen verachteten Religion haben muß, um sie nicht so sehr zu
verachten, daß man sie ihrem Wahn überläßt. Da uns diese
Religion jedoch verpflichtet, sie, solange sie auf Erden leben, stets als für
die Gnade empfänglich anzusehen, die sie erleuchten kann, und zu glauben,
daß sie in kurzer Zeit einen stärkeren Glauben als wir haben können
und daß im Gegenteil wir der Verblendung verfallen können, in der
sie sich befinden, müssen wir deshalb für sie tun, was wir möchten,
daß man es für uns täte, wenn wir an ihrer Stelle wären,
und sie aufrufen, Mitleid mit sich selbst zu haben und wenigstens einige Anstrengungen
zu unternehmen, um zu versuchen, ob sie nicht zur Einsicht kommen. Mögen
sie dieser Lektüre einige von jenen Stunden widmen, die sie sonst so nutzlos
vertun: Welche Abneigung sie dem auch entgegenbringen mögen, vielleicht
werden sie doch einiges finden, und zumindest werden sie dabei nicht viel verlieren.
Diejenigen aber, die mit vollkommener Aufrichtigkeit und dem wirklichen Verlangen
darangehen, die Wahrheit zu finden, werden, so hoffe ich, zufriedengestellt
und sich von den Beweisen für eine so göttliche Religion überzeugen
lassen, die ich hier zusammengetragen habe und bei denen ich ungefähr dieser
Ordnung gefolgt bin ...
428/195 Bevor ich auf die Beweise
für die christliche Religion eingehe, halte ich es für notwendig darzustellen,
wie ungerecht jene Menschen sind, die gleichgültig dahinleben, ohne die
Wahrheit einer Sache zu erforschen, die so wichtig für sie ist und die
sie so unmittelbar angeht.
Von all ihren Verirrungen ist es zweifellos diejenige, die sie am meisten der
Torheit und Verblendung überführt und bei der es am leichtesten ist,
sie durch die ersten Einsichten des gesunden Menschenverstandes und durch die
natürlichen Empfindungen zu beschämen.
Denn es ist unzweifelhaft, daß dieses Leben nur einen Augenblick währt,
daß der Zustand des Todes ewig ist, von welcher Art er auch immer
sein mag, und also all unsere Handlungen und Gedanken, der jeweiligen Beschaffenheit
der Ewigkeit entsprechend, so unterschiedliche Bahnen einschlagen müssen,
daß es unmöglich ist, einen sinnvollen und verständigen Schritt
zu unternehmen, wenn man ihn nicht nach der Ansicht zu diesem Punkt richtet,
der unser letztes Ziel sein muß.
Nichts ist offensichtlicher als dies und auch, daß also nach den Prinzipien
der Vernunft das Betragen der Menschen ganz und gar unvernünftig ist, wenn
sie keinen anderen Weg einschlagen. Auf dieser Grundlage soll man daher diejenigen
beurteilen, die dahinleben, ohne an diesen letzten Zweck des Lebens zu denken,
die sich unüberlegt und sorglos zu ihren Neigungen und Vergnügen treiben
lassen, als könnten sie die Ewigkeit zunichte machen, indem sie diese aus
ihren Gedanken verbannen und nur darauf sinnen, sich allein für den Augenblick
glücklich zu machen.
Diese Ewigkeit besteht dennoch weiter, und der Tod, der
sie einleiten soll und der jene zu jeder Stunde bedroht, muß sie unausbleiblich
nach kurzer Zeit in die entsetzliche Notlage bringen, auf ewig entweder vernichtet
oder unglücklich zu werden, ohne daß sie wissen, welche von jenen
Ewigkeiten ihnen für immer bereitet ist.
Das ist ein Zweifel, der eine schreckliche Auswirkung hat. Sie werden von der
Gefahr ewigen Elends bedroht; und daraufhin, als wäre die Sache
nicht der Mühe wert, versäumen sie es zu prüfen, ob dies zu den
Meinungen gehört, die das Volk mit einer zu fügsamen Leichtgläubigkeit
annimmt, oder zu denen, die an sich dunkel sind und doch eine sehr feste Grundlage
haben, wenn sie auch verborgen ist. So wissen sie nicht, ob diese Sache wahr
oder falsch ist und ob die Beweise stark oder schwach sind. Sie haben sie vor
Augen; sie weigern sich, sie zu berücksichtigen, und in dieser Unwissenheit
fassen sie den Entschluß, alles Notwendige zu tun, um diesem Unglück
zu verfallen, wenn es dieses geben sollte, und darauf zu warten, beim Tode diese
Erfahrung zu machen, und dennoch in diesem Zustand sehr zufrieden zu sein, es
zu bekennen und sich schließlich dessen zu rühmen. Kann man ernsthaft
an die Wichtigkeit dieser Angelegenheit denken, ohne ein so abartiges Verhalten
zu verabscheuen?
Ein solch ruhiges Verharren in dieser Unwissenheit ist eine ungeheuerliche Sache,
und deren Abartigkeit und Unvernunft muß man jene empfinden lassen, die
damit ihr Leben verbringen, indem man sie ihnen selbst darstellt, um sie durch
den Anblick ihrer Torheit zu beschämen. Denn folgendermaßen denken
die Menschen, wenn sie sich dafür entscheiden, in der Unkenntnis dessen,
was sie sind, zu leben und ohne nach Aufklärung zu suchen: »Ich
weiß nicht«, sagen sie.
429/229 Das sehe ich, und das
verwirrt mich. Ich schaue in alle Richtungen, und ich
sehe überall nur Dunkelheit. Die Natur bietet mir nichts, was nicht
Anlaß zu Zweifel und Unruhe wäre. Sähe ich in ihr nichts, was
auf eine Gottheit hindeutete, so würde ich mich gegen sie entscheiden;
sähe ich überall die Zeichen eines Schöpfergottes, so würde
ich ruhig im Glauben verharren. Da ich aber zuviel sehe,
um zu verleugnen, und zuwenig, um Gewißheit zu haben, bin ich in einem
beklagenswerten Zustand, in dem ich hundertmal gewünscht habe, daß,
wenn ein Gott die Natur erhält, sie unzweideutig auf ihn hinwiese, und
daß, wenn die Zeichen, die sie von ihm gibt, trügerisch sind, sie
diese vollständig austilgte, daß sie alles oder nichts sagte, damit
ich sehen könnte, welcher Seite ich mich anschließen muß. In
dem Zustand, in dem ich mich befinde und wo ich nicht weiß, was ich bin
und was ich tun soll, erkenne ich statt dessen weder meine Lage noch meine Pflicht.
Mein Herz strebt ausschließlich nach der Erkenntnis,
wo sich das wahre Glück befindet, damit es sich ihm widmen kann; für
die Ewigkeit wäre mir nichts zu mühselig.
Ich beneide diejenigen, die ich so unbekümmert im Glauben leben sehe und
die eine Gabe so schlecht gebrauchen, von der ich, wie mir scheint, einen so
ganz anderen Gebrauch machen würde.
430/431 Kein anderer hat erkannt, daß der
Mensch das herrlichste Geschöpf ist. Die einen, die recht gut seine tatsächliche
Herrlichkeit erkannt haben, haben die niedrigen Gefühle, die den Menschen
durch ihre eigene Natur gegeben sind, für Feigheit und Undankbarkeit gehalten;
und die anderen, die recht gut erkannt haben, wie sehr diese Niedrigkeit wirklich
vorhanden ist, haben jene Gefühle der Größe, die dem Menschen
ebenso naturgegeben sind, als lächerlichen Hochmut bezeichnet.
»Hebt eure Augen auf zu Gott«, sagen die einen; »erkennt
jenen, dem ihr ähnlich seid und der euch geschaffen hat, damit ihr ihn
anbetet. Ihr könnt ihm ähnlich werden; die Weisheit wird euch ihm
gleichmachen, wenn ihr ihm folgen wollt.« — »Erhebt
das Haupt, freie Menschen«, sagt Epiktet.
Und die anderen sagen ihm: »Schlagt eure Augen nieder
zur Erde, die ihr ein erbärmlicher Wurm seid, und betrachtet die Tiere,
deren Gefährten ihr seid.«
Was soll also aus dem Menschen werden? Wird er Gott oder den Tieren gleichen?
Welch entsetzlicher Unterschied! Was werden wir also sein? Wer sieht nicht an
alldem, daß der Mensch sich verirrt hat, daß er von seiner Stätte
herabgesunken ist, daß er ruhelos nach ihr sucht und sie nicht wiederfinden
kann. Wer wird ihm also den Weg dorthin weisen? Die größten Männer
haben es nicht vermocht.
Aus: Blaise Pascal, Gedanken über die Religion
und einige andere Themen. Herausgegeben von Jean-Robert Armogathe . Aus dem
Französischen übersetzt von Ulrich Kunzmann
Reclams Universalbibliothek Nr. 1622 (S. 233, 237-247) © 1997 Philipp Reclam
jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis
des Reclam Verlags
Der Mensch
ist zum Tode verurteilt
434/199 Man stelle sich eine Anzahl
von Menschen in Ketten vor,
die alle zum Tode
verurteilt sind und von denen jeden Tag einige vor
den Augen der anderen umgebracht werden, so daß die Übrigbleibenden
ihre eigene Lage an jener ihrer Schicksalsgefährten erkennen und, einander
schmerzerfüllt und hoffnungslos anblickend, erwarten, daß sie an
die Reihe kommen. Das ist das Ebenbild der Lage der Menschen. [...]
Ewige
Existenz
450/559a Das ewige Wesen existiert
immer, wenn es einmal existiert. [...]
Über
die christliche Religion
449/556 ... Sie lästern
gegen das, was sie nicht kennen. Die christliche Religion besteht aus zwei Hauptpunkten;
es ist für die Menschen gleichermaßen wichtig, sie zu erkennen, und
es ist für sie gleichermaßen gefährlich, sie nicht zu kennen;
und es gehört gleichermaßen zu Gottes Barmherzigkeit, daß er
Zeichen für beide gegeben hat.
Und doch nehmen sie für die Schlußfolgerung, daß es einen dieser
Punkte nicht gebe, das zum Anlaß, was es ihnen zur Pflicht machen würde,
auf den anderen Punkt zu schließen. Die Weisen, die gesagt haben, daß
es nur einen Gott gibt, wurden verfolgt und die Juden gehaßt, noch mehr
die Christen. Sie haben durch ihr natürliches Erkenntnisvermögen eingesehen,
daß, wenn es auf Erden eine wahre Religion gibt, der Lauf aller Dinge
zu ihr als zu ihrem Mittelpunkt hinstreben muß. Der Lauf aller Dinge muß
die Festigung und die Größe der Religion zum Ziel haben; die Menschen
müssen in sich selbst Gefühle haben, die mit dem in Einklang stehen,
was sie uns lehrt; und schließlich muß sie derart das Ziel und der
Mittelpunkt sein, zu dem alle Dinge hinstreben, daß derjenige, der ihre
Grundsätze kennt, sowohl die ganze Natur des Menschen im besonderen wie
auch den ganzen Lauf der Welt im allgemeinen erklären kann.
Und diese Grundlage nehmen sie zum Anlaß, um die christliche Religion
zu lästern, weil sie ihnen schlecht bekannt ist. Sie bilden sich ein, diese
bestehe einfach in der Anbetung eines als groß, mächtig und ewig
angesehenen Gottes, was eigentlich den Deismus ausmacht, der beinahe ebenso
weit von der christlichen Religion wie der Atheismus, ihr vollständiges
Gegenteil, entfernt ist. Und daraus schließen sie, daß diese Religion
nicht wahr sei, weil sie nicht sehen, daß alle Dinge zur Begründung
dieses Punktes beitragen und daß Gott sich den Menschen nicht mit der
ganzen Klarheit offenbart, wie er es tun könnte.
Mögen sie jedoch daraus gegen den Deismus schließen, was sie wollen,
sie werden daraus nichts gegen die christliche Religion schließen, die
eigentlich im Mysterium des Erlösers besteht, und dieser, da er in sich
die zwei Naturen vereinigt, die menschliche und die göttliche, hat die
Menschen der Sündenverderbnis entrissen, um sie in seiner göttlichen
Person mit Gott zu versöhnen.
Sie lehrt die Menschen also diese beiden Wahrheiten gleichermaßen: sowohl,
daß es einen Gott gibt, zu dessen Erkenntnis die Menschen fähig sind,
als auch, daß es in der Natur eine Verderbnis gibt, die sie seiner unwürdig
macht. Es ist für die Menschen von gleicher Wichtigkeit, den einen wie
den anderen Punkt zu erkennen; und es ist für den
Menschen gleichermaßen gefährlich, Gott zu erkennen, ohne sein eigenes
Elend zu erkennen, und sein eigenes Elend zu erkennen, ohne den Erlöser
zu erkennen, der ihn davon heilen kann. Eine von diesen Erkenntnissen
allein bewirkt entweder den Hochmut der Philosophen, die Gott, aber nicht ihr
Elend erkannt haben, oder die Verzweiflung der Atheisten, die ihr Elend, aber
keinen Erlöser erkennen.
Und da es also für den Menschen gleichermaßen notwendig ist, diese
beiden Punkte zu erkennen, so gehört es auch gleichermaßen zu Gottes
Barmherzigkeit, daß er sie uns erkennbar gemacht hat. Das tut die christliche
Religion, darin eben besteht sie.
Auf dieser Grundlage soll man die Weltordnung prüfen und sehen, ob alle
Dinge nicht zur Begründung der beiden Hauptpunkte dieser Religion dienen:
Jesus Christus ist das Ziel von allem und der Mittelpunkt, auf den alles zustrebt.
Wer ihn erkennt, erkennt den Grund aller Dinge.
Diejenigen, die sich verirren, tun es nur, weil sie einen dieser beiden Punkte
nicht sehen. Man kann also sehr wohl Gott ohne sein eigenes Elend und sein eigenes
Elend ohne Gott erkennen; aber man kann Jesus Christus nicht erkennen, ohne
Gott und zugleich sein eigenes Elend zu erkennen.
Und deshalb werde ich es hier nicht unternehmen, mit naturgegebenen Gründen
entweder die Existenz Gottes oder die Dreieinigkeit oder auch die Unsterblichkeit
der Seele und ebensowenig irgendeine andere derartige Sache zu beweisen; nicht
allein, weil ich mich nicht stark genug fühlen würde, um in der Natur
etwas zu finden, womit ich verstockte Atheisten überzeugen könnte,
sondern auch, weil diese Erkenntnis ohne Jesus Christus unnütz und unfruchtbar
Ist. Wenn ein Mensch überzeugt wäre, daß
die Verhältnisse unter den Zahlen immaterielle und ewige Wahrheiten sind,
die von einer ersten Wahrheit abhängen, der sie ihren Bestand verdanken
und die man „Gott“ nennt, so fände ich, daß er damit
keinen großen Fortschritt zu seinem Heil gemacht hätte.
Der Gott der Christen ist seinem Wesen nach kein Gott, der lediglich ein Schöpfer
geometrischer Wahrheiten und der Ordnung der Elemente wäre; das ist den
Heiden und Epikureern eigen. Er ist seinem Wesen nach auch nicht lediglich ein
Gott, der seine Vorsehung über das Leben und die Güter der Menschen
walten läßt, um jenen eine glückliche Folge von Jahren zu geben,
die ihn anbeten; das ist den Juden eigen. Aber der Gott Abrahams, der Gott Isaaks,
der Gott Jakobs, der Gott der Christen ist ein Gott der Liebe und des Trostes;
es ist ein Gott, der Herz und Seele derjenigen erfüllt, die ihm gehören;
es ist ein Gott, der sie im Inneren ihr Elend und seine unendliche Barmherzigkeit
fühlen läßt, der sich mit ihnen in ihrer tiefsten Seele vereinigt
und sie mit Demut, Freude, Vertrauen und Liebe erfüllt, der sie unfähig
macht, ein anderes Ziel als ihn selbst zu haben.
All jene, die Gott ohne Jesus Christus suchen und die bei der Natur stehenbleiben,
finden entweder keine Erleuchtung, die sie befriedigen kann, oder sie schaffen
sich schließlich ein Mittel, Gott zu erkennen und ihm ohne Mittler zu
dienen, und dadurch verfallen sie entweder dem Atheismus oder dem Deismus, zwei
Dinge, die der christlichen Religion beinahe in gleicher Weise ein Greuel sind.
Ohne Jesus Christus würde die Welt nicht weiterbestehen; denn sie müßte
entweder zerstört oder wie eine Hölle werden.
Wenn die Welt weiterbestünde, um den Menschen von Gott zu unterrichten,
so würde seine Göttlichkeit unbestreitbar aus ihr überall hervorleuchten;
da sie aber nur durch Jesus Christus und für Jesus Christus weiterbesteht,
um die Menschen sowohl über ihre Verderbnis wie auch über ihre Erlösung
zu unterrichten, zeigt auf ihr alles glanzvolle Beweise für diese beiden
Wahrheiten.
Was auf ihr sichtbar wird, zeigt weder einen vollständigen
Ausschluß noch eine offenkundige Gegenwart der Gottheit, sondern die Gegenwart
eines Gottes, der sich verbirgt. Alles trägt diesen Wesenszug.
Aus: Blaise Pascal, Gedanken über die Religion
und einige andere Themen. Herausgegeben von Jean-Robert Armogathe . Aus dem
Französischen übersetzt von Ulrich Kunzmann
Reclams Universalbibliothek Nr. 1622 (S. 249f, 252, 253-257) © 1997 Philipp
Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher
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