Platon (427 - 347 v. Chr.)

 

Griechischer Philosoph. Der aus adeligem Geschlecht stammende Platon wurde entscheidend von seinem Lehrer Sokrates geprägt. Platons Philosophie führt in dem fragenden Gespräch des Sokrates zur dialektischen Erörterung der Erkenntnis des Guten und der Tugend, zu den nur im Denken erfassbaren Ideen, die »das sich immer gleich bleibende Seiende« sind, von dem Parmenides sprach. Die Ideen sind zu unterscheiden von »dem immer Werdenden« des Heraklit, das nur mit den Sinnen erfasst werden kann. Die Kluft zwischen beiden Bereichen wird nach Platons Auffassung dadurch überbrückt, dass das Sinnliche zu den Ideen im Verhältnis der Teilhabe (Methexis) steht und die Ideen im Sinnlichen gegenwärtig sind und so das Sinnliche überhaupt erst ermöglichen. Als unveränderlich und ewig gültig kann ihre denkende Erfassung jedoch nicht auf Erfahrung beruhen, sondern muss nach seiner »Wiedererinnerungslehre« vielmehr Besinnung, »Erinnerung« an vorgeburtliches überirdisches Wissen sein, das die »unsterbliche Seele«bei ihrer irdischen Wiedergeburt vergessen musste. Den Weg zur Erkenntnis der Ideen beschreibt er in seinem »Höhlengleichnis« , in dem er das Wesen des wahrhaften Wissens veranschaulicht. Nach Platons - an der pythagoräischen Zahlenmystik orientierten Naturphilosophie - ist das sichtbare Weltall kein selbständig Seiendes. Es ist vielmehr vom »Demiurg«, dem göttlichen Urheber und welterbauenden Werkmeister, gemäß den Ideen (Urbildern) mit Hilfe der Weltseele nach geometrischen Zahlenproportionen in der Zeit als bewegliches Abbild der Ewigkeit in Gang gesetzt worden..

Siehe auch Wikipedia , Kirchenlexikon und Projekt Gutenberg

Inhaltsverzeichnis

Über Gott Politeia 379a - 383a
Unerkennbarkeit der menschlichen Dinge für Gott
Parmenides 135a - 137a
Das Höhlengleichnis
Politeia 514a - 518a
Das Bettgestell-Gleichnis
Politeia 597a - 598a

Über die Weltentstehung
Timaios 28a - 38a
Bedeutung der platonischen Körper bei der Weltentstehung
Timaios 53a - 58a
Bewegung ist die Ursache von allem Sein und Werden
Theaitetos 153a - 158a
Der wahre Philosoph Theaitetos 174a – 175a
Die Notwendigkeit des Bösen Theaitetos 176a - 177a
Die Reinigung Sophistes 226a – 230a
Eros und das Streben nach dem unsterblichen Guten Symposion 195a - 212a
Knabenliebe Symposion 181a -185a
Die Schwierigkeit bei der theologischen Moralbegründung Euthyphron 2a - 16a

  Begriff der Wiedererinnerung Phaidon 73a - 84a
Wiederinnerungslehre und die Unsterblichkeit der Seele
Menon 81a - 86a
Die Unsterblichkeit der Seele Phaidros 246a - 256a
Ross und Reiter Phaidros 254a
Tod, Unsterblichkeit, Belohnung und Bestrafung der Seele
Politeia 609 a - 621a
Die Seele und ihr Dämon
Phaidon 108a, 114a
Das Totengericht
Gorgias 523a- 527a

Im Angesicht des Todes
Apologie 41a - 42a
Was der Philosoph besser verschweigen sollte
Siebter Brief
Übermensch I: Über das Recht des Besseren und Stärkeren Gorgias 483a - 494a
Übermensch II: Die Züchtung der Bestmöglichen
Politeia 449a - 461a
Der Mythos von Atlantis I Timaios 21a - 25a
Der Mythos von Atlantis II Kritias 111a - 121a
Der Prometheus Mythos Protagoras 320a-323a

Über Gott
Politeia 379a - 383a
Grundzüge der wahren Götterlehre: Gott ist gut und einzig Ursache von Gutem
Das hat allerdings Grund, sagte er. Aber wenn uns nun jemand weiter fragte, was denn dieses wohl wäre, und welche Erzählungen solche: was würden wir sagen?
Darauf erwiderte ich: O Adeimantos, wir sind keine Dichter in diesem Augenblick, du und ich, sondern Städtegründer; (379 a) und solchen gebührt zwar die Grundzüge zu kennen, nach denen die Dichter erzählen müssen, und sie nicht zuzulassen, wenn sie von diesen abweichen, nicht aber selbst Märchen zu dichten.
Richtig, sagte er. Aber nun eben diese Grundzüge in bezug auf die Götterlehre, welches wären sie?
Diese etwa, sagte ich: Wie Gott ist seinem Wesen nach, so muß er auch immer dargestellt werden, mag einer im Epos von ihm dichten oder in Liedern oder in der Tragödie.
So muß es sein.
Nun ist doch Gott wesentlich gut und auch so darzustellen?
Wie sollte er nicht!
Nichts aber, was zum Guten gehört, ist doch schädlich. Nicht wahr?
Nein, dünkt mich.
Kann nun wohl, was nicht schädlich ist, schaden?
Mitnichten.
Und was nicht schadet, irgend Böses tun?

Auch das nicht.
Was aber gar nichts Böses tut, das kann auch wohl nicht irgend an etwas Bösem Ursache sein.
Wie sollte es? Wie aber? Förderlich ist doch das Gute?
Ja.
Also Ursache des Wohlbefindens?
Ja.
Nicht also von allem ist das Gute Ursache, sondern was sich gut verhält, davon ist es Ursache; an dem Üblen aber ist es unschuldig.
Vollkommen freilich, sagte er.
Also auch Gott, weil er ja gut ist, kann nicht an allem Ursache sein, wie man insgemein sagt, sondern nur von Wenigem ist er den Menschen Ursache, an dem meisten aber unschuldig. Denn es gibt weit weniger Gutes als Böses bei uns; und das Gute zwar darf man auf keine andere Ursache zurückführen, von dem Bösen aber muß man sonst andere Ursachen aufsuchen, nur nicht Gott.
Vollkommen richtig, sagte er, scheinst du mir zu reden.
Also ist es nicht anzunehmen, weder vom Homeros noch von irgendeinem andern Dichter, wenn einer so unvernünftig fehlt in bezug auf die Götter, dass er sagte,

<es seien zwei Fässer gestellt an der Schwelle Kronions,
Voll das eine von Gaben des Wehs, das andre des Heiles>.


Und wem nun vermischt Zeus von beiden gibt,


<Solchen trifft abwechselnd ein böses Los und ein Gutes>;

wem aber nicht, sondern unvermischt das eine,

<Diesen verfolgt herznagende Not auf der heiligen Erde>;
noch auch, daß Zeus uns ein Spender ist <des Guten so wie des Bösen>.

Gott ist höchstens von heilsamen Strafen Urheber. Seine Unveränderlichkeit
Und die Zerteilung der Schwüre und Verträge, die Pandaros veranlaßte, wenn jemand sagen will, die sei durch Athene und Zeus geschehen, den wollen wir nicht loben. Noch aüch der Götter Streit und Entscheidung durch Themis und Zeus; noch auch, was Aischylos sagt, (380 a) muß man die Jünglinge hören lassen:

<Verschuldung läßt Gott wachsen bald,
Wenn er zu Boden schmettern will ein Haus.>


Sondern wenn einer, worin ja diese Jamben sich finden, die Schicksale der Niobe oder der Pelopiden oder die troischen oder anderes dergleichen dichten will, so lasse man sie ihn entweder gar nicht als Gottes Taten erzählen oder, wenn als solche, dann muß er ungefähr die Rede dafür auffinden, die wir jetzt suchen, und sagen, daß Gott nur, was gerecht und gut war, getan hat, sie aber Nutzen gehabt haben von der Strafe; daß aber die Strafeleidenden unselig sind und doch, der sie ihnen angetan hat, Gott war, das muß man den Dichter nicht sagen lassen. Aber wenn sie sagen wollten, daß als unselige die Bösen der Strafe bedurft hätten und dadurch, daß sie Strafe litten, ihnen von Gott geholfen worden sei, dies kann man lassen. Zu behaupten aber, daß Gott irgend jemandem Ursache des Bösen geworden ist, da er doch gut ist, dies muß man auf alle Weise durchfechten, daß es nicht jemand sage in seinem Staat, wenn er gut regiert werden, noch auch jemand höre, weder jung noch alt, und weder in gebundener Rede noch in ungebundener vorgetragen, weil es weder fromm wäre, wenn es einer sagte, noch uns zuträglich, noch auch mit sich selbst übereinstimmend.
Ich stimme mit dir, sagte er, für dieses Gesetz, und es gefällt mir.
Dies also, sprach ich, wäre eines von den Gesetzen und Vorschriften in bezug auf die Götter, kraft dessen nur so geredet und gedichtet werden darf, daß Gott nicht an allem Ursache ist, sondern nur an dem Guten.
Dies reicht auch hin, sagte er.
Wie aber nun dieses Zweite? Meinst du, dass Gott ein Zauberer ist und wie aus dem Hinterhalt bald in dieser, bald in jener Gestalt erscheint, bald wirklich selbst viele Gestalten annehmend und seine eigne dagegen vertauschend, bald nur uns hintergehend und machend, daß wir dergleichen von ihm glauben müssen? Oder meinst du, daß er ganz einfach ist und am allerwenigsten aus seiner eigenen Gestalt herausgeht?

Das weiß, ich so jetzt gleich nicht zu sagen, sprach er.
Wie aber dieses? Ist es nicht notwendig, wenn etwas aus seiner eigenen Gestalt heraustritt, daß es entweder durch sich selbst oder durch ein anderes muß verwandelt werden? Notwendig.
Wird aber nicht jedes Vortrefflichste am wenigsten von einem andern verändert und bewegt? Wie der Leib von Speise, Trank und Anstrengung, und jedes Gewächs von Hitze, Sturm und dergleichen Einwirkungen, wird nicht jedes Gesundeste und Stärkste davon am wenigsten verändert?
Allerdings wohl.
(381 a)
Und die Seele selbst, wird nicht die tapferste und vernünftigste am wenigsten von irgendeiner äußeren Einwirkung erschüttert und verändert?
Ja.
Und so gewiß auch alles zusammengesetzte Gerät und Gebäude und Bekleidungen werden nach derselben Regel, je besser sie gearbeitet und geraten sind, um desto weniger von der Zeit und andern Einwirkungen verändert.
So ist es allerdings.
Also alles Vollkommene von Natur oder durch Kunst oder durch beides nimmt die wenigste Veränderung durch anderes an.
So zeigt es sich.
Aber Gott, und was Gottes ist, muß doch in jeder Hinsicht vollkommen sein.
Unumgänglich.
Auf diese Weise also könnte wohl am wenigsten Gott vielerlei Gestalten bekommen.
Am wenigsten gewiß.

Gott als der Beste verwandelt sich nicht. Täuschen und lügen die Götter?
Aber vielleicht, daß er sich selbst verwandelt und verändert!
Offenbar, sagte er, wenn er nämlich verändert wird.
Verwandelt er sich nun wohl in Besseres und Schöneres oder in Schlechteres und Häßlicheres, als er selbst ist?
Notwendig, sagte er, in Häßliches, wenn er sich verändert. Denn wir können doch nicht sagen, daß Gott an irgendeiner Schönheit oder Tugend Mangel leide.
Vollkommen richtig gesprochen! sagte ich. Und da es sich so verhält, Adeimantos, glaubst du wohl, daß jemand sich freiwillig in irgendeiner Hinsicht schlechter machen wird, als er ist, sei es nun ein Gott oder ein Mensch?
Unmöglich, sagte er.
Also ist es auch einem Gott unmöglich, daß er sich selbst sollte verwandeln wollen; sondern jeder von ihnen bleibt, wie es scheint, da er so schön und trefflich ist als möglich, auch immer ganz einfach in seiner eignen Gestalt.
Das scheint mir wenigstens durchaus notwendig, sagte er.
Keiner also von den Dichtern, sprach ich, sage uns, o Bester, daß


<Götter in wandelnder Fremdlinge Bildung
Jede Gestalt nachahmend durchgehn die Gebiete der Menschen.>


Auch den Proteus und die Thetis verleumde niemand, noch führe uns jemand weder in Tragödien noch anderen Gedichten die Hera vor, wie sie, in eine Priestern verwandelt, <für des Argeiischen Flusses Inachos lebenspendende Kinder> Gaben sammelt, und noch viel anderes dergleichen mögen sie uns nicht vorlügen, noch auch sollen, von ihnen überredet, die Mütter ihre Kinder zum Fürchten bringen, indem sie die Märchen schlecht erzählen, als ob nachts gewisse Götter allerlei wunderlichen Fremdlingen ähnlich damit sie nicht zugleich die Götter lästern und zugleich auch ihre Kinder feigherziger machen.
Freilich nicht, sagte er.
Aber, sprach ich, vielleicht sind die Götter selbst wohl so, daß sie sich nicht verwandeln, machen uns aber glauben, als ob sie in so vielerlei Gestalten erscheinen, indem sie uns namlich hintergehen und bezaubern?

Vielleicht wohl, sagte er. (382 a)
Und wie? sprach ich. Sollte denn ein Gott lügen wollen, indem er in Wort oder Tat uns ein leeres Schattenbild darstellt?
Ich weiß nicht, sagte er.
Du weißt nicht, sprach ich, daß die wahre Lüge, wenn es anders möglich ist so zu reden, alle Götter und Menschen hassen?
Wie meinst du das? sagte er.
So, sprach ich, daß durch das Vorzüglichste in sich selbst und über das Vorzüglichste niemand mit Willen täuschen will, sondern am allermeisten fürchtet, dort die Unwahrheit zu haben.
Auch so, sprach er, verstehe ich es noch nicht.
Du denkst eben, sagte ich, daß ich etwas sehr Hohes sage; ich meine aber nur, daß mit der Seele über das, was ist, sich zu täuschen und getäuscht zu haben und töricht zu sein und dort die Unwahrheit zu haben und zu besitzen, alle am wenigsten wünschen, sondern sie vielmehr dort vorzüglich hassen.
Bei weitem, sagte er.
Aber mit vollkommenem Recht kann man doch das eben Beschriebene die wahre Unwahrheit nennen, ich meine die Unwissenheit in der Seele des Getäuschten. Denn die in den Reden ist nur eine Nachahmung jenes Ereignisses in der Seele und ein später entstandenes Abbild, nicht mehr die unvermischte Unwahrheit. Oder ist es nicht so?
Freilich. —

Die völlige Truglosigkeit des Göttlichen!
Die eigentliche Unwahrheit wird also nicht nur von Göttern, sondern auch von Menschen gehaßt.
Das dünkt mich.
Wie nun aber die Unwahrheit in Reden, wann und wozu ist die doch nützlich, so daß sie den Haß nicht verdient? Nicht gegen die Feinde? Und auch der sogenannten Freunde wegen, wenn diese im Wahnsinn oder aus irgendeiner Unvernunft etwas Arges zu tun unternehmen, wird sie dann nicht als ein ableitendes Mittel nützlich? Und auch in den eben erwähnten Dichtungen, da wir nicht wissen, wie sich die alten Begebenheiten in Wahrheit verhalten, bilden wir der Wahrheit die Unwahrheit so genau als möglich nach und machen sie dadurch gar sehr nützlich.
Gewiß, sprach er, verhält es sich so.
In welcher von diesen Beziehungen nun soll wohl Gott die Unwahrheit nützlich sein? Soll er etwa, weil ihm das Altertümliche unbekannt ist, um doch etwas Ähnliches darzustellen, Unwahrheiten vorbringen?
Das wäre ja lächerlich, sagte er.
Also ein unwahrer Dichter ist in Gott nicht zu suchen?
Nein, dünkt mich.
Aber aus Furcht vor seinen Feinden könnte er wohl lügen?
Weit gefehlt.
Oder wegen Unverstandes und Wahnsinns derer, denen er zugetan ist?
Aber, sagte er, kein Unvernünftiger und Wahnsinniger ist je von Gott geliebt.
Es gibt also nichts, um deswillen Gott lügen könnte.
Es gibt nichts.
In jeder Hinsicht also ist das Dämonische und Göttliche ohne Falsch.

Auf alle Weise gewiß, sagte er.
Offenbar also ist Gott einfach und wahr in Wort und Tat und verwandelt sich weder selbst, noch hintergeht er andere, weder in Erscheinungen noch in Reden, noch indem er ihnen Zeichen sendet, weder im Wachen noch im Schlaf.
So, sprach er, leuchtet es auch mir selbst ein durch deine Reden.
(383 a)
Du räumst also ein, daß dieses die zweite Vorschrift ist, nach der von den Göttern geredet und gedichtet werden muß, daß sie weder selbst als Zauberer sich verwandeln, noch auch uns durch Täuschungen verleiten in Wort und Tat?
Ich räume es ein.
Wenn wir also noch soviel anderes am Homeros loben, so wollen wir doch das nicht loben, wie Zeus dem Agamemnon den Traum sendet, noch vom Aischylos, wenn Thetis sagt, Apollon habe singend bei ihrer Hochzeitsfeier gepriesen

<ihr schönes Mutterglück,
Der Söhne krankheitsloses spätes Lebensziel.
Und dies gesagt, bekräftet sein Päan zuletzt
Mein gottbegänstigt Schicksal, mich ermutigend.
Da hofft ich, truglos werde Phoibos‘ Göttermund
Mir sein, der kunstreich Weissagungen sprudelnde.
Er aber selbst, der Sänger, der selbst dieses sprach,
Er selbst von damals Hochzeitsgast, ist selber nun
Des Sohnes Mörder>.


Wenn einer dergleichen sagt von den Göttern, wollen wir zürnen und ihm keinen Chor geben, noch leiden, daß ein Lehrer solches zum Unterricht der Jugend gebrauche, wenn unsere Wächter gottesfürchtig und gottähnlich werden sollen, soweit es dem Menschen nur irgend möglich ist.
Auf alle Weise, sagte er, nehme ich diese Vorschriften an und möchte sie als Gesetze gebrauchen.

Aus: Platon, Sämtliche Werke 3, Phaidon, Politea (S.115-119 Politea) In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung,
herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 27

Unerkennbarkeit der menschlichen Dinge für Gott
Parmenides 135a - 137a
Unerkennbarkeit der seienden Begriffe und Erkenntnislosigkeit der Götter als Folge des Ansatzes für sich bestehender Begriffe?

Sehr gut, habe Sokrates gesagt, verstehe ich es. —

Also, habe er fortgefahren, auch die Erkenntnis an sich, was Erkenntnis ist, wäre die Erkenntnis jenes an sich, was Wahrheit ist?

Allerdings. —

Und jede einzelne Erkenntnis, welche ist, wäre auch nur Erkenntnis des einzelnen Seienden, was ist. Oder nicht? —

Ja. —

Aber die Erkenntnis bei uns, muß die sich nicht beziehen auf die Wahrheit bei uns? Und so jede einzelne Erkenntnis bei uns wäre folglich nur Erkenntnis des einzelnen Seienden bei uns? —

Notwendig. —

Aber die Begriffe an sich haben wir weder, wie du zugibst, noch ist es möglich, daß sie unter uns angetroffen werden. —

Auf keine Weise. —

Sonach werden erkannt von dem Begriff an sich der Erkenntnis die Gattungen selbst, welche im einzelnen sind? —

Ja. —

Welchen wir aber nicht haben. —

Freilich nicht. —

Also wird auch von uns kein Begriff an sich erkannt, weil wir die Erkenntnis selbst nicht haben. —

Es scheint nicht. —

Unerkennbar also ist uns das Schöne an sich, was ist, und so auch das Gute und alles, was wir uns als für sich seiende Ideen vorstellen. —

So scheint es leider. —


Sieh aber nun hiervon auf jenes noch Ärgere. —

Auf welches? —

Wirst du zugeben oder nicht, daß, wenn an sich eine Gattung Erkenntni
s ist, diese weit genauer sein müsse als die Erkenntnis bei uns, und so auch die Schönheit und alles andere auf gleiche Weise? —

Ja. —


Besitzt also irgend etwas anderes diese Erkenntnis an sich: so wirst du nicht wollen, daß irgend jemand anders mehr als Gott die genaueste Erkenntnis habe? —

Natürlich. — Wird nun etwa Gott, die Erkenntnis selbst besitzend, wiederum vermögend sein, das, was bei uns ist, zu erkennen?

Warum das nicht? —

Weil, sagte
Parmenides, unter uns ausgemacht ist, o Sokrates, daß weder jene Begriffe in Beziehung auf das bei uns Befindliche dasjenige Vermögen haben, welches sie haben, noch auch das bei uns Befindliche in Beziehung auf jene; sondern abgesondert jedes von beiden für sich. —

Das ist freilich ausgemacht. —


Wenn sich also jene genaueste Herrschaft bei Gott befindet und jene genaueste Erkenntnis: so wird diese Herrschaft über jene niemals uns beherrschen, noch auch diese Erkenntnis uns erkennen oder irgend e etwas bei uns. Sondern ganz auf gleiche Weise herrschen wir nicht über jene mit unserer Herrschaft, noch erkennen wir irgend etwas von dem Göttlichen mit unserer Erkenntnis; und auch sie sind aus demselben Grunde nicht unsere Herren, noch erkennen sie die menschlichen Dinge, als Götter. —

Aber, sagte er, daß das nur nicht eine allzu wunderliche Rede ist, wenn einer die Gottheit des Wissens beraubt! -

(135a) Dennoch aber, o Sokrates, habe Parmenides gesagt, muß dies und noch gar vieles andere von den Begriffen gelten, wenn diese Ideen Seiendes sein sollen und jemand als etwas für sich jeden Begriff setzen will. So daß, wer es anhört, bedenklich werden muß und bestreiten, daß dergleichen überhaupt ist, oder wenn ja, daß es ganz notwendig der menschlichen Natur unerkennbar sein müßte. Und wer dies sagt, muß nicht nur glauben, etwas Rechtes zu sagen, sondern auch, wie wir eben sagten, sehr schwer eines andern zu überzeugen sein; und sehr wohl begabt muß der sein, der dies soll begreifen können, daß eine Gattung jedes einzelnen ist und ein Wesen an sich; noch vortrefflicher aber der, welcher es ausfindet und dies alles gehörig auseinandersetzend auch andere lehren kann. —

Dies, o Parmenides, räume ich dir ein, sprach Sokrates, denn du sagst es ganz nach meinem Sinn. —

Dennoch aber, o Sokrates, sagte Parmenides, wenn jemand auf der andern Seite nicht zugeben will, daß Begriffe Seiendes sind, weil er eben auf alles Vorige und mehr Ähnliches hinsieht und keinen Begriff für jedes Besondere bestimmt setzen will: so wird er nicht haben, wohin er seinen Verstand wende, wenn er nicht eine Idee für jegliches Seiende zuläßt, die immer dieselbe bleibt, und so wird er das Vermögen der Dialektik gänzlich aufheben; welche Folge du eben vornehmlich scheinst beachtet zu haben. —

Ganz richtig, habe Sokrates gesagt. —

Parmenides über die zum Finden der Wahrheit nötige Übung und Bitte um eine Probe
Was also willst du tun in Hinsicht der Philosophie? Wohin willst du dich wenden, wenn du über diese Dinge keine Erkenntnis besitzt? —

Das glaube ich nicht recht abzusehen für jetzt. —

Allzufrüh eben, habe Parmenides gesagt, ehe du dich gehörig geübt hast, o Sokrates, unternimmst du zu bestimmen, was schön ist und gerecht und gut, und so jeden andern Begriff. Schon neulich habe ich dies bemerkt, als ich hörte, wie du dich mit dem Aristoteles unterredetest. Schön allerdings und göttlich, das wisse nur, ist der Trieb, der dich treibt zu diesen Forschungen. Strecke dich aber zuvor noch besser und übe dich vermittels dieser für unnütz gehaltenen und von den meisten auch nur Geschwätz genannten Wissenschaft, solange du noch jung bist: denn wo nicht, so wird dir die Wahrheit entgehen. —

Welches aber, o Parmenides, ist die Art und Weise, sich zu üben? —

Dieselbe, o Sokrates, die du eben vom Zenon gehört hast. Indes aber habe ich mich darüber doch gefreut von dir, als du diesem sagtest, du gäbest ihm nicht zu, nur an den sichtbaren Dingen und in Beziehung auf sie die Untersuchung durchzuführen, sondern in Beziehung auf jenes, was man vornehmlich mit dem Verstande auffaßt und für Begriffe hält. —

Es schien mir eben, habe Sokrates hinzugefügt, auf jene Art nicht schwer, von den Dingen zu zeigen, daß sie ähnlich und unähnlich sind und daß ihnen alles, was man nur will, zukommt. —

(136 a) Und mit Recht, sagte Parmenides. Außerdem mußt du aber noch dies tun, daß du nicht nur etwas als seiend voraussetzend untersuchst, was sich aus der Voraussetzung er gibt: sondern auch, daß jenes nämliche nicht sei, mußt du hernach zugrunde legen, wenn du dich noch besser üben willst. —

Wie meinst du das? fragte Sokrates. —

Zum Beispiel, sagte Parmenides, nach der Voraussetzung, von welcher Zenon ausgegangen ist, wenn Vieles ist, was muß sich dann ergeben für das Viele selbst an sich und in Beziehung auf das Eins, und auch für das Eins an sich und in Beziehung auf das Viele: und ebenso mußt du dann auch untersuchen, wenn Vieles nicht ist, was sich dann ergeben muß für das Eins sowohl als für das Viele jedes an sich und in Beziehung auf einander. Ebenso wenn du voraussetzt, wenn es Ähnlichkeit gibt oder wenn b es sie nicht gibt, ist zu sehen, was aus jeder von beiden Voraussetzungen folgt, sowohl für das Vorausgesetzte selbst als für das Andere insgesamt, an sich und in Beziehung auf einander. Auch von dem Unähnlichen gilt dasselbe und von der Bewegung und Ruhe, von dem Entstehen und Vergehen, ja von dem Sein selbst und dem Nichtsein. Und mit einem Worte, was du auch zugrunde legst, es als seiend und nicht seiend oder was sonst davon annehmend, davon mußt du sehen, was sich jedesmal ergibt für das Gesetzte selbst und für jedes andere Einzelne, was du herausnehmen willst, sowohl für Mehreres als auch für Alles insgesamt ebenso. Ebenso auch, was sich für das Übrige ergibt, an sich und in Beziehung auf jedes Einzelne, was du jedesmal herausheben willst, du magst nun das, wovon du ausgingst, als seiend voraussetzen oder als nichtseiend, wenn du vollkommen geübt auch die Wahrheit gründlich durchschauen willst. —

Ein unendliches Geschäft, o Parmenides, beschreibst du, sagte Sokrates, und ich verstehe es noch nicht recht. Warum aber gehst du es nicht selbst durch, irgend etwas voraussetzend, damit ich es desto besser begreife? —

Ein großes Werk, o Sokrates, sagte er, legst du mir auf, und in meinem Alter. —

Aber du also, habe Sokrates gesagt, o Zenon, warum willst du nicht etwas abhandeln? —

Darauf habe Zenon lächelnd geantwortet: Wir wollen ihn selbst bitten, den Parmenides. Denn das ist nichts Geringes, was er sagt; oder siehst du nicht selbst, welche Arbeit du aufträgst? Wären wir nun mehrere, so lohnte es nicht, ihn zu bitten: denn unschicklich ist es, dergleichen vor Vielen zu reden, zumal einem Manne von solchen Jahren. Denn die Menge weiß nicht, daß, ohne so das ganze Gebiet durchzugehen und zu umwandeln, es nicht möglich ist, die Wahrheit treffend richtige Einsicht wirklich zu erlangen. Ich also, o Parmenides, schließe mich der Bitte des Sokrates an, damit auch ich nach langer Zeit dich einmal wieder höre. —

Einleitung zur dialektischen Übung und erste Voraussetzung: Wenn Eins ist. — Das Eins-Seiende ist weder ganz noch hat es Teile
Als dieses Zenon gesprochen, sagte Antiphon, habe Pythodoros selbst, wie er ihm erzählt, und so auch Aristoteles und die anderen den Parmenides gebeten, eine Probe zu geben von dem, was er meine, und ja nicht anders zu tun. —

(137a) Hierauf habe Parmenides gesagt: Ich muß wohl gehorchen. Wiewohl es mir, glaube ich, wie dem Rosse des Ibykos gehen wird, welchem als einem wackern zwar, aber schon bejahrten Streiter, weil es im Begriff, noch einmal den Kampf des Wagens zu bestehen, aus Kunde vor dem, was ihm bevorstand, gezittert, eben deshalb jener selbst sich vergleicht, sagend, auch er werde, wider Willen, so alt schon, gezwungen, noch einmal die Bahn der Liebe zu gehen. So fühle auch ich, wenn ich dessen gedenke, nicht wenig Furcht, wie ich wohl in solchem Alter ein so großes und schwieriges Meer von Untersuchungen durchschwimmen soll. Indessen, denn ich muß euch wohl gefällig sein, zumal auch Zenon einstimmt, wir sind ja unter uns. Von wo also fangen wir an, und was sollen wir zuerst zugrunde legen? Oder wollt ihr, da doch einmal das mühsame Spiel soll gespielt werden, daß ich von mir selbst anfange in von meiner Voraussetzung, indem ich das Eins selbst zugrunde lege, wenn es ist und wenn es nicht ist, was dann sich ergeben muß?
Aus: Platon, Sämtliche Werke 4, Phaidros, Parmenides, Theaitetos, Sophistes (S.71-74Parmenides) In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung,
herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 39

Das Höhlengleichnis
Politea 514a - 518a
Beschreibung der Lage der Gefangenen
(514 a) Nächstdem, sprach ich, vergleiche dir unsere Natur in bezug auf Bildung und Unbildung folgendem Zustande. Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen.
Ich sehe, sagte er.
Sieh nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Geräte tragen, die über die Mauer herüberragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und von allerlei Arbeit; einige, wie natürlich, reden dabei, andere schweigen. (515 a)
Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar und wunderliche Gefangene.
Uns ganz ähnliche, entgegnete ich. Denn zuerst, meinst du wohl, daß dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander je etwas anderes gesehen haben als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft?
Wie sollten sie, sprach er, wenn sie gezwungen sind, zeitlebens den Kopf unbeweglich zu halten
Und von dem Vorübergetragenen nicht eben dieses?
Was sonst?
Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, daß sie auch pflegen würden, dieses Vorhandene zu benennen, was sie sähen?
Notwendig.
Und wie, wenn ihr Kerker auch einen Widerhall hätte von drüben her, meinst du, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie würden denken, etwas anderes rede als der eben vorübergehende Schatten?
Nein, beim Zeus, sagte er.
Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke?
Ganz unmöglich.
Nun betrachte auch, sprach ich, die Lösung und Heilung von ihren Banden und ihrem Unverstande, wie es damit natürlich stehen würde, wenn ihnen folgendes begegnete. Wenn einer entfesselt wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehn, und, indem er das täte, immer Schmerzen hätte und wegen des flimmernden Glanzes nicht recht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon er vorher die Schatten sah: was, meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden näher und zu dem mehr Seienden gewendet, sähe er richtiger, und, ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten zwänge, was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er damals gesehen, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde?
Bei weitem, antwortete er.

Der Vorgang des Hinaufsteigens zum Licht und das Wiederherabkommen in die Höhle
Und wenn man ihn gar in das Licht selbst zu sehen nötigte, würden ihm wohl die Augen schmerzen, und er würde fliehen und zu jenem zurückkehren, was er anzusehen imstande ist, fest überzeugt, dies sei in der Tat deutlicher als das zuletzt Gezeigte?
Allerdings.
Und, sprach ich, wenn ihn einer mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufgang schleppte und nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, wird er nicht viel Schmerzen haben und sich gar ungern schleppen lassen? (516 a) Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nicht das Geringste sehen können von dem, was ihm nun für das Wahre gegeben wird.
Freilich nicht, sagte er, wenigstens nicht sogleich.
Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen. Und zuerst würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der andern Dinge im Wasser, und dann erst sie selbst. Und hierauf würde er was am Himmel ist und den Himmel selbst leichter bei Nacht betrachten und in das Mond- und Sternenlicht sehen als bei Tage in die Sonne und in ihr Licht.
Wie sollte er nicht!
Zuletzt aber, denke ich, wird er auch die Sonne selbst, nicht Bilder von ihr im Wasser oder anderwärts, sondern sie als sie selbst an ihrer eigenen Stelle anzusehen und zu betrachten imstande sein.
Notwendig, sagte er.
Und dann wird er schon herausbringen von ihr, daß sie es ist, die alle Zeiten und Jahre schafft und alles ordnet in dem sichtbaren Raume und auch von dem, was sie dort sahen, gewissermaßen die Ursache ist.
Offenbar, sagte er, würde er nach jenem auch hierzu kommen.
Und wie, wenn er nun seiner ersten Wohnung gedenkt und der dortigen Weisheit und der damaligen Mitgefangenen, meinst du nicht, er werde sich selbst glücklich preisen über die Veränderung, jene aber beklagen?
Ganz gewiß.
Und wenn sie dort unter sich Ehre, Lob und Belohnungen für den bestimmt hatten, der das Vorüberziehende am schärfsten sah und am besten behielt, was zuerst zu kommen pflegte und was zuletzt und was zugleich, und daher also am besten vorhersagen konnte, was nun erscheinen werde: glaubst du, es werde ihn danach noch groß verlangen und er werde die bei jenen Geehrten und Machthabenden beneiden? Oder wird ihm das Homerische begegnen und er viel lieber wollen <das Feld als Tagelöhner bestellen einem dürftigen Mann> und lieber alles über sich ergehen lassen, als wieder solche Vorstellungen zu haben wie dort und so zu leben?
So, sagte er, denke ich, wird er sich alles eher gefallen lassen, als so zu leben.
Auch das bedenke noch, sprach ich. Wenn ein solcher nun wieder hinunterstiege und sich auf denselben Schemel setzte: würden ihm die Augen nicht ganz voll Dunkelheit sein, da er so plötzlich Von der Sonne herkommt?
Ganz gewiß.
(517 a) Und wenn er wieder in der Begutachtung jener Schatten wetteifern sollte mit denen, die immer dort gefangen gewesen, während es ihm noch vor den Augen flimmert, ehe er sie wieder dazu einrichtet, und das möchte keine kleine Zeit seines Aufenthalts dauern, würde man ihn nicht auslachen und von ihm sagen, er sei mit verdorbenen Augen von oben zurückgekommen und es lohne nicht, daß man auch nur versuche hinaufzukommen; sondern man müsse jeden, der sie lösen und hinaufbringen wollte, wenn man seiner nur habhaft werden und ihn unibringen könnte, auch wirklich umbringen?
So sprächen sie ganz gewiß, sagte er. —

Erklärung und Anwendung des Bildes
Dieses ganze Bild nun, sagte ich, lieber Glaukon, mußt du mit dem früher Gesagten verbinden, die durch das Gesicht uns erscheinende Region der Wohnung im Gefängnisse gleichsetzen und den Schein von dem Feuer darin der Kraft der Sonne; und wenn du nun das Hinaufsteigen und die Beschauung der oberen Dinge setzt als den Aufschwung der Seele in die Region der Erkenntnis, so wird dir nicht entgehen, was mein Glaube ist, da du doch dieses zu wissen begehrst. Gott mag wissen, ob er richtig ist; was ich wenigstens sehe, das sehe ich so, daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat, sie auch gleich dafür anerkannt wird, daß sie für alle die Ursache alles Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das Licht und die Sonne, von der dieses abhängt, erzeugend, im Erkennbaren aber sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft hervorbringend, und daß also diese sehen muß, wer vernünftig handeln will, es sei nun in eigenen oder in öffentlichen Angelegenheiten.
Auch ich, sprach er, teile die Meinung, so gut ich eben kann.
Komm denn, sprach ich, teile auch diese mit mir und wundere dich nicht, wenn diejenigen, die bis hierher gekommen sind, nicht Lust haben, menschliche Dinge zu betreiben, sondern ihre Seelen immer nach dem Aufenthalt oben trachten; denn so ist es ja natürlich, wenn sich dies nach dem vorher aufgestellten Bilde verhält.
Natürlich freilich, sagte er. — Und wie?
Kommt dir das wunderbar vor, fuhr ich fort, daß, von göttlichen Anschauungen unter das menschliche Elend versetzt, einer sich übel gebärdet und gar lächerlich erscheint, wenn er, solange er noch trübe sieht und ehe er sich an die dortige Finsternis hinreichend gewöhnt hat, schon genötigt wird, vor Gericht oder anderwärts zu streiten über die Schatten des Gerechten oder die Bilder, zu denen sie gehören, und dieses auszufechten, wie es sich die etwa vorstellen, welche die Gerechtigkeit selbst niemals gesehen haben?
Nicht im mindesten zu verwundern! sagte er.
(518 a) Sondern, wenn einer Vernunft hätte, fuhr ich fort, so würde er bedenken, daß durch zweierlei und auf zwiefache Weise das Gesicht gestört sein kann, wenn man aus dem Licht in die Dunkelheit versetzt wird, und wenn aus der Dunkelheit in das Licht. Und ebenso, würde er denken, gehe es auch mit der Seele, und würde, wenn er eine verwirrt findet und unfähig zu sehen, nicht unüberlegt lachen, sondern erst zusehen, ob sie wohl von einem lichtvolleren Leben herkommend aus Ungewohnheit verfinstert ist oder ob sie, aus größerem Unverstande ins Hellere gekommen, durch die Fülle des Glanzes geblendet wird; und so würde er dann die eine wegen ihres Zustandes und ihrer Lebensweise glücklich preisen, die andere aber bedauern; oder, wenn er über diese Lachen wollte, wäre sein Lachen nicht so lächerlich als das über die, welche von oben her aus dem Lichte kommt.
Sehr richtig gesprochen, sagte er.
Aus: Platon, Sämtliche Werke 3, Phaidon, Politea (S.224-227 Politea)
In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassike

Das Bettgestell-Gleichnis
Poleteia 597a - 598a
Die Weise einer scheinbaren Darstellung aller Dinge
Willst du also, daß wir die Betrachtung hierbei anfangen nach der gewohnten Weise? Nämlich einen Begriff pflegen wir doch jedesmal aufzustellen für jegliches viele, dem wir denselben Namen beilegen. Oder verstehst du mich nicht?
Wohl verstehe ich.
Nehmen wir also, was du willst, von solchem vielen! Wie, wenn es dir recht ist, gibt es doch viele Bettgestelle und Tische?
Wie sollte es nicht.
Aber Begriffe gibt es doch nur zwei für diese Geräte, der eine das Bett, der andere der Tisch.
Ja.
Und pflegen wir nicht zu sagen, daß die Verfertiger jegliches dieser Geräte auf den Begriff sehend, so der eine die Bettgestelle macht, der andere die Tische, deren wir uns bedienen und ebenso auch alles andere? Denn den Begriff selbst verfertigt doch keiner von diesen Meistern; wie sollte er auch?
Auf keine Weise.
Aber sieh einmal zu, nennst du auch diesen einen Meister?
Welchen doch?
Der alles macht, was jeder von diesen Handwerkern.
Das ist ja ein außerordentlicher und wundervoller Mann!
Noch eben nicht; aber bald wirst du es wohl noch stärker ausdrücken. Denn dieser selbige Handwerker ist imstande, nicht nur alle Geräte zu machen, sondern auch alles insgesamt, was aus der Erde wächst, macht er und alle Tiere verfertigt er, die andern wie auch sich selbst und außerdem noch den Himmel und die Erde und die Götter und alles im Himmel und unter der Erde im Hades insgesamt verfertigt er.
Einen ganz wunderbaren Sophisten, sagte er, beschreibst du da.
Glaubst du es etwa nicht? sprach ich; und sage mir, dünkt es dich überall keinen solchen Meister zu geben oder daß einer nur auf gewisse Weise alle diese Dinge verfertigt, auf andere aber wieder nicht? Oder merkst du nicht, daß auch du selbst imstande bist, auf gewisse Weise alle diese Dinge zu machen?
Und, fragte er, was ist doch dies für eine Weise?
Gar keine schwere, sprach ich, sondern die vielfältig und in der Geschwindigkeit angewendet wird. Am schnellsten aber wirst du wohl, wenn du nur einen Spiegel nehmen und den überall umhertragen willst, bald die Sonne machen und was am Himmel ist, bald die Erde, bald auch dich selbst und die übrigen lebendigen Wesen und Geräte und Gewächse und alles, wovon nur so eben die Rede war.
Ja scheinbar, sagte er, jedoch nicht in Wahrheit seiend.
Schön, sprach ich, und wie es sich gebührt, triffst du die Rede. Nämlich einer von diesen Meistern, meine ich, ist auch der Maler. Nicht wahr?
Wie sollte er nicht?
Aber du wirst sagen, meine ich, er mache nicht wahrhaft, was er macht. Wiewohl auf gewisse Weise macht auch der Maler ein Bettgestell. Oder nicht?
Ja, sagte er, ein scheinbares auch er.

Unterscheidung zwischenWesensbildner, Werkbildner und Nachbildner und Entferntheit der Nachbildnerei von der Wahrheit
Wie aber der Tischler? (597a) Sagtest du nicht doch eben, daß auch er ja den Begriff nicht macht, der doch eigentlich, wie wir behaupten, das Bettgestell ist, sondern ein Bettgestell mache er?
Das sagte ich freilich!
Also wenn er nicht macht was ist, so macht er auch nicht das Seiende, sondern nur dergleichen etwas wie das Seiende; Seiendes aber nicht? Und wenn jemand behaupten wollte, das Werk des Tischlers oder sonst eines Handwerkers sei im eigentlichsten Sinne seiend, der schiene wohl nicht richtig zu reden?
Freilich nicht, sagte er, wie es wenigstens denen vorkommen würde, die sich mit dergleichen Reden beschäftigen.
So wollen wir uns demnach nicht wundern, wenn auch dieses etwas Trübes ist gegen die Wahrheit.
Freilich nicht.
Willst du nun, daß wir eben hiervon auch den Nachbildner aufsuchen, wer er wohl ist?
Wenn du willst, sagte er.
Also dieses werden uns drei Bettgestelle, das eine, das in der Natur seiende, von dem wir, denke ich, sagen würden, Gott habe es gemacht. Oder wer sonst?
Niemand, denke ich.
Eines aber der Tischler.
Ja, sagte er.
Und eines der Maler. Nicht wahr?
So sei es.
Maler also, Tischler, Gott, diese drei sind Vorsteher der dreierlei Bettgestelle.
Ja, drei.
Gott aber, wollte er nun nicht oder war eine Notwendigkeit für ihn, nicht mehr als ein Bettgestelle zu machen, so machte er auch nur eins allein, jenes was das Bettgestelle ist. Zwei solche aber oder mehrere sind von Gott nicht eingepflanzt worden und werden es auch nicht werden.
Wieso? sagte er.
Weil, sprach ich, wenn er auch nur zwei gemacht hätte, so würde sich doch wieder eines zeigen, wovon jene beiden die Gestalt an sich hätten und so wäre dann jenes, was das Bettgestelle ist und nicht die zwei.
Richtig! sagte er.
Dieses nun wissend, denke ich, hat Gott, weil er wahrhaft der Verfertiger des wahrhaft seienden Bettgestells sein wollte und nicht eines Bettgestells noch auch ein Tischler, es als eines dem Wesen nachgebildet.
So scheint es ja.
Sollen wir diesen also den Wesenbildner hiervon nennen oder ungefähr so?
Das ist ja wohl billig, sagte er, da er ja dieses und alles andere dem Wesen nach gemacht hat.
Und wie den Tischler? Nicht den Werkbildner des Bettgestelles?
Ja.
Nennen wir auch wohl den Maler Werkbildner und Verfertiger desselben?
Keineswegs.
Aber was denn, sagst du, daß er von dem Bettgestelle sei?
Ich denke, entgegnete er, am schicklichsten nennen wir ihn Nachbildner desselben, wenn jene die Werkbildner sind.
Sei es! sprach ich. Des dritten Erzeugnisses Vorsteher von dem Wesen ab, nennst du also Nachbildner.
Allerdings, sagte er.
Dieses also wird auch der Tragödiendichter sein, wenn er doch Nachbildner ist, ein dritter von dem Könige und dessen wahrem Wesen und so auch alle andern Nachbildner.
So scheint es.
Über den Nachbildner also sind wir eins; (598a) sage mir aber vom Maler noch dieses. Dünkt er dich darauf auszugehn, von jeglichem jenes eine in der Natur nachzubilden oder die Werke der zweiten Bildner?
Die der Werkbildner, sagte er.
Und wie sie sind oder wie sie erscheinen? Denn auch dieses unterscheide mir wohl.
Wie meinst du? sagte er.
So. Ein Bettgestelle, wenn man es von der Seite sieht oder von geradeüber oder wie sonst, ist es deshalb von sich selbst verschieden oder das zwar gar nicht, es erscheint aber anders? Und mit allem andern ebenso?
So ist es, sagte er; es erscheint anders, ist aber nicht verschieden.
Nun betrachte mir eben dieses. Auf welches von beiden geht die Malerei bei jedem? Das Seiende nachzubilden, wie es sich verhält oder das Erscheinende, wie es erscheint, als eine Nachbildnerei der Erscheinung oder der Wahrheit?
Der Erscheinung, sagte er.
Gar weit also von der Wahrheit ist die Nachbildnerei; und deshalb, wie es scheint, macht sie auch alles, weil sie von jeglichem nur ein weniges trifft und das im Schattenbild. Wie der Maler, das leugnen wir doch nicht, der wird uns Schuster, Tischler und die andern Handwerker nachbilden, ohne irgend etwas von diesen Künsten irgend zu verstehen; aber doch, ist er nur ein guter Maler und zeigt, wenn er einen Tischler gemalt hat, ihn nur hübsch von fern, so wird er doch Kinder wenigstens und unkluge Leute anführen, daß sie das Gemälde für einen wirklichen Tischler halten.
Wie sollte er nicht!
Aber dieses, meine ich, o Freund, müssen wir doch von allen dieser Art denken, wenn uns jemand von einem berichtet, er habe einen Menschen angetroffen, der alle Handwerke verstehe und alles andere, was sonst jeder nur einzeln weiß, verstehe er um nichts weniger genau als irgendeiner, den muß man doch gleich darauf anreden, daß er ein einfältiger Mensch ist, den ein Taschenspieler oder ein Nachbildner angeführt hat, daß er ihn wirklich für allweise hält, weil er selbst nämlich nicht fähig ist, Erkenntnis und Unkenntnis und Nachbildung zu sichten.
Vollkommen richtig, sagte er.
Aus: Platon, Sämtliche Werke 3, Phaidon, Politea (S.288-290 Politea) In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung,
herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 27

Über die Weltentstehung
Timaios 28a - 38a
Unterscheidung zwischen dem Seienden und dem Werdenden.
Die Welt als geworden und als nach einem Vorbild geschaffenes Abbild

TIMAIOS: Tun das doch alle, wenn auch nur ein wenig Besonnenheit ihnen zuteil ward; sie riefen wohl stets beim Beginn eines jeden Unternehmens, ob groß oder klein, Gott an. Wir aber, die wir über das All zu sprechen im Begriff sind, wie es entstanden oder vielleicht auch nicht entstanden sei, müssen, sind wir nicht durchaus auf Irrwegen, notwendig, unter Anrufung der Götter und Göttinnen, zu ihnen flehen, daß wir am meisten nach ihrem Sinne, demzufolge aber auch nach unserem reden. Was nun die Götter angeht, so mögen sie so angerufen sein, uns selbst aber müssen wir zu solcher Rede aufrufen, wie ihr es am leichtesten faßt, ich aber am besten meide Gedanken über den vorliegenden Gegenstand euch darzulegen vermag.

(28 a) Zuerst nun haben wir, meiner Meinung nach, dies zu unterscheiden: was ist das stets Seiende, das Entstehen nicht an sich hat, was das stets Werdende, aber niemals Seiende; das eine, stets gemäß demselben Seiende ist durch Vernunft mit Denken zu erfassen, das andere dagegen durch Vorstellung vermittels vernunftloser Sinneswahrnehmung vorstellbar, als entstehend und vergehend, nie aber wirklich seiend. Alles Entstehende muß ferner notwendig aus einer Ursache entstehen; denn jedem ist es unmöglich, ohne Ursache das Entstehen zu erlangen. Wessen Erzeuger aber mit stetem Hinblick auf das stets sich gleich Verhaltende, nach einem solchen Vorbilde dessen Gestalt und Kraft erschafft, das muß notwendig schön vollendet werden im Ganzen; wessen Erzeuger aber auf das Gewordene hinblickt und etwas Gewordenes zum Vorbild nimmt, das unschön. Der ganze Himmel aber — oder die Welt, oder welcher Name sonst jemandem dafür belieben mag, der sei uns genehm —, von ihm müssen wir zuerst erwägen, was es offenbar anfangs bei jedem zu erwägen gilt, ob er stets war und kein Anfang seines Entstehens stattfand, oder ob er, von einem Anfange ausgehend, entstand.

Er entstand; denn er ist sichtbar und betastbar und hat einen Körper. Alles Derartige aber ist wahrnehmbar, alles Wahrnehmbare aber, durch Vorstellung vermittels Sinneswahrnehmung zu erfassen, zeigte sich als ein Werdendes und Erzeugtes; von dem Gewordenen aber behaupten wir ferner, daß es notwendig aus einer Ursache hervorging.

Also den Urheber und Vater dieses Weltalls aufzufinden, ist schwer, nachdem man ihn aber auffand, ihn allen zu verkünden, unmöglich. (29 a) Dies aber müssen wir ferner über es erwägen, nach welchem Vorbilde sein Werkmeister es auferbaute, ob nach dem stets ebenso und in gleicher Weise Beschaffenen oder nach dem Gewordenen. Ist aber diese Welt schön und ihr Werkmeister gut, dann war offenbar sein Blick auf das Unvergängliche gerichtet, bei der Voraussetzung dagegen, die auch nur auszusprechen frevelhaft wäre, auf das Gewordene. Jedem aber ist gewiß offenbar, auf das Unvergängliche, denn sie ist das Schönste alles Gewordenen, er der beste aller Urheber. So also entstanden, ist sie nach dem durch Nachdenken und Vernunft zu Erfassenden und stets sich Gleichbleibenden auferbaut; da sich aber dies so verhält, ist es durchaus notwendig, daß diese Welt von etwas ein Abbild sei. Das Wichtigste aber ist, bei allem von einem naturgemäßen Anfange auszugehen. So nun muß man sich in Hinsicht auf das Abbild und sein Vorbild erklären, daß jeweils die Reden, wessen Ausleger sie sind, eben dem auch verwandt sind. Die Aussagen von dem Beharrlichen, Gewissen, der Vernunft Offenbaren müssen beharrlich und unveränderlich sein — soweit möglich ist und es Reden zukommt, unwiderlegbar und unerschütterlich zu sein, daran dürfen sie nichts fehlen lassen; die aber von dem jenem Nachgebildeten, welches ein Abbild ist, die müssen wahrscheinlich sein und im Verhältnis zu jenen stehen; denn wie das Sein zum Werden, so verhält sich die Wahrheit zum Glauben. Wundere dich also nicht, o Sokrates, wenn wir in vielen Dingen über vieles, wie die Götter und die Entstehung des Weltalls, nicht imstande sind, durchaus und durchgängig mit sich selbst übereinstimmende und genau bestimmte Aussagen aufzustellen. Ihr müßt vielmehr zufrieden sein, wenn wir sie so wahrscheinlich wie irgendein anderer geben, wohl eingedenk, daß mir, dem Aussagenden, und euch, meinen Richtern, eine menschliche Natur zuteil ward, so daß es uns geziemt, indem wir die wahrscheinliche Rede über diese Gegenstände annehmen, bei unseren Untersuchungen diese Grenze nicht zu überschreiten.

SOKRATES: Sehr gut, Timaios, das müssen wir durchaus, wie du begehrst, annehmen. Dein Vorspiel hat also unbedingt unsern Beifall, fahre nun in deinem Gesange fort und führe ihn hinaus.

Grund der Schöpfung und Vorbild der Welt. Ihre Einzigkeit
TIMAIOS: Geben wir denn an, welcher Grund den Ordner alles Entstehens und dieses Weltganzen, es zu ordnen, bestimmte. Er war gut; im Guten aber erwächst niemals und in keiner Beziehung Mißgunst. Dieser fern wollte er, daß alles ihm selbst möglichst ähnlich werde. (30 a) Mit dem größten Rechte möchte jemand wohl der Rede weiser Männer, die das für den hauptsächlichsten Ursprung des Entstehens und der Welt erklären, Glauben beimessen. Indem nämlich Gott wollte, daß alles gut und, soviel wie möglich, nichts schlecht sei, brachte er, da er alles Sichtbare nicht in Ruhe, sondern in ungehöriger und ordnungsloser Bewegung vorfand, dasselbe aus der Unordnung zur Ordnung, da ihm diese durchaus besser schien als jene. Aber dem Besten war es weder, noch ist es ihm gestattet, etwas anderes als das Schönste zu tun; indem er also von dem seiner Natur nach Sichtbaren den Schluß machte, fand er, daß nichts des Denkvermögens Entbehrendes als Ganzes je schöner sein werde als das mit Vernunft Begabte als Ganzes, daß aber unmöglich ohne Seele etwas der Vernunft teilhaftig werden könne. Von diesem Schlusse bewogen, verlieh er der Seele Vernunft und dem Körper die Seele und gestaltete daraus das Weltall, um so das seiner Natur nach schönste und beste Werk zu vollenden.

So also sei, müssen wir der Wahrscheinlichkeit nach annehmen, durch Gottes Fürsorge diese Welt als ein beseeltes und in Wahrheit mit Vernunft begabtes Lebendes entstanden. Dies angenommen, müssen wir nun ferner angeben, welchem Lebenden ähnlich der Ordner es ordnete. Keinem seiner Natur nach unter dem Begriffe des Teiles Befaßten wollen wir diesen Vorzug zuerkennen; denn nimmer möchte wohl etwas einem Unvollkommenen Ähnliches zu einem Schönen werden; wir wollen vielmehr annehmen, daß es vor allem dem am ähnlichsten sei, dessen Teil alles Lebende einzeln und seinen Gattungen nach ist; denn jenes umfaßt und schließt alles denkbare Lebende in sich, wie dieses Weltall uns und alle außer uns sichtbaren Geschöpfe. Indem er es also dem schönsten unter allem Gedachten und in jeder Beziehung Vollkommenen möglichst ähnlich zu machen beabsichtigte, ordnete er es an als ein sichtbares Lebendes, welches alles von Natur ihm verwandte Lebende in sich faßt.

(31 a) Haben wir also mit Recht von einem Himmel gesprochen, oder war es richtiger, von vielen und unendlichen zu reden? Von einem, soll er nach seinem Vorbilde auferbaut sein; denn was da alle denkbaren Lebewesen umfaßt, dürfte wohl nimmer als Zweites neben einem andern sein. Ein anderes Lebendes müßte ja dann wieder jene beiden einschließen, wovon sie ein Teil wären, und man würde nicht sagen, daß die Welt nach jener beiden, sondern richtiger, daß sie nach dieses, des Umschließenden, Ähnlichkeit gestaltet sei. Daß mit diese nun als ein Alleiniges dem durchaus vollkommenen Lebenden ähnlich sei, darum gestaltete ihr Urheber weder zwei noch unendliche Welten, sondern dieser Himmel ward als ein alleiniger und eingeborener und wird es ferner sein.

Der Leib der Welt. Grund seines Bestehens aus vier Bestandteilen und seiner Kugelgestalt
Das Gewordene muß aber ein Körperliches, ein Sichtbares und Betastbares sein. Nun dürfte wohl nichts je ohne Feuer sichtbar noch ohne ein Festes betastbar werden, Festes aber nicht ohne Erde. Daher schuf der Gott, als er den Leib des Alls zusammenzusetzen begann, ihn aus Feuer und Erde. Nur zwei Bestandteile aber ohne einen dritten wohl zu verbinden, ist nicht möglich; denn inmitten beider muß ein beide verknüpfendes Band entstehen. Das schönste aller Bänder ist nun das, welches das Verbundene und sich selbst soviel wie möglich zu einem macht; das aber vermag seiner Natur nach am besten ein gegenseitiges Verhältnis zu bewirken. (32 a) Wenn sich nämlich von irgendwelchen drei Zahlen oder Massen oder Flächen die mittlere zur letzten wie die erste zu ihr sich verhält, und so auch die letzte zur mittleren wie diese zur ersten, so folgt, indem die mittlere zur ersten und letzten wird und die letzte und erste beide zu mittleren, daraus notwendig, daß alle dieselben seien, indem sie aber untereinander zu demselben werden, daß alle eins sein werden. Sollte nun der Leib des Weltganzen zu einer keine Tiefe habenden Fläche werden, dann wäre ein Vermittelndes ausreichend, sich selbst und das ihm Zugehörige zu verbinden. Nun aber kam es ihm zu, zu einem Festen zu werden, das Feste aber verbinden nicht ein, sondern immer zwei Mittelglieder; demnach also, indem der Gott inmitten zwischen Feuer und Erde Wasser und Luft einfügte und sie zueinander soviel wie möglich in demselben Verhältnis schuf, nämlich wie Feuer zur Luft, so Luft zum Wasser, und wie Luft zum Wasser, so Wasser zur Erde, verknüpfte und gestaltete er so den sichtbaren und greifbaren Himmel. Und deswegen ward aus diesen und derartigen, der Zahl nach vierfachen Bestandteilen der Leib des Weltganzen erzeugt als durch das Verhältnis übereinstimmend, und er erlangte Befreundetheit aus diesen, so daß er, mit sich selbst zu demselben vereint, für jeden andern mit Ausnahme dessen, welcher ihn verknüpfte, unauflöslich war.

Von diesen vieren aber hat das Weltgefüge jedes einzelne ganz in sich aufgenommen. Aus dem gesamten Feuer, Wasser, Luft und Erde fügte es nämlich derjenige, welcher es zusammenfügte, zusammen, ohne außerhalb desselben einen Teil oder die Kraft irgendeines jener zurückzulassen, in der Absicht, daß erstens ganz, so sehr möglich, das vollkommene Lebende sei und aus vollkommenen Teilen bestehend und außerdem ein Eines (33 a), da ja nichts übriggelassen war, woraus ein anderes der Art gebildet werden konnte, sowie ferner, damit es unalternd und keinem Siechtum unterworfen sei, indem er erwog, daß Warmes und Kaltes und alles, was eine große Kraft übt, wenn es auf einen zusammengesetzten Körper, von außen ihn umgebend, zur Unzeit einwirkt, ihn auflöst und durch Herbeiführung von Alter und Krankheiten untergehen läßt. Aus diesem Grunde und durch solche Schlüsse bestimmt, gestaltete er es aus lauter Ganzen als ein vollkommenes, nie alterndes noch erkrankendes Ganzes und verlieh ihm die ihm angemessene und verwandte Gestalt. Dem Lebenden aber, das bestimmt war, alles Lebende in sich zu umfassen, dürfte wohl die Gestalt angemessen sein, welche alle irgend vorhandenen Gestalten in sich schließt; darum verlieh er ihm die kugelige, vom Mittelpunkte aus nach allen Endpunkten gleich weit abstehende kreisförmige Gestalt, die vollkommenste und sich selbst ähnlichste aller Gestalten, indem er das Gleichartige für unendlich schöner ansah als das Ungleichartige. Die Außenseite gestaltete er aber aus vielen Gründen ringsum vollkommen glatt. Bedurfte es doch nicht der Augen, denn außerhalb war nichts Sichtbares, nicht der Ohren, denn auch nichts Hörbares war geblieben; auch keine des Einatmens fähige Luft umgab es; ebensowenig war es eines Werkzeuges bedürftig, die Nahrung in sich aufzunehmen und, nachdem es dieselbe zuvor verarbeitete, sie wieder fortzuschaffen. Denn nirgendwärtsher fand ein Zugang oder Abgang statt, war doch nichts vorhanden, sondern ein Sichselbstverzehren gewährt der Welt ihre Nahrung; sie ist kunstvoll so gestaltet, daß sie alles in sich und durch sich tut und erleidet, da ihr Bildner meinte, als sich selbst genügend werde sie besser sein als eines andern bedürftig. Auch Hände, deren sie weder um etwas zu fassen noch zur Abwehr bedurfte, ihr zwecklos anzufügen, hielt er für unnötig, desgleichen auch Füße oder überhaupt sonst etwas der zum Gehen erforderlichen Dienerschaft. (34 a) Unter den sieben Bewegungen teilte er ihr die ihrer Gestalt angemessene, dem Nachdenken und dem Verstande am meisten eigentümliche zu. Indem er sie also gleichmäßig in demselben Raume und in sich selbst herumführte, machte er sie zu einem im Kreise sich drehenden Kreise, die anderen sechs Bewegungen aber entzog er ihr insgesamt und gestattete ihnen keine störende Einwirkung; behufs dieses Umschwungs aber, der der Füße nicht bedarf, bildete er sie ohne Füße und Schenkel.

Die Zusammenfügung der Weltseele
Diese ganze Schlussfolge des immer seienden Gottes in bezug auf den sein werdenden Gott ließ ihn denselben glatt und ebenmäßig und vom Mittelpunkte aus nach allen Richtungen gleich, als ein Ganzes und einen vollkommenen, aus vollkommenen Körpern bestehenden Körper gestalten. Indem er aber seiner Mitte die Seele einpflanzte, ließ er diese das Ganze durchdringen und auch noch von außen her den Körper umgeben und bildete den einen, alleinigen, einzigen Himmel, einen im Kreise sich drehenden Kreis, vermögend, durch eigene Kraft sich selbst zu befruchten, und keines andern bedürftig, sondern sich selbst zur Genüge bekannt und befreundet; so erzeugte er ihn als einen durch dieses alles seligen Gott.

Die Seele aber ward nicht, wie wir jetzt später von ihr zu sprechen versuchen, so auch als das jüngere Erzeugnis von dem Gotte ersonnen; denn nimmer hätte er wohl gestattet, daß das Ältere von d. dem Jüngeren, mit dem er es verband, beherrscht würde, sondern wir drücken uns wohl nur so aus, wie wir gar häufig vom Zufall und dem Geratewohl abhängen; er aber gestaltete die ihrer Entstehung und ihrer Vorzüglichkeit nach frühere und ältere Seele als Gebieterin und Beherrscherin des ihr unterworfenen Körpers aus solchen Bestandteilen und auf solche Weise. (35 a) Zwischen dem unteilbaren, keinem Wechsel unterworfenen Sein und dem teilbaren, in den Körpern werdenden mischte er aus beiden eine dritte Gattung des Seins; was aber wiederum die Natur des Selben und die des Verschiedenen angeht, so stellte er auch bei diesen je eine dritte Gattung zusammen zwischen dem Unteilbaren von ihnen und dem in den Körpern Geteilten. Und diese drei nahm er und vereinte alle zu einer Gestalt, indem er die schwer vereinbare Natur des Verschiedenen gewaltsam mit der des Selben in Einklang brachte und sie mit dem Sein vermischte. Und als er aus Dreien Eines gemacht harte, teilte er dieses Ganze wieder in soviele Teile, als sich geziemte, deren jeder aus dem Selben, dem Verschiedenen und dem Sein gemischt war. Er begann aber folgende Teilung. Zuerst entnahm er einen Teil dem Ganzen, dann das Doppelte desselben, als dritten das Anderthalbmalige des zweiten, aber Dreifache des ersten, als vierten das Doppelte des zweiten, als fünften das Dreifache des dritten, als sechsten das Achtfache des ersten, als siebenten das Siebenundzwanzigfache des ersten; (36 a) darauf füllte er die zweifachen und dreifachen Abstände dadurch aus, daß er noch mehr Teile abschnitt und sie zwischen dieselben stellte, so daß sich zwischen jedem Abstande zwei Mittelglieder befanden, deren eines um denselben Teil der äußeren das eine äußere übertraf, um welchen es von den andern übertroffen wurde, das andere dagegen um die gleiche Zahl das eine übertraf und dem andern nachstand; da nun durch diese Verknüpfungen zwischen den ersten Abständen anderthalb-, vierdrittel- und neunachtelmalige Abstände entstanden, füllte er mit dem neunachtelmaligen Abstände alle vierdritteligen aus, indem er von jedem derselben einen Teil zurückließ. Das Zahlenverhältnis des von diesem Abstande zurückgebliebenen. Teiles aber verhielt sich wie zweihundertsechsundfünfzig zu zweihundertdreiundvierzig, und so war also die Mischung, von der er diese Teile abgeschnitten hatte, bereits ganz verwendet. Indem er nun diese gesamte Zusammenfügung der Länge nach zweifach spaltete, die Mitte der einen an die der andern in der Gestalt eines Chi (X) fügte, bog er sie zusammen und verband sie durch einen Kreis in eins, jede nämlich der Stelle des (ersten) Zusammentreffens gegenüber mit sich selbst und mit der andern, umschloß sie rings durch die gleichförmige und in einem Raume kreisende Bewegung und führte den einen der Kreise von innen anderen von außen herum. Die äußere Bewegung sollte, gebot er, der Natur des Selben, die innere aber der des Verschiedenen angehören. Die des Selben führte er längs der Seite rechts herum, die des Verschiedenen der Diagonale nach links. Doch das Übergewicht verlieh er der Umkreisung des Selben und Ähnlichem; denn sie allein ließ er ungespalten, die innere dagegen spaltete er sechsmal in sieben ungleiche Kreise; jede nach den Abständen des Zwei- und Dreifachen, deren je drei sind, und gebot den Kreisen, einander entgegen zu rollen, dreien nämlich mit ähnlicher, den vier übrigen aber mit einer unter sich selbst und jenen dreien unähnlichen, aber verhältnismäßigen Schnelligkeit.

Das Erkennen der Seele
Als nun die ganze Zusammenfügung der Seele der Weisheit des Zusammenfügenden gemäß gediehen war, gestaltete er darauf alles Körperliche innerhalb derselben und brachte es, die Mitte der Mitte verbindend, mit ihr in Einklang. Indem sie aber von der Mitte aus bis zum äußersten Himmel überall hineinverflochten war und von außen ringsum diesen umschließend selbst in sich selber kreiste, begann ihr der göttliche Anfang eines endlosen und vernünftigen Lebens für alle Zeit. Und der Leib des Himmels ward ein sichtbarer, die Seele aber unsichtbar, doch des Denkens und des Einklanges teilhaftig, (37 a) indem der Beste alles Denkbaren und immer Seienden zum Besten alles Gewordenen sie werden ließ. Da sie nun aus den drei Bestandteilen des Selben, des Verschiedenen und des Seins nach verhältnismäßiger Verteilung und Verknüpfung also gemischt ist und ihre Kreise um sich selber beschreibt, sagt sie sich, im ganzen Umkreis ihrer Bewegung — ob sie nun einem Gegenstand von teilbarem oder unteilbarem Sein sich zuwende und mit wem auch immer er dasselbe sein mag oder wovon auch immer verschieden -, in welcher Beziehung eigentlich und in welcher Weise und wie und wann es zutrifft, daß der Gegenstand im Bereiche des Werdenden in Hinsicht auf etwas jedes ist und annimmt oder in Hinsicht auf das, was sich immer auf gleiche Weise verhält. Wenn nun diese Rede, ebenso wahr, ob sie dem Verschiedenen oder dem Selben sich zuwende, indem sie in dem sich selbst Bewegenden laut- und geräuschlos sich erhebt, auf das sinnlich Wahrnehmbare sich erstreckt und des Verschiedenen richtiger Kreislauf der ganzen Seele davon Kunde gibt, dann erzeugen sich zuverlässige und richtige Meinungen und Annahmen; wendet sie sich dagegen dem Denkbaren zu und bringt es des Selben beweglicher Kreislauf zu ihrer Kunde, dann gedeiht notwendig Vernunft und Wissen zur Vollendung. Behauptete aber jemand, daß dieses beides in etwas anderem als in der Seele sich erzeuge, dann trifft seine Behauptung mehr mit irgend etwas anderem als mit der Wahrheit zusammen.

Erschaffung der Zeit als bewegliches Abbild der Unvergänglichkeit
Als nun der Vater, der es erzeugte, in dem Weltganzen, indem er es in Bewegung und vom Leben durchdrungen sah, ein Schmuckstück für die ewigen Götter erblickte, ergötzte es ihn, und erfreut sann er darauf, seinem Urbilde es noch ähnlicher zu gestalten. Gleich wie nun dieses selbst ein unvergänglich Lebendes ist, versuchte er auch dieses Weltganze soviel wie möglich zu einem solchen zu vollenden. Da nun die Natur dieses Lebenden aber eine unvergängliche ist, diese Eigenschaft jedoch dem Erzeugten vollkommen zu verleihen unmöglich war: so sann er darauf, ein bewegliches Bild der Unvergänglichkeit zu gestalten, und machte, dabei zugleich den Himmel ordnend, dasjenige, dem wir den Namen Zeit beigelegt haben, zu einem in Zahlen fortschreitenden unvergänglichen Bilde der in dem Einen verharrenden Unendlichkeit. Da es nämlich, bevor der Himmel entstand, keine Tage und Nächte, keine Monate und Jahre gab, so ließ er damals, indem er jenen zusammenfügte, diese mit entstehen; diese aber sind insgesamt Teile der Zeit, und das <war> und <wird sein> sind gewordene Formen der Zeit, die wir, uns selbst unbewußt, unrichtig auf das unvergängliche Sein übertragen. Denn wir sagen doch: Es war, ist und wird sein; der richtigen Ausdrucksweise zufolge kommt aber jenem nur das <ist> zu,(38 a) das <war> und <wird sein> ziemt sich dagegen nur von dem in der Zeit fortschreitenden Werden zu sagen; sind es doch Bewegungen; dem stets sich selbst gleich und unbeweglich Verharrenden aber kommt es nicht zu, durch die Zeit jünger oder älter zu werden, noch irgend einmal geworden zu sein oder es jetzt zu sein oder in Zukunft zu werden, und überhaupt nichts, was das Werden dem in Sinneswahrnehmung Beweglichen anknüpfte; vielmehr sind diese entstanden als Begriffe der die Unvergänglichkeit nachbildenden und nach Zahlenverhältnissen Kreisläufe beschreibenden Zeit. Außerdem aber bedienen wir uns auch noch folgender Ausdrücke: Das Gewordene sei ein Gewordenes, das Werdende sei ein Werdendes und das zu werden Bestimmte sei ein zu werden Bestimmtes sowie das Nichtseiende sei ein Nichtseiendes, aber keiner derselben ist vollkommen genau. Darüber gegenwärtig in genauere Erörterungen uns einzulassen, dürfte aber wohl nicht an der Zeit sein.
Aus: Platon, Sämtliche Werke 4, Politikos, Philebos, Timaios, Kritias (S.153-161 Timaios) In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung,
herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 47


Die Bedeutung der platonischen Körper bei der Weltentstehung Timaios 53a - 58a
Zustand des Raumes und der Grundstoffe vor Erschaffung der Welt
Dies also werde als nach meinem Urteil berechnete Aussage zusammenfassend gegeben: Seiendes, Raum und Werden waren, bevor noch der Himmel entstand, als drei in dreifacher Weise. Die Amme des Werdens aber stelle sich, zu Wasser und Feuer werdend und indem sie die Gestaltungen der Erde und Luft in sich aufnimmt sowie die anderen damit verbundenen Zustände erfährt, als ein allgestaltig Anzuschauendes dar; da sie aber weder mit ähnlichen noch mit im Gleichgewicht stehenden Kräften angefüllt wurde, befindet sich nichts an ihr im Gleichgewicht, sondern als überall ungleichmäßig schwebend wird sie selbst durch jene erschüttert und erschüttert, in Bewegung gesetzt, umgekehrt jene. Die in Bewegung gesetzten Grundstoffe aber zerstreuen sich, von einander geschieden, dahin und dorthin, gleichwie das in Körben und anderen Reinigungsgeräten des Getreides Gerüttelte und Ausgeworfelte, wo das Dichte und Schwere nach einer andern Stelle fällt, an einer anderen aber das Lockere und Leichte sich niederläßt; (53 a) ebenso wurden damals die vier Gattungen von der Aufnehmenden geschüttelt, die selbst bewegt wurde, wie ein Werkzeug zum Erschüttern, und trennten selbst das Unähnlichste am weitesten voneinander und drängten das Ähnlichste am meisten in eins zusammen. Darum haben auch die verschiedenen Gattungen verschiedene Stellen eingenommen, bevor aus ihnen das Weltganze geordnet hervorging. Ehe das aber geschah, sei alles dies ohne Maß und Verhältnis gewesen; als jedoch Gott das Ganze zu ordnen unternahm, haben sich anfangs Feuer, Wasser, Luft und Erde, die aber bereits gewisse Spuren von sich selbst besaßen, durchaus in einem Zustande befunden, wie er bei allem, über welches kein Gott waltet, sich erwarten läßt. Diese von Natur also Beschaffenen formte zunächst Gott durch Gestaltungen und Zahlen. Daß er aus einem nicht so beschaffenen Zustande auf das möglichst schönste und beste sie zusammenfügte, diese Behauptung stehe uns durchgängig in allem fest. Jetzt aber müssen wir es versuchen, die Anordnung und das Entstehen der einzelnen in ungewöhnlicher Darstellung zu verdeutlichen; da ihr jedoch der durch Unterweisung eröffneten Wege kundig seid, die wir bei Nachweisung unserer Ansichten einzuschlagen genötigt sind, so werdet ihr schon folgen.

Die Entstehung der vier ursprünglichen Körper aus dem Zusammentreten der zwei schönsten Dreiecke
Daß nun erstens Feuer, Erde, Wasser und Luft Körper sind, das sieht wohl jeder ein; aber jede Gattung von Körpern hat auch Tiefe, und es ist ferner durchaus notwendig, daß die Tiefe das Wesen der Fläche um sich herum hat, die rechtwinklige Fläche aber besteht aus Dreiecken. Alle Dreiecke nun gehen von zweien aus, deren jedes einen rechten und sonst spitze Winkel hat; das eine von beiden hat zu beiden Seiten die Hälfte eines rechten Winkels, der durch gleiche Seiten eingefaßt wird, das andere aber ungleiche Teile eines rechten Winkels, der an ungleiche Seiten ausgeteilt ist. Das also nehmen wir, indem wir den Weg, der sich uns als mit Notwendigkeit verbunden und zugleich wahrscheinlich zeigt, einschlagen, als den Anfang des Feuers und der übrigen Körper an; die noch weiter zurückgehenden Anfänge dieser aber kennt nur Gott und wer unter den Menschen sich seiner Huld erfreut. Angeben müssen wir aber, wie wohl die vier schönsten Körper entstanden, unähnlich zwar unter sich, von denen aber manche durch Auflösung aus einander zu entstehen vermögen. Gelang uns das, dann erfassen wir die Wahrheit über das Entstehen der Erde und des Feuers und der ihrem Verhältnisse nach die Mittelstellen einnehmenden; denn das werden wir niemandem einräumen, daß es, wenn jeder von diesen Körpern als eine eigene Gattung besteht, schönere sichtbare gebe als sie. Dahin also müssen wir streben, die durch ihre Schönheit ausgezeichneten vier Gattungen der Körper zusammenzufügen, dann können wir behaupten, daß wir ihre Natur zur Genüge erfaßten.

(54 a) Von den beiden Dreiecken hat nun das gleichschenklige nur eine Art, das ungleichseitige aber unzählige. Von diesen zahllosen müssen wir nun ferner das schönste auswählen, wenn wir in folgerechter Weise beginnen wollen. Weiß aber jemand ein für die Zusammensetzung dieser Körper schöneres auszuwählen und anzugeben, den begrüßen wir nicht als Gegner, sondern als einen das Rechte behauptenden Freund. Wir nehmen also, mit Übergehung der übrigen von den vielen Dreiecken eins als das schönste an, aus welchem drittens das gleichseitige entstand, weshalb, das erheischt eine ausführlichere Darlegung; der Kampfpreis desjenigen aber, welcher das gründlich widerlegt und entdeckt, daß es nicht so sich verhalte, sei unsere Freundschaft. Zwei Dreiecken sei denn der Vorzug zuerkannt, aus welchen die Körper des Feuers und der übrigen Grundstoffe zusammengefügt sind, dem gleichschenkligen und demjenigen, in welchem stets das Quadrat der größeren Seite das dreifache des der kleineren ist. Aber das früher undeutlich Ausgesprochene müssen wir jetzt genauer bestimmen. Alle vier Gattungen nämlich schienen durch einander hindurch ineinander das Entstehen zu haben, doch dieser Anschein war nicht richtig. Denn aus den Dreiecken, die wir auswählten, entstehen vier Gattungen; drei derselben aus dem einen, welches ungleiche Seiten hat; aber die vierte allein ist aus dem gleichseitigen Dreieck zusammengefügt. Bei allen ist es also nicht möglich, daß durch Auflösung ineinander aus vielen kleinen wenige große und umgekehrt entstehen, bei dreien aber ist es tunlich, denn alle sind aus einem entstanden; werden aber die größeren aufgelöst, so werden aus ihnen viele kleine entstehen, indem sie die ihnen zukommenden Gestalten annehmen; wenn dagegen viele kleine nach Dreiecken gesondert werden, dann dürfte eine Zahl eine andere große Gestaltung eines Umfangs bilden.

Soviel über den Übergang der einen in die andere. Zunächst dürfte wohl zu erklären sein, wie jede einzelne Gattung und aus wievieler Zahlen Zusammentreffen sie entstand.

Den Anfang soll die erste, in ihrer Zusammensetzung kleinste Gestaltung machen; das ihr zugrunde liegende Dreieck ist das, dessen Hypotenuse die kleinere Kathete um das Doppelte übertrifft. Werden je zwei dergleichen mit den Hypotenusen aneinandergelegt und das dreimal wiederholt, indem die Dreiecke mit den Hypotenusen und den kürzeren Katheten in einem Punkte zusammentreffen, so entsteht aus der Zahl nach sechs Dreiecken ein gleichseitiges. Vier zusammengefügte, gleichseitige Dreiecke bilden durch je drei ebene Winkel einen körperlichen, welcher dem stumpfesten unter den ebenen am nächsten kommt. (55 a) Durch die Bildung vier solcher Winkel entstand der erste feste Körper, vermittels dessen die ganze [um ihn beschriebene] Kugel in gleiche und ähnliche Teile zerlegbar ist.

Der zweite Körper entsteht aus denselben Dreiecken, welche zu acht gleichseitigen sich verbinden und aus vier ebenen einen körperlichen Winkel bilden; nachdem aber dergleichen sechs entstanden sind, erhält auch der zweite Körper seine Vollendung.

Der dritte entstand aus der Zusammenfügung von zwei mal sechzig Grunddreiecken und zwölf körperlichen Winkeln, deren jeder von fünf gleichseitigen ebenen Dreiecken eingeschlossen ist, während er zwanzig gleichseitige Dreiecke zu Grundflächen hat. Und nach Erzeugung dieser Körper hat das eine der beiden Dreiecke seine Dienste getan,

das gleichschenklige aber ließ die Natur des vierten entstehen, indem es, zu vieren sich vereinigend und die rechten Winkel im Mittelpunkt zusammenführend, ein gleichseitiges Viereck bildete; sechs dergleichen verbanden sich zu acht körperlichen Winkeln, deren jeden drei rechtwinklige Ebenen einschlossen. Die Gestalt des so entstandenen Körpers ist die des Würfels, der sechs gleichseitige, viereckige Grundflächen hat.

Da aber noch eine, die fünfte Zusammenfügung übrig war, so benutzte Gott diese für das Weltganze, indem er Figuren darauf anbrachte.

Möglichkeit von fünf Welten? Verteilung der ursprünglichen Körper an die vier Grundstoffe
Sollte nun jemand, wenn er das alles sorgfältig erwägt, in Zweifel sein, ob man eine unbeschränkte oder beschränkte Zahl von Welten anzunehmen habe, dann würde er wohl die Annahme einer unbeschränkten für die Meinung eines darin, worin keine Beschränkung stattfinden sollte, wirklich beschränkten Geistes ansehen; ob es aber angemessen sei, zu sagen, daß es von Natur in Wahrheit eine oder daß es deren fünf gebe, das ließe sich von diesem Standpunkte aus mit größerem Fug in Zweifel ziehen. Nach unserer Ansicht stellt es sich heraus, daß sie der Wahrscheinlichkeit zufolge von Natur nur ein Gott ist; ein anderer aber wird, indem er auf irgend etwas anderes sein Augenmerk richtet, einer anderen Meinung sein.

Doch ihn müssen wir gehen lassen; jetzt aber wollen wir die unserer Rede zufolge entstandenen Gattungen in Feuer, Erde, Wasser und Luft teilen. Der Erde wollen wir die Würfelgestalt zuweisen, denn die Erde ist von den vier Gattungen die unbeweglichste und unter den Körpern der bildsamste; dazu muß aber notwendig derjenige werden, welcher die festesten Grundflächen hat. Nun ist die aus den anfänglich zugrunde gelegten Dreiecken zusammengefügte Grundfläche ihrer Natur nach bei gleichen Seiten fester als bei un¬gleichen und die aus beiden zusammengesetzte gleichseitige Fläche notwendig, in ihren Teilen und im ganzen, vierseitig feststehender als dreiseitig. (56 a) Darum bleiben wir der Annahme des Wahrscheinlichen treu, indem wir das der Erde zuteilen, dem Wasser dagegen die unter den übrigen am mindesten bewegliche Gattung, die beweglichste dem Feuer, die dazwischenliegende der Luft; weiter den kleinsten Körper dem Feuer, den größten dem Wasser, den mittleren der Luft; die schärfste Spitze ferner dem Feuer, die zweite dem Wasser, die dritte der Luft. Bei diesen allen muß also dasjenige, welches die wenigsten Grundflächen hat, von Natur das beweglichste sein, in¬dem es allerwärtshin das schneidendste und schärfste von allen ist sowie auch das leichteste, da es aus den wenigsten gleichförmigen Teilen besteht; das zweite muß in denselben Beziehungen die zweite, das dritte die dritte Stelle einnehmen. Es gelte uns aber, der richtigen sowie auch wahrscheinlichen Ansicht zufolge, der Körper, welcher zur Pyramide sich gestaltete, für den Grundbestandteil und den Samen des Feuers; den seinem Entstehen nach zweiten Körper wollen wir für den der Luft, den dritten für den des Wassers erklären. Das alles aber müssen wir so klein denken, daß jedes Einzelne jeder Gattung seiner Kleinheit wegen von uns nicht gesehen wird, sondern daß wir nur die Massen vieler zusammengehäufter erblicken; und so auch, daß Gott allerwärts die Verhältnisse der Mengen, der Bewegungen und übrigen Kräfte, insofern es die Natur der Notwendigkeit willig und gehorsam gestattete — daß er so vollständig alles auf das genaueste ordnete und zu verhältnismäßiger Übereinstimmung führte.

Der Übergang der Grundstoffe ineinander
Nach allem nun, was wir über die Gattungen bereits bemerkt haben, möchte es wohl der Wahrscheinlichkeit nach folgendergestalt sich verhalten. Es dürfte die Erde, trifft sie mit dem Feuer zusammen, durch dessen Schärfe aufgelöst umhergetrieben werden — ob sie nun im Feuer selbst aufgelöst wird oder in einer Masse von Luft oder Wasser sich befindet —, bis etwa ihre Teile irgendwo zusammentreffen und wieder unter sich selbst verbunden zur Erde werden; denn in eine andere Gattung dürfte diese wohl nicht übergehen. Das durch das Feuer oder auch die Luft zerteilte Wasser aber kann, wieder vereinigt, zu einem feurigen und zwei luftigen Körpern sich gestalten. Bei der Luftzerteilung ferner dürften wohl aus einem aufgelösten Teile zwei feurige Körper sich bilden; und umgekehrt, wenn Feuer, von Luft, Wasser und manchen erdigen Bestandteilen, das spärliche von vielen umgeben, von dem Umhergetriebenen in Bewegung gesetzt, gegen sie ankämpfend und unterliegend, zerfliegt, dann vereinigen sich zwei feurige Körper zu einer Luftgestalt. Unterliegt aber die Luft und wird sie zersetzt, dann wird aus zwei und einem halben Teile derselben ein vollständiger Wasserkörper zusammengepreßt.

Wir wollen sie nämlich wiederum folgenden Betrachtungen unterwerfen. Wenn von den anderen Gattungen eine, vom Feuer umgeben, durch die Schärfe der Winkel und Kanten desselben zerschnitten wird (57 a), so hört dieses Zerschneiden auf, sobald sie in die Natur des Feuers übergeht; denn jede ähnliche und sich selbst gleiche Gattung kann weder auf die ihr selbst gleiche und ähnliche einwirken noch von der in solchem Zustande befindlichen etwas erleiden. Solange aber das Schwächere mit dem Stärkeren beim Übergange in ein anderes ringt, hört es nicht auf, sich aufzulösen. Ist dagegen das Kleinere vom Größeren, das Wenige von dem Vielen umgeben und verlischt durch Zersetzung, dann hört es zu verlöschen auf, wenn es mit der Gestalt des Überlegenen sich verbinden will, und aus Feuer wird Luft, aus Luft Wasser; geht es aber in diese letzteren über und kämpft gegen dasselbe eine der anderen, mit jener zusammengeratende Gattung, dann läßt es nicht ab sich aufzulösen, bis es entweder, völlig ausgestoßen und aufgelöst, zu dem Verwandten sich flüchtet oder bis, besiegt, aus Vielem ein dem Obsiegenden Ähnliches wird und mit ihm an derselben Stelle verharrt. Bei solchen Einwirkungen nämlich vertauscht gewiß alles seine Stelle; denn die Masse jeder einzelnen Gattung tritt auseinander zu seiner eigenen Stelle vermöge der Bewegung der Aufnehmenden, und das jedesmal sich selbst unähnlich, anderem aber ähnlich Gewordene wird durch die Erschütterung nach der Stelle desjenigen hingetrieben, dessen Ähnlichkeit es annahm.

Durch solche Vorgänge also erfolgte die Bildung der einfachen und ersten Körper; daß sich aber in ihren Gestaltungen von Natur verschiedene Gattungen herausstellten, davon ist die Ursache auf die Zusammensetzung jeder der beiden Grundformen zurückzuführen, indem anfangs beide Zusammensetzungen nicht bloß ein Dreieck von einer Größe erzeugen, sondern größere und kleinere, deren Anzahl den Gattungen gleichkommt, in welche die Gestaltungen zerfallen. Darum ist die Mannigfaltigkeit ihrer Mischungen unter sich und untereinander eine unendliche, welcher diejenigen nachforschen müssen, welche eine wahrscheinliche Darstellung der Natur zu geben beabsichtigen.

Erklärung der immerwährenden Bewegung der Körper
Verständigt sich also jemand nicht, in welcher Weise und in welchen Verbindungen Bewegung und Stillstand erfolgen, so dürfte das wohl der weiteren Untersuchung vielfach hinderlich sein. Nun wurde darüber bereits einiges gesagt, dem wir noch das hinzufügen, daß bei Gleichartigkeit nimmerdar ein Streben zur Bewegung stattfinde: denn daß ein zu Bewegendes ohne ein Bewegendes da ist oder ein Bewegendes ohne ein zu Bewegendes, ist schwierig oder vielmehr unmöglich; wo nun diese fehlen, da tritt keine Bewegung ein, daß sie jedoch gleichartig seien, ist nicht möglich. Demnach wollen wir stets den Stillstand der Gleichartigkeit, die Bewegung aber der Ungleichartigkeit zuschreiben. (58 a) Das Wesen der Ungleichartigkeit hat aber in der Ungleichheit seinen Grund. Die Entstehung der Ungleichheit haben wir bereits entwickelt; doch wie es wohl kommt, daß nicht alle als gänzlich nach Gattungen geschieden aufhören mit der Bewegung durch einander und der Ortsveränderung, das erläuterten wir noch nicht. Darauf also zurückkommend wollen wir das so erklären. Der Umfang des Alls, nachdem er einmal die verschiedenen Gattungen in sich zusammenfaßte, drängt, da er kreisförmig ist und von Natur das Bestreben hat, in sich selbst zurückzukehren, alles zusammen und gestattet nicht, daß ein leerer Raum übrigbleibe. Darum durchdringt vor allem das Feuer alles, zweitens die Luft, als das an Feinheit zweite, und das übrige in demselben Verhältnisse; denn das aus den größten Bestandteilen Entstandene läßt bei der Zusammensetzung die größten Zwischenräume, das aus den klein¬sten aber die kleinsten. Das verdichtende Zusammentreffen drängt nämlich die kleinen in die Zwischenräume der großen zusammen. Befinden sich nun die kleinen neben den großen und zertrennen die kleineren die größeren, während die größeren jene zusammenbrin¬gen, dann wird alles nach hierhin und dorthin, jedes nach seiner Stelle, getrieben; denn die Veränderung der Größe eines jeden hat auch eine Veränderung seiner Stelle zur Folge. So bewirkt demnach die fortwährend bewahrte Erzeugung der Ungleichartigkeit die nie, weder jetzt noch in Zukunft, unterbrochene Bewegung der Körper.
Aus: Platon, Sämtliche Werke 4, Politikos, Philebos, Timaios, Kritias (S.174-180 Timaios) In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung,
herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 47


Bewegung ist die Ursache von allem Sein und Werden
Theaitetos 153a - 158a
SOKRATES: Ich will es dir sagen, es ist gar keine schlechte Rede, daß nämlich gar nichts ein an und für sich Bestimmtes ist, und daß du keinem Dinge mit Recht welche Eigenschaft auch immer beilegen kannst, vielmehr wenn du etwas groß nennst, wird es sich auch klein zeigen, und wenn schwer, auch leicht, und so gleicherweise in allem, daß eben nichts weder ein Gewesenes ist noch auch irgendwie beschaffen; sondern durch Bewegung und Veränderung und Vermischung alles untereinander nur wird, wovon wir sagen, daß es ist, nicht richtig bezeichnend; denn niemals ist eigentlich irgend etwas, sondern immer nur wird es. Und hierüber mögen denn der Reihe nach alle Weisen, den Parmenides ausgenommen, einig sein, Protagoras sowohl als Herakleitos und Empedokles und so auch von den Dichtern, die Anführer von beiden Dichtungsarten, Epicharmos der komischen, und der tragischen, Homeros; denn wenn dieser sagt: Daß ich den Vater Okeanos schau und Tethys die Mutter, will er andeuten, daß alles entsprungen ist aus dem Fluß und der Bewegung. Oder scheint er dir nicht dieses zu meinen?

THEAITETOS: Allerdings auch mir.

Weitere Stützen des Satzes : die Bewegung als Ursache von allem Sein und Werden

SOKRATES: Wer dürfte nun wohl gegen ein solches (153a) Heer und seinen Anführer Homeros etwas bestreiten, ohne sich lächerlich zu machen?

THEAITETOS: Leicht ist es nicht, o Sokrates.

SOKRATES:
Gewiß nicht, Theaitetos. Zumal auch dies noch hinlängliche Beweise sind für diese Behauptung, daß nämlich allemal was zu sein scheint und das Werden die Bewegung verursacht, das Nichtsein aber und den Untergang die Ruhe. Denn Wärme und Feuer, welche dann wieder die andern Dinge erzeugen und in Ordnung halten, werden selbst erzeugt durch Umschwung und Reibung, diese aber sind Bewegung. Oder sind dies nicht die Entstehungsarten des Feuers?

THEAITETOS: Dies sind sie freilich.

SOKRATES:
Ferner entsproßt ja auch das Geschlecht der Lebenden aus eben den Ursachen.

THEAITETOS:
Wie anders?

SOKRATES:
Und wie, der ganze Zustand des Leibes, wird er nicht durch Ruhe und Trägheit zerrüttet, durch Leibesübungen aber und Bewegungen im ganzen wohl erhalten?

THEAITETOS:
Ja.

SOKRATES:
Und der Zustand der Seele ebenso, pflegt sie nicht durch Lernen und Fleiß, welches Bewegungen sind, Kenntnisse zu erwerben und festzuhalten und so besser zu werden; durch die Ruhe aber, welche sich in Gedankenlosigkeit und Trägheit zeigt, nichts zu lernen nicht nur, sondern auch das Gelernte zu vergessen?

THEAITETOS: Ganz gewiß.

SOKRATES:
Das Gute also ist Bewegung für Seele und Leib, und umgekehrt das Gegenteil davon.

THEAITETOS: So scheint es.

SOKRATES: Soll ich dir nun auch noch die Windstillen anführen, und was dem ähnlich ist, wie überall die Ruhe Fäulnis und Zerstörung bewirkt, das Gegenteil aber Erhaltung? Und über dies alles nun noch den letzten Stein hinzutragend beweisen, daß unter der goldenen Kette Homeros nichts anders versteht als die Sonne, und also andeutet, solange der gesamte Umkreis in Bewegung ist und die Sonne, solange sei auch alles und bleibe wohlbehalten bei Göttern und Menschen, wenn aber dieses einmal wie gebunden stillstände, so würden alle Dinge untergehen, und, wie man sagt, das Unterste zu oberst gekehrt werden?

THEAITETOS: Mir, o Sokrates, scheint er das anzudeuten, was du sagst.

Anwendung des protagorischen Satzes auf die Sinneswahrnehmung. Das Problem der Größenverhältnisse
SOKRATES: Denke dir also, Bester, die Sache so, zuerst in Beziehung auf die Augen, was du weiße Farbe nennst, daß dies nicht selbst etwas Besonderes ist außerhalb deiner Augen, noch auch in deinen Augen, und daß du ihm ja keinen Ort bestimmst, denn sonst wäre es schon, wenn es bestimmt irgendwo wäre, und es beharrte, und würde nicht bloß im Entstehen.

THEAITETOS: Aber wie denn?

SOKRATES: Folgen wir nur dem eben vorgetragenen Satz, daß nichts an und für sich ein Bestimmtes ist, und es wird uns deutlich werden, daß Schwarz und Weiß und jede andere Farbe aus dem Zusammenstoßen der Augen mit der zu ihr gehörigen Bewegung entstanden ist, und was wir jedesmal Farbe nennen, wird weder das Anstoßende sein noch das (154a) Angestoßene, sondern ein dazwischen jedem besonders Entstandenes. Oder möchtest du behaupten, daß jede Farbe, eben wie sie dir erscheint, auch einem Hunde oder irgendeinem andern Tiere erscheinen werde?

THEAITETOS: Beim Zeus, das möchte ich nicht.

SOKRATES: Aber wie? Erscheint einem andern Menschen irgend etwas gerade ebenso wie dir? Bist du davon recht gewiß, oder vielmehr davon, daß etwas nicht einmal dir selbst immer als dasselbe erscheine, da du niemals ganz auf dieselbe Weise dich verhältst.

THEAITETOS: Mich dünkt dieses eher als jenes.

SOKRATES: Also wenn das Gemessene oder Berührte groß oder rot oder warm wäre, so könnte es nicht dadurch, daß es auf einen andern träfe, ein anderes werden, indem es sich selbst gar nicht veränderte. Wenn aber wiederum das Messende oder Berührende jedes von diesen wäre, so könnte es nicht, wenn ein anderer Gegenstand herankommt oder dem vorigen etwas begegnet, indem jedoch ihm selbst nichts widerfährt, dennoch ein anderes werden. Denn jetzt, Freund, werden wir genötigt, wunderbare und lächerliche Dinge getrost zu behaupten, wie Protagoras, und jeder, der dasselbe, wie er behaupten will, uns vorwerfen würde.

THEAITETOS: Wie doch, und was für Dinge meinst du?

SOKRATES: Nimm nur ein kleines Beispiel, und du wirst alles wissen, was ich meine. Sechs Bohnen, wenn du vier dagegen hältst, werden mehr sein als die vier, nämlich noch ein halbesmal soviel; wenn aber zwölf, dann weniger, nämlich die Hälfte, und man darf nicht einmal leiden, daß etwas anderes behauptet werde. Oder möchtest du es leiden?

THEAITETOS: Keineswegs ich.

SOKRATES: Wie nun, wenn dich Protagoras oder ein anderer fragte: Ist es wohl möglich, Theaitetos, daß etwas größer oder mehr werde auf eine andere Weise, als daß es zugenommen hat? Was wirst du antworten?

THEAITETOS: Wenn ich, o Sokrates, was mir in Beziehung auf diese Frage allein richtig scheint, antworten soll, so werde ich sagen, es ist nicht möglich; wenn aber in Beziehung auf die vorige, so werde ich, um mich zu hüten, daß ich nichts Widersprechendes sage, wohl antworten, es wäre gar wohl möglich.

SOKRATES: Sehr gut, Freund, bei der Here, und ganz göttlich. Jedoch wie mir scheint, wenn du antwortest, es sei möglich, wird dir jenes aus dem Euripides begegnen, es wird uns die Zunge freilich unwiderlegt sein, die Seele aber nicht unwiderlegt.

THEAITETOS: Ganz wahr.

SOKRATES: Wenn wir also von den gewaltigen Weisen wären du und ich, die schon alles durchgeprüft haben in ihrem Gemüt, so würden wir von nun an immer weiter nur zum Zeitvertreib einander versuchen und auf sophistische Art einen ebensolchen Kampf beginnen, jeder den Reden des andern mit den seinigen ausweichend. Nun wir aber nur schlichte Menschen sind, werden wir doch zuerst die Sache an sich selbst betrachten wollen, wie das wohl beschaffen ist, was wir behaupten, ob es untereinander stimmt, oder vielleicht nichts weniger als das.

THEAITETOS: Auf jede Weise würde ich meinesteils dieses letztere wollen.

Der erstaunliche Widerstreit bei Aussagen über das Sein und Werden

SOKRATES: Auch ich gewiß. Da es sich nun so verhält, können wir anders als ganz gelassen in voller Muße die Sache wieder von vorn untersuchen, ohne (155a) verdrießlich zu werden, sondern recht aufrichtig uns prüfend, was doch diese Erscheinungen uns eigentlich sind, von denen wir nun die erste untersuchen, und, wie ich wenigstens glaube, sagen werden, daß niemals irgend etwas weder mehr noch weniger werde, weder der Masse noch der Zahl nach, solange, als es sich selbst gleich ist. Nicht so?

THEAITETOS: Ja.

SOKRATES: Zweitens auch wohl, daß, wem nichts zugesetzt noch auch abgenommen wird, dieses niemals weder wachse noch schwinde, sondern immer gleich bleibe.

THEAITETOS: Ganz offenbar.

SOKRATES: Nicht auch das dritte, nämlich was vorher nicht war, daß dieses doch auch nachher unmöglich sein könne, ohne geworden zu sein und zu werden?

THEAITETOS: So scheint es freilich.

SOKRATES:
Diese drei Behauptungen nun streiten, glaube ich, in unserer Seele miteinander, wenn wir jenes von den Bohnen aussagen, oder wenn wir behaupten, daß ich, der ich diese bestimmte Größe habe, ohne weder zu wachsen, noch das Gegenteil zu erleiden binnen Jahresfrist, jetzt zwar größer bin, als du, der Jüngere, hernach aber kleiner, da doch ich von meiner Masse nichts verloren habe, sondern nur du an der deinigen gewonnen hast. Denn ich bin ja hernach, was ich vorher nicht war, ohne es geworden zu sein. Denn ohne Werden ist unmöglich Geworden zu sein, und da ich nichts von meiner Masse eingebüßt habe, wurde ich ja niemals kleiner. Und mit tausend und aber tausend Sachen verhält es sich ebenso, wenn wir dieses wollen gelten lassen. Du kommst doch wohl mit, Theaitetos? Wenigstens scheinst du mir nicht unerfahren in diesen Dingen zu sein.

THEAITETOS: Wahrlich, bei den Göttern, Sokrates, ich wundere mich ungemein, wie doch dieses wohl sein mag; ja bisweilen, wenn ich recht hineinsehe, schwindelt mir ordentlich.

Das Erstaunen als Anfang der Philosophie
SOKRATES: Theodoros, du Lieber, urteilt eben ganz richtig von deiner Natur. Denn gar sehr ist dies der Zustand eines Freundes der Weisheit, die Verwunderung; ja es gibt keinen andern Anfang der Philosophie als diesen, und wer gesagt hat, Iris sei die Tochter des Thaumas, scheint die Abstammung nicht übel getroffen zu haben. Aber hast du schon inne, wie diese Dinge, zufolge dessen was, wie wir sagen, Protagoras behauptet, sich dennoch wirklich so verhalten können, oder noch nicht?

THEAITETOS: Noch nicht recht, glaube ich.

SOKRATES:
So wirst du es mir wohl Dank wissen, wenn ich dir von der Meinung dieses Mannes oder vielmehr vieler berühmter Männer den rechten verborgenen Sinne aufspüren helfe.

THEAITETOS:
Wie sollte ich dir das nicht Dank wissen, und zwar sehr vielen.

Darstellung des wahren Sinnes der Behauptung, daß alles Bewegung ist

SOKRATES: Sieh dich aber wohl um und habe acht, daß uns nicht einer von den Uneingeweihten zuhöre. Dies sind aber die, welche von nichts anderem glaubend, daß es sei, als von dem, was sie recht herzhaft mit beiden Händen greifen können, das Handeln und das Werden, und alles Unsichtbare gar nicht mit unter dem, was ist, wollen gelten lassen.

THEAITETOS:
Das sind ja verstockte und (156a) widerspenstige Menschen, Sokrates, von denen du redest.

SOKRATES:
Jene freilich, Kind, sind sehr roh. Viel preiswürdiger aber sind diese, deren Geheimnisse ich dir jetzt mitteilen will. Der Anfang aber, an welchem auch, was wir vorhin sagten, alles hängt, ist bei ihnen der, daß alles Bewegung ist, und anderes außerdem nichts, von der Bewegung aber zwei Arten, beide der Zahl nach unendlich, deren eine ihr Wesen hat im Wirken, die andere im Leiden, und aus dem Begegnen und der Reibung dieser beiden gegeneinander entstehen Erzeugnisse, der Anzahl nach auch unendliche, je zwei aber immer Zwillinge zugleich, das Wahrnehmbare und die Wahrnehmung, die immer zugleich hervortritt und erzeugt wird mit dem Wahrnehmbaren. Die Wahrnehmungen nun führen uns Namen wie diese, Gesicht, Gehör, Geruch, Erwärmung und Erkältung, auch Lust und Unlust werden sie genannt, Begierde und Abscheu, und andere gibt es noch, unbenannte unzählbare, sehr viele auch noch benannte. Die Arten des Wahrnehmbaren aber sind je eine einer von jenen an- und miterzeugt, dem mancherlei Sehen die mancherlei Farben, dem Hören gleichermaßen die Töne, und so den übrigen Wahrnehmungen das übrige ihnen verwandte Wahrnehmbare. Was besagt uns nun diese Erzählung, Theaitetos, in Beziehung auf das Vorige? Merkst du es wohl?

THEAITETOS: Noch nicht ganz, o Sokrates.

SOKRATES: So sieh zu, ob wir es irgendwie hinausführen. Sie will nämlich sagen, daß alles dieses, wie wir auch sagten, sich bewegt. In dieser Bewegung aber findet sich Schnelligkeit und Langsamkeit. Soviel nun langsam ist, das hat seine Bewegung an demselben Ort und in Beziehung mit dem Nahen, und erzeugt auf diese Weise. Das auf diese Weise Erzeugte aber ist langsamer. Was aber schnell, das hat seine Bewegung in Beziehung mit Entfernterem und erzeugt so, und das so Erzeugte ist schneller; denn es geht im Raume fort, und in diesem Fortgehen besteht die Natur seiner Bewegung. Wenn nun ein Auge und ein solches anderes ihm Angemessenes zusammentreffen und die Röte erzeugen nebst der ihr mitgeborenen Wahrnehmung, was beides nicht wäre erzeugt worden, wenn eines von jenen beiden auf ein anderes getroffen hätte: dann wird, indem beide sich bewegen, nämlich das Sehen aufseiten der Augen, die Röte aber aufseiten des die Farbe miterzeugenden Gegenstandes, auf der einen Seite das Auge erfüllt mit der Gesichtswahrnehmung, und sieht alsdann, und ist geworden nicht eine Gesichtswahrnehmung, sondern ein sehendes Auge; auf der andern Seite wird das die Farbe Miterzeugende erfüllt mit der Röte, und ist geworden auch wiederum nicht die Röte, sondern ein Rotes, sei es nun Holz oder Stein oder welchem Dinge sonst begegnet, mit dieser Farbe gefärbt zu sein. Ebenso ist nun alles übrige, das Harte und Warme und alles andere auf dieselbe Art zu verstehen, daß es nämlich an und für sich nichts ist, wie (S157a) wir auch vorher sagten, sondern daß in dem einander Begegnen alles vielerlei wird vermöge der Bewegung. Denn auch, daß das Wirkende etwas ist, und das Leidende wiederum etwas, läßt sich an einem nicht fest und sicher bemerken; denn weder ist etwas ein Wirkendes, ehe es mit einem Leidenden zusammentrifft, noch ein Leidendes, ehe mit dem Wirkenden; ja auch, was mit dem einen zusammentreffend ein Wirkendes wird, zeigt sich, wenn es auf ein anders fällt, als ein Leidendes. So daß diesem allen zufolge, wie wir von Anfang an sagten, nichts an und für sich ein Bestimmtes ist, sondern immer nur wird für irgendein anderes, das Sein aber überall ausgestoßen werden muß, wiewohl wir es auch jetzt eben aus Gewohnheit und Ungeschicktheit gar oft und viel zu gebrauchen genötigt waren, und man darf doch nach der Rede der Weisen weder das Etwas zugeben, noch das Wessen, noch meins, noch dieses, noch jenes, noch irgendeine andere Bezeichnung, die feststeht; sondern der Natur gemäß muß man nur reden von Werdendem und Gewirktem, Vergehendem und Verändertem, so daß, wenn jemand etwas beharrlich setzt durch seine Rede, ein solcher sehr leicht zuschanden zu machen ist. So muß man sowohl von dem Einzelnen reden, als auch von dem aus Vielem Zusammengefaßten, durch welches Zusammenfassen man Mensch sagt und Stein und jegliches einzelne Tier und seine Gattung. Ist dir dies nun lieblich, Theaitetos, und gefällt es dir, daß du davon kosten möchtest?

THEAITETOS: Ich weiß nicht recht, Sokrates. Denn auch von dir kann ich nicht inne werden, ob du es sagst als deine Meinung, oder ob du mich nur versuchst.

SOKRATES:
Erinnerst du dich nicht mehr, Lieber, daß ich meinesteils dergleichen gar nicht weiß, auch nichts als das meinige vorbringe, sondern ganz und gar unfruchtbar bin in dergleichen? Dir aber will ich Geburtshilfe leisten, und deshalb bespreche ich dich und lege dir zu kosten vor von allerlei Weisheit, bis ich endlich auch deine Meinung mit ans Licht bringe. Ist sie aber ans Licht gebracht, dann will ich auch gleich sehen, ob sie sich als ein Windei oder als eine gesunde Geburt zeigen wird. Also halte nur aus und sei gutes Mutes, und antworte dreist und tapfer, was dich dünkt über das, wonach ich eben frage.

THEAITETOS: So frage denn.

SOKRATES: Erkläre dich also noch einmal, ob es dir recht ist, daß gar nicht sein, sondern immer nur werden soll, Gutes und Schönes und alles, was wir eben durchgegangen sind?

THEAITETOS: Freilich scheint mir, wenn ich dich die Sache so erörtern höre, alles ganz erstaunlich gegründet zu sein, und daß es so müsse gedacht werden, wie du es auseinandersetzest.

Schwierigkeit der Wahrnehmungstäuschungen und der Ununterscheidbarkeit von Wachen und Traum
SOKRATES: So wollen wir denn auch das nicht zurücklassen, was noch übrig ist davon. Es ist aber noch übrig das von den Träumen und Krankheiten, besonders auch dem Wahnsinn, und was man nennt sich verhören oder sich versehen oder sonst eine Sinnentäuschung. Denn du weißt wohl, daß es das Ansehen hat, als könne durch alle diese Fälle einstimmig der Satz widerlegt werden, den wir jetzt eben durchgegangen sind, und (S158a) als wären auf alle Weise unsere Wahrnehmungen falsch in diesen Fällen, und als fehlte viel daran, daß, was einem jeden erscheint, dasselbe auch sei, sondern ganz im Gegenteil, als sei nichts von dem, was erscheint.

THEAITETOS:
Vollkommen recht, o Sokrates.

SOKRATES: Was für eine Ausrede, Jüngling, bleibt also dem noch übrig, welcher sagt, Wahrnehmung sei Erkenntnis, und was jedem erscheine, das sei auch so dem, welchem es erscheint.

THEAITETOS:
Es fehlt mir der Mut, Sokrates, zu gestehen, daß ich nicht weiß, was ich sagen soll, weil du mich nur vorhin gescholten, als ich dies sagte. Und doch wäre ich in der Tat nicht vermögend zu bestreiten, daß die Wahnsinnigen oder die Träumenden nicht falsche Vorstellungen haben, wenn jene Götter zu sein glauben, diese aber geflügelt, und sich im Traume als fliegend vorkommen.

SOKRATES: Merkst du auch nicht diesen Einwurf dagegen, besonders was Wachen und Schlafen betrifft?

THEAITETOS:
Welchen doch?

SOKRATES: Den du, meine ich, oft gehört haben wirst, wenn man nämlich die Frage aufwirft, was für ein Kennzeichen jemand wohl angeben könnte, wenn einer fragte, jetzt gleich gegenwärtig, ob wir nicht schlafen, und alles, was wir vorstellen, nur träumen, oder ob wir wachen und wachend uns unterreden?

THEAITETOS:
Und wahrlich, Sokrates, es ist sehr schwierig, durch was für ein Kennzeichen man es beweisen soll. Denn es folgt ganz genau auf beiden Seiten dasselbe. Denn was wir jetzt gesprochen haben, das können wir ebensogut im Traume zu sprechen glauben; und wenn wir im Traume über etwas zu sprechen meinen, so ist ganz wunderbar, wie ähnlich dies jenem ist.
Aus: Platon, Sämtliche Werke 4, Phaidros, Parmenides, Theaitetos, Sophistes (S.117-123) Theaitetos ) In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung,
herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 39

Der wahre Philosoph

Theaitetos 174a – 175a
Die scheinbare Lächerlichkeit des wahren Philosophen und ihr Grund
SOKRATES: So lag uns denn, da es dir so gefällt, von denen reden, welche an der Spitze stehen. Denn was sollte man auch von denen sagen, welche sich nur auf eine schlechte Art mit der Philosophie beschäftigen? Jene nun wissen von Jugend auf nicht einmal den Weg auf den Markt, noch wo das Gerichtshaus, noch wo das Versammlungshaus des Rates ist, noch wo irgendeine andere Staatsgewalt ihre Sitzung hält. Gesetze aber und Volksbeschlüsse, geschriebene oder ungeschriebene, sehen sie weder noch hören sie. Das Bewerben der Brüderschaften um die obrigkeitlichen Ämter und die beratschla¬genden Zusammenkünfte und die Feste mit Flötenspielerinnen, dergleichen zu besuchen fällt ihnen auch im Traume nicht ein. Ob ferner jemand edel oder unedel geboren ist in der Stadt oder was einem von seinen Vorfahren her Übles anhängt von väterlicher oder mütterlcher Seite: davon weiß er weniger, wie man sagt, als wieviel es Sand am Meere gibt. Und von dem allen weiß er nicht einmal, daß er es nicht weiß. Denn er enthält sich dessen nicht etwa, um sich einen Ruf damit zu machen, sondern in der Tat wohnt nur sein Körper im Staate und hält sich darin auf; seine Seele aber, dieses alles für gering haltend und für nichtig, schweift verachtend nach Pindaros überall umher, «unter der Erde» und was auf ihr ist messend, und «über dem Himmel», die Sterne betrachtend und überall jegliche Natur (174 a) alles dessen, was ist, im ganzen erforschend, zu nichts aber von dem, was in der Nähe ist, sich herablassend.

THEODOROS:
Wie meinst du dies, Sokrates?

SOKRATES: Wie auch den Thales, o Theodoros, als er, um die Sterne zu beschauen, den Blick nach oben gerichtet, in den Brunnen fiel, eine artige und witzige thrakische Magd soll verspottet haben, daß er, was im Himmel wäre, wohl strebte zu erfahren, was aber vor ihm läge und zu seinen Füßen, ihm unbekannt bliebe. Mit diesem nämlichen Spotte nun reicht man noch immer aus gegen alle, welche in der Philosophie leben. Denn in der Tat, ein solcher weiß nichts von seinem Nächsten und Nachbarn, nicht nur nicht, was er betreibt, sondern kaum, ob er ein Mensch ist oder etwa irgendein anderes Geschöpf. Was aber der Mensch ist und was einer solchen Natur ziemt anderes als alle anderen zu tun und zu leiden, das untersucht er und läßt es sich Mühe kosten, es zu erforschen. Du verstehst mich doch, Theodoros, oder nicht?

THEODOROS: Sehr gut; und sehr wahr ist, was du sagst.

SOKRATES: Daher auch, o Freund, ein solcher, wenn er mit jemand für sich selbst Geschäfte zu treiben hat oder auch in öffentlichen Angelegenheiten, wie ich anfangs sagte, wenn er etwa vor Gericht oder sonst irgendwo von dem, was vor den Füßen oder sonst vor aller Augen ist, genötigt wird zu reden: so erregt er Gelächter, nicht nur den Thrakierinnen, sondern auch dem übrigen Volk, indem er aus Unerfahrenheit in Gruben und in allerlei Verlegenheit hineinfällt, und seine gewaltige Ungeschicktheit erregt die Meinung, seine Einfalt sei unverbesserlich. Denn wo es darauf ankommt, einen mit Schmähungen anzugreifen, weiß er keinen einzeln anzugreifen, indem er ja von niemand irgend etwas Übles weiß, weil er sich nie darum gekümmert hat. Weil er nun keinen Rat weiß, erscheint er lächerlich. Und wiederum, wo gelobt und in prächtigen Worten geredet werden soll von andern, da zeigt sich, daß er lacht, nicht nur verstellterweise, sondern ganz ordentlich, und so erscheint er albern. Denn wo er einen Tyrannen oder König lobpreisen hört, kommt es ihm vor, als hörte er irgendeinen Hirten, einen Schweine- oder Schaf- oder einen Rinderhirten, glücklich preisen, weil er viel melkt; nur glaubt er, daß jener ein unlenksameres und boshafteres Tier hütet und melkt als die¬se und daß doch ungesittet und ungebildet ein solcher aus Mangel an Muße nicht minder sein muß als andere Hirten, eingezwängt in seine Mauern eben wie jene in die Hürden auf den Bergen. Hört er aber von tausend Morgen Landes oder noch mehr, als hätte, wer sie besitzt, ein ungeheuer großes Besitztum: so dünkt ihn, er höre einer großen Kleinigkeit erwähnen, gewohnt wie er ist, über die ganze Erde zu schauen. Und wenn sie gar die Geschlechter besingen, daß irgendein Edler sieben reiche Ahnherren aufzuweisen habe: so dünkt ihn, ein sehr kurzsichtiges Lob zuhören von solchen, die nur auf das Kleine merken und aus Unwissenheit nicht vermögen, immer auf (175 a) das Ganze zu blicken noch zu berechnen, daß Großväter und Vorfahren unzählige Tausende ein jeder gehabt hat, worunter Reiche und Arme, Könige und Knechte, Ausländer und Hellenen oftmals zehntausend können gewesen sein bei dem ersten besten. Aber ein Verzeichnis von fünfundzwanzig Vorfahren für etwas Großes aus¬geben und etwa auf Herakles, den Sohn des Amphitryon, sich zurückführen, das gilt ihm für das Ungereimteste in der Kleinlichkeit; und er lacht darüber, daß sie, wie nun hinaufwärts vom Amphitryon der fünfundzwanzigste doch wieder einer war, wie es sich eben traf, jener fünfzigste von ihm, daß sie dies nicht einmal vermögen sich vorzurechnen und sich dadurch das aufgeblasene Wesen einer törichten Seele zu vertreiben. Wegen alles dessen nun wird ein solcher von der Menge verlacht, indem er hier sich stolz zeigt, wie es ihnen dünkt, dort aber wieder unwissend in dem, was vor seinen Füßen liegt, und ratlos in allem Einzelnen.

THEODOROS: Genau wie es geschieht, stellst du es dar, Sokrates.

Die wahre Überlegenheit des Philosophen und das Wesen wahrer Einsicht und Tugend

SOKRATES: Zieht er selbst aber einen zu sich hinauf, Lieber, und will sich einer ihm versteigen von dem «Worin tue ich dir unrecht oder du mir» zur Untersuchung der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit selbst, was jede von ihnen ist und wodurch sie unter sich und von allem übrigen unterschieden sind, oder von dem «Ob ein König glückselig ist und einer, der Gold besitzt» zu der Frage vom Königtum selbst und überhaupt von menschlicher Glückseligkeit und Elend, worin beides besteht und auf welche Weise es der menschlichen Natur zukommt, die eine zu erlangen und dem andern zu entgehen - sobald über eins von diesen Dingen ein solcher Kleingeistiger, Verschmitzter, in Rechtsstreiten Gewandter Rede stehen soll, dann bezahlt wiederum er das gleiche: wie er schwindelnd von der Höhe herüberhängt und von oben herabschauend aus Ungewohntheit der Sache ängstlich und unbeholfen ist, der Sprache nicht mächtiger als ein stammelndes Kind, erregt er den Thrakierinnen zwar nicht Gelächter, auch sonst den Ununterrichteten nicht, denn sie bemerken es nicht, wohl aber allen, welche nicht wie Leibeigene, sondern auf die entgegengesetzte Art aufgewachsen sind.
Dies nun, o Theodoros, ist die Weise eines jeden von beiden, die eine dessen, der wahrhaft in Freiheit und Muße auferzogen ist, den du einen Philosophen nennst und dem es ungestraft hingehen mag, daß er einfältig erscheint und nichts gilt, wo es auf knechtische Dienstleistungen ankommt, daß er etwa nicht versteht, das Bündel zu schnüren, das nachgetragen werden soll, oder eine Speise schmackhaft zu bereiten oder auch schmeichlerische Worte; die andere dessen, der alles dieses zwar zierlich und behende zu beschicken weiß, dagegen aber nicht einmal seinen Mantel wie ein freier Mann zu tragen versteht, viel weniger, (176 a) den Wohlklang der Rede ergreifend, würdig zu preisen das wahrhafte Leben der seligen Götter und Menschen.

THEODOROS:
Wenn du, o Sokrates, alle wie mich überzeugtest von dem, was du sagst: so würde mehr Friede und des Bösen viel weniger sein unter den Menschen.
Aus: Platon, Sämtliche Werke 4, Phaidros, Parmenides, Theaitetos, Sophistes (S.140ff. Theaitetos ) In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 39

Die Notwendigkeit des Bösen
Theaitetos 176a – 177a
SOKRATES : Das Böse, o Theodoros, kann weder ausgerottet werden, denn es muß immer etwas dem Guten Entgegengesetztes geben, noch auch bei den Göttern seinen Sitz haben. Unter der sterblichen Natur aber und in dieser Gegend zieht es umher jener Notwendigkeit gemäß. Deshalb muß man auch trachten, von hier dorthin zu entfliehen aufs schleunigste. Der Weg dazu ist Verähnlichung mit Gott so weit als möglich, und diese Verähnlichung besteht darin, daß man gerecht und fromm sei mit Einsicht.
Allein, o Bester, es ist gar nicht leicht, deutlich zu machen, daß nicht aus der Ursache, weshalb die meisten sagen, daß man die Schlechtigkeit fliehen und der Tugend nachstreben solle, die eine zu suchen ist und die andere nicht, damit man nämlich nicht böse, sondern gut zu sein scheine. Denn dies ist nur, was man nennt der alten Weiber Geschwätz, wie es mir scheint; das Wahre aber wollen wir so vortragen.
Gott ist niemals und auf keine Weise ungerecht, sondern im höchsten Maße vollkommen gerecht, und nichts ist ihm ähnlicher, als wer unter uns ebenfalls der Gerechteste ist. Und hierauf geht auch die wahre Meisterschaft eines Mannes, so wie seine Nichtigkeit und Unmännlichkeit. Denn die Erkenntnis hiervon ist wahre Weisheit und Tugend, und die Unwissenheit hierin die offenbare Torheit und Schlechtigkeit.
Jegliche andere dafür geltende Meisterschaft und Einsicht aber ist, wenn sie in der bürgerlichen Verwaltung sich zeigt, nur etwas Gemeines, wenn in den Künsten, etwas Unfreies und Niedriges. Wer also Ungerechtes d und Gottloses redet und tut, dem ist es bei weitem am besten, man gebe ihm nicht zu, er habe es zur Meisterschaft gebracht mit arglistigem Wesen; denn sie freuen sich über den Vorwurf und glauben zu hören, daß sie nicht Toren sind, unnütze Lasten der Erde, sondern Männer, wie die sein müssen, denen es im Staate wohlgehen soll. So muß man ihnen demnach die Wahrheit sagen, daß sie nur um desto mehr solche sind, wie sie nicht glauben, weil sie es nicht glauben.
Denn unbekannt ist ihnen, was am wenigsten jemandem unbekannt sein sollte, die Strafe der Ungerechtigkeit, nämlich nicht, was sie dafür halten, Leibesstrafe und Tod, wovon ihnen oft nichts widerfährt beim Unrechttun, sondern eine, welcher es unmöglich ist zu entfliehen.

THEODOROS: Welche meinst du denn?

SOKRATES: Zwei Vorbilder, o Freund, sind aufgestellt in dem Sein, das göttliche der größten Glückseligkeit und das ungöttliche des größten Elends; sie aber sehen nicht, daß es sich so verhält, und wer den aus Torheit und höchstem Unverstande unvermerkt um der ungerechten Handlungen (177 a) willen diesem ähnlich, immer unähnlicher aber jenem.
Wofür sie dann die Strafe leiden, indem sie ein Leben führen dem angemessen, welchem sie ähnlich geworden. Sagen wir ihnen nun, daß, wenn sie von jener Meisterschaft nicht ablassen, dann auch nach geendetem Leben jener von allen Übeln gereinigte Ort sie nicht aufnehmen werde, sondern sie immer hier ein ihnen, wie sie sind, ähnliches Leben führen werden, als Böse im Bösen lebend: so hören sie das alles doch nur an wie Weise und Überkluge, wenn arm¬selige Toren etwas sagen.
Aus: Platon, Sämtliche Werke 4, Phaidros, Parmenides, Theaitetos, Sophistes (S.142f. Theaitetos ) In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 39

Die Reinigung
Sophistes 226a – 230a
Entwicklung einer aussondernden Reinigungskunst
FREMDER: Siehst du also, wie richtig das gesagt ist, daß dies ein gar schlaues Tier ist, und, wie man sagt, nicht mit einer Hand zu fangen?

THEAITETOS: Also müssen wir beide dazu nehmen.

FREMDER: Das müssen wir, und zwar aus allen Kräften, tun, indem wir auch noch dieser Spur von ihm nachgehen. Sage mir nämlich, wir haben doch gewisse von knechtischen Diensten gebrauchte Ausdrücke?

THEAITETOS: Gar viele; aber nach welchen von diesen vielen fragst du?

FREMDER: Solche meine ich wie durchseihen, durchsieben, ausschwingen und verlesen.

THEAITETOS:
Wie werde ich die nicht kennen!

FREMDER:
Und außer diesen noch krämpeln, spinnen, schlagen mit der Weberlade, und tausend ähnliche Verrichtungen wissen wir, daß es auch in anderen Gewerben gibt. Nicht wahr?

THEAITETOS: Aber um was doch an ihnen allen deutlich zu machen, hast du diese als Beispiele aufgestellt und danach gefragt?

FREMDER: Aussonderndes ist doch das Angeführte insgesamt.

THEAITETOS:
Ja.

FREMDER: So laß uns ihm auch nach meiner Weise als e i n e r Kunst zu diesem Behuf in allen Dingen e i n e n Namen erteilen.

THEAITETOS: Und wie wollen wir sie nennen?

FREMDER: Die Aussonderungskunst.

THEAITETOS:
So soll es sein.

FREMDER:
Sieh nun zu, ob wir auch von dieser wiederum zwei Arten erblicken können?

THEAITETOS:
Zu schnell für mich trägst du mir die Untersuchung auf.

FREMDER:
Von den genannten Aussonderungen war doch die eine ein Ausscheiden des Schlechteren vom Besseren, die andere des Ähnlichen vom Ähnlichen?

THEAITETOS:
Nun es gesagt wird, kommt es auch mir ebenso vor.

FREMDER: Von der einen nun weiß ich keinen üblichen Namen; von jener Aussonderung aber, welche das Bessere zurückläßt und das Schlechte wegwirft, weiß ich einen.

THEAITETOS: Sage, welchen.

FREMDER:
Eine jede solche Aussonderung wird, soviel ich verstehe, von jedermann eine Reinigung genannt.

THEAITETOS:
Das ist richtig.

FREMDER: Und sollte nicht jeder sehen, daß auch das Reinigen ein zwiefaches ist?

THEAITETOS: Bei Muße vielleicht, jetzt sehe ich wenigstens es noch nicht.

Zwei Arten der Reinigung: die des Körpers und die der Seele

FREMDER: Die vielen Arten der Reinigungen der Körper sollten wir unter e i n e m Namen zusammenfassen.

THEAITETOS:
Was für welche und unter welchem?

FREMDER: Zuerst die der Lebendigen, wie sie innerlich von der Kunst der Leibesübung und der Heilkunst durch richtige Aussonderung (227 a) gereinigt werden, und dann auch von außen, was – geringfügig zu sagen - die Badekunst leistet. Dann auch die der unbelebten Körper, welchen die Walkerkunst und die gesamte Putz- und Glättkunst ihre kleinen Dienste leistet unter vielen lächerlichen Namen, wenn man sie alle nennen wollte.

THEAITETOS:
Gewiß nicht wenig.

FREMDER:
Freilich wohl, o Theaitetos. Allein, dem erklärenden Verfahren liegt nicht mehr noch minder an der Kunst der Badegerätschaften zum Beispiel als an der der Arzneibereitung, wenn auch jene uns nur geringen, diese aber großen Nutzen gewährt durch ihre Reinigung. Denn indem sie, nur um Einsicht zu erwerben, das Verwandte und nicht Verwandte in den Künsten zu entdecken sucht, ehrt sie alle gleichermaßen, und der Ähnlichkeit gemäß hält sie keine vor der andern für lächerlich. Für höher und würdiger aber wird sie den, welcher die nachstellende Kunst als Feldherrnkunst äußert, nicht halten als den, der sie als Kammerjägerei ausübt, sondern meistens nur für großsprecherischer. So auch jetzt bei dem, was du fragtest, mit welchem Namen wir diese sämtlichen Verrichtungen, welchen obliegt, einen sei es belebten oder unbelebten Körper zu reinigen, benennen sollen, wird ihr nichts daran gelegen sein, welcher ihnen etwa als der zierlichste könnte beigelegt werden; er halte nur, die Reinigung der Seele ausgenommen, alles zusammen als verbunden, was sonst irgend etwas reinigt. Denn das Reinigen an der Seele sollte eben jetzt von allem andern abgesondert werden, wenn wir anders verstehen, was unser Verfahren wollte.

THEAITETOS:
Wohl, ich habe es begriffen und gebe zwei Arten der Reinigung zu, von denen die eine für die Seele ist, abgesondert von der für den Leib.

FREMDER:
Sehr schön. So höre nun mein Nächstes und versuche, auch das eben Gesagte entzweizuschneiden.

THEAITETOS:
Wie du mich führen willst, will ich versuchen dir nachzuschneiden. Die zwei Arten von Schlechtigkeit in der Seele: ihre Krankheit und ihre Hässlichkeit.

FREMDER: Bösartigkeit ist uns doch etwas anderes als Tugend in der Seele?

THEAITETOS:
Wie sollte sie nicht!

FREMDER:
Und Reinigung war uns doch, das andere zurücklassen, wo es aber irgend etwas Untaugliches gibt, dies herauswerfen?

THEAITETOS:
Das war die Sache.

FREMDER:
Auch bei der Seele, wo wir eine Hinwegräumung der Schlechtigkeit antreffen, werden wir, wenn wir das Reinigung nennen, wohl gesprochen haben.

THEAITETOS:
Gar sehr.

FREMDER:
Zwei Arten von Schlechtigkeit in der Seele sind aber anzuführen.

THEAITETOS:
Was für welche?

FREMDER: Die eine wohnt ihr ein wie dem Leibe die Krankheit (228 a), die andere wie die Häßlichkeit.

THEAITETOS:
Das habe ich nicht verstanden.

FREMDER:
Vielleicht hältst du Krankheit und Aufruhr nicht für einerlei?

THEAITETOS: Auch darauf weiß ich noch nicht, was ich antworten soll.

FREMDER:
Siehst du Aufruhr für etwas anderes an als für einen in dem von Natur Verwandten durch irgendein Verderben entstandenen Zwist?

THEAITETOS: Für nichts anderes.

FREMDER:
Und Häßlichkeit für etwas anderes als für das überall, wo es auch sei, widerliche Geschlecht der Ungemessenheit?

THEAITETOS:
Keineswegs für etwas anderes.

FREMDER:
Wie nun? Merken wir nicht, daß in der Seele das Urteil mit den Begierden, das Gemüt mit den Lüsten, die Vernunft mit der Unlust und dies alles unter sich bei untauglichen Menschen im Streite liegt?

THEAITETOS:
Gar sehr gewiß.

FREMDER: Und verwandt ist doch notwendig dies alles unter sich?

THEAITETOS: Wie sollte es nicht.

FREMDER: Wenn wir also die Bösartigkeit Aufruhr und Krankheit der Seele nennen, werden wir uns richtig ausdrücken?

THEAITETOS: Vollkommen richtig gewiß.

FREMDER:
Wie aber? Wenn etwas, dem Bewegung zukommt und das ein vorgesetztes Ziel zu erreichen versucht, bei jedem Anlauf daran vorbeigeht und es verfehlt, sollen wir sagen, daß dem dieses aus Wohlgemessenheit beider gegeneinander oder aus Ungemessenheit widerfahre?

THEAITETOS:
Offenbar aus Ungemessenheit.

FREMDER:
Aber überall irrt jede Seele, das wissen wir, nur unfreiwillig.

THEAITETOS: Gar sehr.

FREMDER:
Das Irren ist ja doch nichts anderes als einer nach Wahrheit ausgehenden, bei der Einsicht aber vorbeikommenden Seele Vorbeidenken.

THEAITETOS: Unbedenklich.

FREMDER:
Eine unverständige Seele also ist als eine häßliche und ungemessene zu setzen.

THEAITETOS: So scheint es.

FREMDER: Es gibt also, wie sich zeigt, diese zwei Gattungen des Schlechten in ihr; die eine, gemeinhin Bösartigkeit genannt, ist offenbar ihre Krankheit.

THEAITETOS:
Ja.

FREMDER:
Die andere nennen sie Unverstand, daß sie aber allein eine Schlechtigkeit in der Seele sei, wollen sie nicht eingestehen.

THEAITETOS: Offenbar muß man einräumen, was ich, als du es vorher sagtest, noch bezweifelte, daß es zwei Arten der Schlechtigkeit in der Seele gibt, und daß Feigheit, Unbändigkeit, Ungerechtigkeit insgesamt für Krankheit in uns zu halten ist, die oftmaligen und mannigfaltigen Erscheinungen des Unverstandes aber als Häßlichkeit zu setzen.

Die beiden Künste für die Schlechtigkeiten der Seele und die zwei Arten des Unverstande

FREMDER: Für den Leib gibt es doch dieser zwei Zustände wegen zwei gewisse Künste?

THEAITETOS: Welche sind diese?

FREMDER: Für die Häßlichkeit die Gymnastik (229 a), für die Krankheit die Heilkunst.

THEAITETOS: Offenbar.

FREMDER: So ist auch wohl für Üppigkeit, Ungerechtigkeit und Feigheit unter allen Künsten die Bändigungskunst am meisten angemessen dem Recht.

THEAITETOS: Wahrscheinlich ist es, wenigstens menschlichem Urteil nach.

FREMDER: Wie aber? Für den sämtlichen Unverstand, könnte man wohl eine andere richtiger nennen als die belehrende?

THEAITETOS: Keine.

FREMDER:
Wohl denn! Ob wir sagen sollen, daß es nur eine Art der Belehrung gebe oder mehrere, und vornehmlich zwei wichtigste, das erwäge.

THEAITETOS :
Ich erwäge.

FREMDER: Und ich denke, so werden wir es am schnellsten finden.

THEAITETOS:
Wie?

FREMDER: Wenn wir den Unverstand betrachten, ob er selbst etwa einen Einschnitt in der Mitte hat. Denn wenn er zwiefach ist, wird offenbar die Belehrung auch zwei Teile haben müssen, für jede Art von jenem einen.

THEAITETOS: Wie also? Zeigt sich dir etwa schon, was wir jetzt suchen?

FREMDER:
Ich glaube eine sehr große und bedeutende Art des Unverstandes abgesondert zu sehen, welche allen andern Teilen derselben das Gleichgewicht hält.

THEAITETOS:
Was für eine?

FREMDER:
Wenn man, was man nicht weiß, zu wissen glaubt; woraus wohl alles, was unserer Seele mißlingt, allen entstehen mag.

THEAITETOS:
Richtig.

FREMDER: Und diese Art des Unverstandes, denke ich, wird allein Torheit genannt.

THEAITETOS: Freilich.

FREMDER.
Wie nun sollen wir den hiervon uns befreienden Teil der Belehrung benennen?

THEAITETOS:
Ich denke wenigstens, o Fremdling, daß das übrige nur Lehren im Sinne der Handwerker ist, dieses aber, hier wenigstens unter uns, eigentlich Erziehung genannt wird.

FREMDER:
Auch wohl bei allen Hellenen, o Theaitetos. Aber uns ist noch nachzusehen, ob nun schon alles unteilbar ist oder ob es noch eine Einteilung gibt, welche genannt zu werden verdient.

THEAITETOS: So laß uns denn zusehen.

Zwei Weisen der Erziehung. Die prüfende Zurechtweisung als vollkommenste Reinigung

FREMDER: Mir scheint auch dies noch wie gespalten zu sein.

THEAITETOS: Wie denn?

FREMDER: Es scheint in der Belehrung durch Reden e i n Weg rauher zu sein, der andere glatter.

THEAITETOS: Welches soll jeder von beiden sein?

FREMDER:
Der eine ist die altväterliche Weise (230 a), wie sie mit ihren Söhnen sonst umgingen, viele auch noch jetzt mit ihnen umgehen, wenn sie in etwas fehlen, bald sie heftig anlassend, bald wieder ihnen sanftmütiger zusprechend; das Ganze nennt man am füglichsten das Ermahnen.

THEAITETOS:
Ich verstehe.

FREMDER:
Der andere aber, da viele, die es sich recht überlegt haben, zu glauben scheinen, daß alle Torheit unwillkürlich wäre und daß keiner, der weise zu sein meint, darin, worin er schon stark zu sein glaubte, noch etwas würde lernen wollen, und daß nach vieler Arbeit die ermahnende Art der Erziehung doch nicht viel ausrichten würde.

THEAITETOS: Woran sie auch wohl ganz recht glaubten.

FREMDER: So schicken sie sich denn zur Vertilgung dieser Meinung auf eine andere Weise an.

THEAITETOS: Auf welche doch?

FREMDER:
Sie fragen sie aus in dem, worüber einer etwas Rechtes zu sagen glaubt, der doch nichts sagt. Dabei forschen sie der unsicher Schwankenden Meinungen leichtlich aus, welche sie dann in der Rede zusammenbringen und nebeneinander stellen, durch diese Zusammenstellung selbst zeigend, daß sie eine der andern zugleich über dieselben Gegenstände in denselben Beziehungen nach demselben Sinne widersprechen. Jene nun, wenn sie dies wahrnehmen, werden unwillig gegen sich und milder gegen die andern, und auf diese Weise ihrer hohen und hartnäckigen Vorstellungen von sich selbst entledigt, welches die erfreulichste aller Entledigungen ist für den, der es mit anhört, und dem, welchem sie begegnet, die zuverlässigste. Denn, lieber Sohn, die Reinigenden, da sie glauben - so wie die Ärzte des Leibes der Meinung sind, der Leib könne die ihm beigebrachte Nahrung nicht eher nutzen, bis jemand die Hindernisse in ihm selbst weggeschafft habe -, denken ebenso dasselbe von der Seele, daß sie nicht eher von den ihr beigebrachten Kenntnissen Vorteil haben könne, bis durch prüfende Zurechtweisung einer den Zurechtzuweisenden zur Scham bringt, die den Kenntnissen im Wege stehenden Meinungen ihm benimmt und ihn rein darstellt, nur, was er wirklich weiß, zu wissen glaubend, mehr aber nicht.

THEAITETOS:
Die vorzüglichste wenigstens und weiseste Gemütsbeschaffenheit ist diese.

FREMDER:
Deshalb nun, Theaitetos, müssen wir auch sagen, daß die prüfende Zurechtweisung die herrlichste und vortrefflichste aller Reinigungen ist, und müssen den Ungeprüften, wenn er auch der Großkönig wäre, für höchst unrein halten und für ungebildet und häßlich gerade da, wo, wer wahrhaft glückselig sein will, am reinsten und schönsten sein muß.

THEAITETOS:
Auf alle Weise.
Aus: Platon, Sämtliche Werke 4, Phaidros, Parmenides, Theaitetos, Sophistes (S.196ff. Sophistes ) In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 39

Eros und das Streben nach dem unsterblichen Guten und Schönen
Symposion 195a – 212a
Die Beschaffenheit des Eros: Er ist der jüngste und zarteste Gott
Ich also will zuerst sagen, wie ich zu reden gedenke, und dann reden. Denn alle, welche bis jetzt gesprochen haben, schienen mir nicht den Gott zu loben, sondern die Menschen selig zu preisen das Gute, dessen Urheber ihnen der Gott ist; was für einer er aber selbst ist, der ihnen dies alles gewährt hat, das hat keiner gesagt. (195a) Die einzige richtige Weise aber eines jeden Lobes für jeden ist, in der Rede zu zeigen, welchartig und welchartiger Dinge Urheber der ist, von dem geredet wird. Auf diese Weise also gebührt auch uns, den Eros zu loben, zuerst ihn selbst, wie er beschaffen ist, und dann seine Gaben. Daher behaupte ich, daß, da alle Götter glückselig sind. Eros, wenn es verstattet und unfrevelhaft ist zu sagen, der glückseligste unter ihnen ist, weil der schönste und beste. Er ist aber der schönste, inwiefern ein solcher: Zuerst als der jüngste unter den Göttern, o Phaidros. Einen großen Beweis für diese Behauptung gibt er uns selbst, indem er fliehend dem Alter entkommt, welches offenbar doch schnell ist, schneller wenigstens als billig ereilt es uns, welches, sage ich, Eros seiner Natur nach haßt und ihm auch von weitem nicht nahekommt. Mit der Jugend aber gesellt er sich und gefällt sich, und ganz recht hat jene alte Rede, daß das Ähnliche immer zum Ähnlichen sich hält. Daher ich, wiewohl in vielem andern mit dem Phaidros einstimmend hierin nicht mit ihm einstimme, dass Eros älter sei als Kronos und Iapetos. Sondern ich behaupte, er ist der jüngste unter den Göttern und immer jung, und jene alten Händel unter den Göttern, von denen Hesiodos und Parmenides reden, müssen sich unter der Notwendigkeit ereignet haben, nicht unter dem Eros, wenn anders jene wahr erzählt haben. Denn sie würden einander nicht verschnitten und in Bande geworfen und sonst vielerlei Gewaltsames verübt haben, wenn Eros unter ihnen gewesen wäre, sondern einander geliebt und friedlich gelebt wie jetzt, seit Eros über die Götter regiert. Jung also ist er, nächst der Jugend aber auch zart, und es bedarf eines Dichters, wie Homeros einer war, um des Gottes Zartheit anschaulich zu machen. Homeros nämlich sagt von der Ate, sie sei eine Göttin und zart, wenigstens ihre Füße will er als zart beschreiben und sagt, «leicht schweben die Füß‘ ihr, nimmer dem Grund auch nahet sie, nein, hoch wandelt sie her auf den Häuptern der Männer», und scheint mir aus einem guten Grunde ihre Zartheit zu beweisen, daß sie nicht auf Hartem wandelt, sondern auf Weichem. Desselben Beweises nun wollen wir uns auch für den Eros bedienen, daß er zart ist. Denn weder auf der Erde wandelt er noch auf Hirnschädeln, die eben nicht sonderlich weich sind, sondern auf dem Weichsten unter allen wandelt er und bewohnt es. Nämlich in den Gemütern und Seelen der Götter und Menschen schlägt er seinen Wohnsitz auf, und auch nicht der Reihe nach ohne Ausnahme in allen Seelen, sondern begegnet er einer von harter Gesinnung, bei der geht er vorüber, die aber eine weiche hat, bei der zieht er ein. Der nun mit den Füßen und überall nur das Weichste der Weichsten berührt, muß notwendig der Zarteste sein. Und so ist er dann der (196 a) Jüngste und Zarteste; überdies aber auch von geschmeidigem Wesen. Denn sonst vermöchte er nicht überall sich anzuschmiegen und in jede Seele heimlich sowohl zuerst hineinzukommen, als auch hernach herauszugehen, wenn er ungelenk wäre. Auch ist von seiner ebenmäßigen und geschmeidigen Gestalt ein großer Beweis die Wohlanständigkeit, die ausgezeichnet vor allen eingeständlich dem Eros eignet. Denn Übelstand und Liebe sind immer im Kriege gegeneinander. Die Schönheit aber seiner Farben muß schon die Lebensweise des Gottes unter Blüten zeigen. Denn in einem blütenlosen oder abgeblühten Leib oder Seele, oder was es sonst ist, setzt sich Eros nicht nieder; wo aber ein blumiger und duftiger Ort ist, da setzt er sich und bleibt.

Die Gerechtigkeit Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit des Gottes
Über die Schönheit des Gottes nun reicht schon dieses wohl hin, wie auch vieles noch zurückbleibt; von seiner Tugend aber ist hiernächst zu sagen, zuerst das Größte, daß Eros nie weder beleidigt noch beleidigt wird, weder Gott und von Gott, noch Menschen und von Menschen. Denn weder widerfährt ihm selbst gewaltsam, wenn ihm etwas widerfährt, denn Gewalt trifft den Eros nicht, noch verrichtet er so, was er verrichtet. Denn jeder leistet dem Eros jedes freiwillig, und was freiwillig einer dem andern Freiwilligen zugesteht, das erklären «die Könige der Staaten, die Gesetze» für recht. Nächst der Gerechtigkeit aber ist ihm auch Besonnenheit vorzüglich zuzuschreiben. Denn Besonnenheit, wird eingestanden, sei das Herrschen über Lüste und Begierden, und keine Lust sei stärker als die Liebe. Sind die andern aber schwächer, so werden sie ja von der Liebe beherrscht, und Eros herrscht. Herrscht aber Eros über die Lüste und Begierden, so muß er ja vorzüglich besonnen sein. So auch, was die Tapferkeit betrifft, kann nicht einmal Ares sich dem Eros gegenüberstellen. Denn nicht Ares hat den Eros, sondern ihn, den Ares, hat der Eros, die Liebe zur Aphrodite nämlich, wie ja die Rede geht. Der aber hat, ist besser als der gehabt wird, und hat er den tapfersten von allen übrigen unter sich, so ist er ja notwendig der tapferste von allen. Von der Gerechtigkeit also und Besonnenheit und Tapferkeit des Gottes haben wir geredet; die Weisheit aber ist noch zurück. Soviel nun möglich, müssen wir suchen, auch hier nicht zurückzubleiben. Und zuerst nun, damit auch ich unsere Kunst ehre wie Eryximachos die seinige, ist der Gott so kunstreich als Dichter, daß er auch andere dazu macht. Jeder wenigstens wird ein Dichter, «war er auch den Musen fremd vorher», den Eros trifft. Was wir also wohl als Beweis brauchen können dafür, daß Eros ein trefflicher Künstler ist, jedes hervorzubringen, was zur Kunst der Musen gehört. Denn was einer nicht hat oder nicht weiß, das kann er auch einem andern nicht geben oder lehren. Und was nun weiter die Hervorbringung alles Lebendigen betrifft, wer wollte wohl bestreiten, dass es die Kunst des Eros sei, durch welches alles Lebendige entsteht und gebildet wird. (197 a) Von der Meisterschaft aber in anderen Künsten, wissen wir etwa nicht, daß, wessen Lehrer dieser Gott gewesen, der in Ruhm und Glanz gekommen ist, wem aber Eros nicht beigestanden, der in den Schatten? Denn die Heilkunde und die Kunst des Bogenschießens und des Weissagens hat Apollon erfunden unter Anführung des Verlangens und der Liebe, so daß sowohl dieser für einen Schüler des Eros anzusehen ist als auch die Musen in der Tonkunst und Hephaistos in der Schmiedekunst und Athene in der Weberei und Zeus in der Regierungskunst über Götter und Menschen. Daher auch die Angelegenheiten der Götter sich geordnet haben, sobald nur die Liebe unter sie gekommen war, zur Schönheit nämlich; denn über die Häßlichkeit ist Eros nicht gesetzt. Vorher aber, wie ich auch anfangs gesagt, gab es vielerlei Arges unter den Göttern, weil die Notwendigkeit herrschte; sobald aber dieser Gott entsprungen war, entstand auch aus der Liebe zum Schönen alles Gute bei Göttern und Menschen. Auf diese Art also, o Phaidros, scheint mir Eros zuerst selbst der Schönste und Beste, nächstdem aber auch anderen vieles anderen solchen Urheber zu sein. Und hier fällt mir ein, etwas Dichterisches zu sagen, daß er es nämlich ist, welcher bewirkt

«unter den Menschen Fried‘ und spiegelnde Glätte dem Meere, Schweigen der Stürm‘ und erfreuliches Lager und Schlaf für die Sorgen».

Und dieser eben entledigt uns des Fremdartigen und sättigt uns mit dem Angehörigen, indem er nur solche Vereinigungen uns untereinander anordnet, bei Festen, bei Chören, bei Opfern sich darbietend zum Anführer; Mildheit dabei verleihend, Wildheit aber zerstreuend, Begründer des Wohlwollens, Verhindrer des Übelwollens, günstig den Guten, verehrlich den Weisen, erfreulich den Göttern, neidenswert den Unbegabten, erwünscht den Wohlbegabten, des Wohllebens, der Behaglichkeit, der Genüge, der Anmut, des Sehnens, des Reizes Vater, sorgsam für die Guten, sorglos für die Schlechten, im Wanken, im Bangen, im Verlangen, in Gedanken der beste Lenker, Helfer, Berater und Retter, aller Götter und Menschen Zier, als Anführer der schönste und beste, dem jeglicher Mann folgen muß, lobsingend aufs herrlichste, in den herrlichen Gesang mit einstimmend, welchen anstimmend er aller Götter und Menschen Sinn erweicht.

Diese Rede, sprach er, o Phaidros, sei von meinetwegen dem Gotte dargebracht, teils Spiel enthaltend, teils auch ziemlichen Ernst nach bestem Vermögen.

Verschiedenheit der auf das Wahre gerichteten Lobrede des S. vom Scheinlob der andern
(198 a) Nachdem nun Agathon also gesprochen, sagte Aristodemos, seien die Anwesenden alle in lauten Beifall ausgebrochen, wie angemessen der Jüngling geredet sich selbst und dem Gotte. Da habe nun Sokrates gesagt, zum Eryximachos sich wendend: Dünkt dich nun wohl, o Sohn des Akumenos, daß ich schon lange um unnötige Not mich geängstigt habe, sondern nicht vielmehr, daß ich weissagend, was ich vorhin sagte, gesprochen, daß nämlich Agathon bewundernswürdig reden, ich aber keinen Rat mehr wissen würde?

Das eine, habe Eryximachos gesagt, scheinst du mir weissagend gesprochen zu haben, daß Agathon gut reden würde, daß du aber keinen Rat wissen werdest, glaube ich nicht.

Und wie doch, du Glücklicher, habe Sokrates gesagt, sollte ich nicht ratlos sein, und jeder andere, welcher reden sollte, nachdem eine so schöne und reich verzierte Rede gesprochen worden? Und wenn auch das übrige wohl nicht alles ebenso bewundernswert gewesen ist; aber die Schönheit der Wörter und Redensarten am Ende, welcher Hörer ist nicht über diese erstaunt? Denn ich wenigstens, wenn ich bedenke, wie gar nicht ich imstande sein werde, auch nur von weitem etwas so Schönes vorzutragen, wäre vor Scham beinahe entwischt, wenn ich nur irgendwohin gekonnt hätte. Denn gar an den Gorgias hat die Rede mich erinnert, so daß mir ordentlich jenes Homerische begegnet ist, mir ward bange, Agathon mochte das Gorgische Haupt, das gewaltige im Reden, am Ende seiner Rede gegen meine Rede loslassen und mich selbst zum Steine verstummen machen. Und da habe ich denn gemerkt, wie lächerlich ich war, als ich euch versprach, wenn die Reihe an mich käme, mit euch dem Eros eine Lobrede zu halten, und als ich sagte, daß ich gewaltig wäre in Liebessachen, da ich doch gar nichts von der Sache verstand, wie man, was es auch immer wäre, loben müsse. Ich dachte nämlich in meiner Einfalt, man müsse die Wahrheit sagen in jedem Stück von dem zu Preisenden; dies also müsse man vor sich haben, und das Schönste davon auswählend müsse man es auf das schicklichste zusammenstellen. Und ich wußte mir gar viel damit, wie gut ich reden würde, als verstände ich, was es eigentlich hieße, irgend etwas loben. Das war aber, was es scheint, gar nicht die rechte Weise, etwas zu loben, sondern darin besteht sie, daß man der Sache nur so Vieles und Schönes beilege als möglich, möge es sich nun so verhalten oder nicht. Und ist es auch falsch: so ist nichts daran gelegen. Denn es war wohl vorher festgesetzt, wie es scheint, jeder von uns solle sich das Ansehen geben, den Eros zu lobpreisen, nicht ihn wirklich lobpreisen. Deshalb, meine ich, habt ihr alles zusammengesucht und dem Eros beigelegt und sagt, ein solcher sei er und solches bringe er hervor, damit er nur auf das schönste und vortrefflichste erscheine, offenbar nämlich denen, die ihn nicht kennen, denn denen, die um ihn wissen, wohl nicht. (199 a) Und so ist es doch eine schöne und prächtige Lobrede. Ich aber kannte gar nicht diese Weise des Lobes, und ohne sie zu kennen, versprach ich, auch in der Reihe ihn zu loben. Die Zunge hat also versprochen, die Seele aber nicht. Es unterbleibe also! Denn ich halte nun keine Lobrede nach dieser Weise; ich könnte es auch nicht. Indessen die Wahrheit, wenn ihr wollt, die will ich euch wohl sagen nach meiner Art, nicht wie eure Reden waren, damit ich kein Gelächter bereite. Sieh also zu, Phaidros, ob du eine solche Rede auch gebrauchen kannst, was wahr ist vom Eros sagen zu hören, aber in Redensarten und Wortstellungen, wie sie sich eben fügen wollen.

Phaidros nun, sagte er, und die andern hätten ihn geheißen zu reden, wie er selbst glaubte, daß man reden müsse, gerade so.
Noch mußt du mir, o Phaidros, habe er gesagt, auch erst vergönnen, den Agathon einiges wenige zu fragen, damit ich, hierüber mit ihm einverstanden, alsdann weiterrede.

Ich vergönne es, habe Phaidros gesagt, frage ihn nur.

Darauf habe dann, erzählte er, Sokrates so ungefähr angefangen.

Widerlegende Prüfung des Agathon: Der Eros als Liebe zum Schönen und Guten ist selber dessen bedürftig
Also, lieber Agathon, sehr gut scheinst du mir deine Rede eingeleitet zu haben, als du sagtest, zuerst müsse man den Eros selbst darstellen, welchartig er ist, und hernach seine Werke. Dieser Anfang ist mir gar recht. Wohlan, da du auch das übrige so schön und herrlich vorgetragen hast von dem Eros, welcher Art er ist: so sage mir doch auch dieses, ob Eros auch ein solcher ist, daß er jemandes Liebe ist oder niemandes? Ich frage aber nicht etwa, ob er von einem Vater oder einer Mutter ist; denn lächerlich wäre die Frage, ob Eros eines Vaters oder einer Mutter Liebe ist. Sondern wie wenn ich eben nach einem Vater selbst fragte, ob ein Vater jemandes Vater ist oder nicht, du gewiß sagen würdest, wenn du anders ordentlich antworten wolltest, allerdings wäre ein Vater Vater eines Sohnes oder einer Tochter, oder nicht?
Freilich, hätte Agathon geantwortet.
Nicht auch ebenso die Mutter?
Auch das hätte er zugegeben.
Wohl, hätte Sokrates gesagt, antworte nur noch ein weniges mehr, damit du besser verstehst, was ich will. Wenn ich nun fragte: Wie ein Bruder? Ist der auch das, was er ist, ein Bruder, von jemand oder nicht?
Allerdings, habe er gesagt.
Doch von einem Bruder oder einer Schwester?
Das habe er bejaht
Versuche denn, dasselbe auch von der Liebe zu sagen, ist sie Liebe von nichts oder etwas?
(200 a) Freilich von etwas.
Dieses nun, habe Sokrates gesagt, halte noch bei dir fest in Gedanken, wovon sie Liebe ist, und sage mir nur soviel, ob die Liebe das, dessen Liebe sie ist, begehrt oder nicht?
Allerdings, habe er gesagt.
Und ob sie wohl schon habend, was sie begehrt und liebt, es begehrt und liebt, oder es nicht habend?
Nicht habend, wie es ja scheint, habe er gesagt
Überlege nur, habe Sokrates gesagt, ob es nicht statt zu scheinen vielmehr notwendig ist, daß das Begehrende begehrt, wessen es bedürftig ist, oder nicht begehrt, wenn es nicht bedürftig ist. Mir wenigstens, Agathon, schwebt es gar wunderbar vor, daß dies notwendig so ist. Und dir wie?
Auch mir, habe er gesagt.
Wohl gesprochen. Wünscht also wohl jemand, der groß ist, groß zu sein, und der stark ist, stark zu sein?
Unmöglich nach dem Eingestandenen.
Denn der es schon ist, wäre ja dessen nicht bedürftig.
Richtig gesprochen.
Denn wenn ein stark seiender stark sein will oder ein schnell seiender schnell oder ein gesund seiender gesund: — denn vielleicht könnte jemand hiervon und von allem dergleichen meinen, daß auch, die schon solche sind und dies schon haben, doch dieses, was sie haben, auch begehren. Damit wir nun nicht irre werden, deshalb eben sage ich, daß doch diese, o Agathon, wenn du acht hast, jegliches von diesen Dingen für jetzt notwendig haben, was sie haben, sie mögen es nun wollen oder nicht. Und wer könnte das nun wohl noch begehren? Sondern wenn einer sagt, ich, der ich gesund bin, will gesund sein, und ich, der ich reich bin, will reich sein und begehre also das, was ich habe: so würden wir ihm sagen: Nämlich du, der du Reichtum besitzt und Gesundheit und Stärke, willst eben dies auch in der folgenden Zeit besitzen; denn in der jetzt gegenwärtigen, magst du es nun wollen oder nicht, hast du es schon. Überlege also, wenn du sagst: Ich begehre das Vorhandene, ob du etwas anderes meinst als dieses: Ich will, daß das jetzt Vorhandene mir auch in künftiger Zeit vorhanden sei; nicht wahr, das würde er zugeben?
Das habe Agathon bejaht
Darauf habe Sokrates gesagt: Also auch dies heißt dasjenige lieben, was noch nicht bereit ist und man nicht hat, wenn einer wünscht, daß ihm auch für die künftige Zeit das erhalten bleibe, was er jetzt besitzt
Freilich, habe er gesagt
Also auch dieser und jeder andere Begehrende begehrt das noch nicht Vorhandene und nicht Fertige, und was er nicht hat und nicht selbst ist, und wessen er bedürftig ist; solcherlei also sind die Dinge, wonach es eine Begierde gibt und eine Liebe.
Freilich, habe er gesagt
Wohlan denn, habe Sokrates gesprochen, laß uns das Gesagte zusammenrechnen. (201 a) Nicht wahr, Liebe ist zuerst Liebe zu etwas und dann Liebe zu dem, wonach jemand ein Bedürfnis hat?
Ja, habe er gesagt.
Hierzu nun erinnere dich dessen, worauf du in deiner Rede sagtest, daß Eros ginge. Oder, wenn du willst, will ich dich erinnern. Ich glaube nämlich, du sagtest so ungefähr, daß die Angelegenheiten der Götter sich geordnet haben durch die Liebe zum Schönen, denn zum Häßlichen gebe es keine Liebe. Sagtest du nicht ungefähr so?
Das sagte ich freilich, habe Agathon gesagt.
Und ganz annehmlich war das gesprochen, Freund, habe Sokrates gesagt. Und wenn sich dies so verhält, wäre dann die Liebe nicht Liebe zur Schönheit, zur Häßlichkeit aber nicht?
Das gestand er.
Und eingestanden ist doch, das, wessen man bedürftig ist und es nicht hat, liebe man?
Ja, habe er gesagt.
Bedürftig also ist Eros der Schönheit und hat sie nicht?
Notwendig, habe er gesagt.
Und wie? Das der Schönheit Bedürftige und sie keineswegs Besitzende, sagst du etwa, sei schön?
Nicht füglich.
Behauptest du also noch, daß Eros schön sei, wenn sich dies so verhält?
Darauf habe Agathon gesagt: Ich mag am Ende wohl nichts von dem verstehen, o Sokrates, was ich damals sagte.
Gar recht magst du daran wohl haben, o Agathon, habe er gesagt. Aber die Kleinigkeit sage mir noch, dünkt dich nicht das Gute auch schön zu sein?
Mich dünkt es so.
Wenn also Eros des Schönen bedürftig ist und das Gute schön ist, so wäre er ja auch des Guten bedürftig?
Ich, habe er gesagt, o Sokrates, weiß dir wenigstens nicht zu widersprechen, sondern es soll so sein, wie du sagst.
Freilich wohl der Wahrheit, habe er gesagt, o geliebter Agathon, vermagst du nicht zu widersprechen. Denn dem Sokrates, das ist gar nichts Schweres.

Das Zwischen-Sein des Eros zwischen dem Schönen und Häßlichen, zwischen dem Guten und Schlechten
Und so will ich dich denn jetzt lassen und eine Rede über den Eros, welche ich einst von einer Mantineerin namens Diotima gehört habe, welche hierin und auch sonst sehr weise war, auch den Athenern einst bei einem Opfer vor der Pest zehnjährigen Aufschub der Krankheit bewirkte, welche auch mich in Liebessachen unterrichtet hat, — die Rede also, welche diese gesprochen hat, will ich versuchen euch zu wiederholen, von dem ausgehend, worüber ich mit Agathon übereingekommen bin, sonst aber ganz für mich allein, so gut ich eben kann. Es gehört sich also, o Agathon, wie auch du erklärtest, zuerst ihn selbst zu beschreiben, den Eros, wer er ist und was für einer, und dann seine Werke. Es dünkt mich also am leichtesten, es so durchzunehmen, wie damals die Fremde, mich ausfragend, es durchging. Denn ungefähr dergleichen hatte auch ich zu ihr gesagt, wie Agathon jetzt zu mir, daß Eros ein großer Gott sei und von den Schönen. Sie aber widerlegte mich mit denselben Reden, womit ich jetzt diesen, daß er weder schön wäre nach meinen eigenen Reden, noch gut. Da sprach ich: Wie meinst du aber, Diotima, ist also Eros häßlich und schlecht?
Und sie: Willst du dich nicht des Freveln enthalten? Oder meinst du, was nicht schön ist, das sei notwendig häßlich?
Allerdings wohl. (202 a)
Auch was nicht weise, das töricht? Oder hast du nicht gemerkt, daß es etwas mitteninne gibt zwischen Weisheit und Torheit?
Was wäre das?
Wenn man richtig vorstellt, ohne jedoch Rechenschaft davon geben zu können, weißt du nicht, daß das weder Wissen ist — denn wie könnte etwas Grundloses eine Erkenntnis sein? - noch auch Unverstand, denn da sie doch das Wahre enthält, wie könnte sie Unverstand sein? Also ist offenbar die richtige Vorstellung so etwas zwischen Einsicht und Unverstand.
Richtig, sprach ich.
Folgere also nicht, was nicht schön ist, sei häßlich, noch was nicht gut sei, schlecht. Ebenso auch vom Eros, da du doch eingestehst, er sei weder gut noch schön, glaube deshalb noch nicht, daß er häßlich und schlecht sein müsse, sondern etwas, sagte sie, zwischen beiden. Aber das, sprach ich, wird doch von allen eingestanden, daß er ein großer Gott ist.
Von allen Nichtwissenden, sprach sie, meinst du, oder auch von den Wissenden?
Von allen insgesamt.
Da lachte sie und sagte: Und wie, Sokrates, könnte wohl von denen eingestanden werden, daß er ein großer Gott sei, welche behaupten, er sei überhaupt kein Gott?
Wer sind doch die? fragte ich.
Einer davon bist du, sagte sie, und eine ich.
Da sprach ich: Wie meinst du doch dies?
Und sie antwortete: Ganz natürlich. Denn sage mir nur, meinst du nicht, daß alle Götter glückselig und schön sind? Oder hättest du das Herz zu sagen, daß irgendein Gott nicht schön und glückselig sei?
Beim Zeus, ich gewiß nicht, sprach ich.
Und glückselig nennst du doch, die das Schöne und Gute besitzen!
Freilich.
Vom Eros aber hast du doch eingestanden, daß er aus Bedürfnis nach dem Schönen und Guten eben das begehe, dessen er bedürftig ist?
Das habe ich eingestanden.
Wie konnte also ein Gott sein, der unbegabt ist mit Schönem und Gutem?
Auf keine Weise, wie es scheint.
Siehst du nun, sagte sie, daß auch du den Eros für keinen Gott hältst?

Der Eros als großer Dämon zwischen dem Sterblichen und Unsterblichen; seine Herkunft und sein philosophisches Wesen
Was wäre also, sprach ich, Eros? Etwa sterblich?
Keineswegs.
Aber was denn?
Wie oben, sagte sie, zwischen dem Sterblichen und Unsterblichen.
Was also, o Diotima?
Ein großer Dämon, o Sokrates. Denn alles Dämonische ist zwischen Gott und dem Sterblichen.
Und was für eine Verrichtung, sprach ich, hat es?
Zu verdolmetschen und, zu überbringen den Göttern, was von den Menschen, und den Menschen, was von den Göttern kommt, der einen Gebete und Opfer und der andern Befehle und Vergeltung der Opfer. In der Mitte zwischen beiden ist es also die Ergänzung, so daß nun das Ganze in sich selbst verbunden ist. Und durch dies Dämonische geht auch alle Weissagung und die Kunst der Priester in bezug auf Opfer, (203 a) Weihungen und Besprechungen und alle Wahrsagung und Bezauberung. Denn Gott verkehrt nicht mit Menschen, sondern aller Umgang und Gespräch der Götter mit den Menschen geschieht durch dieses, sowohl im Wachen als im Schlaf. Wer sich nun hierauf versteht, der ist ein dämonischer Mann, wer aber nur auf andere Dinge oder irgend auf Künste und Handarbeiten, der ist ein gemeiner. Solcher Dämonen oder Geister nun gibt es viele und von vielerlei Art, einer aber von ihnen ist auch Eros.
Wer aber, fragte ich, ist sein Vater und seine Mutter?
Weitläufiger, sprach sie, ist dies zwar zu erzählen; doch will ich es dir sagen. Als nämlich Aphrodite geboren war, schmausten die Götter, und unter den übrigen auch Poros, der Sohn der Metis. Als sie nun abgespeist, kam, um sich etwas zu erbetteln, da es doch festlich herging, auch Penia und stand an der Tür. Poros nun, berauscht vom Nektar, denn Wein gab es noch nicht, ging in den Garten des Zeus hinaus, und schwer und müde wie er war, schlief er ein. Penia nun, die ihrer Dürftigkeit wegen den Anschlag faßte, ein Kind mit Poros zu erzeugen, legte sich zu ihm und empfing den Eros. Deshalb ist auch Eros der Aphrodite Begleiter und Diener geworden, wegen seiner Empfängnis an ihrem Geburtsfest, und weil er von Natur ein Liebhaber des Schönen ist und Aphrodite schön ist. Als des Poros und der Penia Sohn aber befindet sich Eros in solcherlei Umständen: Zuerst ist er immer arm und bei weitem nicht fein und schön, wie die meisten glauben, vielmehr rauh, unansehnlich, unbeschuht, ohne Behausung, auf dem Boden immer umherliegend und unbedeckt, schläft vor den Türen und auf den Straßen im Freien und ist der Natur seiner Mutter gemäß immer der Dürftigkeit Genosse. Und nach seinem Vater wiederum stellt er dem Guten und Schönen nach, ist tapfer, keck und rüstig, ein gewaltiger Jäger, allezeit irgend Ränke schmiedend, nach Einsicht strebend, sinnreich, sein ganzes Leben lang philosophierend, ein arger Zauberer, Giftmischer und Sophist, und weder wie ein Unsterblicher geartet noch wie ein Sterblicher, bald an demselben Tage blühend und gedeihend, wenn es ihm gut geht, bald auch hinsterbend, doch aber wieder auflebend nach seines Vaters Natur. Was er sich aber schafft, geht ihm immer wieder fort, so daß Eros nie weder arm ist noch reich und auch zwischen Weisheit und Unverstand immer in der Mitte steht. Dies verhält sich nämlich so: (204 a) Kein Gott philosophiert oder begehrt, weise zu werden, sondern er ist es, noch auch, wenn sonst jemand weise ist, philosophiert dieser. Ebensowenig philosophieren auch die Unverständigen oder bestreben sich, weise zu werden. Denn das ist eben das Arge am Unverstande, daß er, ohne schon und gut und vernünftig zu sein, doch sich selbst ganz genug zu sein dünkt. Wer nun nicht glaubt, bedürftig zu sein, der begehrt auch das nicht, dessen er nicht zu bedürfen glaubt.
Wer also, sprach ich, Diotima, sind denn die Philosophierenden, wenn es weder die Weisen sind noch die Unverständigen?
Das muß ja schon, sagte sie, jedem Kinde deutlich sein, daß es die zwischen beiden sind, zu denen auch Eros gehören wird. Denn die Weisheit gehört zu dem Schönsten und Eros ist Liebe zu dem Schönen; so daß Eros notwendig weisheitliebend ist und also als philosophisch zwischen den Weisen und Unverständigen mitteninne steht. Und auch davon ist seine Herkunft Ursache; denn er ist von einem weisen und wohlbegabten Vater, aber von einer unverständigen und dürftigen Mutter. Dies also, lieber Sokrates, ist die Natur dieses Dämons. Was du aber glaubtest, daß Eros sei, ist nicht zu verwundern. Du glaubtest nämlich, wie ich aus dem, was du sagst, vermuten muß, Eros sei das Geliebte, nicht das Liebende. Daher, meine ich, erschien dir Eros so wunderschön. Denn das Liebenswerte ist auch in der Tat das Schöne, Zarte, Seligzupreisende. Das Liebende aber hat ein anderes Wesen, so wie ich es beschrieben habe.

Eros die Liebe zum Guten in jeder Gestalt, und sie erstrebt den ständigen Besitz des Guten
Darauf sagte ich: Wohl denn Freundin, denn du hast wohl gesprochen. Wenn nun aber Eros ein socher ist, welchen Nutzen gewährt er den Menschen?
Dies, o Sokrates, sprach sie, will ich nun hiernächst versuchen dich zu lehren. So beschaffen
also und so entstanden ist Eros. Er geht aber auf das Schöne, wie du sagst. Wenn uns aber jemand fragte: Was hat denn Eros vom Schönen, o Sokrates und Diotima? Oder ich will es noch deutlicher fragen: Wer das Schöne begehrt, was begehrt der?
Da sprach ich: Daß es ihm zuteil werde.
Aber, sagte sie, diese Antwort verlangt nach noch einer Frage, etwa dieser: Was geschieht denn jenem, dem das Schöne zuteil wird?
Da sagte ich, auf diese Frage hätte ich nicht sogleich eine Antwort bereit.
Aber, sprach sie, wenn nun jemand tauschend statt des Schönen das Gute setzte und fragte: Sprich, Sokrates, wer das Gute begehrt, was begehrt der?
Daß es ihm zuteil werde, sagte ich.
Und was geschieht jenem, dem das Gute zuteil wird?
Das kann ich schon leichter beantworten, sagte ich, er wird glückselig. (205 a)
Denn durch den Besitz des Guten, fügte sie hinzu, sind die Glückseligen glückselig. Und hier bedarf es nun keiner weiteren Frage mehr, weshalb doch der glückselig sein will, der es will, sondern die Antwort scheint vollendet zu sein.
Richtig gesprochen, sagte ich.
Dieser Wille nun und diese Liebe, glaubst du, daß sie a1len Menschen gemein sind und daß alle immer das Gute haben wollen, oder wie meinst du?
So, sprach ich, daß dies allen gemein ist.
Warum aber, sprach sie, sagen wir nicht, daß alle lieben, wenn doch alle dasselbe lieben und immer, sondern sagen von einigen, dass sie lieben, von anderen aber nicht?
Das wundert mich selbst, sagte ich.
Laß es dich nur nicht wundern, sagte sie. Denn wir nehmen nur eine gewisse Art der Liebe heraus, die wir mit dem Namen des Ganzen belegen und Liebe nennen, für die anderen brauchen wir andere Namen.
Wie doch etwa? sprach ich.
So etwa, sagte sie. Du weißt doch, daß Dichtung etwas gar Vielfältiges ist. Denn was nur für irgend etwas Ursache wird, aus dem Nichtsein in das Sein zu treten, ist insgesamt Dichtung. Daher liegt auch bei den Hervorbringungen aller Künste Dichtung zugrunde, und die Meister darin sind sämtlich Dichter.
Ganz richtig.
Aber doch weißt du schon, daß sie nicht Dichter genannt werden, sondern andere Benennungen haben, und von der gesamten Dichtung wird nur ein Teil ausgesondert, der es mit der Tonkunst und den Silbenmaßen zu tun hat, und dieser mit dem Namen des Ganzen benannt. Denn dies allein wird Dichtung genannt, und die diesen Teil der Dichtung innehaben, Dichter.
Richtig gesprochen, sagte ich.
So auch, was die Liebe betrifft, ist im allgemeinen jedes Begehen des Guten und der Glückseligkeit die größte und heftigste Liebe für jeden. Allein die übrigen, die sich anderwärtshin damit wenden, entweder zum Gewerbe oder zu den Leibesübungen oder zur Erkenntnis, von denen sagen wir nicht, daß sie lieben und Liebhaber sind; sondern nur die auf eine gewisse Art ausgehen und sich der befleißigen, erhalten den Namen des Ganzen, Liebe und lieben und Liebhaber.
Das magst du wohl richtig erklären, sagte ich.
Und so geht zwar eine Rede, sagte sie, daß, die ihre Hälfte suchen, lieben. Meine Rede aber sagt, die Liebe gehe weder auf die Hälfte, Freund, noch auf das Ganze, wenn es nicht ein Gutes ist. Denn die Menschen lassen sich ja gern ihre eigenen Hände und Füße wegschneiden, wenn sie, obgleich ihr eigen, ihnen böse und gefährlich scheinen. Denn nicht an dem Seinigen hängt jeder, glaube ich, es müßte denn einer das Gute das Angehörige nennen und das Seinige, das Schlechte aber Fremdes. So daß es nichts gibt, was die Menschen lieben, als das Gute. Oder scheinen sie dir doch etwa? (206 a)
Beim Zeus, mir nicht, sprach ich.
Können wir aber nun schon so schlechthin sagen, daß die Menschen das Gute lieben?
Ja, sagte ich.
Wie? Müssen wir nicht hinzusetzen, daß sie lieben, das Gute zu haben?
Das müssen wir hinzusetzen.
Und, sagte sie, nicht nur es zu haben, sondern auch es immer zu haben?
Auch das ist hinzuzusetzen.
So geht denn, alles zusammengenommen, die Liebe darauf, daß man selbst das Gute immer haben will.
Vollkommen richtig erklärt, sagte ich.

Die Weise des Liebesvollzugs ist Zeugung im Schönen um der Unsterblichkeit willen
Wenn nun die Liebe immer dieses ist, sagte sie, auf welche Art und in welcher Handlungsweise gehen ihm nun diejenigen nach, deren Betrieb und Anstrengung man eigentlich Liebe zu nennen pflegt? Weißt du wohl zu sagen, was für ein Werk dieses ist?Dann würde ich ja, sprach ich, dich, o Diotima, nicht so bewundern deiner Weisheit wegen und zu dir gehen, um eben dieses zu lernen.
So will ich es dir sagen, sprach sie. Es ist nämlich eine Geburt in dem Schönen, sowohl dem Leibe als der Seele nach.
Man muß weissagen können, sprach ich, um zu wissen, was du wohl meinst, und ich verstehe es nicht.
So will ich es dir denn deutlicher sagen. Alle Menschen nämlich, o Sokrates, sprach sie, sind fruchtbar sowohl dem Leibe als der Seele nach, und wenn sie zu einem gewissen Alter gelangt sind, so strebt unsere Natur zu erzeugen. Erzeugen aber kann sie in dem Häßlichen nicht, sondern nur in dem Schönen. Es ist aber dies eine göttliche Sache und in dem sterblichen Lebenden etwas Unsterbliches, die Empfängnis und die Erzeugung. In dem Unangemessenen aber kann dieses unmöglich erfolgen; und unangemessen ist das Häßliche allem Göttlichen, das Schöne aber angemessen. Eine einführende und geburtshelfende Göttin also ist die Schönheit für die Erzeugung. Deshalb, wenn das Zeugungslustige dem Schönen naht, wird es beruhigt und von Freude durchströmt und erzeugt und befruchtet; wenn aber Häßlichem, so zieht es sich finster und traurig in sich zusammen und wendet sich ab und schrumpft ein und erzeugt nicht, sondern trägt mit Beschwerde seine Bürde weiter. Darum beeifert sich, wer von Zeugungsstoff und Lust erfüllt ist, so sehr um das Schöne, weil es ihn großer Wehen entledigt. Denn die Liebe, o Sokrates, geht gar nicht auf das Schöne, wie du meinst.
Sondern worauf denn?
Auf die Erzeugung und Geburt im Schönen.
Mag sein, sprach ich.
Ganz gewiß, sagte sie.
Warum aber auf Erzeugung? —
Weil eben die Erzeugung das Ewige ist und das Unsterbliche, wie es im Sterblichen sein kann. (207 a) Nach der Unsterblichkeit aber zu streben mit dem Guten ist notwendig zufolge des schon Eingestandenen, wenn doch die Liebe darauf geht, das Gute immer zu haben. Notwendig also geht nach dieser Rede die Liebe auch auf die Unsterblichkeit.

Ursache dieses Verlangens: Nur so hat das Sterbliche am sterblichen Anteil
Dies alles lehrte sie mich, als sie über die Liebe mit mir redete und fragte mich auch einmal: Was meinst du wohl, o Sokrates, was die Ursache dieser Liebe und dieses Verlangens sei? Oder merkst du nicht, in welchem gewaltsamen Zustande sich alle Tiere befinden, wenn sie begierig sind zu erzeugen, geflügelte und ungeflügelte, wie sie alle krank und verliebt erscheinen, zuerst wenn sie sich miteinander vermischen und dann auch bei der Auferziehung des Erzeugten, wie auch die schwächsten bereit sind, dieses gegen die stärksten zu verteidigen und dafür zu sterben; und wie sie sich selbst vom Hunger quälen lassen, um nur jenes zu ernähren, und so auch alles andere tun? Denn von den Menschen könnte man sagen, sie täten dies mit Überlegung; aber welches der Grund sein mag, warum auch die Tiere sich so verliebt zeigen, kannst du mir das sagen?
Und ich sagte wieder, ich wüßte es nicht.
Da sprach sie: Gedenkst du denn, je etwas Großes zu leisten in Liebessachen, wenn du dies nicht einsiehst?
Aber eben deshalb, sprach ich, bin ich ja zu dir gekommen. o Diotima, wie ich auch schon sagte, weil ich weiß, daß ich Lehrer brauche. Sage mir also den Grund hiervon und von allem, was sonst in der Liebe vorkommt.
Wenn du also glaubst, sprach sie, daß die Liebe von Natur auf das gehe, worüber wir uns oft schon einverstanden haben, so wundere dich nur nicht. Denn ganz ebenso wie dort sucht auch hier die sterbliche Natur nach Vermögen immer zu sein und unsterblich. Sie vermag es aber nur auf diese Art, durch die Erzeugung, daß immer ein anderes Junges statt des Alten zurückbleibt. Denn auch von jedem einzelnen Lebenden sagt man ja, daß es lebe und dasselbe sei, wie einer von Kindesbeinen an immer derselbe genannt wird, wenn er auch ein Greis geworden ist: und heißt doch immer derselbe, unerachtet er nie dasselbe an sich behält, sondern immer ein neuer wird und Altes verliert an Haaren, Fleisch, Knochen, Blut und dem ganzen Leibe; und nicht nur an dem Leibe allein, sondern auch an der Seele, die Gewöhnungen, Sitten, Meinungen, Begierden, Lust, Unlust, Furcht, hiervon behält nie jeder dasselbe an sich, sondern eins entsteht und das andere vergeht. Und viel wunderlicher noch als dieses ist, daß auch die Erkenntnisse nicht nur (208 a) teils entstehen, teils vergehen, und wir nie dieselben sind in bezug auf die Erkenntnisse, sondern daß auch jeder einzelnen Erkenntnis dasselbe begegnet. Denn was man Nachsinnen heißt, geht auf eine ausgegangene Erkenntnis. Vergessen nämlich ist das Ausgehen einer Erkenntnis, Nachsinnen aber bildet statt der abgegangenen eine Erinnerung ein und erhält so die Erkenntnis, daß sie dieselbe zu sein scheint. Und auf diese Weise wird alles Sterbliche erhalten, nicht so, daß es durchaus immer dasselbe wäre, wie das Göttliche, sondern indem das Abgehende und Veraltende ein anderes Neues solches zurückläßt, wie es selbst war. Durch diese Veranstaltung, o Sokrates, sagte sie, hat alles Sterbliche teil an der Unsterblichkeit, der Leib sowohl als alles übrige; das Unsterbliche aber durch eine andere. Wundere dich also nicht, wenn ein jedes von Natur seinen eignen Sprößling in Ehren hält. Denn der Unsterblichkeit wegen begleitet jeden dies Bestreben und diese Liebe.

Die verschiedenen Bemühungen um Unsterblichkeit: Leibliche und geistige Zeugung
Über diese Rede nun, als ich sie gehört, war ich verwundert und sagte: Wohl, weiseste Diotima, verhält sich dies nun in der Tat so?
Und sie, wie die rechten Meister im Wissen pflegen, sprach: Dessen sei nur versichert, o Sokrates. Denn wenn du auch auf die Ehrliebe der Menschen sehen willst: so müßtest du dich ja über die Unvernunft wundern in dem, was ich schon angeführt, wenn du nicht bedenkst, einen wie gewaltigen Trieb sie haben, berühmt zu werden und einen unsterblichen Namen auf ewige Zeiten sich zu erwerben. Und für diesen sind alle bereit, die größten Gefahren zu bestehen, noch mehr als für ihre Kinder, und ihr Vermögen aufzuwenden und jedwede Mühe unverdrossen zu übernehmen und dafür zu sterben. Denn meinst du wohl, sprach sie, Alkestis würde für den Admetos gestorben sein oder Achilleus dem Patroklos nachgestorben oder euer Kodros im voraus für die Königswürde seiner Kinder, wenn sie nicht geglaubt hätten, eine unsterbliche Erinnerung ihrer Tugend würde nach ihnen bleiben, die wir jetzt auch haben? Weit gefehlt, sagte sie, sondern nur für die Unsterblichkeit der Tugend und für einen solchen herrlichen Nachruhm, glaube ich, tun alle alles, und zwar je besser sie sind, um desto mehr, denn sie lieben das Unsterbliche. Die nun, fuhr sie fort, dem Leibe nach zeugungslustig sind, wenden sich mehr zu den Weibern und sind auf diese Art verliebt, indem sie durch Kindererzeugen Unsterblichkeit und Nachgedenken und Glückseligkeit, wie sie meinen, für alle künftige Zeit sich verschaffen. (209 a) Die aber der Seele nach, denn es gibt solche, sagte sie, die auch in der Seele Zeugungskraft haben, viel mehr als im Leibe, für das nämlich, was der Seele ziemt zu erzeugen und erzeugen zu wollen. Und was ziemt ihr denn? Weisheit und jede andere Tugend, deren Erzeuger auch alle Dichter sind und alle Künstler, denen man zuschreibt erfinderisch zu sein. Die größte aber und bei weitem schönste Weisheit, sagte sie, ist die, welche in der Staaten und des Hauswesens Anordnung sich zeigt, deren Name Besonnenheit ist und Gerechtigkeit. Wer nun diese als ein Göttlicher schon von Jugend an in seiner Seele trägt, der wird auch, wenn die Zeit herankommt, Lust haben zu befruchten und zu erzeugen. Daher geht auch, meine ich, ein solcher umher, das Schöne zu suchen, worin er erzeugen könne. Denn in dem Häßlichen wird er nie erzeugen. Daher erfreut er sich sowohl an schönen Leibern mehr als an häßlichen, weil er nämlich erzeugen will, als auch, wenn er eine schöne, edle und wohlgebildete Seele antrifft, erfreut er sich vorzüglich an beidem vereinigt und hat für einen solchen Menschen gleich eine Fülle von Reden über die Tugend und darüber, wie ein trefflicher Mann sein müsse und wonach streben; und gleich unternimmt er, ihn zu unterweisen. Nämlich indem er den Schönen berührt, meine ich, und mit ihm sich unterhält, erzeugt und gebiert er, was er schon lange zeugungslustig in sich trug, und indem er anwesend und abwesend seiner gedenkt, erzieht er auch mit jenem gemeinschaftlich das Erzeugte. So daß diese eine weit genauere Gemeinschaft miteinander haben als die eheliche und eine festere Freundschaft, wie sie auch schönere und unsterblichere Kinder gemeinschaftlich besitzen. Und jeder sollte lieber solche Kinder haben wollen als die menschlichen, wenn er auf Homeros sieht und Hesiodos und die anderen trefflichen Dichter, nicht ohne Neid, was für Geburten sie zurücklassen, die ihnen unsterblichen Ruhm und Angedenken sichern, wie sie auch selbst unsterblich sind. Oder, wenn du willst, sagte sie, was für Kinder Lykurgos in Lakedaimon zurückgelassen hat, Retter von Lakedaimon und, um es geradeheraus zu sagen, von ganz Hellas. Geehrt ist bei euch auch Solon, weil er Gesetze gezeugt, und viele andere anderwärts unter Hellenen und Barbaren, die viele und schöne Werke dargestellt haben und vielfältige Tugenden erzeugt, denen auch schon viele Heiligtümer sind errichtet worden um solcher Kinder willen, der menschlichen Kinder wegen aber nie jemandem.

Der Stufenweg in der Erkenntnis des Schönen
(210 a) Soweit nun, o Sokrates, vermagst wohl auch du in die Geheimnisse der Liebe eingeweiht zu werden; ob aber, wenn jemand die höchsten und heiligsten, auf welche sich auch jene beziehen, recht vortrüge, du es auch vermöchtest, weiß ich nicht Indes, sprach sie, will ich sie vortragen und es an mir nirgend fehlen lassen. Versuche nur zu folgen, wenn du es vermagst. Wer nämlich auf die rechte Art diese Sache angreifen will, der muß in der Jugend damit anfangen, schönen Gestalten nachzugehen, und wird zuerst freilich, wenn er richtig beginnt, nur einen solchen lieben und diesen mit schönen Reden befruchten, hernach aber von selbst innewerden, daß die Schönheit in irgendeinem Leibe der in jedem andern verschwistert ist und es also, wenn er dem in der Idee Schönen nachgehen soll, großer Unverstand wäre, nicht die Schönheit in allen Leibern für eine und dieselbe zu halten, und wenn er dessen innegeworden, sich als Liebhaber aller schönen Leiber darstellen und von der gewaltigen Heftigkeit für einen nachlassen, indem er dies für klein und geringfügig hält. Nächstdem aber muß er die Schönheit in den Seelen für weit herrlicher halten als die in den Leibern, so daß, wenn einer, dessen Seele zu loben ist, auch nur wenig von jener Blüte zeigt, ihm das doch genug ist und er ihn liebt und pflegt, indem er solche Reden erzeugt und aufsucht, welche die Jünglinge besser zu machen vermögen, damit er selbst so dahin gebracht werde, das Schöne in den Bestrebungen und in den Sitten anzuschauen, um auch von diesem zu sehen, daß es sich überall verwandt ist, und so die Schönheit des Leibes für etwas Geringeres zu halten. Von den Bestrebungen aber muß er weiter zu den Erkenntnissen gehen, damit er auch die Schönheit der Erkenntnisse schaue und, vielfältiges Schöne schon im Auge habend, nicht mehr dem bei einem einzelnen, indem er knechtischerweise die Schönheit eines Knäbleins oder irgendeines Mannes oder einer einzelnen Bestrebung liebt dienend sich schlecht und kleingeistig zeige, sondern auf die hohe See des Schönen sich begehend und dort umschauend, viel schöne und herrliche Reden und Gedanken erzeuge in ungemessenem Streben nach Weisheit, bis er, hierdurch gestärkt und vervollkommnet, eine einzige solche Erkenntnis erblicke, welche auf ein Schönes folgender Art geht. Hier aber, sprach sie, bemühe dich nur, aufzumerken, so sehr du kannst.

Die Vollendung des Lebens in der Schau des Schönen selbst
Wer nämlich bis hierher in der Liebe erzogen ist, das mancherlei Schöne in solcher Ordnung und richtig schauend, der wird, indem er nun der Vollendung in der Liebeskunst entgegengeht, plötzlich ein von Natur wunderbar Schönes erblicken, nämlich jenes selbst o Sokrates, um deswillen er alle bisherigen Anstrengungen gemacht hat, welches zuerst immer ist und weder entsteht noch vergeht, (211 a) weder wächst noch schwindet, ferner auch nicht etwa nur insofern schön, insofern aber häßlich ist, noch auch jetzt schön und dann nicht, noch in Vergleich hiermit schön, damit aber häßlich, noch auch hier schön, dort aber häßlich, als ob es nur für einige schön, für andere aber häßlich wäre. Noch auch wird ihm dieses Schöne unter einer Gestalt erscheinen, wie ein Gesicht oder Hände oder sonst etwas, was der Leib an sich hat, noch wie eine Rede oder eine Erkenntnis, noch irgendwo an einem andern seiend, weder an einem einzelnen Lebenden, noch an der Erde, noch am Himmel; sondern an und für und in sich selbst ewig überall dasselbe seiend, alles andere Schöne aber an jenem auf irgendeine solche Weise Anteil habend, daß, wenn auch das andere entsteht und vergeht, jenes doch nie irgendeinen Gewinn oder Schaden davon hat, noch ihm sonst etwas begegnet. Wenn also jemand vermittels der echten Knabenliebe von dort an aufgestiegen jenes Schöne anfängt zu erblicken, der kann beinahe zur Vollendung gelangen. Denn dies ist die rechte Art sich auf die Liebe zu legen oder von einem andern dazu angeführt zu werden, daß man von diesem einzelnen Schönen beginnend jenes einen Schönen wegen immer höher hinaufsteige, gleichsam stufenweise von einem zu zweien, und von zweien zu allen schönen Gestalten, und von den schönen Gestalten zu den schönen Sitten und Handlungsweisen, und von den schönen Sitten zu den schönen Kenntnissen, bis man von den Kenntnissen endlich zu jener Kenntnis gelangt, welche von nichts anderem als eben von jenem Schönen selbst die Kenntnis ist, und man also zuletzt jenes selbst, was schön ist, erkenne. Und an dieser Stelle des Lebens, lieber Sokrates, sagte die Mantineische Fremde, wenn irgendwo, ist es dem Menschen erst lebenswert, wo er das Schöne selbst schaut, welches, wenn du es je erblickst, du nicht wirst vergleichen wollen mit kostbarem Gerät oder Schmuck oder mit schönen Knaben und Jünglingen, bei deren Anblick du jetzt entzückt bist und wohl gern, du wie viele andere, um nur den Liebling zu sehen und immer mit ihm vereinigt zu sein, wenn es möglich wäre, weder essen noch trinken möchtest, sondern nur anschauen und mit ihm verbunden sein. Was also, sprach sie, sollen wir erst glauben, wenn einer dazu gelangte, jenes Schöne selbst rein, lauter und unvermischt zu sehen, das nicht voll menschlichen Fleisches ist und Farben und anderen sterblichen Flitterkrames, sondern das göttlich Schöne selbst in seiner Einartigkeit zu schauen? (212a) Meinst du wohl, daß das ein schlechtes Leben sei, wenn einer dorthin sieht und jenes erblickt und damit umgeht? Oder glaubst du nicht, daß dort allein ihm begegnen kann, indem er schaut, womit man das Schöne schauen muß, nicht Abbilder der Tugend zu erzeugen, weil er nämlich auch nicht ein Abbild berührt, sondern Wahres, weil er das Wahre berührt? Wer aber wahre Tugend erzeugt und aufzieht, dem gebührt, von den Göttern geliebt zu werden, und wenn irgendeinem anderen Menschen, dann gewiß auch ihm, unsterblich zu sein.
Solches, o Phaidros und ihr übrigen, sprach Diotima und habe ich ihr geglaubt, und wie ich es glaube, suche ich es auch andern glaublich zu machen, daß, um zu diesem Besitz zu gelangen, nicht leicht jemand der menschlichen Natur einen besseren Helfer finden könnte als den Eros. Darum auch, behaupte ich, sollte jedermann den Eros ehren und ehre ich auch selbst alles, was zur Liebe gehört, und übe mich darin ganz vorzüglich und ermuntere auch andere dazu und preise jetzt und immer die Macht und Tapferkeit des Eros, so sehr ich nur vermag. Willst du nun, o Phaidros, so nimm diese Rede dafür an, daß ich sie als eine Lobrede auf den Eros gesprochen; wo nicht, nenne sie, wie und wonach du sie nennen willst.
Aus: Platon, Sämtliche Werke 2, Menon, Hippias I, Euthydemos, Menexenos, Kratylos, Lysis, Symposion (S.225-240 Symposion)
In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 14

Knabenliebe
Symposium 181a - 185a
9. Die beiden Arten der Liebe - Einschätzung der Knabenliebe in ungebildeten und barbarischen Staaten
Der der gemeinen Aphrodite also ist auch in Wahrheit gemein und bewirkt, was sich eben trifft, und dieser ist es, nach welchem die schlechten unter den Menschen lieben. Es lieben aber solche zuerst nicht minder Frauen als Knaben; dann, welche sie nun eben lieben, an denen mehr den Leib als die Seele; dann, soviel sie immer können, die unvernünftigsten, indem sie nur auf die Befriedigung sehen, unbekümmert, ob auf schöne Weise oder nicht. Daher ihnen denn begegnet, daß sie tun, was ihnen eben vorkommt, gleichermaßen wie das Gute ebenso auch das Gegenteil. Wie denn auch dieser Eros von der Göttin abstammt, welche teils weit jünger ist als die andere, teils auch ihren Ursprung schon beidem, Weiblichem sowohl als Männlichem, verdankt.

Der der himmlischen aber gehört zuerst einer, welche nicht von Weiblichem, sondern nur von Männlichem abstammt, und dies ist die Liebe der Knaben; dann auch welche älter ist und keinen Anteil irgend hat an Frevel. Daher denn wenden sich zu dem Männlichen die von diesem Eros angewehten, indem sie das von Natur stärkere und mehr Vernunft in sich habende lieben. Und es unterscheidet einer wohl leicht auch in der Knabenliebe selbst die ganz rein von diesem Eros getriebenen. Denn sie lieben nicht Kinder, sondern solche, die schon anfangen, Vernunft zu zeigen. Dies trifft aber nahe zusammen mit dem ersten Bartwuchs. Und die alsdann anfangen zu lieben, sind, denke ich, darauf eingerichtet, für das ganze Leben vereinigt zu sein und es in Gemeinschaft hinzubringen, nicht aber den Jüngling, nachdem sie seinem Unverstand etwas entlockt, hernach zu verlachen und von ihm zu einem anderen zu entlaufen. Es sollte aber auch ein Gesetz sein, nicht Kinder zu lieben, damit nicht aufs Ungewisse hin so viele Bemühungen verwendet würden. Denn bei den Kindern ist der Ausgang ungewiß, wo es hinaus will, ob zur Schlechtigkeit oder Tugend der Seele und des Leibes. Die Besseren nun setzen sich dieses Gesetz selbst freiwillig, man soll aber auch jene gemeinen Liebhaber hierzu nötigen, wie wir sie auch von edeln Frauen, soviel wir nur vermögen, abhalten, daß sie sie nicht lieben dürfen. Denn diese sind es, welche auch der Sache die Schmach (1
82a) zugefügt haben, daß manche sagen durften, es sei schändlich willfahren den Liebhabern. Dies sagen sie aber nur mit Hinsicht auf diese, weil sie ihre Unzeitigkeit und Unrechtlichkeit sehen. Denn anständig und sittig betrieben, kann keine Handlung, welche es auch sei, gerechter Tadel treffen.

Was nun aber eigentlich Sitte ist in bezug auf die Liebe, ist in andern Staaten wohl gar sehr leicht zu erkennen; denn ganz einfach ist es bestimmt, die hiesige aber und die in Lakedaimon ist schwierig und verwickelt. In Elis nämlich und unter den Böotern und wo sonst man nicht geschickt ist im Reden, da ist es schlechthin zur Sitte geworden, daß man für schön hält, zu willfahren den Liebhabern, und keiner, weder jung noch alt, wird sagen, es sei schändlich, damit sie, meine ich, nicht erst Mühe haben, wenn sie versuchen müßten, durch Reden die Jünglinge zu bewegen, weil sie nämlich unvermögend sind zu reden. In Ionien aber und sonst an vielen Orten erklärt es die Sitte für schändlich, wo man nämlich unter Barbaren wohnt. Denn den Barbaren gilt der unumschränkten Gewalt wegen dies für schändlich, sowie auch die Lust zur Wissenschaft und zu den Leibesübungen. Denn den Herrschenden, meine ich, ist es nicht zuträglich, daß große Einsichten sich unter den Beherrschten hervortun noch auch starke Freundschaften und Verbindungen, was doch vornehmlich pflegt, sowohl durch jenes andere alles, als auch durch die Liebe gebildet zu werden.

Durch die Tat aber haben dies auch die hiesigen Tyrannen erfahren; denn des Aristogeiton und Harmodios zu einer festen Freundschaft gediehene Liebe zerstörte ihre Herrschaft. Also, wo es für schändlich geachtet ist, den Liebhabern zu willfahren, da besteht diese Sitte durch Schlechtigkeit derer, welche sie aufgestellt, nämlich durch der Herrschenden Begehrlichkeit und der Beherrschten Unmännlichkeit; wo es aber schlechthin als schön festgestellt ist, da durch die Trägheit der Seele derer, welche sie aufgestellt. Hier aber ist eine weit schönere Sitte als jene eingeführt, nur die, wie ich sagte, nicht leicht ist zu verstehen.

10. Erklärung des in Athen bei der Knabenliebe herrschenden Brauchs

Denn bedenkt einer, daß gesagt wird, es sei schöner, öffentlich lieben als verstohlen, und zwar vorzüglich die Edelsten und Besten, wären sie auch minder schön als andere, und was für sonderliche Aufmunterung dem Liebenden von allen widerfährt, gar nicht als ob er etwas Schändliches täte; und daß den Geliebten zu gewinnen für schön gehalten wird, ihn nicht zu gewinnen aber für schimpflich, und daß, um den Versuch zu machen, ob er ihn gewinnen könne, die Sitte dem Liebhaber freigestellt hat, gar vielerlei verwundernswürdige Dinge zu unternehmen und dafür gelobt zu werden, wofür, wenn jemand wagen wollte sie zu tun, indem er sonst irgend etwas verfolgte und (183a) erreichen wollte als nur dieses, er den schärfsten Tadel ernten würde; denn wer etwa, um Geld von jemand zu bekommen oder zu einem Amt und sonstiger Gewalt zu gelangen, das tun wollte, was Liebhaber ihren Lieblingen tun, mit demütig flehenden Stellungen und Gebärden bitten, Eide schwören, sich vor die Türe lagern und freiwillig Dienstleistungen verrichten, wie sie nicht einmal ein Knecht verrichtet, so würde er verhindert werden, die Sache so zu betreiben, von Freunden und Feinden, indem diese ihm Schmeichelei und Niedrigkeit vorwerfen, jene ihn zurechtweisen und sich darüber schämen würden; dem Liebenden aber, wenn er dies alles tut, wird es gutgeheißen, und es ist ihm herkömmlich zugestanden, dies ohne Schande zu tun, weil er nämlich eine gar herrliche Sache betreibe. Ja, das stärkste ist, wie man doch insgeheim sagt, daß auch, wenn er geschworen hat, für ihn allein Verzeihung bei den Göttern ist, wenn er den Schwur bricht; denn ein Liebesschwur, sagen sie, sei keiner. So haben Götter sowohl als Menschen dem Liebenden gar viele Freiheit gestattet, wie die hiesige Sitte besagt. Hiernach nun sollte man glauben, es gelte in dieser Stadt für etwas gar Schönes sowohl zu lieben, als den Liebhabern Freund zu werden.

Wenn aber wiederum die Väter Aufseher bestellten für die Geliebten, um nicht zuzugeben, daß sie sich mit den Liebhabern unterhalten, und dem Aufseher gerade dies vorzüglich aufgetragen wird, ja auch die Gespielen und andere es ihnen zum Vorwurf machen, wenn sie sehen, daß so etwas geschieht, und die Älteren diesen Vorwürfen nicht Einhalt tun, noch sie dafür schelten, als täten sie Unrecht daran, auf dieses also wiederum sehend sollte man im Gegenteil glauben, daß eben dies hier für das Schändlichste gelte. Es verhält sich aber damit, glaube ich, folgendergestalt. Nämlich es ist nicht einerlei in allen Fällen, nicht schlechthin, wie ich schon anfangs sagte, daß es an und für sich weder schön noch schändlich sei, sondern schön behandelt ist es schön, anders aber schändlich. Schändlich nämlich ist es einem Schlechten und auf schlechte Art gefällig werden; schön aber einem Guten und auf schöne Art. Und schlecht ist eben jener gemeine Liebhaber, der den Leib mehr liebt als die Seele; wie er auch nicht einmal beständig ist, da er ja keinen beständigen Gegenstand liebt. Denn mit der entfliehenden Blüte des Leibes, den er liebte, verschwindet auch er und flattert davon, viele Reden und Versprechungen zuschanden machend. Der Liebhaber eines Gemütes aber, welches gut ist, bleibt zeitlebens, (184a) denn mit dem Bleibenden hat er sich verschmolzen. Diese also will unsere Sitte, daß man wohl und recht prüfe, und dem einen gefällig sei, den andern aber meide. Deshalb ermuntert sie den Liebhaber zum Nachjagen, den Geliebten zum Fliehen, indem sie einen Kampf anstellt und eine Prüfung, zu welchen von beiden wohl der Liebhaber gehöre und zu welchen der Geliebte. So demnach und aus dieser Ursache wird zuerst sich schnell gewinnen zu lassen für schimpflich gehalten, damit es an der Zeit nicht fehle, welche ja scheint das meiste am besten zu prüfen; dann auch durch Reichtum oder Gewalt im Staate gewonnen werden ist schimpflich, mag nun einer unter übler Begegnung sich beugen und nicht aushalten oder, wenn man ihm zu Reichtümern und zu seinen Absichten im Staate verhilft, dies nicht verschmähen. Denn nichts dergleichen scheint sehr sicher und beständig zu sein, ungerechnet noch, daß auch nicht einmal eine wahre Freundschaft daraus entstehen kann. Ein Weg also ist nach unseren Sitten noch übrig, wie es schön sein kann, daß ein Liebling seinem Liebhaber gefällig werde. Denn es ist unter uns Sitte, daß so wie die Liebhaber durften ihren Lieblingen freiwillig jeglichen Dienst leisten, ohne daß es ihnen als Schmeichelei angerechnet wurde oder als sonst etwas Schimpfliches, so noch eine einzige freiwillige Dienstbarkeit übrig ist, welche nicht schimpflich ist, und das ist die um die Tugend.

11. DIe eine schöne Form der Knabenliebe
Denn das ist bei uns Sitte, wenn jemand will einem andern ergeben sein, weil er glaubt, besser durch ihn zu werden, es sei in irgend einer Einsicht oder in einem andern Teile der Tugend, daß ein solcher freiwilliger Dienst nicht schändlich sei noch eine Niedrigkeit.

Diese beiden Satzungen nun muß man zusammenbringen in eins, jene über die Knabenliebe und diese über die Philosophie und die Tugend, wenn es sich fügen soll, daß es schön sei, ein Liebling werde seinem Liebhaber gefällig. Denn wenn so beide zusammentreffen, Liebhaber und Liebling, daß jeder die Meinung für sich hat, jener die, daß er recht daran tue, dem Liebling, der ihm gefällig geworden, jeglichen Dienst zu erzeigen, dieser aber die, daß es recht sei, dem, der ihn weise und gut macht, was es auch immer sei, zu erweisen, und dann jener auch wirklich vermag, zur Weisheit und Tugend behilflich zu sein, dieser aber begehrt, zur Bildung und zu jeglicher Art der Weisheit Hilfe zu erlangen; dann also wenn diese beiden Satzungen in eins zusammenkommen, da allein trifft es auch zu, daß es schön ist, für den Liebling dem Liebhaber gefällig zu sein, sonst aber nirgends. Und in diesem Falle ist selbst getäuscht zu werden nichts Schändliches; in jedem andern aber bringt es Schande, mag nun einer getäuscht werden oder auch nicht. Denn wenn einer einem Liebhaber als einem Reichen (185a) um des Reichtums willen gefällig geworden und damit hintergangen wäre, daß er kein Geld bekäme, weil sich eben zeigte, daß der Liebhaber arm ist, so bliebe die Sache doch um nichts minder schlecht. Denn ein solcher, denkt man, hat doch das Seinige gezeigt, daß er um des Geldes willen jedem jedes tun würde, und das ist nicht schön. Aus demselben Grunde nun, wenn jemand einem als einem Guten gefällig geworden, und um selbst besser zu werden durch die Freundschaft seines Liebhabers, hierin aber hintergangen wäre, indem es sich zeigte, daß jener schlecht ist und selbst keine Tugend besitzt, so ist doch auch die Täuschung schön. Denn auch dieser wiederum scheint doch auch, soviel an ihm lag, gezeigt zu haben, daß er der Tugend wegen und um besser zu werden allen zu allen Dingen bereit wäre, und dies wiederum ist unter allem das Schönste. So ist es doch auf alle Weise schön, der Tugend wegen sich hinzugeben. Dieses ist der Eros der himmlischen Göttin und selbst himmlisch und viel wert dem Staat und den Einzelnen, indem er den Liebenden nötiget, viel Sorgfalt auf seine eigne Tugend zu wenden, und auch den Geliebten; jeder andere Eros aber gehört der anderen, der gemeinen.
Aus: Platon, Sämtliche Werke 2, Menon, Hippias I, Euthydemos, Menexenos, Kratylos, Lysis, Symposion (S.213-217 Symposion)
In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 14

Die Schwierigkeiten bei der theologischen Moralbegründung
Euthyphron 2a - 16 a
1. Die Anklage des Meletos wegen Verderbung der Jugend

EUTHYPHRON: Was hat sich doch Neues ereignet, o Sokrates, daß (2a) du dem Aufenthalt im Lykeion entsagend dich jetzt hier aufhältst bei der Halle des Basileus? Denn du hast doch wohl nicht auch einen Rechtsstreit bei dem Basileus, wie ich?

SOKRATES: Wenigstens, o Euthyphron, nennen dies die Athener nicht einen Rechtsstreit, sondern eine Staatsklage.

EUTHYPHRON: Was sagst du? Eine solche hat jemand gegen dich eingeleitet? Denn du gegen einen andern, das kann ich von dir nicht denken.

SOKRATES: So ist es auch nicht.

EUTHYPHRON: Sondern ein anderer gegen dich.

SOKRATES: Freilich.

EUTHYPHRON:
Wer doch?

SOKRATES:
Ich kenne den Mann selbst nicht recht, Euthyphron; jung scheint er mir wohl noch zu sein und ziemlich unbekannt. Man nennt ihn, glaube ich, Meletos, und von Zunft ist er ein Pitthier, wenn du dich etwa auf einen Pitthier Meletos besinnst mit glattem Haar, noch schwachem Bart und Habichtsnase.

EUTHYPHRON: Ich besinne mich nicht; aber was für eine Klage hat er denn gegen dich eingegeben?

SOKRATES: Was für eine? Die ihm nicht wenig Ehre bringt, dünkt mich. Denn so jung noch sein und schon eine so wichtige Sache verstehen, ist nichts geringes. Nämlich er weiß, wie er behauptet, auf welche Weise die Jugend verderbt wird, und wer sie verderbt. Er mag also wohl ein Weiser sein, und weil er meine Unweisheit innegeworden, als durch welche ich seine Altersgenossen verderbe: so geht er, wie zur Mutter, zum Staat, um mich zu verklagen. Und er allein unter allen öffentlichen Männern scheint mir die Sache recht anzufangen: Denn ganz recht ist es, zuerst für die Jugend zu sorgen, daß sie aufs beste gedeihe; wie auch ein guter Landmann immer zuerst für die jungen Pflanzen sorgt und hernach für die übrigen. So wahrscheinlich will auch Meletos zuerst uns vertilgen, die wir den frischen Trieb der Jugend verderben, wie er sagt; (3a) hernach aber wird er, natürlich auch für die Älteren sorgend, dem Staat ein Urheber sehr vieler und großer Vorteile werden, wie man ja erwarten muß von dem, der mit einem solchen Anfang anfängt.

2. ...und Erdichtung neuer Götter
EUTHYPHRON: Das wünschte ich wohl, o Sokrates! Allein es graut mir, daß es nur nicht das Gegenteil sei. Denn mich dünkt er recht vom heiligsten Grund aus den Staat mißhandeln zu wollen, da er sich bemüht, dich zu verletzen. Aber sage mir doch, wodurch behauptet er denn, daß du die Jugend verderbest?

SOKRATES: Unsinnig genug, mein Guter, wenn man es so hört. Er sagt nämlich, ich erdichtete Götter, und als einen Erdichter neuer Götter, der an die alten nicht glaubt, verklagt er mich eben deshalb, wie er sagt.

EUTHYPHRON: Ich verstehe, Sokrates. Weil du immer sagst, das Dämonische sei dir widerfahren: so stellt er diese Klage gegen dich an, als gegen einen Neuerer in göttlichen Dingen, und kommt, um dich zu verleumden vor Gericht, weil er weiß, daß dergleichen Verleumdungen sehr leicht Eingang finden bei den meisten. Denn auch mit mir, wenn ich in der Gemeinde etwas rede von göttlichen Dingen und ihnen vorhersage, was geschehen wird, treiben sie Spott wie mit einem Wahnsinnigen, und doch ist nichts, was nicht eingetroffen wäre von allem, was ich vorhersagte. Aber doch sind wir alle ihnen verhaßt. Aber man muß sich nur nichts um sie kümmern, sondern geradezugehen.

3. Ihr vermutlicher Grund
SOKRATES: Lieber Euthyphron, bespöttelt zu werden, das ist nun eben keine große Sache. Und weiter, wie mich dünkt, kümmern sich die Athener nicht sonderlich um einen, wenn sie ihn auch für noch so gewaltig halten, der nur nicht lehrlustig ist mit seiner Weisheit. Von wem sie aber glauben, er wolle auch andere zu solchen machen, dem zürnen sie, sei es nun aus Haß, wie du meinst, oder aus was sonst.

EUTHYPHRON: Was dies betrifft, begehre ich gar nicht zu versuchen, wie sie über mich denken.

SOKRATES: Weil du eben das Ansehen hast, dich selten zu machen und niemanden deine Weisheit lehren zu wollen; ich aber befürchte, daß ich bei ihnen in dem Ruf stehe meiner Menschenliebe wegen, was ich nur weiß verschwenderisch jedermann zu sagen nicht nur unentgeltlich, sondern auch noch gern etwas dazugebend, wenn mich nur jemand hören will. Wie ich also eben sagte, wenn sie mit mir nur Scherz treiben wollten, wie du behauptest, daß sie es dir machen: so wäre das gar nicht übel, scherzend und lachend vor Gericht zu stehen. Wenn sie aber Ernst machen wollen, so kann wohl niemand leicht wissen, wie die Sache ablaufen wird, außer ihr Wahrsager.

EUTHYPHRON: Wahrscheinlich wird es wohl nichts sein, Sokrates; sondern du wirst deine Sache nach Wunsch ausfechten, und so denke auch ich die meinige.

4. Die Sache des Euphythron
SOKRATES: Und was für eine Sache hast denn du, Euthyphron? Verfolgst du oder wirst du verfolgt?

EUTHYPHRON:
Ich verfolge.

SOKRATES: Und wen?

EUTHYPHRON: (4a) Einen solchen, daß man mich für rasend halten wird ihn zu verfolgen.

SOKRATES: Wieso? Kann er etwa fliegen?

EUTHYPHRON: Am Fliegen fehlt ihm wohl viel, da er schon ganz wohlbetagt ist.

SOKRATES: Und wer ist es denn?

EUTHYPHRON: Mein eigner Vater.

SOKRATES: Dein eigner Vater, o Bester?

EUTHYPHRON: Ganz sicher.

SOKRATES: Und welches ist denn die Beschuldigung? Worauf geht die Klage?

EUTHYPHRON: Auf Totschlag, Sokrates.

SOKRATES: Herakles! Aber die meisten Menschen, Euthyphron, wissen wohl gar nicht, wie dies recht ist? Denn ich glaube wohl nicht, daß der erste beste dies richtig tun kann, sondern nur wer schon weit in der Weisheit vorgeschritten ist.

EUTHYPHRON: Weit genug, allerdings beim Zeus, Sokrates.

SOKRATES: Es ist also wohl deiner nächsten Angehörigen einer, der durch deinen Vater ums Leben gekommen ist? Oder versteht sich das von selbst: denn eines Fremden wegen würdest du ihn wahrlich nicht als Totschläger verklagen!

EUTHYPHRON: Lächerlich ist es, o Sokrates, daß du meinst, dies mache einen Unterschied, ob der Getötete ein Fremder ist oder ein Angehöriger, und man müsse nicht das allein beachten, ob der Tötende ihn mit Recht getötet hat oder nicht, und wenn mit Recht, ihn gehen lassen, wenn aber nicht, ihn verfolgen, und wenn auch der Totschläger dein Herd- und Tischgenosse ist. Denn gleich groß ist ja die Befleckung, wissentlich mit einem solchen zu leben, ohne daß man sich und ihn durch die Angabe vor Gericht reinigt. Übrigens war der Tote ein Dienstmann von mir, und als wir des Landbaues wegen auf Naxos waren, tagelöhnerte er dort bei uns. In der Trunkenheit nun erzürnt er sich mit einem unserer Knechte und schlägt ihn tot. Der Vater also läßt ihn an Händen und Füßen gebunden in eine Grube werfen und schickt einen hieher zum Ausleger, sich Rats erholen, was zu tun wäre. Binnen dieser Zeit aber vernachlässigte er den Gebundenen als einen Totschläger, und als ob es nichts wäre, wenn er auch stürbe. Welches ihm dann auch begegnete: denn Frost, Hunger und Fesseln töteten ihn, ehe noch der Bote von dem Ausleger zurückkehrte. Dieses nun verdrießt eben den Vater und die übrigen Verwandten, daß ich eines Totschlägers wegen den Vater des Totschlages anklage, da er ihn doch, wie sie sagen, nicht einmal umgebracht hat, und selbst wenn er ihn umgebracht hätte, man doch eines solchen wegen sich nicht viel kümmern dürfe, der ja selbst ein Totschläger war. Denn es sei doch ruchlos, daß der Sohn den Vater des Totschlages anklage. Aber schlecht, o Sokrates, wissen sie, wie das Göttliche sich verhält, was Frommes und Ruchloses betrifft.

SOKRATES:
Du aber, um des Zeus willen, o Euthyphron, glaubst so genau dich auf die göttlichen Dinge zu verstehen, wie es sich damit verhält, und auf das Fromme und Ruchlose, das du bei diesem Hergang der Sache, wie du ihn berichtet hast, gar nicht besorgst, ob du nicht etwa selbst wiederum, indem du den Vater zu Recht belangst, etwas Ruchloses begehst?

EUTHYPHRON:
Gar nichts wäre ich ja nutz, o Sokrates, und um (5a) nichts wäre Euthyphron besser als die andern, wenn ich dergleichen nicht alles genau verstände.

5. Wunsch des Sokrates, sich über das Fromme belehren zu lassen.
SOKRATES: So wird es demnach für mich, du bewunderungswürdiger Euthyphron, wohl das beste sein, daß ich dein Schüler werde, und dem Meletos, noch ehe ich mich auf seine Klage einlasse, eben hierauf Vergleich anbiete und ihm sage: Auch vorher schon hätte ich es mir sehr angelegen sein lassen, das Göttliche zu verstehen, nun aber er behauptete, daß ich auf meine eigne Weise grüble und, Neuerungen in göttlichen Dingen aufbringend, mich schwer versündige, wäre ich eben dein Schüler geworden. Und wenn du nun, o Meletos, würde ich sagen, zugibst, daß Euthyphron weise ist in diesen Dingen und richtig darüber denkt, so glaube es von mir auch und verklage mich nicht. Wo aber nicht, so melde ihm, meinem Lehrer, die Klage eher an als mir, weil er die alten Leute verderbt, mich und seinen Vater, mich durch Lehre, jenen aber durch Verweis und Strafe. Wenn er mir nun nicht glaubt, noch auch mich von der Klage losläßt und statt meiner dich angibt, so werde ich vor Gericht eben das sagen, was ich ihm vorher beim Versuch des Vergleiches allein gesagt.

EUTHYPHRON: Ja, beim Zeus, Sokrates, wenn er es doch wagen wollte, mich anzugeben! Ich würde wohl finden, glaube ich, wo er anbrüchig ist, und es sollte weit eher noch vor Gericht von ihm die Rede sein als von mir.

SOKRATES: Eben weil ich dies auch weiß, lieber Freund, wünsche ich dein Schüler zu werden. Denn ich weiß ja, wie auch sonst mancher, und so auch dieser Meletos, dich nicht einmal zu sehen scheint, mich aber hat er so scharf und leicht überschaut, daß er mich schon der Gottlosigkeit anklagt. So sage mir nun um Zeus willen, was du jetzt eben so genau zu wissen behauptest, worin doch deiner Behauptung nach das Gottesfürchtige und das Gottlose bestehe, sowohl in Beziehung auf Totschlag als auf alles übrige. Oder ist nicht das Fromme in jeder Handlung sich selbst gleich und sich selbst ähnlich, so daß alles, was ruchlos sein soll, soviel nämlich seine Ruchlosigkeit betrifft, eine gewisse Gestalt hat?

EUTHYPHRON: Auf alle Weise freilich, Sokrates.

6. 1. These: Fromm ist, den Übeltäter zu verfolgen; Beispiel der Götter
SOKRATES: So sage also, was du behauptest, daß das Fromme sei, und was das Ruchlose.

EUTHYPHRON: Ich sage eben, daß das fromm ist, was ich jetzt tue, den Übeltäter nämlich, er habe nun durch Totschlag oder durch der Heiligtümer Beraubung oder durch irgend etwas dergleichen gesündigt, zu verfolgen, sei er auch Vater oder Mutter, oder wer sonst immer; ihn nicht zu verfolgen aber ist ruchlos. Denn, o Sokrates, betrachte nur, welchen starken Beweis ich dir anführen werde für diese Vorschrift, daß sie richtig ist; wie ich auch andern schon gesagt, daß dies ganz richtig wäre, dem Gottlosen nichts durchgehen zu lassen, und wäre er auch, was du nur willst. Nämlich die Menschen halten ja selbst den Zeus für den trefflichsten und gerechtesten aller Götter, und von diesem gestehen sie doch, daß er seinen eignen Vater gefesselt, (6a) weil der seine Söhne verschluckt ohne rechtlichen Grund; und dieser wiederum habe seinen Vater verschnitten ähnlicher Dinge wegen. Mir aber wollen sie böse sein, daß ich meinen Vater, der auch Unrecht getan, vor Gericht belange; und so widersprechen sie sich selbst in dem, was sie sagen in Bezug auf die Götter und auf mich.

SOKRATES: Ist etwa eben dies die Ursache, o Euthyphron, weshalb ich mit der Klage verfolgt werde, weil ich nämlich, wenn jemand dergleichen von den Göttern sagt, es übel aufnehme? Und meint man, wie es scheint, daß ich eben hierin fehle? Nun also, wenn auch du dieser Meinung bist, der in solchen Dingen so wohl unterrichtete: so müssen, wie es scheint, auch wir es zugeben. Denn was wollten wir auch sagen, die wir selbst eingestehen, nichts von der Sache zu wissen? Aber sage mir beim Gott der Freundschaft, glaubst du wirklich, daß dieses so gewesen ist?

EUTHYPHRON: Und noch Wunderbareres als dieses, o Sokrates, wovon nur die wenigsten etwas wissen.

SOKRATES: Auch Krieg glaubst du also wirklich, daß die Götter haben gegeneinander und gewaltige Feindschaften und Schlachten und viel dergleichen, wie es von den Dichtern erzählt wird, und wie es teils an andern heiligen Orten von guten Malern abgebildet ist, teils auch der Teppich voll ist von solchen Abbildungen, der an den großen Panathenäen in die Akropolis hinaufgetragen wird? Dies alles wollen wir für wahr erklären, Euthyphron?

EUTHYPHRON:
Und zwar nicht dieses allein, o Sokrates; sondern, wie ich eben sagte, noch vieles andere kann ich dir, wenn du willst, von göttlichen Dingen erzählen, welches vernehmend du, wie ich wohl weiß, erstaunen wirst.

7. Ihr Ungenügen und 2. These: Fromm ist, was den Göttern lieb ist
SOKRATES: Das soll mich nicht wundern. Allein, dies magst du mir ein andermal bei Gelegenheit erzählen. Jetzt aber versuche das, wonach ich dich soeben fragte, mir genauer zu erklären. Denn, Freund, du hast mich vorher nicht hinlänglich belehrt auf meine Frage, was wohl das Fromme wäre; sondern du sagtest mir nur, dieses wäre fromm, was du setzt tust, indem du den Vater des Totschlages wegen belangst.

EUTHYPHRON: Und daran habe ich wahr gesprochen, o Sokrates.

SOKRATES: Wahrscheinlich. Aber du gibst doch zu, Euthyphron, daß es noch viel anderes frommes gibt?

EUTHYPHRON: Das gibt es auch.

SOKRATES: Du erinnerst dich doch, daß ich dir nicht dieses aufgab, mich einerlei oder zweierlei von dem vielen Frommen zu lehren, sondern jenen Begriff selbst, durch welchen alles Fromme fromm ist. Denn du gabst ja zu, einer gewissen Gestalt wegen, die es habe, sei alles Ruchlose ruchlos und das Fromme fromm. Oder besinnst du dich darauf nicht?

EUTHYPHRON: Sehr wohl.

SOKRATES:
Diese Gestalt selbst also lehre mich, welche sie ist, damit ich auf sie sehend und mich ihrer als Urbildes bedienend, was nun ein solches ist, in deinen oder sonst jemandes Handlungen für fromm erkläre, was aber nicht ein solches, davon ausschließe.

EUTHYPHRON: Wenn du es so willst, Sokrates, kann ich es dir auch so erklären.

SOKRATES: Gar sehr will ich das.

EUTHYPHRON:
(7a) Was also den Göttern lieb ist, ist fromm; |was nicht lieb, ruchlos.

SOKRATES:
Sehr schön, o Euthyphron, und so wie ich wünschte, daß du antworten möchtest, hast du jetzt geantwortet. Ob indes auch richtig, das weiß ich noch nicht. Allein du wirst mir gewiß auch das noch dazu zeigen, wie es richtig ist, was du sagst.

EUTHYPHRON:
Ganz gewiß.

8. Aufzeigen ihrer Ambiguität [Zweideutigkeit, Doppelsinn]
SOKRATES: So komm denn, laß uns betrachten, was wir sagen. Was den Göttern lieb ist, und der den Göttern liebe Mensch ist fromm, und das den Göttern Verhaßte und der ihnen Verhaßte ist ruchlos. Und nicht etwa einerlei, sondern ganz entgegengesetzt ist das Fromme dem Ruchlosen. Nicht so?

EUTHYPHRON: Allerdings so.

SOKRATES: Und gut ist das wohl offenbar gesagt.

EUTHYPHRON:
Ich denke: denn es ist so erklärt worden.

SOKRATES: Ferner auch, daß die Götter entzweit sind und uneins untereinander, o Euthyphron, und daß es Feindschaft unter ihnen gibt gegeneinander, auch das wurde gesagt.

EUTHYPHRON:
Das wurde freilich gesagt.

SOKRATES:
Aus der Uneinigkeit über was für Dinge aber entsteht wohl Feindschaft und Erzürnung, o Bester? Laß uns das so überlegen. Wenn wir uneinig wären, ich und du, über Zahlen, welche von beiden mehr betrüge, würde die Uneinigkeit hierüber uns wohl zu Feinden machen und erzürnt gegeneinander? Oder würden wir zur Rechnung schreitend sehr bald über dergleichen Dinge uns einigen?

EUTHYPHRON: Ganz gewiß.

SOKRATES: Nicht auch, wenn wir über Größeres und Kleineres uneinig wären, würden wir, zur Messung schreitend sehr bald dem Streit ein Ende machen?

EUTHYPHRON: Das ist richtig.

SOKRATES: Und zur Abwägung schreitend würden wir, glaube ich, über leichteres und schwereres entscheiden?

EUTHYPHRON: Wie sollten wir nicht?

SOKRATES: Worüber also müßten wir uns wohl streiten, und zu was für einer Entscheidung nicht kommen können, um uns zu erzürnen und einander feind zu werden? Vielleicht fällt es dir eben nicht bei: allein laß mich es aussprechen, und überlege, ob es wohl dieses ist, das Gerechte und Ungerechte, das Edle und Schlechte, das Gute und Böse. Sind nicht dies etwa die Gegenstände, worüber streitend und nicht zur völligen Entscheidung gelangend wir einander feind werden, sooft wir es werden, du und ich sowohl als auch alle übrigen Menschen?

EUTHYPHRON:
Freilich ist es gerade dieser Streit, Sokrates, und über diese Dinge.

SOKRATES: Und wie die Götter, o Euthyphron? Werden sie nicht, wenn sie sich je streiten, sich über eben diese Dinge streiten?

EUTHYPHRON: Ganz notwendig.

SOKRATES: Also auch von den Göttern, du teurer Euthyphron, halten andere anderes für gerecht nach deiner Rede und für edel und schlecht und für gut und böse? Denn sie würden ja nicht in Zwietracht mit einander sein, wenn sie nicht im Streit wären über diese Gegenstände. Nicht wahr?

EUTHYPHRON: Ganz richtig.

SOKRATES: Und nicht wahr, was jeder von ihnen für edel hält und für gut und gerecht, das liebt er auch? und das Gegenteil davon haßt er?

EUTHYPHRON: Allerdings.

SOKRATES: Dasselbige aber, wie du sagst, halten die einen für gerecht, die anderen für ungerecht, welcher Uneinigkeit halber sie sich eben in Zwietracht und Krieg unter einander befinden. (8a) Ist es nicht so?

EUTHYPHRON: Gerade so.

SOKRATES: Dasselbige also, wie es scheint, wird von den Göttern gehaßt und auch geliebt, und dasselbige also wäre gottgehässig und gottgefällig?

EUTHYPHRON: Das scheint so.

SOKRATES: Also wäre ein und dasselbe auch fromm und ruchlos nach dieser Rede?

EUTHYPHRON: So ist es beinahe.

9. Was ist den Göttern lieb und wer tut unrecht?
SOKRATES: Also hast du doch nicht, was ich fragte, beantwortet, du Wunderlicher. Denn ich fragte nicht nach dem, was dasselbe bleibend fromm und auch ruchlos sein kann; was aber gottgefällig ist, das ist auch gottverhaßt, wie es scheint. Sodaß nicht zu verwundern ist, o Euthyphron, wenn das, was du setzt tust, indem du deinen Vater zur Strafe ziehst, dem Zeus etwa ganz wohlgefällig ist, dem Kronos aber und dem Uranos verhaßt, oder dem Hephaistos zwar lieb, der Here aber verhaßt, und ebenso auch mit andern Göttern, wenn etwa noch sonst einer mit einem andern hierüber uneins ist.

EUTHYPHRON: Allein ich glaube, o Sokrates, daß hierüber kein Gott mit dem andern uneins ist, daß nämlich der nicht Strafe leiden müsse, der einen andern ungerechterweise getötet hat.

SOKRATES: Wie doch, Euthyphron? Hast du etwa von Menschen jemals einen gehört, welcher das bezweifelt hätte, ob wer ungerechterweise einen andern getötet oder irgend sonst etwas ungerechterweise getan, auch wohl Strafe leiden müsse?

EUTHYPHRON: Sie hören ja gar nicht auf über dergleichen zu streiten, sowohl sonst als auch besonders vor Gericht. Denn nachdem sie noch so viel Unrecht getan, tun und reden sie alles Ersinnliche, um nur loszukommen von der Klage.

SOKRATES: Gestehen sie denn auch ein, daß sie Unrecht getan, und behaupten, nachdem sie dies eingestanden noch, daß sie doch keine Strafe erleiden dürften?

EUTHYPHRON: Das freilich keineswegs.

SOKRATES: Also doch nicht alles tun und sagen sie. Denn dies, denke ich, unterstehen sie sich nicht zu sagen oder zu bestreiten, daß nicht, wenn sie ja Unrecht getan, sie müßten Strafe leiden; sondern sie behaupten nur, glaube ich, sie hätten nicht Unrecht getan. Nicht wahr?

EUTHYPHRON: Darin hast du Recht.

SOKRATES:
Nicht also jenes bestreiten sie, daß der Unrechthandelnde nicht müsse bestraft werden; sondern nur darüber streiten sie mit einander, wer es denn ist, der Unrecht tut, und wodurch und wann?

EUTHYPHRON: Das ist richtig.

SOKRATES: Muß nun nicht dasselbe auch den Göttern begegnen, wenn sie doch in Zwietracht unter einander sind wegen des Gerechten und Ungerechten, wie ja deine Rede besagt, und einige behaupten, sie hätten einander Unrecht getan, andere es leugnen? Denn dieses, du Wunderbarer, wagt doch wohl niemand, weder Gott noch Mensch, zu sagen, daß auch, wer wirklich Unrecht getan, doch nicht Strafe leiden müsse.

EUTHYPHRON:
Ja hierin, o Sokrates, redest du wohl wahr im ganzen.

SOKRATES: Sondern über jegliches einzelne, was getan worden ist, streiten die, welche streiten, Menschen wie Götter, wenn anders Götter miteinander streiten, weil sie über eine Handlung ungleicher Meinung sind, indem einige sagen, es sei recht gewesen so zu handeln, andere, es sei unrecht gewesen. Ist es etwa nicht so?

EUTHYPHRON:
Allerdings.

10. Anwendung auf den Fall des Euthyphron
SOKRATES: (9a) So komm denn, lieber Euthyphron, und lehre auch mich, damit ich weiser werde: Was für einen Beweis hast du denn darüber, daß alle Götter glauben, der sei ungerechterweise getötet, der als Tagelöhner selbst einen tot geschlagen und dann von dem Herrn des Erschlagenen gebunden, an diesen Banden noch eher gestorben, als der, welcher ihn gebunden, Erkundigung von den Auslegern eingezogen, was seinetwegen zu tun wäre, und es sei ganz recht, wenn eines solchen wegen der Sohn den Vater des Totschlages beschuldigte und belangte? Komm und versuche mir recht deutlich zu erweisen, daß vor allen Dingen diese Handlung alle Götter für recht halten; und wenn du es mir zur Genüge erweisest, werde ich nie aufhören, dich deiner Weisheit wegen zu preisen.

EUTHYPHRON: Das ist nun wohl auch keine geringe Sache, o Sokrates; aber gewiß könnte ich dir es ganz deutlich zeigen.

SOKRATES: Ich verstehe; du hältst mich für ungelehriger als die Richter: denn denen willst du doch gewiß deutlich machen, daß das ungerecht ist, und daß alle Götter es hassen.

EUTHYPHRON: Ganz deutlich, Sokrates, wenn sie nur hören werden auf meine Rede.

11. Verbesserung der 2. These: Was alle Götter lieben, ist fromm
SOKRATES: Sie werden schon zuhören, wenn sie nur finden, daß du gut redest. Aber dies ist mir eingefallen, während du sprachst, und ich überlege es bei mir: Wenn mich nun auch Euthyphron noch so gründlich belehrt, daß sämtliche Götter einen solchen Tod für ungerecht halten, was habe ich nun dadurch mehr vom Euthyphron gelernt, was das Fromme ist und das Ruchlose? Denn gottgehässig wäre nun wohl diese Tat, wie es scheint. Aber nur eben hatte sich gezeigt, daß hierdurch das Fromme und Ruchlose nicht bestimmt ist, weil nämlich von dem Gottgehässigen sich gezeigt hatte, daß es auch gottgefällig ist. So daß ich dich hiervon gern loslasse, Euthyphron, und wenn du willst, sollen alle Götter dies für ungerecht halten, und alle sollen es hassen. Wollen wir aber nun etwa dieses berichtigen in unserer Erklärung, daß was alle Götter hassen ruchlos sein soll und was alle lieben fromm, was aber einige lieben und andere hassen, das soll auch keins von beiden sein oder beides? Willst du, daß uns nun so die Erklärung gestellt sein soll über das Fromme und Ruchlose?

EUTHYPHRON: Was hindert uns, Sokrates?

SOKRATES: Mich wohl nichts, Euthyphron; aber du überlege dir deinerseits, ob du dies zum Grunde legend mich am leichtesten das lehren kannst, was du versprochen hast.

EUTHYPHRON: Ich möchte allerdings behaupten, das sei das Fromme, was alle Götter lieben, und gegenteils, was alle Götter hassen, sei ruchlos.

SOKRATES:
Wollen wir nun nicht wieder dieses in Betrachtung ziehen, ob es gut gesagt ist, Euthyphron? oder es lassen, und so leicht mit uns selbst und andern zufrieden sein, daß wenn nur jemand behauptet, etwas verhalte sich so, wir es gleich einräumen und annehmen? oder muß man erst erwägen, was der wohl sagt, der etwas sagt?

EUTHYPHRON: Erwägen muß man es; ich jedoch glaube, dieses ist nun richtig gesagt.

12. Das Fromme ist nicht mit dem Gottgeliebten identisch
SOKRATES: (10 a) Bald, mein Guter, werden wir es besser wissen. Bedenke dir nämlich nur dieses, ob wohl das Fromme, weil es fromm ist, von den Göttern geliebt wird, oder ob es, weil es geliebt wird, fromm ist?

EUTHYPHRON: Ich verstehe nicht, was du meinst, Sokrates.

SOKRATES: So will ich versuchen, es dir deutlicher zu erklären. Wir nennen doch etwas bewegt und bewegend, getrieben und treibend, gesehen und sehend, und alles dergleichen siehst du doch ein, daß es verschieden ist und auch wie es verschieden ist.

EUTHYPHRON: Dies glaube ich einzusehen.

SOKRATES: Gibt es nicht ebenso auch ein Geliebtes und von diesem verschieden das Liebende?

EUTHYPHRON: Wie sollte es nicht?

SOKRATES:
So sage mir denn, ob das Bewegte deswegen, weil es bewegt wird, ein Bewegtes ist oder wegen etwas anderem?

EUTHYPHRON:
Nein, sondern deswegen.

SOKRATES: Auch das Getriebene also, weil es getrieben wird? und das Gesehene, weil es gesehen wird?

EUTHYPHRON: Allerdings

SOKRATES:
Nicht also weil es ein Gesehenes ist, deshalb wird es gesehen; sondern im Gegenteil, weil es gesehen wird, deshalb ist es ein Gesehenes. Und nicht weil etwas ein Getriebenes ist, deshalb wird es getrieben; sondern weil es getrieben wird, deshalb ist es ein Getriebenes. Noch auch weil es ein Bewegtes ist, deshalb wird es bewegt; sondern weil es bewegt wird, ist es ein Bewegtes. Ist dir nun deutlich, Euthyphron, was ich sagen will? Ich will nämlich dieses sagen: wenn etwas irgendwie wird, oder irgend etwas leidet, so wird es nicht, weil es ein Werdendes ist, sondern weil es wird, ist es ein Werdendes; noch weil es ein Leidendes ist, leidet es; sondern weil es leidet, ist es ein Leidendes. Oder gibst du das nicht zu?

EUTHYPHRON: Ich gewiß.

SOKRATES: Ist nun nicht auch das Geliebte ein etwas Werdendes oder ein etwas von einem andern Leidendes?

EUTHYPHRON: Freilich.

SOKRATES: Auch dieses also verhält sich so wie das bisherige; nicht weil es ein Geliebtes ist, wird es geliebt von denen, die es lieben, sondern weil es geliebt wird, ist es ein Geliebtes.

EUTHYPHRON:
Notwendig.

SOKRATES:
Was sagen wir also von dem Frommen, Euthyphron? Nicht daß es von allen Göttern geliebt wird, wie die Erklärung lautet?

EUTHYPHRON:
Ja.

SOKRATES: Ob wohl deshalb, weil es fromm ist, oder andersweshalb?

EUTHYPHRON: Nein, sondern deshalb.

SOKRATES: Also weil es fromm ist, deshalb wird es geliebt, und nicht weil es geliebt wird, deshalb ist es fromm.

EUTHYPHRON: So scheint es.

SOKRATES: Das Gottgefällige hingegen ist doch deswegen, weil es von den Göttern geliebt wird, das Geliebte und Gottgefällige.

EUTHYPHRON: Wie anders?

SOKRATES: Also ist das Gottgefällige nicht das Fromme, o Euthyphron, noch auch das Fromme das Gottgefällige, wie du sagst, sondern verschieden ist dieses von jenem.

EUTHYPHRON: Wie doch das, Sokrates?

SOKRATES: Weil wir doch zugeben, das Fromme werde deshalb geliebt, weil es fromm ist, nicht aber, weil es geliebt wird, sei es fromm. Nicht wahr?

EUTHYPHRON: Ja.

13. Das Fromme ist ein Teil des Gerechten
SOKRATES: Das Gottgefällige aber sei, weil es von den Göttern geliebt wird, eben dieses Geliebtwerdens wegen gottgefällig, nicht aber weil es gottgefällig ist, werde es geliebt.

EUTHYPHRON: Das ist richtig.

SOKRATES: Wenn also nun, lieber Euthyphron, das Gottgefällige und das Fromme dasselbe wäre: so müßte ja, wenn das Fromme um des Frommseins willen geliebt wird, auch (11a) das Gottgefällige wegen des Gottgefälligseins geliebt werden; wenn aber das Gottgefällige wegen des von den Göttern Geliebtwerdens gottgefällig ist, alsdann auch das Fromme wegen des Geliebtwerdens fromm sein. Nun aber siehst du, daß beides sich entgegengesetzt verhält, und also auch gänzlich von einander verschieden sein muß. Denn das eine ist, weil es geliebt wird, ein solches zum Geliebtwerden, das andere aber, weil es etwas ist zum Geliebtwerden, wird eben deshalb geliebt. Und es scheint beinahe, o Euthyphron, als wolltest du, gefragt was das Fromme ist, das Wesen desselben nicht aufzeigen, sondern nur eine Eigenschaft angeben, die ihm zukommt, daß nämlich dem Frommen das eignet, von allen Göttern geliebt zu werden, als was aber ihm dies eignet, das hast du noch nicht gesagt. Ist es dir also genehm, so verbirg es mir nicht, sondern erkläre noch einmal von vorn, was denn an sich seiend das Fromme hernach von allen Göttern geliebt wird oder was ihm sonst zukommt; denn hierüber wollen wir uns nicht streiten. Aber sage nur offen heraus, was denn das Fromme ist und das Ruchlose.

EUTHYPHRON:
Aber ich weiß nicht, wie ich dir sagen soll, was ich denke. Denn wovon wir auch ausgehen, das geht uns ja immer herum und will nicht bleiben, wohin wir es gestellt haben.

SOKRATES:
Das wäre ja meines Ahnherrn, des Daidalos, Kunst, o Euthyphron, was du da beschreibst. Wenn also ich dies gesagt und gesetzt hätte, so würdest du mich wohl verspotten, daß auch mir wegen der Verwandtschaft mit ihm meine Wortgebilde davon gingen und nicht stehen bleiben wollten, wohin sie einer auch stellt. Nun aber, denn die Grundlagen sind ja dein, brauchen wir einen andern Scherz. Denn dir wollen sie nicht bleiben, wie es dich ja selbst dünkt.

EUTHYPHRON: Mir aber, o Sokrates, scheinen unsere Reden gerade dieses Scherzes zu bedürfen. Denn dies Herumgehen und nicht an Ort und Stelle bleiben habe ich nicht in sie hineingelegt, sondern du, denke ich, der Daidalos. Denn meinetwegen wären sie immer so geblieben.

SOKRATES: So scheine ich ja beinahe jenen Mann um soviel zu übertreffen in der Kunst, als er nur sein eigenes konnte in Bewegung bringen, ich aber außer dem meinigen, wie es scheint, auch fremdes. Und das eben ist die rechte Feinheit in meiner Kunst, daß ich wider Willen kunstreich bin. Denn ich wollte ja weit lieber, daß die Reden mir blieben und unbeweglich ständen, als daß ich zu der Weisheit des Daidalos hernach auch den Reichtum des Tantalos bekäme. Doch dem sei genug. Weil du mir aber weichlich zu sein scheinst, so will ich mich mit dir bemühen zu zeigen, wie du mich belehren könnest über das Fromme; und werde mir nur nicht vorher müde. Sieh also zu, ob du nicht für notwendig hältst, daß alles Fromme auch gerecht sei?

EUTHYPHRON:
Allerdings.

SOKRATES:
Etwa auch alles Gerechte fromm? oder alles Fromme (12a) zwar gerecht, das Gerechte aber nicht alles fromm, sondern einiges davon zwar fromm, anderes aber auch anders?

EUTHYPHRON: Ich folge nicht, Sokrates, dem, was du sagst.

SOKRATES: Du bist ja doch um nicht viel wenigeres jünger, als du auch weiser bist denn ich. Aber, wie ich sage, du bist weichlich aus Überfluß von Weisheit. Allein, du Glücklicher, nimm dich ein wenig zusammen: denn es ist ja gar nicht schwer zu verstehen, was ich meine. Ich meine nämlich das Gegenteil von dem, was jener Dichter gedichtet hat, welcher sagt: Aber den Zeus, der dies wirkte, der dies hat alles geordnet, weigerst zu nennen du dich, denn wo Furcht, da immer ist Scham auch. Ich nun weiche ab von diesem Dichter; soll ich dir sagen, wie?

EUTHYPHRON: Sage es freilich.

SOKRATES: Mich dünkt nicht, wo Furcht, ist immer die Scham auch. Denn viele, denke ich, welche Krankheit, Armut und dergleichen vielerlei fürchten, fürchten dies zwar, aber schämen sich keinesweges dessen, was sie fürchten. Denkst du nicht auch?

EUTHYPHRON: Allerdings.

SOKRATES: Wohl aber dünkt mich, wo Scham, da immer auch Furcht zu sein. Oder gibt es wohl jemand, der eine Sache scheuend und sich schämend nicht auch Furcht und Angst hätte vor dem Ruf der Schlechtigkeit?

EUTHYPHRON: Gewiß fürchtet er ihn.

SOKRATES: Also ist es nicht richtig, zu sagen: Wo nur Furcht, ist immer die Scham auch; wohl aber: wo Scham, ist immer die Furcht auch. Nämlich größer ist, glaube ich, die Furcht als die Scham; denn die Scham ist ein Teil der Furcht, so wie das Ungerade ein Teil der Zahl ist. Wie denn auch nicht überall, wo nur Zahl, immer auch Ungerades ist, wo aber Ungerades ist, da ist immer auch Zahl. Nun folgst du mir doch wohl?

EUTHYPHRON: Vollkommen.

SOKRATES: In demselben Sinne nun fragte ich auch dort, ob etwa wo Gerechtes immer auch Frommes ist, oder zwar wo Frommes immer auch Gerechtes, wo aber Gerechtes nicht überall Frommes, weil nämlich das Fromme ein Teil des Gerechten ist. Wollen wir dies behaupten oder willst du anders?

EUTHYPHRON: Nein, sondern so, denn es leuchtet mir ein, daß dies richtig ist.

14. 3. These: Das Fromme ist ein Teil des Gerechten, der auf die Behandlung der Götter geht
SOKRATES: Sieh also auch das folgende. Denn wenn das Fromme ein Teil des Gerechten ist, so liegt uns ob, wie es scheint, auszufinden, welcher Teil des Gerechten das Fromme denn ist. Wenn du mich nun über etwas von dem vorigen fragtest, wie, was für ein Teil der Zahl wohl das Gerade wäre, und welche Zahl dies eigentlich ist, so würde ich sagen, es ist die, welche nicht schief ist, sondern gleichschenkelig. Oder meinst du nicht?

EUTHYPHRON: Ich gewiß.

SOKRATES:
Versuche also auch du, ebenso mir zu zeigen, was für ein Teil des Gerechten das Fromme ist, damit ich doch dem Meletos sagen kann, er solle mir nicht länger Unrecht tun und mich der Gottlosigkeit verklagen, indem ich von dir schon vollkommen gelernt hätte, was gottesfürchtig und fromm ist und was nicht.

EUTHYPHRON:
Mich dünkt also, o Sokrates, derjenige Teil des Gerechten das Gottesfürchtige und Fromme zu sein, der sich auf die Behandlung der Götter bezieht; der aber auf die der Menschen ist der übrige Teil des Gerechten.

15. Behandlung der Götter bedeutet Dienst
SOKRATES: Und sehr schön, o Euthyphron, scheinst du mir dies erklärt zu haben. (13a) Nur noch ein weniges fehlt mir, die Behandlung nämlich verstehe ich noch nicht recht, was für eine du meinst: denn gewiß meinst du nicht, wie man von einer Behandlung anderer Dinge redet, eine solche auch der Götter. Denn wir reden so auch sonst. So zum Beispiel sagen wir, nicht jedermann wisse Pferde zu behandeln, sondern nur der Reiter. Nicht wahr?

EUTHYPHRON: Allerdings.

SOKRATES: Nämlich die Reitkunst ist die Behandlung der Pferde.

EUTHYPHRON:
Ja.

SOKRATES: Auch Hunde weiß nicht jeder zu behandeln, sondern der Jäger.

EUTHYPHRON: So ist es.

SOKRATES: Zur Jägerei nämlich gehört auch die Behandlung der Hunde.

EUTHYPHRON: Ja.

SOKRATES: Und die Viehzucht ist die der Ochsen.

EUTHYPHRON: Allerdings.

SOKRATES: Und die Frömmigkeit und Gottesfurcht, o Euthyphron, die der Götter. Meinst du so?

EUTHYPHRON: So meine ich es.

SOKRATES: Bezweckt aber nicht alle Behandlung ein und dasselbe, sie gereicht nämlich irgendwie zum Besten und zum Vorteil dessen, was man behandelt, wie du wohl siehst, daß die Pferde, von der Reitkunst behandelt und bedient, vorteilen und besser werden. Oder denkst du nicht?

EUTHYPHRON: Ich wohl.

SOKRATES: Ebenso die Hunde von der Jägerei, die Ochsen von der Rindviehzucht und alles andere gleichermaßen. Oder meinst du, die Behandlung gereiche zum Schaden des Behandelten?

EUTHYPHRON: Ich nicht, beim Zeus.

SOKRATES: Sondern zum Nutzen?

EUTHYPHRON: Wie anders?

SOKRATES:
Ist also auch die Frömmigkeit, da sie die Behandlung der Götter ist, ein Vorteil für die Götter und macht die Götter besser? Und würdest du das gelten lassen, daß, wenn du etwas Frommes verrichtest, du dadurch einen der Götter besser machst?

EUTHYPHRON: Beim Zeus, ich nicht!

SOKRATES: Auch ich, o Euthyphron, glaube nicht, daß du dies meinst; weit gefehlt! Sondern eben deshalb fragte ich vorher, was für eine Behandlung der Götter du wohl meintest, weil ich nicht glaubte, daß du eine solche meintest.

EUTHYPHRON:
Und das ganz richtig, o Sokrates, denn ich meine auch nicht eine solche.

SOKRATES: Gut. Aber was doch für eine Behandlung der Götter wäre denn die Frömmigkeit?

EUTHYPHRON:
Von der Art, o Sokrates, wie man auch sagen kann, daß die Knechte ihre Herren behandeln und bedienen.

SOKRATES:
Ich verstehe; ein Dienst, wie es scheint, soll sie den Göttern sein?

EUTHYPHRON: Allerdings.

16. Welches ist das Werk dieses Dienstes? Abbiegen des Euthyphron
SOKRATES: Kannst du mir nun wohl sagen, die Dienstleistung an Ärzte, zu welches Werkes Hervorbringung ist sie wohl behülflich? Zur Hervorbringung der Gesundheit glaubst du doch?

EUTHYPHRON: Gewiß.

SOKRATES: Und die Dienstleistung an Schiffbauer, zu welches Werkes Hervorbringung ist die behülflich?

EUTHYPHRON: Offenbar, o Sokrates, zu der des Schiffes.

SOKRATES: Und die an Baumeister zu der des Hauses?

EUTHYPHRON: Ja.

SOKRATES: So sage denn, o Bester, die Dienstleistung an Götter, zu welches Werkes Hervorbringung mag die behülflich sein? Denn gewiß weißt du es doch, da du behauptest, unter allen Menschen am besten dich auf göttliche Dinge zu verstehen.

EUTHYPHRON: Woran ich auch ganz recht habe, o Sokrates.

SOKRATES: So sage denn, beim Zeus, welches ist doch jenes vortreffliche Werk, das die Götter hervorbringen und uns dabei als Diener gebrauchen?

EUTHYPHRON: Sehr viele und schöne gibt es dergleichen, o Sokrates.

SOKRATES: (14a) Auch so die Heerführer, Freund. Dennoch aber kannst du mir sehr leicht das Wesentliche davon sagen, daß sie nämlich im Kriege den Sieg hervorbringen. Oder nicht?

EUTHYPHRON: Allerdings.

SOKRATES: Ebenso auch vieles und schönes die Landbauer. Dennoch aber ist das wesentliche davon die Hervorbringung der Nahrung aus der Erde.

EUTHYPHRON: So ist es.

SOKRATES: Was also von dem vielen Schönen, so die Götter hervorbringen? Was ist das wesentliche ihrer Hervorbringung?

EUTHYPHRON: Auch vorher schon, o Sokrates, sagte ich dir, es wäre ein zu großes Geschäft, dies alles, wie es sich verhält, zu lernen. So viel sage ich dir indes kurz und gut, daß, wenn jemand versteht, betend und opfernd den Göttern Angenehmes zu reden und zu tun, das ist fromm, und das errettet die Häuser der Einzelnen und das gemeine Wohl der Staaten. Das Gegenteil aber des ihnen Angenehmen ist das Ruchlose, wodurch auch alles umgestürzt und zerstört wird.

17. 4. These: Frömmigkeit ist Wissen von Geschenk und Bitte an die Götter
SOKRATES: Gewiß weit kürzer, o Euthyphron, konntest du mir, wenn du nur wolltest, den Inhalt dessen sagen, wonach ich dich fragte. Daß du aber nicht Lust hast, es mich zu lehren, das ist nun offenbar. Denn auch jetzt, da du eben daran warest, bist du umgewendet, da ich, wenn du dies beantwortet hättest, jetzt vielleicht schon von dir gelernt hätte, was Frömmigkeit ist. Jetzt aber, denn der Fragende muß doch dem Befragten folgen, wohin ihn dieser führt, was sagst du wiederum, was das Fromme sei und die Frömmigkeit? Nicht eine Wissenschaft des Betens und Opferns?

EUTHYPHRON:
Das sage ich.

SOKRATES:
Heißt nun nicht opfern: den Göttern etwas schenken, und beten: die Götter um etwas bitten?

EUTHYPHRON: Allerdings, Sokrates.

SOKRATES:
Die Wissenschaft also von Geschenk und Bitte an die Götter wäre die Frömmigkeit nach dieser Erklärung.

EUTHYPHRON: Sehr schön, o Sokrates, hast du verstanden, was ich meinte.

SOKRATES: Ich trage eben große Lust, o Freund, zu deiner Weisheit und richte alle Gedanken darauf, so daß nichts zur Erde fallen soll, was du sagen wirst. Aber sage mir, was für eine Dienstleistung an die Götter ist dies nun? Man bittet sie, sagst du, und gibt ihnen?

EUTHYPHRON:
Das sage ich.

18. Frömmigkeit als Handel zwischen Göttern und Menschen. Rückkehr zur 2. These
SOKRATES: Würde nun nicht das rechte Bitten das sein, wenn wir sie um dasjenige bäten, was wir von ihnen bedürfen?

EUTHYPHRON: Welches sonst?

SOKRATES: Und das rechte Geben wiederum, ihnen das, was sie von uns bedürfen, zum Gegengeschenk zu machen? Denn das wäre doch kein kunstmäßiges Schenken, jemandem etwas zu geben, dessen er gar nicht bedarf.

EUTHYPHRON: Ganz richtig, Sokrates.

SOKRATES: So wäre also, o Euthyphron, die Frömmigkeit eine Kunst des Handels zwischen Menschen und Göttern?

EUTHYPHRON: Auch das sei sie, wenn es dir lieber ist, sie so zu nennen.

SOKRATES: Mir ist es wahrlich um nichts lieber, wenn es nicht richtig ist. Erkläre mir also, welchen Nutzen die Götter wohl haben von den Geschenken, die sie von uns empfangen. Denn was sie geben, weiß jeder, (15a) da wir ja gar nichts Gutes haben, was sie nicht gegeben hätten. Was sie aber von uns empfangen, welchen Nutzen bringt ihnen das? Oder gewinnen wir so viel bei diesem Handel, daß wir alles Gute von ihnen empfangen, sie aber von uns nichts?

EUTHYPHRON: Aber meinst du denn, Sokrates, daß die Götter Vorteil haben von dem, was sie von uns empfangen?

SOKRATES: Aber was wären denn sonst, o Euthyphron, unsere Geschenke an die Götter?

EUTHYPHRON: Wofür anders hältst du sie als für Ehrenbezeugungen und Ehrengaben und, was ich eben sagte, Angenehmes?

SOKRATES: Angenehm also, o Euthyphron, ist die Frömmigkeit den Göttern, aber nicht nützlich oder lieb?

EUTHYPHRON: Lieb, glaube ich nun meines Teils ganz vorzüglich.

SOKRATES: So ist also wiederum, wie es scheint, das Fromme das den Göttern Liebe?

EUTHYPHRON: Ganz vorzüglich.

19. Konstatierung des Zirkels
SOKRATES: Und dies erklärend, wunderst du dich noch, wenn sich zeigt, deine Erklärungen wollen nicht bestehen, sondern wandeln? Und willst mich noch beschuldigen, ich, der Daidalos, mache sie wandeln, da du doch selbst, weit künstlicher noch als Daidalos, sie gar im Kreise herumgehen machst? Oder merkst du nicht, daß die Rede rund herum gegangen, sich nun wieder am alten Orte befindet? Denn du erinnerst dich doch, daß sich uns im vorigen das Fromme und das Gottgefällige nicht als einerlei gezeigt hatte, sondern als verschieden voneinander? Oder entsinnst du dich dessen nicht einmal?

EUTHYPHRON: O ja.

SOKRATES:
Nun aber merkst du nicht, daß du behauptest, was den Göttern lieb ist, sei fromm? Wird denn dies etwa nicht das Gottgefällige? Oder doch?

EUTHYPHRON: Ganz dasselbe.

SOKRATES: Also haben wir entweder vorher etwas fälschlich zugegeben; oder wenn damals gut, so behaupten wir jetzt nicht richtig.

EUTHYPHRON: So scheint es.

20. Erneute Frage und Flucht des Euthyphron
SOKRATES: Von Anfang an also müssen wir noch einmal erwägen, was denn das Fromme ist. Denn ich werde, ehe ich es erfahre, nicht gutwillig abziehen. Aber behandle mich nicht so geringschätzig, sondern nimm deinen Verstand recht zusammen, und sage mir endlich das richtige. Denn wissen mußt du es, wenn irgendein Mensch, und man muß dich, wie den Proteus, nicht loslassen, bis du es sagst. Denn kenntest du nicht ganz bestimmt das Fromme und das Ruchlose: so hättest du auf keine Weise unternommen, um eines Tagelöhners willen einen betagten Vater des Totschlages zu verklagen; sondern sowohl vor den Göttern hättest du dich gefürchtet, so etwas zu wagen, falls es doch vielleicht nicht recht getan wäre, als auch die Menschen hättest du gescheut. Daher weiß ich gewiß, daß du ganz genau zu kennen meinst, was fromm ist und was nicht. Sage daher, bester Euthyphron, und verbirg nicht, was du davon hältst.

EUTHYPHRON: Ein anderes Mal denn, o Sokrates; denn jetzt eile ich wohin, und es ist Zeit, daß ich gehe.

SOKRATES: (16a) Was tust du doch, Freund! Du gehst und wirfst mich von der großen Hoffnung herab, die ich hatte, teils der Anklage des Meletos, von dir über das Fromme und Ruchlose belehrt, glücklich zu entkommen, wenn ich ihm beweisen könnte, daß ich nun schon vom Euthyphron weise gemacht wäre in göttlichen Dingen und nicht mehr aus Unwissenheit auf meine eigene Weise grübelte oder Neuerungen suchte, teils aber auch mein übriges Leben würdiger zu verleben.
Platon, Sämtliche Werke 1, Apologie, Kriton, Protagoras, Ion, Hippias II, Charmides, Laches, Euthyphron, Gorgias, Briefe (S. 179-195)
In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 39

Der Begriff der Wiedererinnerung Phaidon 73a - 84a
Die Wiedererinnerungslehre als Beweis für Unsterblichkeit; Begriff der Wiedererinnerung
Und eben das auch, sprach Kebes einfallend, nach jenem Satz, o Sokrates, wenn er richtig ist. den du oft vorzutragen pflegtest, daß unser Lernen nichts anderes ist als Wiedererinnerung und wir deshalb notwendig in einer früheren Zeit gelernt haben müßten, wessen wir uns wiedererinnern, und daß dies unmöglich wäre, wenn unsere Seele nicht schon war, ehe sie in diese menschliche Gestalt kam; so daß auch hiernach die Seele etwas Unsterbliches sein muß. (73 a)
Aber, o Kebes, sprach Simmias einfallend, welche sind davon die Beweise? Erinnere mich daran, denn in diesem Augenblick besinne ich mich nicht recht darauf.
Nur an den einen, schönsten, sagte Kebes, daß, wenn die Menschen gefragt werden und einer sie nur recht zu fragen versteht, sie alles selbst sagen, wie es ist, da doch, wenn ihnen keine Erkenntnis einwohnte und richtige Einsicht, sie nicht imstande sein würden, dieses zu tun. Und wenn man sie zu den geometrischen Figuren führt oder etwas Ähnlichem, so zeigt sich dabei am deutlichsten, daß sich dies so verhält.
Wenn du es aber so nicht glaubst, o Simmias, sagte Sokrates, so sieh zu, ob du uns, wenn du es etwa folgendermaßen betrachtest, beistimmen wirst. Du zweifelst nämlich, wie doch das sogenannte Lernen könne Erinnerung sein?
Ich zweifle zwar, sprach Simmias, gerade nicht; nur eben dieses, wovon die Rede ist, bedarf ich, erinnert zu werden; und fast schon aus dem, was mir Kebes versucht hat zu sagen, habe ich mich besonnen und glaube es. Nichtsdestoweniger aber würde ich jetzt gern hören, wie du es vorgetragen hast.
Auf diese Weise ich, sprach er. Wir gestehen doch wohl, daß, wenn sich einer an etwas erinnern soll, er dies vorher schon wissen muß.
Gewiß wohl.
Gestehen wir etwa auch dieses, daß, wenn einem Erkenntnis auf folgende Weise kommt, dies Erinnerung sei? Ich meine aber diese Art, wenn jemand irgend etwas sieht oder hört oder anderswie wahrnimmt, und er dann nicht nur jenes erkennt, sondern dabei noch ein anderes vorstellt, dessen Erkenntnis nicht dieselbe ist, sondern eine andere, ob wir dann nicht mit Recht sagen, daß er sich dessen erinnere, wovon er so eine Vorstellung bekommen hat?
Wie meinst du das?
So wie dergleichen: Eine ganz andere Vorstellung ist doch die von einem Menschen und die von einer Leier?
Wie sollte sie nicht?
Du weißt aber doch, daß Liebhabern, wenn sie eine Leier sehen, oder ein Kleid oder sonst etwas, was ihr Liebling zu gebrauchen pflegt, es so ergeht: sie erkennen die Leier, und in ihrer Seele nehmen sie zugleich das Bild des Knaben auf, dem die Leier gehört, und das ist nun Erinnerung; so wie auch einer, wenn er den Simmias sieht, wohl leicht an den Kebes denkt, und tausenderlei dergleichen.
Tausenderlei, beim Zeus, sagte Simmias.
Und nicht wahr, sprach er, dergleichen ist nun Erinnerung, vorzüglich, wenn es einem bei solchen Dingen begegnet, die ihm, weil sie ihm seit langer Zeit schon nicht vorgekommen und er nicht an sie gedacht, in Vergessenheit geraten waren.
Allerdings, sagte er.
Wie nun, kann man sich auch wohl, wenn man ein gemaltes Pferd sieht oder eine gemalte Leier, eines Menschen dabei erinnern, und wenn man den Simmias gemalt sieht, sich des Kebes dabei erinnern?
Auch das freilich.
Auch wenn man den Simmias gemalt sieht, sich des Simmias selbst erinnern?
Das kann man freilich, sagte er. — (74 a)

Der Vorgang der Wiedererinnerung und seine Voraussetzung
Und nicht wahr, in allen diesen Fällen entsteht uns Erinnerung, das eine Mal aus ähnlichen Dingen, das andere Mal aus unähnlichen?
So entsteht sie.
Aber wenn nun einer bei ähnlichen Dingen sich an etwas erinnert, muß ihm nicht auch das noch dazu begegnen, daß er inne wird, ob diese etwas zurückbleiben in der Ähnlichkeit oder nicht hinter dem, dessen er sich erinnert?
Notwendig, sagte er.
Wohlan denn, sprach jener, sieh zu, ob sich dies so verhält. Wir nennen doch etwas gleich — ich meine nicht ein Holz dem andern oder einen Stein dem andern noch irgend etwas dergleichen, sondern außer diesem allen etwas anderes, das Gleiche selbst; sagen wir, daß das etwas ist oder nichts?
Etwas, beim Zeus, sprach Simmias, ganz stark.
Erkennen wir auch dieses, was es ist?
Allerdings, sprach er.
Woher nahmen wir aber seine Erkenntnis? Nicht aus dem, was wir eben sagten, wenn wir Hölzer oder Steine oder irgend andere gleiche Dinge sahen, haben wir nicht bei diesen uns jenes vorgestellt, was doch verschieden ist von diesen? Oder scheint es dir nicht verschieden zu sein? Bedenke es nur auch so: Erscheinen dir nicht gleiche Steine oder Hölzer, ganz dieselben bleibend, bisweilen als gleich und dann wieder nicht?
O ja.
Wie aber? Das Gleiche selbst erschien dir auch das bisweilen als ungleich, oder die Gleichheit als Ungleichheit?
Nimmermehr wohl, Sokrates.
Also, sprach er, sind jene gleichen Dinge und dieses Gleiche selbst nicht dasselbe.
Offenbar keineswegs, o Sokrates.
Doch aber bei jenen gleichen, verschieden von diesem Gleichen, hast du die Erkenntnis des letzteren vorgestellt und erhalten?
Vollkommen richtig.
Wie aber weiter, sprach er, begegnet uns wohl so etwas bei den gleichen Hölzern und andern, von denen wir eben sprachen? Scheinen sie uns ebenso gleich zu sein, wie das Gleiche selbst, oder fehlt etwas daran, daß sie so sind wie das Gleiche, oder nichts?
Gar viel, sprach er, fehlt daran.
Müssen wir nun nicht gestehen, wenn jemand, der etwas sieht, bemerkt: dieses, was ich hier sehe, will zwar sein wie etwas gewisses anderes, es bleibt aber zurück und vermag nicht so zu sein wie jenes, sondern ist schlechter — daß der, welcher dies bemerkt, notwendig jenes vorher kennen muß dem er sagt daß das andere zwar gleiche, aber doch dahinter zurückbleibe?
Notwendig.
Und wie? Geht es uns nun so mit den gleichen Dingen und dem Gleichen selbst?
Auf alle Weise.
(75 a) Notwendig also kennen wir das Gleiche schon vor jener Zeit, als wir zuerst, Gleiches erblickend, bemerkten, daß alles dergleichen strebe zu sein wie das Gleiche, aber doch dahinter zurückbleibe.
So ist es.
Aber auch das geben wir doch zu, daß wir eben dieses nirgend anders her bemerkt haben noch imstande sind zu bemerken als bei dem Sehen oder Berühren oder irgendeiner andern Wahrnehmung, denn diese sind mir alle einerlei.
Sie sind auch einerlei, o Sokrates, für das, wohin unsere Rede will.
Aber doch an den Wahrnehmungen muß man bemerken, daß alles so in den Wahrnehmungen Vorkommende jenem nachstrebt, was das Gleiche ist, und daß es dahinter zurückbleibt. Oder wie wollen wir sagen?
So.
Ehe wir also anfingen zu sehen oder zu hören oder die anderen Sinne zu gebrauchen, mußten wir schon irgendwoher die Erkenntnis bekommen haben des eigentlich Gleichen, was es ist, wenn wir doch das Gleiche in den Wahrnehmungen auf jenes beziehen sollten, daß dergleichen alles zwar strebt zu sein wie jenes, aber doch immer schlechter ist.
Notwendig nach dem vorher Gesagten, o Sokrates.
Nun aber haben wir doch gleich von unserer Geburt an gesehen, gehört und die anderen Sinne gebraucht?
Freilich.
Und wir mußten, sagen wir, schon ehe dieses geschah, die Erkenntnis des Gleichen bekommen haben? —
Ja.
Ehe wir also geboren wurden, müssen wir sie, wie sich zeigt, bekommen haben.
So zeigt es sich.

Besitz der Erkenntnis des Wesens vor der Geburt
Wenn wir sie also vor unserer Geburt empfangen haben und in ihrem Besitz geboren worden sind: so erkannten wir auch schon, ehe wir wurden und sobald wir da waren, nicht das Gleiche nur und das Größere und Kleinere, sondern alles dieser Art insgesamt. Denn es ist uns ja jetzt nicht mehr von dem Gleichen die Rede als auch von dem Schönen selbst und dem Guten selbst und dem Rechten und Frommen und, wie ich sage, von allem, was wir bezeichnen als <dies selbst, was ist>, in unsern Fragen, wenn wir fragen, und in unsern Antworten, wenn wir antworten. So daß wir notwendig von diesem allen die Erkenntnisse, schon ehe wir geboren wurden, erhalten haben.
So ist es.
Und daß wir, wenn wir sie nicht immer wieder vergäßen, nachdem wir sie bekommen, auch immer wissen und uns ihrer das ganze Leben hindurch bewußt sein würden. Denn das heißt ja wissen, eine empfangene Erkenntnis besitzen und nicht verloren haben. Oder heißt das nicht vergessen, o Simmias, Verlust einer Erkenntnis?
Auf alle Weise, sagte er, o Sokrates.
Und wenn wir, meine ich, vor unserer Geburt sie besaßen und sie bei der Geburt verloren haben, hernach aber beim Gebrauch unserer Sinne an solchen Gegenständen eben jene Erkenntnisse wieder aufnahmen, die wir einmal schon vorher hatten: ist dann nicht, was wir lernen heißen, das Wiederaufnehmen einer uns schon angehörigen Erkenntnis? Und wenn wir dies «wiedererinnern» nennen, werden wir es nicht richtig benennen?
Gewiß. (76 a)
Denn das hatte sich uns doch als möglich gezeigt, daß, wer etwas wahrnimmt, es sei nun durch Gesicht und Gehör oder irgendeinen anderen Sinn, dabei etwas anderes vorstellen könne, was er vergessen hatte und was diesem nahe kam als unähnlich oder als ähnlich. Also, wie ich sage, eines von beiden, entweder sind wir dieses wissend geboren worden und wissen es unser Leben lang alle, oder die, von denen wir sagen, daß sie hernach erst lernen, erinnern sich dessen nur, und das Lernen ist eine Erinnerung.
Wohl gar sehr verhält es sich so, Sokrates.—

Schluß: Die Seelen waren auch vor der Geburt und hatten Einsicht
Welches nun wählst du, o Simmias? Daß wir wissend geboren werden oder daß wir uns hernach dessen erinnern, wovon wir schon vorher eine Erkenntnis gehabt hatten?
So im Augenblick, o Sokrates, weiß ich nicht zu wählen.
Wie aber? Kannst du hier wählen, oder was dünkt dich hiervon? Muß ein wissender Mann von dem, was er weiß, Rechenschaft geben können oder nicht?
Ganz notwendig, o Sokrates, sprach er.
Und dünkt dich denn, daß alle Rechenschaft zu geben imstande sind von dem, was wir eben anführten?
Das wünschte ich wohl, sprach Simmias; aber ich fürchte vielmehr, es möchte uns schon morgen hierzulande keiner mehr gefunden werden, der dies gehörig zu tun vermöchte.
Du meinst also nicht, o Simmias, daß alle dieses wissen?
Keineswegs.
Also erinnern sie sich dessen, was sie einst gelernt hatten?
Notwendig.
Wann aber hatten unsere Seelen die Erkenntnis davon bekommen? Doch wohl nicht, seitdem wir als Menschen geboren sind?
Nicht füglich.
Früher also?
Ja.
Also waren, o Simmias, die Seelen, auch ehe sie in menschlicher Gestalt waren, ohne Leiber, und hatten Einsicht.
Wenn wir nicht etwa bei der Geburt diese Erkenntnisse empfangen, o Sokrates, denn diese Zeit bleibt uns noch übrig.
Gut, o Freund! Aber in welcher andern Zeit verlieren wir sie denn? Denn wir haben sie nicht, wenn wir geboren werden, wie wir eben eingestanden. Oder verlieren wir sie in derselben Zeit, in welcher wir sie auch empfangen? Oder weißt du noch eine andere Zeit anzugeben? Keineswegs, o Sokrates, sondern ich merkte nur nicht, daß ich nichts sagte. —

Das vorgeburtliche Sein der Seele ist so notwendig wie das Sein der Ideen
Also verhält es sich nun so, sprach er, o Simmias? Wenn das ist, was wir immer im Munde führen, das Schöne und Gute und jegliches Wesen dieser Art, und wir hierauf alles, was uns durch die Sinne kommt, beziehen, als auf ein vorher Gehabtes, was wir als das unsrige wieder auffinden, und diese Dinge damit vergleichen: so muß notwendig, ebenso wie dieses ist, so auch unsere Seele sein, auch ehe wir noch geboren worden sind. Wenn aber alles dieses nicht ist, so wäre dann auch diese Rede vergeblich geredet. Verhält es sich wohl so, und ist es die ganz gleiche Notwendigkeit, daß jenes ist und daß auch unsere Seelen sind auch vor unserer Geburt und daß, wenn jenes nicht, dann auch nicht dieses?
Über die Maßen, o Sokrates, sprach Simmias, dünkt es mich dieselbe Notwendigkeit zu sein; und an einen sichern Ort rettet sich unser Satz, dahin nämlich, (77 a) daß unsere Seele auf dieselbe Weise ist, ehe wir noch geboren werden, wie jenes alles, wovon du eben sprachst. Denn ich habe gar nichts, was mir so klar wäre wie eben dieses, daß alles dergleichen wahrhaft in dem allerhöchsten Sinne ist, das Schöne und das Gute und was du sonst eben anführtest; und mir wenigstens genügt der Beweis vollkommen.
Wie aber dem Kebes? sprach Sokrates. Denn wir müssen auch den Kebes überzeugen.
Gewiß auch ihn, sprach Simmias, wie ich glaube, wiewohl er der hartnäckigste Mensch ist im Unglauben an anderer Reden. Allein davon, glaube ich, ist er nun hinreichend überzeugt, daß, ehe wir geboren wurden, unsere Seele war.

Bedenken des Kebes und Simmias, ob die Seele auch nach dem Tode ist
Ob aber auch, nachdem wir gestorben sind, sie noch sein wird, das scheint auch mir selbst, o Sokrates, noch nicht bewiesen zu sein, sondern es steht noch entgegen, wie auch Kebes eben sagte, jene Rede der Vielen, ob nicht, indem der Mensch stirbt, die Seele zerstiebt und auch ihr dieses das Ende des Seins ist. Denn was hindert doch, daß sie zwar anderwärts her werde und bestehe und sei, auch ehe sie in menschlichen Leib gelangt, daß aber doch, nachdem sie in diesen gelangt ist, wenn sie von ihm getrennt wird, alsdann auch sie selbst endet und untergeht?
Wohl gesprochen, o Simmias, sagte Cebes. Denn es scheint gleichsam die eine Hälfte von dem bewiesen zu sein, was wie brauchen, daß nämlich, ehe wir geboren wurden, unsere Seele war; aber man muß noch dazu beweisen, daß auch, wenn wir tot sind, sie um nichts weniger sein wird als vor unserer Geburt, wenn der Beweis seine Vollendung bekommen soll.
Es ist doch, o Simmias und Kebes, sprach Sokrates, auch jetzt schon bewiesen, wenn ihr diesen Satz zusammenbringen wollt mit jenem, den wir vorher zugestanden hatten, daß nämlich alles Lebende aus dem Gestorbenen entsteht. Denn wenn die Seele auch vorher ist und wenn sie notwendig, indem sie ins Leben geht und geboren wird, nirgend andersher kommen kann als aus dem Tode und dem Gestorbensein: wie sollte sie dann nicht notwendig, auch nachdem sie gestorben ist, sein, wenn sie doch wiederum geboren werden soll? Bewiesen also ist dies, wie ich sagte, auch jetzt schon.

Ein Kind ist in uns, das der Besprechung bedarf
Dennoch scheint ihr, du und Simmias, gern auch diesen Satz noch weiter durcharbeiten zu wollen und euch zu fürchten wie die Kinder, daß nicht gar buchstäblich der Wind sie, wenn sie aus dem Leibe herausfährt, auseinanderwehe und zerstäube, zumal wenn einer nicht etwa bei Windstille, sondern in recht tüchtigem Sturmwinde stirbt.
Da sagte Kebes lächelnd: So tue denn so, als fürchteten wir uns, und versuche, uns zu überreden. Lieber jedoch nicht, als ob wir selbst uns fürchteten, aber vielleicht ist auch in uns ein Kind, welches dergleichen fürchtet. Dieses also wollen wir versuchen zu überzeugen, daß es den Tod nicht fürchten müsse wie ein Gespenst.
Dieses müßt ihr, sprach Sokrates, täglich besprechen, bis ihr es herausbannt.
(78 a) Woher aber, o Sokrates, sprach er, sollen wir einen tüchtigen Besprecher zu solchen Dingen nehmen, nun du doch von uns scheidest?
Hellas ist groß, o Kebes, sagte er, und treffliche Männer sind darin, und groß sind auch die Geschlechter der Barbaren, die ihr alle durchsuchen müßt, um einen solchen Besprecher zu finden, ohne Geld zu scheuen und Mühe. Denn es gibt wohl nichts, worauf ihr das Geld besser wenden könntet. Aber auch untereinander müßt ihr euch bemühen, denn ihr möchtet auch wohl nicht leicht einen finden, der dies besser als ihr zu tun vermöchte.
Das soll gewiß geschehen, sprach Kebes, von wo wir aber abgegangen sind, dahin laß uns zurückkehren, wenn es dir recht ist.
Mir gar sehr recht, wie sollte es nicht?
Wohl gesprochen, sagte er. —

Zwei Arten des Seienden: Das sich immer gleich bleibende unsichtbare Beständige und die sich ändernden sichtbaren Dinge
Also ungefähr so, sprach Sokrates, müssen wir uns selbst fragen: Welcherlei Dingen kommt es wohl zu, dies zu erfahren, das Zerstieben, und für welche muß man also fürchten, daß ihnen dieses begegne, welchen aber kommt es nicht zu, und für welche nicht? Dann müssen wir untersuchen, zu welchen von beiden die Seele gehört, und hieraus und dem gemäß entweder Mut fassen oder besorgt sein für unsere Seelen.
Ganz richtig, sagte er.
Und nicht wahr, dem, was man zusammengesetzt hat und was seiner Natur nach zusammengesetzt ist, kommt wohl zu, auf dieselbe Weise aufgelöst zu werden, wie es zusammengesetzt worden ist; wenn es aber etwas Unzusammengesetztes gibt, diesem, wenn sonst irgend einem, kommt wohl zu, daß ihm dieses nicht begegne?
Das scheint mir sich so zu verhalten, sprach Kebes.
Und nicht wahr, was sich immer gleich verhält und auf einerlei Weise, davon ist wohl am wahrscheinlichsten, daß es das Unzusammengesetzte sei; was aber bald so, bald anders und nimmer auf gleiche Weise, dieses das Zusammengesetzte?
Mir wenigstens scheint es so.
So laßt uns denn gehen, sprach er, zu dem, wovon wir auch vorher sprachen. Jenes Wesen selbst, welchem wir das eigentliche Sein zuschreiben in unsern Fragen und Antworten, verhält sich dies wohl immer auf gleiche Weise, oder bald so, bald anders? Das Gleiche selbst, das Schöne selbst, und so jegliches, was ist, selbst, nimmt das wohl jemals auch nur irgendeine Veränderung an? Oder verhält sich nicht jedes dergleichen als ein einartiges Sein an und für sich immer auf gleiche Weise und nimmt niemals und auf keine Weise irgendwie eine Veränderung an?
Auf gleiche Weise, sprach Kebes, und einerlei verhält es sich notwendig, o Sokrates.
Wie aber die vielen Dinge, wie Menschen, Pferde, Kleider oder sonst irgend etwas dergleichen, schöne oder gleiche oder sonst einem von jenem gleichnamige, verhalten sich auch diese immer gleich oder ganz jenem entgegengesetzt, weder mit sich selbst jedes noch untereinander jemals, um es kurz zu sagen, auch nur im mindesten gleich?
Dieses wiederum so, sprach Kebes; niemals verhält es sich einerlei.
Und diese Dinge, (79 a) sprach er, kannst du doch anrühren, sehen und mit den andern Sinnen wahrnehmen; aber zu jenen sich gleichseienden Wesenheiten kannst du doch wohl auf keine Weise irgend anders gelangen als durch das Denken der Seele selbst, sondern unsichtbar sind diese und werden nicht gesehen.
Auf alle Weise, sagte er, hast du recht. —

Der Leib ist dem sichtbaren Seienden ähnlich, die Seele dem unsichtbaren
Sollen wir also, sprach er, zwei Arten des Seienden setzen, sichtbar die eine und die andere unsichtbar?
Das wollen wir, sprach er.
Und die unsichtbare als immer auf gleiche Weise sich verhaltend, die sichtbare aber niemals gleich?
Auch das, sagte er, wollen wir setzen.
Wohlan denn, sprach er, ist nicht von uns selbst das eine Leib und das andere Seele?
Allerdings.
Welcher von jenen beiden Arten nun wollen wir wohl sagen daß der Leib ähnlicher sei und verwandter?
Das muß ja jedem deutlich sein, dem Sichtbaren.
Wie aber die Seele, ist die unsichtbar oder sichtbar?
Menschen wenigstens ist sie es nicht, o Sokrates, sagte er.
Aber wir sprachen doch von dem Sichtbaren und Unsichtbaren für die Natur der Menschen, oder meinst du für irgendeine andere?
Für die menschliche.
Was sagen wir also von der Seele, daß sie sichtbar sei oder nicht sichtbar?
Nicht sichtbar.
Also unsichtbar.
Ja.
Ähnlicher also als der Leib ist die Seele dem Unsichtbaren, er aber dem Sichtbaren.
Ganz notwendig, o Sokrates. —

Zustand der Seele, wenn sie vermittels des Leibes etwas betrachtet und wenn sie für sich selbst das ihr verwandte Gleiche schaut
Und nicht wahr, auch das haben wir schon lange gesagt, daß die Seele, wenn sie sich des Leibes bedient, um etwas zu betrachten, es sei durch das Gesicht oder das Gehör oder irgendeinen andern Sinn — denn das heißt vermittels des Leibes, wenn man vermittels eines Sinnes etwas betrachtet —, daß sie dann von dem Leibe gezogen wird zu dem, was sich niemals auf gleiche Weise verhält, und dann selbst schwankt und irrt und wie trunken taumelt, weil sie ja eben solches berührt.
Das haben wir gesagt.
Wenn sie aber durch sich selbst betrachtet, dann geht sie zu dem reinen, immer seienden Unsterblichen und sich stets Gleichen, und als diesem verwandt hält sie sich stets zu ihm, wenn sie für sich selbst ist und es ihr vergönnt wird, und dann hat sie Ruhe von ihrem Irren und ist auch in Beziehung auf jenes immer sich selbst gleich, weil sie ebensolches berührt, und diesen ihren Zustand nennt man eben die Vernünftigkeit.
Auf alle Weise, o Sokrates, sagte er, ist dies schön und wahr gesagt.
Welcher von beiden Arten also dünkt dich die Seele nach dem Vorherigen und dem jetzt Gesagten ähnlicher und verwandter zu sein? —
Jeder, sagte er, dünkt mich, o Sokrates, müßte nach dieser Darstellungsweise zugeben, auch der Ungelehrigste, daß doch in allem und jedem die Seele dem sich immer gleich Bleibenden ähnlicher ist als dem nicht solchen.
Und wie der Leib? —
Dem anderen. —

Auch als Beherrscherin des Leibes ist die Seele dem Göttlichen ähnlich
Betrachte es auch von dieser Seite, daß, solange Leib und Seele zusammen sind, die Natur ihm gebietet, (80 a) zu dienen und sich beherrschen zu lassen, ihr aber, zu herrschen und zu regieren; auch hiernach nun, welches von beiden dünkt dich dem Göttlichen ähnlich zu sein und welches dem Sterblichen? Oder dünkt dich nicht das Göttliche so geartet zu sein, daß es herrscht und regiert, das Sterbliche aber, daß es sich beherrschen läßt und dient?
Das dünkt mich.
Welchem gleicht nun die Seele?
Offenbar, o Sokrates, die Seele dem Göttlichen und der Leib dem Sterblichen.
Sieh nun zu, sprach er, o Kebes, ob aus allem Gesagten uns dieses hervorgeht, daß dem Göttlichen, Unsterblichen, Vernünftigen, Eingestaltigen, Unauflöslichen und immer einerlei und sich selbst gleich sich Verhaltenden am ähnlichsten ist die Seele, dem Menschlichen aber und Sterblichen und Unvernünftigen und Vielgestaltigen und Auflöslichen und nie einerlei und sieh selbst gleich Bleibenden, diesen wiederum der Leib am ähnlichsten ist? Oder wissen Wir hiergegen noch etwas anderes zu sagen, lieber Kebes, daß es sich nicht so verhalte?
Wir wissen nichts dergleichen.

Schluß: Die Seele geht nach dem Tode, wenn sie rein ist, in Wahrheit zum unsichtbaren Göttlichen
Wie nun, wenn sich dieses so verhält, kommt nicht dem Leibe wohl zu, leicht aufgelöst zu werden, der Seele hingegen, ganz und gar unauflöslich zu sein oder wenigstens beinahe so?
Wie sollte es nicht?
Und du bemerkst doch, sprach er, daß, wenn der Mensch stirbt, auch seinem Sichtbaren, dem Leibe, der noch im Sichtbaren daliegt, den wir Leichnam nennen und dem es zukommt, aufgelöst zu werden und zu zerfallen und verweht zu werden, nicht gleich etwas hiervon widerfährt, sondern er noch eine ganz geraume Zeit so bleibt, und wenn einer bei günstiger Leibesbeschaffenheit stirbt und zu ebensolcher Zeit, dann gar lange. Und wenn der Leib zusammengefallen ist und getrocknet, wie sie in Ägypten einbalsamiert werden, so hält er sich fast undenkliche Zeit. Ja einige Teile des Leibes, wie Knochen, Sehnen und alles dergleichen, sind, wenn er auch schon verfault ist, sozusagen doch fast unsterblich. Oder nicht?
Ja.
Und die Seele also, das Unsichtbare und sich an einen andern ebensolchen Ort Begebende, der edel und rein und unsichtbar ist, nämlich in die wahre Geisterwelt zu dem guten und weisen Gott, wohin, wenn Gott will, alsbald auch meine Seele zu gehen hat, diese, die so beschaffen und geartet ist, sollte, wenn sie von dem Leibe getrennt ist, sogleich verweht und untergegangen sein, wie die meisten Menschen sagen? Daran fehlt wohl viel, ihr lieben Kebes und Simmias! Sondern vielmehr verhält es sich so, wenn sie sich rein losmacht und nichts von dem Leibe mit sich zieht, weil sie mit gutem Willen nichts mit ihm gemein hatte im Leben, sondern ihn floh und in sich selbst gesammelt blieb und dies immer im Sinn hatte — was nichts anderes heißen will, (81 a) als daß sie recht philosophierte und darauf dachte, leicht zu sterben; oder hieß dies nicht, auf den Tod bedacht sein?
Allerdings ja.
Also welche sich so verhält, die geht zu dem ihr Ähnlichen, dem Unsichtbaren, zu dem Göttlichen, Unsterblichen, Vernünftigen, wohin gelangt ihr dann zuteil wird, glückselig zu sein, von Irrtum und Unwissenheit, Furcht und wilder Liebe und allen andern menschlichen Übeln befreit, indem sie, wie es bei den Eingeweihten heißt, wahrhaft die übrige Zeit mit Göttern lebt. Wollen wir so sagen, o Kebes, oder anders?
So, beim Zeus, sprach Kebes.

Beschaffenheit der unrein abscheidenden Seelen
Wenn sie aber, meine ich, befleckt und unrein von dem Leibe scheidet, weil sie eben immer mit dem Leibe verkehrt und ihn gepflegt und geliebt hat und von ihm bezaubert gewesen ist und von den Lüsten und Begierden, so daß sie auch glaubte, es sei überhaupt gar nichts anderes wahr als das Körperliche, was man betastet und sieht, ißt und trinkt und zur Liebe gebraucht, und weil sie das für die Augen Dunkle und Unsichtbare, der Vernunft hingegen Faßliche und mit Weisheitsliebe zu Ergreifende gewohnt gewesen ist zu hassen und zu scheuen und zu fürchten, meinst du, daß eine so beschaffene Seele sich werde rein für sich absondern können?
Wohl nicht im mindesten, sprach er, sondern durchzogen von dem Körperlichen, womit sie durch den Umgang und Verkehr mit dem Leibe, wegen des ununterbrochenen Zusammenseins und der vielen Sorge um ihn, gleichsam zusammengewachsen ist?
Freilich.
Und dies, o Freund, muß man doch glauben, sei unbeholfen und schwerfällig, irdisch und sichtbar, so daß die Seele, die es an sich hat, schwerfällig ist und wieder zurückgezogen wird in die sichtbare Gegend aus Furcht vor dem Unsichtbaren und der Geisterwelt, wie man sagt, an den Denkmälern und Gräbern umherschleichend, an denen daher auch allerlei dunkle Erscheinungen von Seelen gesehen worden sind, wie denn solche Seeelen wohl Schattenbilder darstellen müssen, welche nicht rein abgelöst sind, sondern noch teilhaben an dem Sichtbaren, weshalb sie denn auch gesehen werden.
Das leuchtet wohl ein, o Sokrates.
Und freilich leuchtet auch ein, o Kebes, daß dies nicht die Seelen der Guten sind, sondern der Schlechten, welche um dergleichen gezwungen sind herumzuirren, Strafe leidend für ihre frühere Lebensweise, welche schlecht war. Und so lange irren sie, bis sie durch die Begierde des sie noch begleitenden Körperlichen wieder gebunden werden in einen Leib.

Wiedergeburt der unphilosophischen Seelen ihrer Sinnesart nach
Und natürlich werden sie in einen von solchen Sitten gebunden, deren sie selbst sich befleißigt haben im Leben. —

Was meinst du für welche, o Sokrates?

Wie, die sich ohne alle Scheu der Völlerei und des Übermuts und Trunkes befleißigten, solche begeben sich natürlich in Esel und ähnliche Arten von Tieren. Oder meinst du nicht? (82 a)

Das ist ganz wahrscheinlich.

Die aber Ungerechtigkeit, Herrschsucht und Raub vorzogen, diese dagegen in die verschiedenen Geschlechter der Wölfe, Habichte und Geier. Oder wohin anders sollen wir sagen, daß solche gehen?

Ohne weiteres, sprach Kebes, in dergleichen.

Und gewiß ist es so doch auch mit den übrigen, daß jegliche der Ähnlichkeit mit ihren Bestrebungen nachgehen?

Gewiß, wie sollten sie nicht.

Also, sprach er, sind auch wohl die glücklichsten unter diesen die, und kommen an den besten Ort, welche der volksmäßigen und bürgerlichen Tugend nachgestrebt haben, die man dann Besonnenheit und Gerechtigkeit nennt, die aber nur aus Gewöhnung und Übung entsteht ohne Philosophie und Vernunft?

Wieso sind diese die glückseligsten?

Weil doch natürlich ist, daß diese wiederum in eine solche gesellige und zahme Gattung gehen, etwa in Bienen oder Wespen oder Ameisen, oder auch wieder in diese menschliche Gattung, und wieder ganz leidliche Männer werden.

Das ist natürlich.

Bestimmung und Weg der philosophischen Seele
In der Götter Geschlecht aber ist wohl keinem, der nicht philosophiert hat und vollkommen rein abgegangen ist, vergönnt zu gelangen, sondern nur dem Lernbegierigen. Eben deshalb nun, o lieber Simmias und Kebes, enthalten sich die wahrhaften Philosophen aller von dem Leibe herrührenden Begierden und harren aus und geben sich ihnen nicht hin, nicht etwa weil sie Verderb des Hauswesens und Armut fürchten, wie die meisten Geldsüchtigen, noch auch die Ehrlosigkeit und Schmach der Trägheit scheuend, wie die Herrschsüchtigen und Ehrsüchtigen, enthalten sie sich ihrer.

Das würde sich auch für sie nicht ziemen, o Sokrates, sprach Kebes.

Freilich nicht, beim Zeus, sagte er. Darum sagen auch allen solchen, o Kebes, jene alle, die irgend für ihre Seele Sorge tragen und nicht für der Leiber Bildung und Bedienung leben, Fahrewohl und gehen nicht gleichen Schritt mit ihnen, die ja nicht wissen, wohin sie gehen. Sie selbst aber, feststellend, daß sie nichts tun dürfen, was der Philosophie zuwider wäre und der Erlösung und Reinigung durch sie, wenden sich dorthin nachfolgend, wohin jene sie führt. —

Erlösende Wirksamkeit der Philosophie auf die Seele und Hemmung der sinnlichen Begierden
Wie das, o Sokrates?

Das will ich dir sagen, sprach er. Es erkennen nämlich die Lernbegierigen, daß die Philosophie, indem sie ihre Seele übernimmt als ordentlich gebunden im Leibe und ihm anklebend und gezwungen, wie durch ein Gitter durch ihn das Sein zu betrachten, nicht aber für sich allein, und daher in aller Torheit sich umherwälzend, und da sie die Gewalt dieses Kerkers erkennt, daß er durch die Begierde besteht, auf welche Weise der Gebundene selbst am meisten immer mit angreift, um gebunden zu werden (83 a) — wie ich nun sage, die Lernbegierigen erkennen, daß, indem die Philosophie in solcher Beschaffenheit ihre Seele annimmt, sie ihr gelinde zuspricht und versucht, sie zu erlösen, indem sie zeigt, daß alle Betrachtung durch die Augen voll Betrug ist, voll Betrug auch die durch die Ohren und die übrigen Sinne, und indem sie überredet, sich von diesen zurückzuziehen, soweit es nicht notwendig ist, sich ihrer zu bedienen, und sie ermuntert, sich vielmehr in sich selbst zu sammeln und zusammenzuhalten und nichts anderem zu glauben als sich selbst, was sie für sich selbst von den Dingen an und für sich anschaut; was sie aber vermittels eines anderen betrachtet, dieses, weil es in jeglichem anderen wieder ein anderes wird, für nichts Wahres zu halten, und solches sei ja eben das Wahrnehmbare und Sichtbare, was sie aber selbst sieht, sei das Denkbare und Unsichtbare. Dieser Befreiung nun glaubt nicht widerstreben zu dürfen des wahrhaften Philosophen Seele und enthält sich deshalb der Lust und Begierde, der Unlust und Furcht, soviel sie kann, indem sie bedenkt, daß, wenn jemand sehr heftig sich freut oder fürchtet, trauert oder begehrt, er nicht nur ein so großes Übel hiervon erleidet, als er wohl glaubt, wenn er etwa erkrankt ist oder einen Verlust erlitten hat seiner Begierden wegen, sondern was das größte und äußerste aller Übel ist, dieses erleidet er und bringt es nicht in Rechnung.

Welches ist doch dieses, o Sokrates? sprach Kebes.

Daß nämlich jedes Menschen Seele, sobald sie über irgend etwas sich heftig erfreut oder betrübt, auch genötigt ist, von demjenigen, womit ihr dieses begegnet, zu glauben, es sei das Wirksamste und das Wahrste, obwohl sich dies doch nicht so verhält. Und dies sind doch am meisten die sichtbaren Dinge, oder nicht?

Freilich.

In diesem Zustande also wird am meisten die Seele von dem Leibe gebunden.

Wieso?

Weil jegliche Lust und Unlust gleichsam einen Nagel hat und sie an den Leib annagelt und anheftet und sie leibartig macht, wenn sie dann glaubt, daß das wahr sei, was auch der Leib dafür aussagt. Denn dadurch, daß sie gleiche Meinung hat mit dem Leibe und sich an dem nämlichen erfreut, wird sie, denke ich, genötigt, auch gleicher Sitte und gleicher Nahrung wie er teilhaftig zu werden, so daß sie nimmermehr rein in die Unterwelt kommen kann, sondern immer des Leibes voll von binnen geht; daher sie auch bald wiederum in einen andern Leib fällt und wie hingesät sich einwurzelt und daher unteilhaftig bleibt des Umganges mit dem Göttlichen und Reinen und Eingestaltigen.

Vollkommen wahr ist, was du sagst, o Sokrates, sprach Kebes. —

Die Haltung der Seele eines philosophischen Mannes
Dieser Ursachen wegen also, o Kebes, sind die wahrhaft Lernbegierigen sittsam und tapfer, und nicht weshalb die Leute sagen. Oder meinst du?

Nein, ich gewiß nicht. (84 a)

Es geht auch nicht anders, als daß die Seele eines philosophischen Mannes so rechnet und nicht glauben kann, sie müsse sich zwar von der Philosophie erlösen lassen, nachdem diese sie aber erlöst, sich selbst wiederum der Lust und Unlust hingeben, um sich wieder festbinden und die vorige Arbeit vergeblich machen zu lassen, als wolle sie das Gegenstück treiben zu der Penelope Weberei; sondern Ruhe von dem allen sich verschaffend, der Vernunft folgend und immer darin verharrend, daß sie das Wahre und Göttliche und der Meinung nicht Unterworfene anschaut und sich davon nährt, glaubt sie, solange sie lebt, so leben zu müssen, nach dem Tode aber, zu dem Verwandten und ebensolchen gelangt, von allen menschlichen Übeln erlöst zu werden. Hat sie sich so genährt, so ist wohl kein Wunder, wenn sie nicht fürchtet, ob sie nicht doch bei der Trennung von dem Leibe zerrissen, von ich weiß nicht welchen Winden verweht und zerstäubt umkommen und nirgend mehr sein werde.
Aus: Platon, Sämtliche Werke 3, Phaidon, Politea (S.24-35 Phaidon)
In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 27

Die Wiedererinnerungslehre und die Unsterblichkeit der Seele
Menon 81a – 86a,
Kann man suchen, was man nicht kennt?
MENON: Und auf welche Weise willst du denn dasjenige suchen, Sokrates, wovon du überhaupt gar nicht weißt, was es ist? Denn als welches Besondere von allem, was du nicht weißt, willst du es dir denn vorlegen und so suchen? Oder wenn du es auch noch so gut träfest, wie willst du denn erkennen, daß es dieses ist, was du nicht wußtest?
SOKRATES: Ich verstehe, was du sagen willst, Menon! Siehst du, ewas für einen streitsüchtigen Satz du uns herbringst? Daß nämlich ein Mensch unmöglich suchen kann, weder was er weiß, noch was er nicht weiß. Nämlich weder was er weiß, kann er suchen, denn er weiß es ja, und es bedarf dafür keines Suchens weiter; noch was er nicht weiß, denn er weiß ja dann auch nicht, was er suchen soll.
MENON: Scheint dir das nicht ein schöner Satz zu sein, Sokrates? (81 a)
SOKRATES: Mir gar nicht.
MENON: Kannst du sagen, weshalb?
SOKRATES: O ja! Denn ich habe es von Männern und Frauen, die in göttlichen Dingen gar weise waren.
MENON: Was sagten denn diese?
SOKRATES: Etwas sehr Wahres, meines Erachtens, und Schönes.
MENON: Aber was? Und wer waren die, die es sagten?
SOKRATES: Die es sagen, sind Priester und Priesterinnen, so viele es deren gibt, denen daran gelegen ist, von dem, was sie verwalten, Rechenschaft geben zu können. Es sagt es auch Pindaros und viele andere Dichter, welche göttlicher Art sind. Und was sie sagen, ist folgendes — erwäge aber wohl, ob dich dünkt, daß sie wahr reden —: Sie sagen nämlich, die Seele des Menschen sei unsterblich, so daß sie zu einer Zeit zwar ende, was man Sterben nennt, zu anderer Zeit jedoch wieder weide, untergehe aber niemals. Und deshalb müsse man aufs heiligste sein Leben verbringen. Denn von welchen «Persephone schon die Strafen des alten Elends genommen, deren Seelen gibt sie der obern Sonne im neunten Jahre zurück, aus welchen dann ruhmvolle tatenreiche Könige und an Weisheit die vorzüglichsten Männer hervorgehn, und von da an als heilige Heroen unter den Menschen genannt werden.»

Überwindung des Einwands durch die Lehre der Wiedererinnerung
Weil nun die Seele unsterblich ist und oftmals geboren und, was hier ist und in der Unterwelt, alles erblickt hat: so ist auch nichts, was sie nicht in Erfahrung gebracht hätte, so daß nicht zu verwundern ist, wenn sie auch von der Tugend und allem andern vermag, sich dessen zu erinnern, was sie ja auch früher gewußt hat. Denn da die ganze Natur unter sich verwandt ist und die Seele alles innegehabt hat: so hindert nichts, daß, wer nur an ein einziges erinnert wird, was bei den Menschen Lernen heißt, alles übrige selbst auffinde, wenn er nur tapfer ist und nicht ermüdet im Suchen. Denn das Suchen und Lernen ist demnach ganz und gar Erinnerung. Keineswegs also darf man jenem streitsüchtigen Satze folgen; denn er würde uns träge machen und ist nur den weichlichen Menschen angenehm zu hören; dieser aber macht uns tätig und forschend, weidiem vertrauend, daß er wahr sei, ich eben Lust habe, mit dir zu untersuchen, was die Tugend ist.
MENON: Ja, Sokrates, aber meinst du dies so schlechthin, daß wir nicht lernen, sondern daß, was wir so nennen, nur ein Erinnern ist? Kannst du mich wohl belehren, daß sich dieses so verhält?
SOKRATES: Schon eben sagte ich, daß du schlau bist, Menon; auch (82 a) jetzt fragst du, ob ich dich lehren kann, der ich doch behaupte, es gebe keine Belehrung, sondern nur Erinnerung, damit ich nur gleich mit mir selbst im Widerspruch erscheine.
MENON: Nein wahrlich, Sokrates, nicht in solcher Absicht sagte ich es, sondern aus Gewohnheit. Wenn du mir also irgendwie zeigen kannst, daß es sich so verhält, wie du sagst, so tue es.
SOKRATES: Freilich ist dies nicht leicht, ich will es aber doch unternehmen, dir zuliebe. Rufe mir also von den vielen Dienern hier, welche dich begleiten, irgendeinen her, welchen du willst, damit ich es dir an diesem zeige.
MENON: Sehr gern. Du da, komm her.
SOKRATES: Er ist doch ein Hellene und spricht hellenisch?
MENON: Sehr gut; er ist im Hause aufgezogen.
SOKRATES: Merke also wohl auf, wie er dir erscheinen wird, ob, als erinnerte er sich oder als lernte er von mir.
MENON: Das will ich tun.
Beweis dieser Lehre durch Befragung eines Sklaven
SOKRATES: Sage mir also, Knabe, weißt du wohl, daß ein Viereck eine solche Figur ist?
KNABE : Das weiß ich.
SOKRATES: Gibt es also ein Viereck, welches alle diese Seiten, deren vier sind, gleich hat?
KNABE: Allerdings.
SOKRATES: Hat es nicht auch diese beiden, welche durch die Mitte hindurchgehen, gleich?
KNABE: Ja.
SOKRATES: Ein solcher Raum nun kann doch größer und kleiner sein.
KNABE: Freilich.
SOKRATES: Wenn nun diese Seite zwei Fuß hätte und diese auch zwei; wieviel Fuß enthielte das Ganze? — Überlege es dir so: Wenn es hier zwei Fuß hätte, hier aber nur einen, enthielte dann nicht der ganze Raum einmal zwei Fuß?
KNABE: Ja.
SOKRATES: Da er nun aber auch hier zwei Fuß hat, wird er nicht von zweimal zwei Fuß?
KNABE: Das wird er.
SOKRATES: Zweimal zwei Fuß ist er also?
KNABE: Ja.
SOKRATES: Wieviel nun zweimal zwei Fuß sind, das rechne aus und sage es.
KNABE: Vier, o Sokrates.
SOKRATES: Kann es nun nicht einen andern Raum geben, der das doppelte von diesem wäre, sonst aber ein ebensolcher, in dem alle Seiten gleich sind, wie in diesem?
KNABE: O ja.
SOKRATES: Wieviel Fuß muß er enthalten?
KNABE: Acht Fuß.
SOKRATES: Gut! Nun versuche auch, mir zu sagen, wie groß jede Seite in diesem Viereck sein wird. Nämlich die des ersten ist von zwei Fuß; die aber jenes doppelten?
KNABE: Offenbar, o Sokrates, zweimal so groß.
SOKRATES: Siehst du wohl, Menon, wie ich diesen nichts lehre, sondern alles nur frage? Und jetzt glaubt er zu wissen, wie groß die Seite ist, aus der das achtfüßige Viereck entstehen wird. Oder denkst du nicht, daß er es glaubt?
MENON: Allerdings.
SOKRATES: Weiß er es aber wohl?
MENON: Wohl nicht.
SOKRATES: Er glaubt aber doch, es entstehe aus der doppelten?
MENON: Ja.

Dessen unvollkommene Lösungsversuche des geometrischen Problems
SOKRATES: Sieh nun zu, wie er sich weiter so erinnern wird, wie man sich erinnern muß. — Du aber sage mir, aus der doppelten Seite, sagst du, entstehe das doppelte Viereck? Ich meine aber ein solches,( 83 a) nicht etwa eins, das hier lang ist, dort aber kurz; sondern es soll nach allen Seiten gleich sein, wie dieses hier, aber das Zwiefache von diesem, also achtfüßig. Sieh nun zu, ob du noch meinst, dies werde aus der zwiefachen Seite entstehen?
KNABE: So meine ich.
SOKRATES: Wohl! Dies wird doch die zwiefache von dieser, wenn wir hier noch eine ebenso große hinzusetzen?
KNABE: Allerdings.
SOKRATES: Und aus dieser, glaubst du, werde das achtfüßige Viereck entstehen, wenn wir vier solche nehmen?
KNABE: Ja.
SOKRATES: So laß uns von ihr vier gleiche aufzeichnen. Nicht wahr also, dies wäre, was du für das achtfüßige hältst?
KNABE: Allerdings.
SOKRATES: Sind nun nicht in ihm diese vier, deren jedes diesem Vierfüßigen gleich ist?
KNABE: Ja.
SOKRATES: Wie groß ist es also? Nicht viermal so groß?
KNABE: Nicht anders.
SOKRATES: Ist nun das viermal so große das zwiefache?
KNABE: Nein, beim Zeus.
SOKRATES: Sondern das wievielfache?
KNABE: Das vierfache.
SOKRATES: Aus der zwiefachen Seite also entsteht uns nicht das zwiefache, sondern das vierfache Viereck.
KNABE: Du hast recht.
SOKRATES: Denn von vier ist das Vierfache sechzehn. Nicht?
KNABE: Ja.
SOKRATES: Das achtfüßige aber, von welcher Seite entsteht das? Nicht wahr, aus dieser entsteht das vierfache?
KNABE: Das sage ich auch.
SOKRATES: Und das vierfüßige entsteht aus dieser halben?
KNABE: Ja.
SOKRATES: Wohl. Das achtfüßige aber, ist es nicht von diesem hier das Zwiefache, von diesem aber die Hälfte?
KNABE: Allerdings.
SOKRATES: Muß es also nicht aus einer größeren Seite entstehen als diese und aus einer kleineren als diese? Oder nicht?
KNABE: Ich wenigstens denke so.
SOKRATES: Schön! Denn immer nur, was du denkst, mußt du antworten. Und sage mir, hatte nicht diese zwei Fuß, diese aber vier?
KNABE: Ja.
SOKRATES: Also muß des achtfüßigen Vierecks Seite größer sein als diese zweifüßige und kleiner als die vierfüßige?
KNABE: Das muß sie.
SOKRATES: So versuche denn zu sagen, wie groß du meinst, daß sie sei.
KNABE: Dreifüßig.
SOKRATES: Gut. Wenn sie dreifüßig sein soll, so wollen wir von dieser noch die Hälfte dazunehmen, so wird sie dreifüßig; denn dies sind zwei Fuß, und dies ist ein Fuß, und auf dieser Seite ebenso sind dies zwei, dies einer. Und dies wird nun das Viereck, welches du meinst.
KNABE: Ja.
SOKRATES: Wenn es nun hier drei Fuß hat und hier auch drei Fuß: so wird das ganze Viereck von dreimal drei Fuß.
KNABE: Offenbar.
SOKRATES: Dreimal drei aber, wieviel Fuß sind das?
KNABE: Neun.
SOKRATES: Wieviel Fuß aber sollte das zwiefache enthalten?
KNABE: Acht.
SOKRATES: Auch nicht aus der dreifüßigen Seite also wird uns das achtfüßige Viereck.
KNABE: Freilich nicht.
SOKRATES: Von welcher also, das versuche doch uns genau zu bestimmen; und wenn du es nicht durch Zählen willst, so zeige uns nur, von welcher.
(84 a)
KNABE: Aber beim Zeus, Sokrates, ich weiß es nicht.

Nutzen der im Sklaven erzeugten Verwirrung
SOKRATES: Siehst du wohl, Menon, wie weit er schon fortgeht im Erinnern? Denn zuerst wußte er zwar auch keineswegs, welches die Seite des achtfüßigen Vierecks ist, wie er es auch jetzt noch nicht weiß: allein er glaubte damals, es zu wissen, und antwortete dreist fort als ein Wissender und glaubte nicht, in Verlegenheit zu kommen. Nun aber glaubt er schon in Verlegenheit zu sein, und wie er es nicht weiß, so glaubt er es auch nicht zu wissen.
MENON: Du hast recht.
SOKRATES: Steht es also nun nicht besser mit ihm in Bezug auf die Sache, die er nicht wußte?
MENON: Auch das dünkt mich.
SOKRATES: Indem wir ihn also in Verlegenheit brachten und zum Erstarren, wie der Zitterrochen, haben wir ihm dadurch etwa Schaden getan?
MENON: Mich dünkt nicht.
SOKRATES: Vielmehr haben wir vorläufig etwas ausgerichtet, wie es scheint, damit er herausfinden kann, wie sich die Sache verhält. Denn jetzt möchte er es wohl gern suchen, da er es nicht weiß; damals aber glaubte er, ohne Schwierigkeit vor vielen oftmals gut zu reden über das zwiefache Viereck, daß es auch eine zwiefach so lange c Seite haben müsse.
MENON: So mag es wohl sein.
SOKRATES: Glaubst du nun, er würde sich vorher bemüht haben, das zu suchen oder zu lernen, was er nichtwissend glaubte zu wissen, ehe er, überzeugt, er wisse nicht, in Verwirrung geriet und sich nach dem Wissen sehnte?
MENON: Nein, dünkt mich, Sokrates.
SOKRATES: Nutzen hat ihm also das Erstarren gebracht?
MENON: So dünkt mich.
SOKRATES: Sieh nun aber auch zu, was er von dieser Verlegenheit aus mit mir suchend auch finden wird, indem ich ihn immer nur frage und niemals lehre. Und gib wohl acht, ob du mich je darauf betriffst, daß ich ihn belehre und ihm vortrage und nicht seine eigenen Gedanken nur ihm abfrage.

Sein Finden der Lösung
Sage mir du, ist dies nicht unser vierfüßiges Viereck? Verstehst du?
KNABE: Ja.
SOKRATES: Können wir nun nicht hier noch ein gleiches daran setzen?
KNABE: Ja.
SOKRATES: Und auch dies dritte, das jedem von den beiden gleich ist?
KNABE: Ja.
SOKRATES: Können wir nun nicht auch das noch hier in der Ecke ausfüllen?
KNABE: Ja.
SOKRATES: Wie nun? Das wievielfache ist wohl dies Ganze diesen?
KNABE: Das vierfache.
SOKRATES: Wir sollten aber ein zweifaches bekommen; oder erinnerst du dich nicht?
KNABE: Allerdings.
SOKRATES: Schneidet nun nicht diese Linie, welche aus einem Winkel in den anderen geht, jedes von diesen Vierecken in zwei gleiche
Teile? (85 a)
KNABE: Ja.
SOKRATES: Und werden nicht dieses vier gleiche Linien, welche dieses Viereck einschließen?
KNABE: Allerdings.
SOKRATES: So betrachte nun, wie groß wohl dieses Viereck ist?
KNABE: Das verstehe ich nicht.
SOKRATES: Hat nicht von diesen vieren von je einem jede Seite die Hälfte nach innen zu abgeschnitten? Oder nicht?
KNABE: Ja.
SOKRATES: Wieviel solche sind nun in diesem?
KNABE: Vier.
SOKRATES: Wieviel aber in diesem?
KNABE: Zwei.
SOKRATES: Vier aber ist von zwei was doch?
KNABE: Das Zweifache.
SOKRATES: Wievielfüßig ist also dieses?
KNABE: Achtfüßig.
SOKRATES: Von welcher Linie?
KNABE: Von dieser.
SOKRATES: Von der, welche aus einem Winkel in den andern das vierfüßige schneidet?
KNABE: Ja.
SOKRATES: Diese nun nennen die Gelehrten die Diagonale; so daß, wenn diese die Diagonale heißt, alsdann aus der Diagonale, wie du behauptest, das zwiefache Viereck entsteht.
KNABE: Allerdings, Sokrates.

Folgerung: Der Ursprung der Erkenntnis liegt im Lernenden selbst
SOKRATES: Was dünkt dich nun, Menon? Hat dieser irgendeine Vorstellung, die nicht sein war, zur Antwort gegeben?
MENON: Nein, nur seine eignen.
SOKRATES: Und doch wollte er es vor kurzem noch nicht, wie wir gestanden?
MENON: Ganz recht.
SOKRATES: Es waren aber doch diese Vorstellungen in ihm. Oder nicht?
MENON: Ja.
SOKRATES: In dem Nichtwissenden also sind von dem, was er nicht weiß, dennoch richtige Vorstellungen.
MENON: Das zeigt sich.
SOKRATES: Und jetzt sind ihm nur wie im Traume diese Vorstellungen eben aufgeregt. Wenn ihn aber jemand oftmals um dies nämliche befragt und auf vielfache Art: so wisse nur, daß er am Ende nicht minder genau als irgendein anderer um diese Dinge wissen wird.
MENON: Das scheint wohl.
SOKRATES: Indem ihn also niemand belehrt, sondern nur ausfragt, wird er wissen und wird die Erkenntnis nur aus sich selbst hervorgeholt haben?
MENON: Ja.
SOKRATES: Dieses nun, selbst aus sich eine Erkenntnis hervorholen, heißt das nicht sich erinnern?
MENON: Allerdings.
SOKRATES: Und hat etwa nicht dieser die Erkenntnis, die er jetzt hat, entweder einmal erlangt oder immer gehabt?
MENON: Ja.
SOKRATES: Hat er sie nun immer gehabt, so ist er auch immer wissend gewesen. Hat er sie aber einmal erlangt, so hat er sie wenigstens nicht in diesem Leben erlangt. Oder hat jemand diesen die Geometrie gelehrt? Denn gewiß wird er mit der ganzen Geometrie ebenso verfahren und mit allen andern Wissenschaften auch. Hat nun jemand diesen dies alles gelehrt? Denn du mußt es ja wohl wissen, da er in deinem Hause geboren und erzogen ist.
MENON: Ich weiß sehr gut, daß niemand sie ihn jemals gelehrt hat.
SOKRATES: Er hat aber diese Vorstellungen; oder nicht?
MENON: Notwendig, wie man ja sieht.

Rückschluß daraus auf die Unsterblichkeit
SOKRATES: Wenn er sie aber in diesem Leben nicht erlangt hat und daher nicht wußte: so hat er sie ja offenbar in einer andern Zeit gehabt und gelernt. (86 a)
MENON: Offenbar.
SOKRATES: Ist nun nicht dieses die Zeit, wo er kein Mensch war?
MENON: Offenbar.
SOKRATES: Wenn also in der ganzen Zeit, wo der Mensch ist, oder auch, wo er es nicht ist, richtige Vorstellungen in ihm sein sollen, welche, durch Fragen aufgeregt, Erkenntnisse werden, muß dann nicht seine Seele von jeher in dem Zustande des Gelernthabens sein? Denn offenbar ist er durch alle Zeit entweder Mensch oder nicht.
MENON: Das ist einleuchtend.
SOKRATES: Wenn nun von jeher immer die Wahrheit von allem, was ist, der Seele einwohnt, so wäre ja die Seele unsterblich, so
daß du getrost, was du jetzt nicht weißt, das heißt aber, dessen du dich nicht erinnerst, trachten kannst zu suchen und dir zurückzurufen.
MENON: Du scheinst mir, ich weiß nicht wie, vortrefflich zu reden, Sokrates.
SOKRATES: Auch mir selbst scheine ich es, o Menon. Und das übrige freilich möchte ich nicht eben ganz verfechten für diese Rede; daß wir aber, wenn wir glauben, das suchen zu müssen, was wir nicht wissen, besser werden und mannhafter und weniger träge, als wenn wir glauben, was man nicht wisse, sei nicht möglich zu finden, und man müsse es also auch nicht erst suchen, dafür möchte ich allerdings streiten, wenn ich es könnte, mit Wort und Tat.
MENON: Auch dies dünkt mich sehr richtig gesagt, Sokrates.
Aus: Platon, Sämtliche Werke 2, Menon, Hippias I, Euthydemos, Menexenos, Kratylos, Lysis, Symposion (S.21-28 Menon)
In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 14



Die Unsterblichkeit der Seele Phaidros 246a - 250a
Die Unsterblichkeit der Seele
Seele insgesamt ist unsterblich. Denn das stets Bewegte ist unsterblich; was aber anderes bewegt und selbst von anderem bewegt wird, insofern es ein Aufhören der Bewegung hat, hat auch ein Aufhören des Lebens. Allein also das sich selbst Bewegende, weil es nie sich selbst verläßt, wird auch nie aufhören, bewegt zu sein, sondern auch allem, was sonst bewegt wird, ist dieses Quelle und Anfang der Bewegung. Der Anfang aber ist unentstanden. Denn aus dem Anfang muß alles Entstehende entstehen, er selbst aber aus nichts. Denn wenn der Anfang aus etwas entstände, so entstände er nicht aus dem Anfang. Da er aber unentstanden ist, muß er notwendig auch unvergänglich sein. Denn wenn der Anfang unterginge, könnte weder er jemals aus etwas anderem noch etwas anderes aus ihm entstehen, da ja alles aus dem Anfang entstehen muß. Demnach also ist der Bewegung Anfang das sich selbst Bewegende; dies aber kann weder untergehen noch entstehen, oder der ganze Himmel und die gesamte Erzeugung müßten zusammenfallend stillstehen und hätten nichts, woher bewegt sie wiederum entstehen könnten. Nachdem sich nun das sich von selbst Bewegende als unsterblich gezeigt hat, so darf man sich auch nicht schämen, eben dieses für das Wesen und den Begriff der Seele zu erklären. Denn jeder Körper, dem nur von außen das Bewegtwerden kommt, heißt unbeseelt, der es aber in sich hat aus sich selbst, beseelt, als sei dieses die Natur der Seele. Verhält sich aber dieses so, daß nichts anderes das sich selbst Bewegende ist als die Seele, so ist notwendig auch die Seele unentstanden und unsterblich. Von ihrer Unsterblichkeit nun sei dieses genug. (246 a)

Gleichnishafte Bestimmung des Wesens der Seele
Von ihrem Wesen aber müssen wir dieses sagen, daß, wie es an sich beschaffen sei, überhaupt auf alle Weise eine göttliche und weitschichtige Untersuchung erfordert, womit es sich aber vergleichen läßt, dies eine menschliche und leichtere. Auf diese Art also müssen wir davon reden. Es gleiche daher der zusammengewachsenen Kraft eines befiederten Gespannes und seines Führers. Der Götter Rosse und Führer nun sind alle selbst gut und guter Abkunft, die andern aber vermischt.

Und zunächst nun zügelt bei uns der Führer das Gespann, ferner ist von den Rossen das eine gut und edel und solchen Ursprungs, das andere aber entgegengesetzter Abstammung und Beschaffenheit. Schwierig und mühsam ist daher notwendig bei uns die Lenkung.

Woher ferner die Benennungen sterblicher und unsterblicher Tiere stammen, müssen wir auch zu erklären versuchen. Alles, was Seele ist, waltet über alles Unbeseelte und durchzieht den ganzen Himmel, verschiedentlich in verschiedenen Gestalten sich zeigend. Die vollkommene nun und befiederte schwebt in den höheren Gegenden und waltet durch die ganze Welt; die entfiederte aber schwebt umher, bis sie auf ein Starres trifft, wo sie nun wohnhaft wird, einen erdigen Leib annimmt, der nun durch ihre Kraft sich selbst zu bewegen scheint, und dieses Ganze, Seele und Leib zusammengefügt, wird dann ein Tier genannt und bekommt den Beinamen sterblich; unsterblich aber nicht aus irgend erwiesenen Gründen, sondern wir bilden uns, ohne Gott weder gesehen zu haben noch hinlänglich zu erkennen, ein unsterbliches Tier, als auch eine Seele habend und einen Leib habend, aber auf ewige Zeit beide zusammen vereinigt. Doch dieses verhalte sich, wie es Gott gefällt, und auch nur so sei hiermit davon geredet. Nun aber laßt uns die Ursache von dem Verlust des Gefieders, warum es der Seele ausfällt, betrachten. Es ist aber diese.

Das Göttliche als die Nahrung des Seelengefieders. Beschreibung des Aufstiegs der Götter zum überhimmlischen Ort
Die Kraft des Gefieders besteht darin, das Schwere emporhebend hinaufzuführen, wo das Geschlecht der Götter wohnt. Auch hat es am meisten von dem, was in Beziehung zum Körper steht, am Göttlichen Anteil. Das Göttliche aber ist schön, weise, gut und was dem ähnlich ist. Hiervon also nährt sich und wächst vornehmlich das Gefieder der Seele, durch das Mißgestalte aber, das Böse und was sonst jenem entgegengesetzt ist, zehrt es ab und vergeht. Der große Herrscher im Himmel Zeus nun, seinen geflügelten Wagen lenkend, zieht als erster aus, alles anordnend und versorgend, und ihm folgt die Schar der Götter und Dämonen in elf Zügen geordnet. (247 a) Denn Hestia bleibt in der Götter Haus allein. Alle andern aber, welche zu der Zahl der zwölf als herrschende Götter geordnet sind, führen an in der Ordnung, die jedem angewiesen ist. Viel Herrliches nun gibt es zu schauen und zu begehen innerhalb des Himmels, wozu der seligen Götter Geschlecht sich hinwendet, jeder das Seinige verrichtend. Es folgt aber, wer jedesmal will und kann: denn Mißgunst ist verbannt aus dem göttlichen Chor. Wenn sie aber zum Fest und zum Mahle gehen und gegen die äußerste unterhimmlische Wölbung schon ganz steil aufsteigen: dann gehen zwar der Götter Wagen mit gleichem wohlgezügeltem Gespann immer leicht, die andern aber nur mit Mühe. Denn das vom Schlechten etwas an sich habende Roß, wenn es nicht sehr gut erzogen ist von seinem Führer, beugt sich zum Boden hinunter und drückt mit seiner ganzen Schwere, woraus viel Beschwerde und der äußerste Kampf der Seele entsteht. Denn die unsterblich Genannten, wenn sie an den äußersten Rand gekommen sind, wenden sich hinauswärts und stehen so auf dem Rücken des Himmels, und hier stehend reißt sie der Umschwung mit fort, und sie schauen, was außerhalb des Himmels ist.

Der überhimmlische Ort und die Lebensweise der Götter
Den überhimmlischen Ort aber hat noch nie einer von den Dichtern hier besungen, noch wird ihn je einer nach Würden besingen. Er ist aber so beschaffen — denn ich muß es wagen, das Wahre zu sagen, zumal da ich von der Wahrheit zu reden habe. Das farblose, gestaltlose, wahrhaft seiende Wesen, beschaubar allein für der Seele Führer, die Vernunft, um welches her das Geschlecht der wahrhaften Wissenschaft ist, hat nämlich jenen Ort inne. Da nun Gottes Verstand sich von unvermischter Vernunft und Wissenschaft nährt, wie auch der jeder Seele, welche sich darum kümmert, das Gebührende auf zunehmen: so freuen sie sich, das Seiende wieder einmal zu erblicken, und nähren sich durch Beschauung des Wahren und lassen es sich wohlsein, bis der Umschwung sie wieder an die vorige Stelle zurückgebracht. In diesem Umlauf nun erblicken sie die Gerechtigkeit selbst, erblicken sie auch die Besonnenheit und die Wissenschaft, nicht die, welche eine Entstehung hat, noch welche eine andere ist in einem anderen von den Dingen, die wir jetzt seiend nennen, sondern die in dem, was wahrhaft ist, befindliche wahrhaft Wissenschaft; und so auch von dem andern das wahrhaft Seiende erblickt die Seele, und wenn sie sich daran erquickt hat, taucht sie wieder in das Innere des Himmels und kehrt nach Hause zurück. Ist sie dort angekommen: so stellt der Führer die Rosse zur Krippe, wirft ihnen Ambrosia vor und tränkt sie dazu mit Nektar.

Verhältnis der anderen Seelen zum Wahren. Das Gesetz der Adrasteia
(248 a) Dieses nun ist der Götter Lebensweise. Von den andern Seelen aber konnten einige, welche am besten den Göttern folgten, das Haupt des Führers hinausstrecken in den äußeren Ort und so den Umschwung mitvollenden, geängstet jedoch von den Rossen und kaum das Seiende erblickend; andere erhoben sich bisweilen und tauchten dann wieder unter, so daß sie mi gewaltigen Sträuben der Rosse einiges sahen, anderes aber nicht. Die übrigen allesamt folgen zwar auch dem Droben nachstrebend, sind aber unvermögend und werden unter der Oberfläche mit herumgetrieben, einander tretend und stoßend, indem jede sucht, der andern zuvorzukommen. Getümmel entsteht nun, Streit und Angstschweiß, wobei durch Schuld schlechter Führer viele verstümmelt werden, vielen vieles Gefieder beschädigt; alle aber gehen nach viel erlittenen Beschwerden unteilhaft der Anschauung des Seienden davon, und so davongegangen halten sie sich an scheinhafte Nahrung. Weshalb eben jener große Eifer, der Wahrheit Feld zu schauen, wo es ist; nämlich die dem Edelsten der Seele angemessene Weide stammt her aus jenen Wiesen, und des Gefieders Kraft, durch welches die Seele gehoben wird, nährt sich hiervon, und das Gesetz der Adrasteia ist dieses: welche Seele als des Gottes Begleiterin etwas erblickt hat von dem Wahrhaften, daß diese bis zum nächsten Auszuge keinen Schaden erleide, und wenn sie dies immer bewirken kann, auch immer unverletzt bleibe. Wenn sie aber, unvermögend es zu erreichen, nichts sieht, sondern ihr ein Unfall begegnet und sie dadurch, von Vergessenheit und Trägheit angefüllt, niedergedrückt wird und so das Gefieder verliert und zur Erde fällt: darin ist ihr gesetzt, in der ersten Zeugung noch in keine tierische Natur eingepflanzt zu werden, sondern die am meisten geschaut habende in den Keim eines Mannes, der ein Freund der Weisheit oder des Schönen werden wird, oder ein den Musen und der Liebe Dienender; die zweite in den eines verfassungsmäßigen Königs oder eines Kriegerischen und Herrschenden; die dritte eines Staatsmannes oder der ein Hauswesen regiert und ein gewerbetreibendes Leben führt; die vierte in einen Freund von Mühen oder Leibesübungen oder der sich mit der Heilung des Körpers beschäftigen wird; die fünfte wird ein wahrsagendes und den Geheimnissen gewidmetes Leben führen; der sechsten wird ein dichterisches oder sonst mit der Nachahmung sich beschäftigendes gemäß sein; der siebenten ein ländliches oder handarbeitendes; der achten ein sophistisches oder volkeschmeichelndes; der neunten ein tyrannisches. Unter allen diesen nun erhält, wer gerecht gelebt, ein besseres Teil, wer ungerecht, ein schlechteres.

Für die Wiederverkörperung geltende Bestimmungen. Die Ausnahmestellung des Philosophen
Denn dorthin, woher jede Seele kommt, kehrt sie nicht zurück in zehntausend Jahren, (249 a) denn sie wird nicht eher befiedert als in solcher Zeit, ausgenommen die Seele dessen, der ohne Falsch philosophiert oder nicht unphilosophisch die Knaben geliebt hat. Diese können im dritten tausendjährigen Zeitraum, wenn sie dreimal nacheinander dasselbe Leben gewählt, also befiedert nach dreitausend Jahren heimkehren. Die übrigen aber, wenn sie ihr erstes Leben vollbracht, kommen vor Gericht. Und nach diesem Gericht gehen einige in die unterirdischen Zuchtörter, wo sie ihre Strafe verbüßen; andere aber, in einen Ort des Himmels enthoben durch das Recht, leben dort dem Leben gemäß, welches sie in menschlicher Gestalt geführt. Im tausendsten Jahre aber gelangen beiderlei Seelen zur Verlosung und Wahl des zweiten Lebens, welches jede wählt, wie sie will. Dann kann auch eine menschliche Seele in ein tierisches Leben übergehen, und ein Tier, das ehedem Mensch war, wieder zum Menschen. Denn eine, die niemals die Wahrheit erblickt hat, kann auch niemals diese Gestalt annehmen; denn der Mensch muß nach Gattungen Ausgedrücktes begreifen, indem er von vielen Wahrnehmungen zu einem durch Denken Zusammengebrachten fortgeht. Und dies ist Erinnerung an jenes, was einst unsere Seele gesehen, Gott nachwandelnd und das übersehend, was wir jetzt als seiend bezeichnen, und zu dem wahrhaft Seienden das Haupt emporgerichtet. Daher auch wird mit Recht nur des Philosophen Seele befiedert: denn sie ist immer durch Erinnerung soviel als möglich bei jenen Dingen, bei denen Gott sich befindend eben deshalb göttlich ist. Solcher Erinnerungen also sich recht bedienend, mit vollkommener Weihung immer geweiht, kann ein Mann allein wahrhaft vollkommen werden. Indem er nun menschlicher Bestrebungen sich enthält und mit dem Göttlichen umgeht, wird er von den Leuten wohl gescholten als ein Verwirrter, daß er aber begeistert ist, merken die Leute nicht.

Die vierte Art des Wahnsinns: Begeisterung durch das Wiedererinnertwerden an die Schönheit dort
Und hier ist nun die ganze Rede angekommen von jener vierten Art des Wahnsinns — in Hinsicht auf welchen derjenige, der bei dem Anblick der hiesigen Schönheit, jener wahren sich erinnernd, neubefiedert wird und mit dem wachsenden Gefieder auf zufliegen zwar versucht, aber unvermögend ist, nur wie ein Vogel hinaufwärts schauend, was drunten ist, jedoch gering achtend, beschuldigt wird seelenkrank zu sein — daß nämlich diese unter allen Begeisterungen als die edelste und des edelsten Ursprungs sich erweist, an dem sowohl, der sie hat, als an dem, der ihr zugesellt ist, und daß, wer dieses Wahnsinns teilhaftig die Schönen liebt, ein Liebhaber genannt wird. Nämlich, wie bereits gesagt, jede Seele eines Menschen muß zwar ihrer Natur nach das Seiende geschaut haben, oder sie wäre in dieses Gebilde nicht gekommen; sich aber bei dem Hiesigen an jenes zu erinnern, (250 a) ist nicht jeder leicht, weder denen, die das Dortige nur kümmerlich sahen, noch denen, welche, nachdem sie hierher gefallen, ein Unglück betroffen, so daß sie, irgendwie durch Umgang zum Unrecht verleitet, das ehedem geschaute Heilige in Vergessenheit gestellt; wenige also bleiben übrig, denen die Erinnerung stark genug beiwohnt. Diese nun, wenn sie ein Ebenbild des Dortigen sehen, werden entzückt und sind nicht mehr ihrer selbst mächtig, was ihnen aber eigentlich begegnet, wissen sie nicht, weil sie es nicht genug durchschauen. Denn der Gerechtigkeit, Besonnenheit, und was sonst den Seelen köstlich ist, hiesige Abbilder haben keinen Glanz, sondern mit trüben Werkzeugen können unter Mühen von ihnen nur wenige jenen Bildern sich nahend des Abgebildeten Geschlecht erkennen. Die Schönheit aber war damals glänzend zu schauen, als mit dem seligen Chore wir dem Jupiter, andere einem andern Gotte folgend, des herrlichsten Anblicks und Schauspiels genossen und in ein Geheimnis geweiht waren, welches man wohl das allerseligste nennen kann, und welches wir feierten, untadelig selbst und unbetroffen von den Übeln, die unserer für die künftige Zeit warteten, und so auch zu untadeligen, unverfälschten, unwandelbaren, seligen Gesichten vorbereitet und geweiht in reinem Glanze, rein und unbelastet von diesem unserm Leibe, wie wir ihn nennen, den wir jetzt eingekerkert wie ein Schaltier mit uns herumtragen.
Aus: Platon, Sämtliche Werke 4, Phaidros, Parmenides, Theaitetos, Sophistes (S.27-31 Phaidros)
In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 39


Ross und Reiter Phaidros 254a
Beschaffenheit der beiden Seelenrosse
Wie ich im Anfang dieser Erzählung dreifach jede Seele zerteilt habe, in zwei roßgestaltige Teile und drittens in den dem Führer ähnlichen, so bleibe es uns auch jetzt noch angenommen. Von den beiden Rossen, sagten wir weiter, sei eines gut, eines aber nicht. Welches aber die Vortrefflichkeit des guten und des schlechten Schlechtigkeit ist, haben wir nicht erklärt, jetzt aber müssen wir es sagen. Das nun von beiden, welches die bessere Stelle einnimmt, ist von geradem Wuchse, leicht gegliedert, hochhalsig, mit gebogener Nase, weiß von Haar, schwarzäugig, ehrliebend mit Besonnenheit und Scham, und als wahrhafter Meinung freund wird es ohne Schläge nur durch Befehl und Worte gelenkt; das andere aber ist senkrückig, plump, schlecht gebaut, hartnackig, kurzhalsig, mit aufgeworfener Nase, schwarz von Haut, glasäugig und rot unterlaufen, aller Wildheit und Starrsinnigkeit freund, rauh um die Ohren, taub, der Peitsche und dem Stachel kaum gehorchend.

Die Bändigung des ungezügelten Rosses
Wenn nun der Führer beim Anblick der liebreizenden Gestalt, die ganze Seele durch die Wahrnehmung erwärmend, bald überall den Stachel des Kitzels und (254a) Verlangens spürt: so hält das dem Führer leicht gehorchende Roß, der Scham wie immer so auch dann nachgebend, sich selbst zurück, den Geliebten nicht anzuspringen; das andere aber scheut nun nicht länger Stachel noch Peitsche des Führers, sondern springend strebt es mit Gewalt vorwärts, und auf alle Weise dem Spanngenossen und dem Führer zusetzend nötigt es sie, hinzugehen zu dem Liebling und der Gaben der Lust gegen ihn zu gedenken.

Jene beiden widerstreben zwar anfangs unwillig als einer argen und ruchlosen Nötigung ausgesetzt, zuletzt aber, wenn des Ungemachs kein Ende ist, machen sie sich dann, von jenem fortgerissen, auf, nachgebend und versprechend, das Gebotene zu tun, und so kommen sie hin und schauen des Lieblings glänzende Gestalt. Indem nun der Führer sie erblickt, wird seine Erinnerung hingetragen zum Wesen der Schönheit, und wiederum sieht er sie mit der Besonnenheit auf heiligem Boden stehen. Dieses erblickend fürchtet er sich, und von Ehrfurcht durchdrungen beugt er sich zurück und kann sogleich nicht anders, so gewaltig die Zügel rückwärts ziehen, daß beide Rosse sich auf die Hüften setzen, das eine gutwillig, weil es nie widerstrebt, das wilde aber höchst ungern.

Indem sie nun weiter zurückgehen, netzt das eine vor Scham und Bewunderung die ganze Seele mit Schweiß, das andere aber, ist nur erst der Schmerz vom Gebiß und dem Falle vorüber, hat sich kaum erholt, so bricht es zornig in Schmähungen aus, vielfach den Führer und den Spanngenossen beschimpfend, daß sie aus Feigheit und Unmännlichkeit Pflicht und Versprechen verlassen hätten; und aufs neue sie wider ihren Willen vorwärts zu gehen zwingend, gibt es kaum nach, wenn sie bitten, es weiterhin aufzuschieben. Kommt nun die festgesetzte Zeit, so, erinnert es jene, die dessen nicht zu gedenken sich anstellen, braucht Gewalt, wiehert, zieht sie mit sich fort und zwingt sie wieder, in derselben Absicht dem Geliebten zu nahen. Und wenn sie nicht mehr fern sind, beugt es sich vornüber, streckt den Schweif in die Höhe, beißt in den Zügel und zieht sie schamlos weiter. Dem Führer aber begegnet nur noch mehr dasselbe wie zuvor, er wird wie vom Startseil zurückgeschnellt, zieht noch gewaltsamer dem wilden Rosse das Gebiß aus den Zähnen, so daß ihm die schmähsüchtige Zunge und die Backen bluten, und Schenkel und Hüften am Boden festhaltend, läßt er es büßen.

Hat nun das böse Roß mehrmals dasselbe erlitten und die Wildheit abgelegt, so folgt es gedemütigt des Führers Überlegung und ist beim Anblick des Schönen von Furcht übermannt. Daher es dann endlich dahin kommt, daß des Liebhabers Seele dem Liebling verschämt und schüchtern nachgeht.
Aus: Platon, Sämtliche Werke 4, Phaidros, Parmenides, Theaitetos, Sophistes (S.34f. Phaidros)
In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 39



Tod, Unsterblichkeit, Belohnung und Bestrafung der Seele
Politeia 609 a - 621a
Die Unsterblichkeit der Seele; Satz vom Untergang jedes Wesens durch die ihm eigene Schlechtigkeit
Und doch haben wir die größten Aussichten und vorgesteckten Preise für die Tugend noch nicht auseinandergesetzt.
Du mußt wohl, sagte er, eine ungeheure Größe im Sinne haben, wenn es anderes Größeres als das Gesagte geben soll.
Was kann aber, sprach ich, in kurzer Zeit Großes geschehen? Denn diese ganze Zeit von der Kindheit bis zum Alter ist doch gegen die ganze insgesamt eine gar kurze.
So gut wohl als gar nichts, sagte er.
Wie also? Meinst du, ein unsterbliches Wesen solle sich um so weniger Zeit willen abgemüht haben und nicht vielmehr wegen der ganzen?
Ich glaube es wenigstens, sagte er, aber wie meinst du dieses?
Bist du das nicht innegeworden, sprach ich, daß unsere Seele unsterblich ist und niemals umkommt?
Da sah er mich an und sagte verwundert: Beim Zeus, ich nicht! Du aber kannst dies behaupten?
Wenn ich nicht ganz irre bin, sprach ich. Aber ich denke du auch, denn es ist gar nichts Schweres.
Mir gewiß! sagte er. Aber von dir möchte ich gar zu gern dieses gar nicht Schwere vernehmen.
So höre denn, sprach ich.
Rede nur, sagte er.
Nennst du, begann ich, etwas gut und böse?
Ich gewiß.
Denkst du nun auch darüber so wie ich?
Worin?
Daß alles Verderbende und Zerstörende das Böse ist, das Erhaltende aber und Fördernde das Gute?
So denke ich, sagte er.
Und wie? Setzest du auch für jegliches ein Gutes und Böses? Wie für die Augen (609a) die Fistel und für den gesamten Leib die Krankheit, für das Korn den Brand, für das Holz die Fäulnis, für Eisen und Erz den Rost, und, wie ich sage, setzest du für alles und jedes fast seine besondere ihm angestammte Krankheit und sein Böses?
Das setze ich, sagte er.
Und nicht wahr, wenn dies zu einem Dinge kommt, so wird das schlecht, bei dem es sich eingestellt hat, und zuletzt kommt es ganz um und wird zerstört?
Wie sollte es nicht.
Das einem jeden angestammte Böse also und die Schlechtigkeit zerstört jedes; und wenn diese es nicht zerstört, so gibt es nichts, was etwas verderben kann. Denn das Gute könnte doch wohl nie irgend etwas zerstören, und das, was weder gut noch böse ist, ebensowenig.
Wie könnte es wohl! sagte er.
Wenn wir also so etwas fänden, welches freilich auch sein Böses hat, wodurch es schlecht wird, nicht so jedoch, daß dieses imstande wäre es zerstörend aufzulösen, werden wir dann nicht schon wissen, daß es für das so Beschaffene keinen Untergang gebe?
So scheint es wohl, sagte er.
Wie also? sprach ich; hat die Seele nicht auch etwas, das sie schlecht macht?
Ei freilich, sagte er, dies alles, wovon wir gehandelt haben, die Ungerechtigkeit und Unbändigkeit und die Feigheit und der Unverstand.
Kann nun wohl etwas von diesen sie auflösen und zerstören? Und merke nur wohl, daß wir uns nicht etwa täuschen und denken, wenn ein ungerechter und unvernünftiger Mensch bei der Ungerechtigkeit ergriffen wird, so komme er dann um, durch die Ungerechtigkeit, als welche die Schlechtigkeit der Seele ist. Sondern stelle die Sache so! So wie die Krankheit, welche die Schlechtigkeit des Leibes ist, den Leib verzehrt und aufreibt und dahin bringt, daß er gar nicht mehr Leib ist; und alles soeben Angeführte durch das eigentümliche Böse, indem es ihm zerstörend anhaftet und einwohnt, dahin kommt, nicht zu sein. Nicht so?
Ja.
So komm denn und betrachte die Seele auf dieselbe Weise. Kann wohl Ungerechtigkeit und sonst andere Untugend, die in ihr ist, sie dadurch, daß sie in ihr ist und ihr anhaftet, verderben und verzehren, bis sie sie zum Tode bringt und vom Leibe trennt?
Dieses doch auf keine Weise, sagte er.
Und jenes war doch ungereimt, sprach ich, daß die Schlechtigkeit eines andern etwas verderben solle, die eigene aber nicht.
Ungereimt.
Denn bedenke nur, o Glaukon, daß wir auch nicht glauben, an der Schlechtigkeit des Getreides, sofern sie nur dieses ist, sei es nun Alter oder Fäulnis oder was es sonst für eine sein mag, müsse der Leib verderben, sondern dann zwar, wenn des Getreides Schlechtigkeit in dem Leibe des Leibes Elend hervorbringt, werden wir sagen, er sei um jener willen an seiner eigenen Schlechtigkeit, welches die Krankheit ist, untergegangen; daß aber an des Getreides Schlechtigkeit, welches ja etwas ganz anderes ist, der ganz etwas anderes seiende Leib, (610a) also an einem fremden Bösen, welches nicht in ihm das seiner Natur anhaftende Böse hervorbringt, untergehen könne, werden wir niemals behaupten.
Vollkommen richtig gesprochen, sagte er.

Die ihr eigene Schlechtigkeit tötet die Seele nicht, und daher ist sie unsterblich
Nach derselben Regel, sprach ich, wenn nicht des Leibes Schlechtigkeit in der Seele ihre eigene Schlechtigkeit hervorbringt, wollen wir nie glauben, daß an einem fremden Übel ohne eigene Schlechtigkeit die Seele untergehe, sie als ein ganz anderes an dem Übel eines anderen.
Das ist richtig gefolgert, sagte er.
Entweder also müssen wir dieses widerlegen, daß es nicht richtig war, oder solange es unwiderlegt steht laß uns nie behaupten, daß am Fieber oder sonst einer Krankheit oder auch am Schwert, und wenn einer auch den ganzen Leib in die kleinsten Stückchen zerschnitte, deshalb auch nur im geringsten die Seele untergehe, ehe nicht jemand nachweist, daß wegen dieser Zustände des Leibes jene selbst ungerechter und unheiliger werde. Solange also nur in einem andern ein fremdes Übel, in jeglichem aber sein eigentümliches nicht entsteht, so wollen wir weder von der Seele noch von sonst irgend etwas gelten lassen, daß es auf diese Weise untergehe.
Dieses aber, sagte er, wird doch wohl niemals irgend jemand zeigen können, daß die Seelen der Sterbenden des Todes wegen ungerechter werden.
Wenn aber doch einer, entgegnete ich, dreist genug ist, gerade darauflos zu gehen und, damit er nicht nötig habe zuzugeben, daß die Seelen unsterblich sind, behauptet, der Sterbende werde schlechter und ungerechter, so werden wir doch annehmen, wenn jener recht hat mit seiner Behauptung, daß die Ungerechtigkeit dem, der sie hat, tödlich sei wie eine Krankheit, und daß diejenigen, welche eine solche Krankheit bekommen, wenn diese sie tötet, jeder seiner eigenen Natur gemäß sterben, die einen sehr früh, die andern weit später, nicht aber, so wie jetzt, für die Ungerechtigkeit andere es den Ungerechten als Strafe auflegen, zu sterben.
Beim Zeus, sagte er, so zeigte sich dann ja die Ungerechtigkeit als etwas gar nicht so Schreckliches, wenn sie dem, der sie bekommt, tödlich wird; denn so wäre sie ja eine Ablösung von allen Übeln. Vielmehr aber glaube ich, sie wird sich auf ganz entgegengesetzte Art zeigen, als andere tötend, wenn sie kann, den aber, der sie hat, stellt sie gar lebenslustig dar und außerdem, daß er lebenslustig ist, auch noch wachsam; so weit, wie man ja sieht, ist sie davon entfernt, tödlich zu sein.
Sehr richtig, sagte ich, bemerkst du dies.
Wenn denn also die eigene Schlechtigkeit und das eigene Böse nicht imstande ist, die Seele zu töten und zu zerstören, so hat es wohl keine Not, daß ein einem andern zum Verderben gesetztes Übel die Seele oder sonst etwas anderes als das, dem es dazu gesetzt ist, zerstören sollte.
Keine Not, sagte er, wie man ja schließen muß.
Also wenn doch gar kein Übel, weder eigenes noch fremdes, sie zerstört, (611a) so ist ja offenbar, daß sie notwendig etwas immer Seiendes ist; und wen immer seiend, dann unsterblich.
Notwendig, sagte er.

Verschiedenheit der wahren Natur der Seele von der in ihrer jetzigen Gestalt erscheinenden Mannigfaltigkeit
Dieses also, sprach ich, verhalte sich so! Wenn aber, so siehst du wohl, daß die Seelen auch immer werden dieselbigen sein. Denn weder weniger können ihrer werden, wenn keine untergeht, noch auch mehrere. Denn wenn etwas von den unsterblichen Dingen mehr würde, so weißt du ja wohl, daß es aus dem Toten entstehen müßte, und so wäre zuletzt alles unsterblich.
Richtig gesprochen.
Allein, sprach ich, weder dieses laß uns glauben, denn die Vernunft läßt es nicht zu, noch auch wiederum, daß die Seele ihrer wahrhaftesten Natur nach vieler Mannigfaltigkeit und Unähnlichkeit und Verschiedenheit voll sei an und für sich.
Wie meinst du das? fragte er.
Nicht leicht, sprach ich, wird ewig sein, wie sich uns doch jetzt die Seele gezeigt hat, was aus vielem zusammengesetzt ist und sich nicht der allervortrefflichsten Zusammensetzung erfreut.
Man sollte freilich nicht denken.
Daß nun die Seele unsterblich ist, erweist sowohl die gegenwärtige Rede als auch die übrigen. Was sie aber der Wahrheit nach ist, das muß man nicht an ihr sehen wollen, verunstaltet, wie wir sie jetzt nur sehen, durch die Gemeinschaft mit dem Leibe und durch andere Übel; sondern so, wie sie ist, wenn sie sich reinigt, so müssen wir sie mit dem Verstande aufmerksam in Augenschein nehmen, und viel schöner wirst du sie dann finden, und daß sie viel bestimmter Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit unterscheidet und alles, was wir nur eben besprochen haben. Jetzt aber haben wir zwar richtig von ihr geredet, wie sie gegenwärtig erscheint; wir sehen sie aber nur in solchem Zustande, wie die, welche den Meergott Glaukos ansichtig werden, doch nicht leicht seine ehemalige Natur zu Gesicht bekommen, weil sowohl seine alten Gliedmaßen teils zerschlagen, teils zerstoßen und auf alle Weise von den Wellen beschädigt sind, als auch ihm ganz Neues zugewachsen ist: Muscheln, Tang und Gestein, so daß er eher einem Ungeheuer ähnlich sieht als dem, was er vorher war. Ebenso nur sehen auch wir unsere Seele von tausenderlei Übeln übel zugerichtet. Aber, o Glaukon, dorthin müssen wir unsere Blicke richten.
Wohin? fragte er.
Auf ihr wissenschaftliebendes Wesen, und müssen bemerken, wonach dieses trachtet und was für Unterhaltungen es sucht, als dem Göttlichen und Unsterblichen und immer Seienden verwandt, und wie sie sein würde, wenn sie ganz und gar folgen könnte, von diesem Antriebe emporgehoben aus der Meerestiefe, in der sie sich jetzt befindet und das Gestein und Muschelwerk abstoßend, welches ihr jetzt, da sie auf der Erde festgeworden ist, (612a) erdig und steinig, bunt und wild durcheinander angewachsen ist, von diesen sogenannten glückseligen Festen her. Und dann erst würde einer ihre wahre Natur erkennen, ob sie vielartig ist oder einartig und wie und auf welche Weise sie sich verhält. Ihre jetzigen Verschiedenheiten aber und Zustände in dem menschlichen Leben haben wir, denke ich, deutlich genug auseinandergesetzt.
Auf alle Weise gewiß, sagte er.

Preis und Lohn der Gerechtigkeit bei Göttern und Menschen während des Lebens
Und nicht wahr, sprach ich, alles anderen haben wir uns in der Rede entschlagen und nichts von dem Lohn und dem Ruhm der Gerechtigkeit herbeigezogen, wie ihr vom Hesiodos und Homeros sagtet, sondern die Gerechtigkeit an und für sich, fanden wir, sei für die Seele an und für sich das Beste, und das Gerechte müsse sie tun, möchte sie nun den Ring des Gyges haben oder nicht haben, und außer solchem Ringe auch noch des Hades Helm.
Vollkommen richtig, sagte er.
Nun aber, o Glaukon, sprach ich, ist es doch ohne Gefahr, der Gerechtigkeit und der übrigen Tugend außer jenem auch noch den Lohn beizulegen, was für welchen und wie großen sie der Seele verschafft bei Göttern sowohl als Menschen, schon während der Mensch noch lebt und auch nach seinem Tode.
Allerdings wohl! sagte er.
Gebt ihr also auch zurück, was ihr in der Rede geborgt habt?
Was doch recht?
Ich gab euch zu, der Gerechte solle für ungerecht gehalten werden und der Ungerechte für gerecht. Denn ihr waret der Meinung, wenn es auch nicht möglich sei, daß dies Göttern und Menschen entgehen könne, so müsse man es doch der Untersuchung wegen zugeben, damit die Gerechtigkeit an und für sich könne mit der Ungerechtigkeit an und für sich verglichen werden. Oder erinnerst du dich nicht?
Sehr unrecht, sagte er, hätte ich, wenn nicht!
Nachdem also beide verglichen sind, fordere ich dieses im Namen der Gerechtigkeit zurück, daß wie wirklich bei Göttern und Menschen von ihr gehalten wird, so ihr auch zugesteht, daß von ihr gehalten werde, damit sie nun auch die Siegesehren, welche sie durch die Meinung erwirbt, davontrage und denen sie Besitzenden austeile, nachdem sich ja gezeigt hat, daß sie ihnen auch durch ihr Sein und Wesen Gutes verleiht und diejenigen nicht hintergeht, welche sie in sich aufnehmen.
Gerecht, sagte er, ist, was du forderst.
Dieses also, sprach ich, gebt ihr mir wohl zuerst zurück, daß den Göttern doch gewiß nicht verborgen bleibt, wie jeder von diesen beiden beschaffen ist?
Das wollen wir zurückgeben, sagte er.
Können sie aber nicht verborgen bleiben, so wäre ja wohl der eine den Göttern lieb, der andere aber ihnen verhaßt, wie wir auch von Anfang an eingestanden haben.
So ist es.
Und von dem, welcher den Göttern lieb ist, wollten wir nicht zugeben, daß ihm alles, was doch von den Göttern (613a) herkommt, auch auf das möglichst Beste zukomme; es müßte ihm denn aus früherer Sünde noch ein notwendiges Übel herstammen?
Ganz gewiß!
So müssen wir demnach denken von dem gerechten Manne, mag er nun in Armut leben oder in Krankheit oder was sonst für ein Übel gehalten wird, daß ihm ja auch dieses zu etwas Gutem ausschlagen werde im Leben oder auch nach dem Tode. Denn nicht wird wohl der je von den Göttern vernachlässigt, de sich beeifern will gerecht zu werden und, indem er die Tugend übt, soweit es dem Menschen möglich ist, Gott ähnlich zu sein.
Wohl ist vorauszusetzen, sagte er, daß ein solcher nicht von dem Ähnlichen vernachlässigt werde.
Und nicht wahr, von dem Ungerechten muß man sich doch das Gegenteil hiervon vorstellen?
Gar sehr gewiß.
Solcherlei also wären die von den Göttern dem Gerechten verliehenen Siegesehren.
Meiner Meinung nach wenigstens! sagte er.
Und wie, sprach ich, steht es bei den Menschen? Verhält es sich nicht so, wenn man doch, was wirklich ist, aufstellen soll? Machen es nicht die Gewaltigen und Ungerechten wie jene Läufer, welche hinaufwärts zwar vortrefflich laufen, herabwärts aber nicht? Zuerst laufen sie mit großer Schnelligkeit aus, zuletzt aber werden sie ausgelacht, wenn sie die Ohren zwischen die Schultern stecken und sich unbekränzt davonmachen. Die rechten Laufkünstler aber, welche bis zu Ende aushalten, erlangen den Preis und werden bekränzt. Läuft es nicht oftmals mit den Gerechten ebenso ab? Am Ende jedes Geschäfts und Verhältnisses und des Lebens selbst, werden sie gepriesen, und tragen auch bei den Menschen den Preis davon?
Jawohl.
Du wirst es also schon leiden, wenn ich von ihnen dasselbe sage, was du von den Ungerechten sagtest. Ich will nämlich sagen, die Gerechten, wenn sie nur erst älter geworden sind, erhalten in ihrer Vaterstadt welches Amt sie nur wollen, heiraten aus welchen Familien sie wollen, und geben ihre Töchter aus, wohin sie nur wollen und alles, was du damals von jenen, behaupte ich jetzt von diesen. Und so auch wiederum von den Ungerechten, daß die meisten von ihnen, wenn sie auch in der Jugend unbemerkt bleiben, doch am Ende des Laufes ergriffen und ausgelacht werden, und im Alter jämmerlich verhöhnt von Fremden und Einheimischen und ausgepeitscht, und wovon du weiter sagtest, es sei grob, woran du auch ganz recht hattest, daß sie gefoltert und gebrannt werden. Jenes alles nimm nun an, auch von mir gehört zu haben, daß es ihnen begegnet. Also, wie gesagt, siehe zu, ob du es gelten läßt.
Gar sehr, sagte er, denn du hast recht.

Weg der abgschiedenen Seelen und Größe der verhängten Strafen
Was also, sprach ich, dem Gerechten bei seinem Leben von Göttern und Menschen für Preis, Lohn und Gaben (614a) zuteil werden außer jenen Gütern, welche die Gerechtigkeit an und für sich ihm darbietet, dies wären nun solcherlei.
Und gar Treffliches, sagte er, und Zuverlässiges.
Dieses aber, sagte ich, ist dennoch nichts in Menge und Größe mit demjenigen verglichen, was jeglichen von beiden nach dem Tode erwartet. Auch dieses aber müssen wir vernehmen, damit jeder von beiden vollständig zu hören bekomme, was ihm die Rede schuldig ist.
Sage es nur, sprach er, und glaube, daß es nicht viel anderes gibt, was ich lieber hörte.
Ich will dir indessen keine Erzählung des Alkinoos mitteilen, sondern von einem gar wackern Manne, nämlich Er, dem Sohn des Armenios, dem Geschlecht nach ein Pamphylier; welcher einst im Kriege tot geblieben war, und als nach zehn Tagen die Gebliebenen schon verwest aufgenommen wurden, ward er unversehrt aufgenommen und nach Hause gebracht, um bestattet zu werden. Als er aber am zwölften Tage auf dem Scheiterhaufen lag, lebte er wieder auf und berichtete sodann, was er dort gesehen. Er sagte aber, nachdem seine Seele ausgefahren, sei sie mit vielen andern gewandelt und sie wären an einen wunderbaren Ort gekommen, wo in der Erde zwei aneinandergrenzende Spalten gewesen und am Himmel gleichfalls zwei andere ihnen gegenüber. Zwischen diesen seien Richter gesessen, welche, nachdem sie die Seelen durch ihren Richterspruch geschieden, den Gerechten befohlen hätten, den Weg rechts nach oben durch den Himmel einzuschlagen, nachdem sie ihnen Zeichen dessen, worüber sie gerichtet worden, vorne angehängt, den Ungerechten aber den Weg links nach unten, und auch diese hätten hinten Zeichen gehabt von allem, was sie getan. Als nun auch er hinzugekommen, hätten sie ihm gesagt, er solle den Menschen ein Verkündiger des Dortigen sein, und hätten ihm geboten, alles an diesem Orte zu hören und zu schauen. Er habe nun dort gesehen, wie durch den einen jener Spalte im Himmel und in der Erde die Seelen, nachdem sie gerichtet worden, abgezogen seien, von den andern beiden aber seien, aus dem in der Erde Seelen hervorgekommen voller Schmutz und Staub, durch den andern hingegen seien reine Seelen vom Himmel herabgestiegen. Und die Ankommenden hätten jedesmal geschienen, wie von einer langen Wanderung herzukommen, und sich, sehr zufrieden, daß sie auf diesen Matten verweilen konnten, wie zu einer festlichen Versammlung hingelagert. Die einander Bekannten haben sich dann begrüßt und die aus der Erde Kommenden von den andern das Dortige erforscht, und so auch die aus dem Himmel von jenen das Ihrige; und so haben sie einander erzählt, die einen heulend und weinend, indem sie gedachten, (615a) welcherlei und wie Großes sie erlitten und gesehen während der unterirdischen Wanderung; die Wanderung aber sei tausendjährig. Die aus dem Himmel hingegen hätten von ihrem Wohlergehen erzählt und der unbegreiflichen Schönheit des dort zu Schauenden. Vielerlei nun davon erfordere viel Zeit zu erzählen, die Hauptsache aber sei dieses, daß sie jeder für alles, was sie jemals und wenn immer Ungerechtes getan, einzeln hätten Strafe geben müssen, zehnmal für jedes, nämlich immer wieder nach hundert Jahren, als welches die Länge des menschlichen Lebens sei, damit sie so zehnfach die Buße für das Unrecht ablösten. So wenn einige vielfältigen Todes schuldig gewesen, weil sie Städte verraten oder Heere in die Knechtschaft gestürzt oder sonst großes Elend mitverschuldet hatten, so mußten sie von dem allen für jedes zehnfache Pein erdulden; hatten sie aber wiederum auch Wohltaten gespendet und sich gerecht und heilig erwiesen, so empfingen sie auch dafür nach demselben Maßstabe den Preis. Die aber anlangend, welche nach ihrer Geburt nur kurze Zeit leben, sagte er anderes, so nicht nötig hier zu erwähnen.
Für Ruchlosigkeit aber und Frömmigkeit gegen Götter sowohl als Eltern und für eigenhändigen Mord gebe es noch größeren Lohn. Denn er sei zugegen gewesen, als einer von dem anderen gefragt worden, wo denn Ardiaios der Große sei, welcher nämlich in einer Pamphylischen Stadt vor damals schon tausend Jahren als Tyrann geherrscht, nachdem er seinen betagten Vater und älteren Bruder getötet und viel anderen Frevel verübt hatte, der Sage nach. Der Gefragte also habe gesagt, er ist nicht hier und wird wohl auch nicht hierher kommen.

Strafe für die Tyrannen
Denn auch dieses haben wir gesehen unter andern grauenvollen Gesichten. Als wir nahe an der Mündung waren im Begriff auszusteigen, nachdem wir das andere alles erduldet, so sahen wir plötzlich jenen mit anderen, von denen die meisten auch Tyrannen waren, nur einige darunter waren keine Staatsmänner, hatten aber sonst Großes verbrochen. Als diese meinten eben auszusteigen, nahm die Öffnung sie nicht auf, sondern erhob großes Gebrülle, sooft einer von den so Unheilbaren in der Schlechtigkeit, oder der noch nicht hinreichend Strafe gegeben, versuchen wollte, heraufzusteigen. Und gleich waren auch, fuhr er fort, gewisse wilde Männer bei der Hand, ganz feurig anzusehen, welche den Ruf verstanden und einige davon besonders wegführten; dem Ardiaios aber und anderen banden sie Hände und Füße (616a) und Kopf zusammen, warfen sie nieder und, nachdem sie sie mit Schlägen zugedeckt, zogen sie sie seitwärts vom Wege ab, wo sie sie mit Dornen schabten und den Vorbeigehenden jedesmal andeuteten, weshalb diese solches litten, und daß sie abgeführt würden, um in den Tartaros geworfen zu werden. Und so sei denn, sagte er, nachdem ihnen soviel und mancherlei Furchtbares begegnet, diese Furcht die schlimmste von allen gewesen für jeden, daß, wenn er hinaufsteigen wollte, der Schlund brüllen möchte, und mit der größten Zufriedenheit seien sie dann hinaufgestiegen, wenn er geschwiegen habe. Solcherlei also seien die Büßungen und Strafen, und ebenso die Erquickungen, jenen als Gegenstück entsprechend. Nachdem aber jedesmal denen auf der Wiese sieben Tage verstrichen, müßten sie am achten aufbrechen und wandern, und kämen den vierten Tag hin, wo man von oben herab ein gerades Licht wie eine Säule über den ganzen Himmel und die Erde verbreitet sehe, am meisten dem Regenbogen vergleichbar aber glänzender und reiner. In dieses kämen sie eine Tagereise weiter gegangen hinein, und sähen dort mitten in dem Lichte vom Himmel her seine Enden an diesen Bändern ausgespannt; denn dieses Licht sei das Band des Himmels, welches wie die Streben an den großen Schiffen den ganzen Umfang zusammenhält.

Die Spindel der Notwendigkeit
An diesen Enden aber sei die Spindel der Notwendigkeit befestigt, vermittelst deren alle Sphären in Umschwung gesetzt werden, und an dieser sei die Stange und der Haken von Stahl, die Wulst aber gemischt aus diesem und anderen Arten.
Beschaffen aber sei diese Wulst folgendermaßen. Die Gestalt, so wie hier; aus dem aber, was er sagte, war abzunehmen, sie sei so, als wenn in einer großen und durchweg ausgehöhlten Wulst eine andere ebensolche kleinere eingepaßt wäre, wie man Schachteln hat, die so ineinander passen, und ebenso eine andere dritte und eine vierte und noch vier andere. Denn acht Wülste seien es insgesamt, welche ineinander liegend ihre Ränder von oben her als Kreise zeigen, um die Stange her aber nur eine zusammenhängende Oberfläche einer Wulst bilden; diese aber sei durch die achte mitten durchgetrieben. Die erste und äußerste Wulst nun habe auch den breitesten Kreis des Randes, der zweite sei der der sechsten, der dritte der der vierten, der vierte der der achten, der fünfte der der siebenten, der sechste der der fünften, der siebente der der dritten, der achte der der zweiten. Und der der größten sei bunt, der der siebenten der glänzendste, (617a) der der achten erhalte seine Farbe von der Beleuchtung der siebenten, der der zweiten und fünften seien einander sehr ähnlich gelblicher als jene, der dritte habe die weißeste Farbe, der vierte sei rötlich, der zweite aber übertreffe an Weiße den sechsten. Indem nun die Spindel gedreht werde, so kreise sie zwar ganz immer in demselben Schwunge, in dem ganzen Umschwingenden aber bewegten sich die sieben inneren Kreise langsam in einem dem Ganzen entgegengesetzten Schwung. Von diesen gehe der achte am schnellsten; auf ihn folgen der Schnelle nach, zugleich miteinander der siebente, sechste und fünfte; als der dritte seinem Schwunge nach kreise, wie es ihnen geschienen, der vierte, als vierter aber der dritte und als fünfter der zweite. Gedreht aber werde die Spindel im Schoße der Notwendigkeit. Auf den Kreisen derselben aber säßen oben auf jeglichem eine mitumschwingende Sirene, eine Stimme von sich gebend, jede immer den nämlichen Ton, aus allen achten aber insgesamt klänge dann ein Wohllaut zusammen. Drei andere aber, in gleicher Entfernung rings her jede auf einem Sessel sitzend, die weiß bekleideten am Haupte bekränzten Töchter der Notwendigkeit, die Moiren Lachesis, Klotho und Atropos, sängen zu der Harmonie der Sirenen, und zwar Lachesis das Geschehene, Klotho das Gegenwärtige, Atropos aber das Bevorstehende. Und Klotho berühre von Zeit zu Zeit mit ihrer Rechten den äußeren Umkreis der Spindel und drehe sie mit, Atropos aber ebenso die inneren mit der Linken, Lachesis aber berühre mit beiden abwechselnd beides, das Äußere und Innere.

Art der von Lachesis verordneten Wahl der Lebensweisen
Sie nun, als sie angekommen, haben sie sogleich gemußt zur Lachesis gehen. Ein Prophet aber habe sie zuerst der Ordnung nach auseinandergestellt, dann aus der Lachesis Schoß Lose genommen und Grundrisse von Lebensweisen, dann sei er auf eine hohe Bühne gestiegen und habe gesagt: » Dies ist die Tochter der Notwendigkeit, der jungfräulichen Lachesis Rede. Eintägige Seelen! Ein neuer todbringender Umlauf beginnt für das sterbliche Geschlecht. Nicht euch wird der Dämon erlosen, sondern ihr werdet den Dämon wählen. Wer aber zuerst gelost hat, wähle zuerst die Lebensbahn, in welcher er dann notwendig verharren wird. Die Tugend ist herrenlos, von welcher, je nachdem jeglicher sie ehrt oder geringschätzt, er auch mehr oder minder haben wird. Die Schuld ist des Wählenden; Gott ist schuldlos.«
Dieses gesprochen habe er die Lose unter alle hingeworfen; und jeder habe das ihm Zufallende aufgehoben, nur er nicht, ihm habe er es nicht verstattet. (618a) Wer es aber nun aufgehoben, dem sei kund geworden, die wievielste Stelle er getroffen habe. Gleich nach diesem nun habe er die Umrisse der Lebensweisen vor ihnen auf dem Boden ausgebreitet in weit größerer Anzahl als die der Anwesenden. Deren nun seien sehr vielerlei, die Lebensweisen aller Tiere nämlich und auch die menschlichen insgesamt. Darunter nun seien Zwingherrschaften gewesen, einige lebenslänglich, andere mitten inne zugrunde gehend und in Armut, Verweisung und Dürftigkeit sich endigend; ebenso auch Lebensweisen wohl angesehener Männer, die es teils ihrer Persönlichkeit wegen waren, der Schönheit halber oder sonst wegen körperlicher Stärke und Kampftüchtigkeit, andere aber ihrer Abkunft und vorelterlicher Tugenden wegen, und auch unberühmter ebenso, gleichermaßen auch von Frauen. Eine Rangordnung der Seelen aber sei nicht dabei gewesen, weil notwendig, welche eine andere Lebensweise wählt, auch eine andere wird. Alles andere sei untereinander und mit Reichtum und Armut, Krankheit oder Gesundheit gemischt; einiges auch zwischen diesem mitten inne. Hierauf nun eben, o lieber Glaukon, beruht alles für den Menschen, und deshalb ist vorzüglich dafür zu sorgen, daß jeder von uns mit Hintansetzung aller anderen Kenntnisse nur dieser Kenntnis nachspüre und ihr Lehrling werde, wie einer dahin komme zu erfahren und aufzufinden, wer ihn dessen fähig und kundig machen könne, gute und schlechte Lebensweise unterscheidend, aus allen vorliegenden immer und überall die beste auszuwählen, alles eben Gesagte und untereinander Zusammengestellte und Verglichene, was es zur Tüchtigkeit des Lebens beitrage, wohl in Rechnung bringend, und zu wissen, was zum Beispiel Schönheit wert ist mit Armut oder Reichtum gemischt und bei welcher Beschaffenheit der Seele sie Gutes oder Schlimmes bewirkt, und was gute Abkunft und schlechte, eingezogenes Leben und staatsmännisches, Macht und Ohnmacht, Vielwisserei und Unkunde, und was alles dergleichen der Seele von Natur Anhaftendes oder Erworbenes miteinander vermischt bewirken, so daß man aus allen insgesamt zusammennehmend auf die Natur der Seele hinsehend die schlechtere und die bessere Lebensweise scheiden könne, die schlechtere diejenige nennend, welche die Seele dahin bringen wird ungerecht zu werden, die bessere aber, welche sie gerecht macht, um alles andere aber sich unbekümmert lassen; denn wir haben gesehen, daß für dieses Leben und für das nach dem Tode dieses die beste Wahl ist. (619a) Und eisenfest auf dieser Meinung haltend muß man in die Unterwelt gehen, um auch dort nicht geblendet zu werden durch Reichtümer und solcherlei Übel, und nicht, indem man auf Tyranneien und andere dergleichen Taten verfällt, viel unheilbares Übel stifte und selbst noch größeres erleide, sondern vielmehr verstehe in Beziehung auf dergleichen ein mittleres Leben zu wählen und sich vor dem Übermäßigen nach beiden Seiten hin zu hüten, sowohl in diesem Leben nach Möglichkeit als auch in jedem folgenden.
Denn so wird der Mensch am glückseligsten.

Beispiele von Wahlen bekannter Männer
Daher denn auch damals der Bote von dorther verkündet, der Prophet habe also gesagt: »Auch dem letzten, welcher hinzunaht, wenn er mit Vernunft gewählt hat und sich tüchtig hält, liegt ein vergnügliches Leben bereit, kein schlechtes. Darum sei weder, der die Wahl beginnt, sorglos, noch der sie beschließt, mutlos.« Nachdem jener nun dies gesprochen, sagte er, sei der, welcher das erste Los gezogen, sogleich darauf zugegangen und habe sich die größte Zwingherrschaft erwählt; aus Torheit und Gierigkeit aber habe er gewählt ohne alles genau zu betrachten, und so sei ihm das darin enthaltene Geschick, seine eigenen Kinder zu verzehren und anderes Unheil entgangen. Nachdem er es nun mit Muße betrachtet, habe er auf sich losgeschlagen und seine Wahl bejammert, nicht beachtend, was der Prophet vorhergesagt. Denn er habe nicht sich selbst dieses Unheils Schuld beigelegt, sondern das Glück und die Götter und alles eher als sich selbst angeklagt. Er sei aber einer von den aus dem Himmel Kommenden gewesen, der in einer wohlgeordneten Verfassung sein erstes Leben verlebt, und nur durch Gewöhnung ohne Philosophie an der Tugend teilgehabt. So daß er auch sagte, es hingen sich an solcherlei Dinge nicht wenigere von den aus dem Himmel Gekommenen, weil sie nämlich in Mühseligkeiten unerfahren seien, wohingegen von denen aus der Erde gar viele, weil sie selbst Mühseligkeiten genug gehabt und auch andere darin gesehen, ihre Wahl nicht so auf den ersten Anlauf machten. Daher denn, sowie freilich auch durch den Zufall des Loses, den meisten Seelen ein Wechsel entstehe zwischen Übel und Gutem. Denn wenn jemand jedesmal, wenn er in diesem Leben ankäme, sich der Weisheit wahrhaft befleißige, und ihm dann das Los zur Wahl nur nicht unter den allerletzten falle, so würde er wohl dem dort Angekündigten zufolge nicht nur hier glückselig sein, sondern auch seinen Weg von hier dorthin und von dorther zurück nicht unterirdisch und rauh zurücklegen, sondern glatt und himmlisch. Denn dies Schauspiel sei wert gewesen es zu sehen, wie die Seelen jede für sich ihre Lebensweise wählten; (620a) denn es sei jämmerlich zu sehen gewesen, und lächerlich und wunderbar. Die meisten nämlich hätten der Erfahrung ihres früheren Lebens gemäß gewählt. So habe er gesehen, daß die Seele, die einmal des Orpheus gewesen, ein Schwanenleben gewählt, indem sie aus Haß gegen das weibliche Geschlecht, wegen des von ihm erlittenen Todes, nicht habe gewollt vom Weibe geboren werden; und die des Thamyris habe eine Nachtigall gewählt. So habe auch ein Schwan sich durch seine Wahl zum menschlichen Leben umgewendet, und ebenso andere tonkünstlerische Tiere, wie leicht zu denken.

Eine Seele, welche gelost, habe sich das Leben eines Löwen gewählt, und dies sei die des telamonischen Aias gewesen, welche eingedenk des Spruches wegen der Waffen vermeiden wollte ein Mensch zu werden. Nächstdem die des Agamemnon, und auch diese habe aus Haß gegen das menschliche Geschlecht wegen des Erlittenen das Leben eines Adlers eingetauscht. Mitten inne habe auch die Seele der Atalante gelost, und da sie große Ehrenbezeigungen für einen kampfkünstlerischen Mann gefunden, habe sie nicht widerstehen können, sondern dieses gewählt. Nach dieser habe er die des Panopier Epeios sich in die Natur einer kunstreichen Frau begeben sehen, und weiter unter den letzten den Possenreißer Thersites einen Affen anziehen. Zufällig sei die Seele des Odysseus durch das Los die letzte von allen gewesen, und so hinzugegangen um zu wählen. Da sie sich aber im Angedenken der früheren Mühen von allem Ehrgeiz erholt, so sei sie lange Zeit umhergegangen, um eines von Staatsgeschäften entfernten Mannes Leben zu suchen, und mit Mühe habe sie es von allen andern übersehen irgendwo liegen gefunden, und als sie es gesehen, habe sie gesagt, sie würde ebenso wie jetzt gehandelt haben, auch wenn sie das erste Los gezogen hätte, und habe mit Freuden dieses Leben gewählt. Gleichermaßen seien nun auch von den Tieren welche zu den Menschen übergegangen und eine Art in die andere, indem ungerechte sich in wilde verwandelt, gerechte aber in zahme, und allerlei dergleichen Wechsel seien vorgekommen. Nachdem nun aber alle Seelen ihre Lebensweisen gewählt, seien sie nach der Ordnung, wie sie gelost, zur Lachesis hinzugetreten, und jene habe jedem den Dämon, den er sich gewählt, zum Hüter seines Lebens und Vollstrecker des Gewählten mitgesendet. Dieser nun habe sie zunächst zur Klotho, unter deren Hand, wie sie eben den Schwung bewirkend an der Spindel drehte, geführt, um das von jedem gewählte Geschick zu befestigen; und nachdem er diese berührt, habe er sie zur Spinnerei der Atropos geführt, um das Angesponnene unveränderlich zu machen.

Führung der Seelen zum Feld der Vergessenheit und neuem Eintritt ins Leben
Von da sei er ohne sich umzuwenden an der Notwendigkeit (621a) Thron getreten, und durch diesen hindurchgegangen, nachdem auch die andern insgesamt dies getan, seien sie dann insgesamt durch furchtbare Hitze und Qualen auf das Feld der Vergessenheit gekommen, denn es sei entblößt von Bäumen und allem, was die Erde trägt. Dort haben sie sich, da der Abend schon herangekommen, an dem Flusse Sorglos gelagert, dessen Wasser kein Gefäß halten könne. Ein gewisses Maß nun von diesem Wasser sei jedem notwendig zu trinken; die aber durch Vernunft nicht bewahrt würden, tränken über das Maß, und wie einer getrunken habe, vergesse er alles. Nachdem sie sich nun zur Ruhe gelegt und es Mitternacht geworden, habe sich Ungewitter und Erdbeben erhoben, und plötzlich seien sie dann hüpfend wie Sterne der eine hierhin, der andere dorthin getrieben worden, um eben ins Leben zu treten. Er selbst habe des Wassers zwar nicht trinken dürfen, wie aber und auf welche Weise er wieder zu seinem Leibe gekommen, wisse er doch nicht, sondern nur, daß er plötzlich des Morgens aufschauend, sich schon auf dem Scheiterhaufen liegend gefunden.

Und diese Rede, o Glaukon, ist erhalten worden und nicht verloren gegangen, und kann auch uns erhalten, wenn wir ihr folgen; und wir werden dann über den Fluß der Lethe gut hinüberkommen und unsere Seele nicht beflecken. Sondern wenn es nach mir geht, wollen wir, in der Überzeugung, die Seele sei unsterblich und vermöge alles Übel und alles Gute zu ertragen, uns immer an den oberen Weg halten und der Gerechtigkeit mit Vernünftigkeit auf alle Weise nachtrachten, damit wir uns selbst und den Göttern lieb seien, sowohl während wir noch hier weilen, als auch, wenn wir den Preis dafür davontragen, den wir uns wie die Sieger von allen Seiten umher einholen, und hier sowohl als auch auf der tausendjährigen Wanderung, von der wir eben erzählt, uns wohl befinden.
Aus: Platon, Sämtliche Werke 3, Phaidon, Politea (S.299-310 Politea) In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung,
herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 27


Die Seele und ihr Dämon Phaidon 108a, 114a
Der Weg in die Unterwelt für die sittsame und für die unreine Seele (108a)
Und so ist denn dieses, ihr Männer, wohl wert bemerkt zu werden, daß, wenn die Seele unsterblich ist, sie auch der Sorgfalt bedarf nicht für diese Zeit allein, welche wir das Leben nennen, sondern für die ganze Zeit, und das Wagnis zeigt sich nun eben erst recht furchtbar, wenn jemand sie vernachlässigen wollte. Denn wenn der Tod eine Erledigung von allem wäre: so wäre es ein Fund für die Schlechten, wenn sie sterben, ihren Leib loszuwerden, aber auch ihre Schlechtigkeit mit der Seele zugleich. Nun aber diese sich als unsterblich zeigt, kann es ja für sie keine andere Sicherheit vor dem Übel geben und kein Heil als nur, wenn sie so gut und vernünftig geworden ist als möglich. Denn nichts anderes kann sie doch mit sich haben, wenn sie in die Unterwelt kommt, als nur ihre Bildung und Nahrung, die ihr ja auch, wie man sagt, sowie sie gestorben ist, den größten Nutzen oder Schaden bringt, gleich am Anfang der Wanderung dorthin.

Denn man sagt ja, daß jeden Gestorbenen sein Dämon, der ihn schon lebend zu besorgen hatte, dieser ihn auch dann an einen Ort zu führen sucht, von wo aus mehrere zusammen, nachdem sie gerichtet sind, in die Unterwelt gehen mit jenem Führer, dem es aufgetragen ist, die von hier dorthin zu führen. Nachdem ihnen dann dort geworden ist, was ihnen gebührt, und sie die gehörige Zeit dageblieben, bringt ein anderer Führer sie wieder von dort hierher zurück nach vielen und großen Zeitabschnitten. Und diese Reise ist wohl nicht so, wie der Telephos des Aischylos sie beschreibt. (108a) Denn jener sagt, es führe nur ein einfacher Fußsteig in die Unterwelt; ich aber glaube, daß es weder einer ist noch ein einfacher. Sonst würde es ja keines Führers bedürfen, denn nirgends hin kann man ja fehlen, wo nur ein Weg geht. Nun aber mag er sich wohl oftmals teilen und winden. Dies schließe ich aus dem, was bei uns als heilige Feier eingeführt und gebräuchlich ist.

Die sittsame und vernünftige Seele nun folgt und verkennt nicht, was ihr widerfährt; die aber begehrlich an dem Leibe sich hält, wie ich auch vorher sagte, drängt sich lange Zeit immer um ihn herum und um den sichtbaren Ort, und nach vielem Sträuben und vielen Versuchen wird sie endlich mit Mühe und gewaltsam von dem angeordneten Dämon abgeführt. Sie nun, die dahin kommt, wo auch die andern sich befinden, die unreine und die etwas dergleichen verübt hat, habe sie sich nun mit ungerechtem Morde befaßt oder anderes dergleichen begangen, was dem verschwistert und verschwisterter Seelen Werk ist, diese meidet jeder und weicht ihr aus und will weder ihr Reisegefährte noch ihr Führer werden; sie aber irrt in gänzlicher Unsicherheit befangen, bis gewisse Zeiten um sind, nach deren Verlauf die Notwendigkeit sie in die ihr angemessene Wohnung bringt. Die aber rein und mäßig ihr Leben verbracht und Götter zu Reisegefährten und Führern be¬kommen hat, bewohnt jede den ihr gebührenden Ort.

Die Schicksale der verschiedenartigen Seelen nach ihrem Verdienst (114a)
Da nun dieses so ist, so werden, sobald die Verstorbenen an dem Orte angelangt sind, wohin der Dämon jeden bringt, zuerst diejenigen gerichtet, welche schön und heilig gelebt haben und welche nicht. Die nun dafür erkannt werden, einen mittelmäßigen Wandel geführt zu haben, begeben sich zum Acheron, besteigen die Fahrzeuge, die es da für sie gibt, und gelangen auf diesen zu dem See. Hier wohnen sie und reinigen sich, büßen ihre Vergehungen ab, wenn einer sich irgendwie vergangen hat, und werden losgesprochen, wie sie auch ebenso für ihre guten Taten den Lohn erlangen, jeglicher nach Verdienst. Deren Zustand aber für unheilbar erkannt wird wegen der Größe ihrer Vergehungen, weil sie häufigen und bedeutenden Raub an den Heiligtümern begangen oder viele ungerechte und gesetzwidrige Mordtaten vollbracht oder anderes, was dem verwandt ist, diese wirft ihr gebührendes Geschick in den Tartaros, aus dem sie nie wieder heraussteigen. (114a)

Die hingegen heilbare zwar, aber doch große Vergehungen begangen zu haben erfunden werden, wie die gegen Vater oder Mutter im Zorn etwas Gewalttätiges ausgeübt oder die auf diese oder andere Weise Mörder geworden sind, diese müssen zwar auch in den Tartaros stürzen, aber wenn sie hineingestürzt und ein Jahr darin gewesen sind, wirft die Welle sie wieder aus, die Mörder auf der Seite des Kokytos, die aber gegen Vater und Mutter sich versündigt, auf der des Pyriphlegethon. Wenn sie nun, auf diesen fortgetrieben, an den Acherusischen See kommen: so schreien sie da und rufen die, welche von ihnen getötet worden sind oder frevelhaft behandelt. Haben sie sie nun herbeigerufen, so flehen sie und bitten, sie möchten sie in den See aussteigen lassen und sie dort aufnehmen. Wenn sie sie nun überreden, so steigen sie aus, und ihre Übel sind am Ende; wo nicht, so werden sie wieder in den Tartaros getrieben und aus diesem wieder in die Flüsse, und so hört es nicht auf ihnen zu ergehen, bis sie diejenigen überreden, welchen sie unrecht getan haben; denn diese Strafe ist ihnen von den Richtern angeordnet.

Die aber ausgezeichnete Fortschritte in heiligem Leben gemacht zu haben erfunden werden, dies endlich sind diejenigen, welche, von allen diesen Orten im Innern der Erde befreit und losgesprochen von allem Gefängnis, hinauf in die reine Behausung gelangen und auf der Erde wohnhaft werden. Welche nun unter diesen durch Weisheitsliebe sich schon gehörig gereinigt haben, diese leben für alle künftigen Zeiten gänzlich ohne Leiber und kommen in noch schönere Wohnungen als diese, welche weder leicht wären zu beschreiben, noch würde die Zeit für diesmal zureichen. Aber schon um dessentwillen, was wir jetzt auseinandergesetzt haben, o Simmias, muß man ja wohl alles tun, um der Tugend und Vernunft im Leben teilhaftig zu werden. Denn schön ist der Preis und die Hoffnung groß.
Aus: Platon, Sämtliche Werke 3, Phaidon, Politea (S.57f., 62f. Phaidon) In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 27

Das Totengericht
Gorgias 523a- 527a

Einsetzung des gerechten Gerichts über die Toten durch Zeus

(523 a) Sokrates: So höre denn, wie sie zu sagen pflegen, eine gar schöne Rede, die du zwar für ein Märchen halten wirst, wie ich glaube, ich aber für Wahrheit. Denn als volle Wahrheit sage ich dir, was ich sagen werde.

Wie also Homeros erzählt, teilten Zeus, Poseidon und Pluton die Herrschaft, nachdem sie sie von ihrem Vater überkommen hatten. Nun war folgendes Gesetz wegen der Menschen unter dem Kronos schon immer, besteht aber auch noch jetzt bei den Göttern, daß, welcher Mensch sein Leben gerecht und fromm geführt hat, der gelangt nach seinem Tode zu den Inseln der Seligen und lebt dort sonder Übel in vollkommener Glückseligkeit; wer aber ungerecht und gottlos, der kommt in das zur Zucht und Strafe bestimmte Gefängnis, welches sie Tartaros nennen. Hierüber nun waren unter dem Kronos, und auch noch später, da schon Zeus die Herrschaft hatte, Lebende der Lebenden Richter und saßen zu Gericht an dem Tage, da jemand sterben sollte. Schlecht wurden daher die Sachen abgeurteilt. Weshalb denn Pluton und die Vorsteher aus den Inseln der Seligkeit zum Zeus gingen und ihm sagten, wie beiderseits bei ihnen unwürdige Menschen ankämen. Da sprach Zeus: Diesem will ich ein Ende machen. Denn jetzt freilich wird schlecht geurteilt, weil, sagte er, die zur Untersuchung Gezogenen verhüllt gerichtet werden; denn sie werden lebend gerichtet. Viele nun, sprach er, die eine schlechte Seele haben, sind eingehüllt in schöne Leiber und Verwandtschaften und Reichtümer, und wenn dann das Gericht ist, so stellen sich viele Zeugen ein, um ihnen Zeugnis zu geben, daß sie gerecht gelebt haben. Teils nun werden die Richter von diesen übertäubt, teils richten auch sie selbst verhüllt, da ja ihre Seele ebenfalls hinter Augen, Ohren und dem ganzen Leibe versteckt ist. Dieses alles nun steht ihnen im Wege, ihre eignen Verhüllungen und die der zu Richtenden. Zuerst also, sprach er, muß dieses aufhören, daß sie den Tod vorher wissen; denn jetzt wissen sie ihn vorher. Auch ist dies schon dem Prometheus angesagt, daß er es ändern soll. Ferner sollen sie gerichtet werden, entblößt von diesem allen. Wenn sie tot sind nämlich, soll man sie richten. Und auch der Richter soll entblößt sein, ein Toter, um mit der bloßen Seele eines jeden anzuschauen, sogleich wenn jeder gestorben ist, entblößt von allen Verwandtschaften, und nachdem sie allen jenen Schmuck auf der Erde zurückgelassen, damit das Gericht gerecht sei. Dies alles habe ich schon früher eingesehen als ihr und habe von meinen Söhnen zu Richtern ernannt zwei aus Asia, den Minos und Rhadamanthys, (524a) und einen aus Europa, den Aiakos. Diese also, sobald sie nur werden gestorben sein, sollen Gericht halten auf der Wiese am Kreuzwege, wo die beiden Wege abgehn, der eine nach der Insel der Seligen, der andere nach dem Tartaros. Und zwar die aus Asia soll Rhadamanthys richten und die aus Europa Aiakos. Dem Minos aber will ich den Vorsitz übertragen, um die letzte Entscheidung zu tun, wenn jenen beiden etwas allzubedenklich ist, damit das Urteil, welchen Weg die Menschen zu wandeln haben, vollkommen gerecht sei.

Zustand der Seele nach dem Tod
Dies, o Kallikles, halte ich, wie ich es gehört habe, zuversichtlich für wahr, und erachte, daß daraus folgendes hervorgehe. Der Tod ist, wie mich dünkt, nichts anders, als zweier Dinge Trennung voneinander, der Seele und des Leibes. Nachdem sie nun voneinander getrennt sind, hat nichtsdestoweniger noch jedes von beiden fast dieselbe Beschaffenheit, die es auch hatte, als noch der Mensch lebte. Sowohl der Leib hat seine eigentümliche Natur und alles, was er sich angeübt hat und was ihm zugestoßen, ist ganz deutlich. Wie wenn jemand von Natur oder durch seine Lebensweise, oder durch beides, einen großen Leib hatte, so ist auch sein Leichnam noch groß, wenn er tot ist; war er fett, ist auch der Leichnam fett, und alles andere ebenso; und mochte einer gern langes Haar tragen, so ist auch der Leichnam langhaarig. Und wiederum, wenn einer ein Züchtling war und bei seinen Lebzeiten Spuren von Schlägen an seinem Leibe trug, oder von Hieben und andern Wunden, so wird man auch an dem Leichnam des Toten dieses selbige finden können. Und hatte einer irgend zerbrochene oder verrenkte Glieder im Leben, so zeigt sich dies auch bei dem Toten; mit einem Worte, wie der Leib beim Leben behandelt und was ihm zugefügt wurde, das zeigt sich alles oder doch größtenteils auch nach dem Tode noch einige Zeit. Dasselbe nun dünkt mich auch mit der Seele sich zu begeben, o Kallikles. Sichtbar ist alles an der Seele, wenn sie vom Leibe entkleidet ist, sowohl was ihr von Natur eignete, als auch die Veränderungen, welche der Mensch durch sein Bestreben um dies und jenes in der Seele bewirkt hat. Kommen sie nun vor den Richter, und zwar die aus Asia vor den Rhadamanthys: so stellt Rhadamanthys sie vor sich hin und beschaut eines jeden Seele, ohne zu wissen, wessen sie ist, sondern oft, wenn er den großen König vor sich hat oder andere Könige oder Fürsten, findet er nichts Gesundes an der Seele, sondern durchgepeitscht findet er sie und voller Schwielen von Meineid und Ungerechtigkeit, und wie eben jedem (S525a) seine Handlungsweise sich in der Seele ausgeprägt hat, und findet alles verrenkt von Lügen und Hochmut und nichts Gerades daran, weil sie ohne Wahrheit aufgewachsen ist, sondern vor aller Gewalttätigkeit und Weichlichkeit, Übermut und Unmäßigkeit im Handeln zeigt sich auch die Seele voll Mißverhältnis und Häßlichkeit. Hat er nun eine solche erblickt, so schickt er sie ehrlos gerade ins Gefängnis, wo sie, was ihr zukommt, erdulden wird.

Zwei Arten richtigen Strafens. Schicksal der ungerechten Mächtigen
Dies aber kommt jedem in Strafe Verfallenen zu, der von einem andern auf die rechte Art bestraft wird, daß er entweder selbst besser wird und Vorteil davon hat, oder daß er den übrigen zum Beispiel gereicht, damit andere, welche ihn leiden sehen, was er leidet, aus Furcht besser werden. Es sind aber die, welchen selbst zum Vorteil gereicht, daß sie von Göttern und Menschen gestraft werden, diejenigen, welche sich durch heilbare Vergehungen vergangen haben. Dennoch aber erlangen sie diesen Vorteil nur durch Schmerz und Pein hier sowohl als in der Unterwelt; denn auf andere Weise ist nicht möglich, von der Ungerechtigkeit entledigt zu werden. Welche aber das äußerste gefrevelt haben und durch solche Frevel unheilbar geworden sind, aus diesen werden die Beispiele aufgestellt, und sie selbst haben davon keinen Nutzen mehr, da sie unheilbar sind, andern aber ist es nützlich, welche sehen, wie diese um ihrer Vergehungen willen die ärgsten, schmerzhaftesten und furchtbarsten Übel erdulden auf ewige Zeit, offenbar als Beispiele aufgestellt dort in der Unterwelt, im Gefängnis, allen Frevlern, wie sie ankommen, zur Schau und zur Warnung. Von diesen, behaupte ich, wird auch Archelaos einer sein, wenn Polos die Wahrheit sagt, und wer sonst noch ein solcher Gewalthaber ist. Wie ich denn auch glaube, daß meistens diese Beispiele von den Tyrannen genommen werden und den Königen und Fürsten und denen, welche die öffentlichen Angelegenheiten verwaltet haben. Denn eben diese begehen vermöge ihrer Macht die größten und unheiligsten Verbrechen. Das bezeugt auch Homeros, denn Könige und Fürsten hat er in seinen Gedichten angeführt, als mit immerwährenden Strafen in der Unterwelt belegt, den Tantalos und Sisyphos und Tityos. Vom Thersites aber und andern geringen Leuten, die auch böse waren, hat niemand gedichtet, daß er mit schweren Strafen behaftet wäre, als ein Unheilbarer. Denn er hatte nicht Macht genug, um ein solcher zu werden; deshalb war er auch glücklicher als die, welche Macht dazu hatten. Sondern unter den Mächtigen, o Kallikles, finden sich die (526a) Menschen, welche ausgezeichnet böse werden. Nichts hindert freilich, daß nicht auch unter diesen rechtschaffene Männer sich finden, und gar sehr muß man sich ja freuen über die, welche es werden. Denn schwer ist es, o Kallikles, und vieles Lobes wert, bei großer Gewalt zum Unrechttun dennoch gerecht zu leben; und es gibt nur wenige solche. Gegeben aber hat es doch, hier sowohl als anderwärts, und wird auch, denke ich, noch künftig geben, treffliche Männer in dieser Tugend, alles gerecht zu verwalten, was ihnen jemand anvertraut. Einer aber ist sogar vorzüglich berühmt, auch unter den andern Hellenen, Aristeides, der Sohn des Lysimachos.

Folgen für die Lebensführung
Die meisten aber unter den Mächtigen, o Bester, werden böse. Was ich also sagte, wenn jener Rhadamanthys einen solchen vor sich hat, so weiß er weiter gar nichts von ihm, nicht wer, noch aus welchem Geschlecht er ist, sondern nur, daß er ein Böser ist; und sowie er dies ersehen hat, schickt er ihn nach dem Tartaros, bezeichnet, je nachdem er ihn dünkt heilbar zu sein oder unheilbar, worauf dann jener bei seiner Ankunft das Gebührende leiden muß. Erblickt er aber bisweilen eine andere Seele, die heilig und in der Wahrheit gelebt hat, eines eingezogenen Mannes oder sonst eines, vornehmlich aber meine ich, o Kallikles, eines weisheitliebenden, der das seinige getan und nicht vielerlei äußerlich betrieben hat: so freut er sich und sendet sie in die Inseln der Seligen. Ebenso auch Aiakos. Und diese beiden richten einen Stab in der Hand. Nur Minos, die Aufsicht führend, sitzt allein, ein goldenes Zepter haltend, wie Odysseus beim Homeros sich rühmt, er habe ihn gesehn, mit goldenem Zepter geschmückt die Gestorbenen richtend. Ich meinesteils, Kallikles, habe mich durch diese Reden überzeugen lassen und trachte, wie ich mich mit möglichst gesunder Seele dem Richter darstellen will. Was also andern Menschen für Ehre gilt, lasse ich gern fahren, und will der Wahrheit nachjagend versuchen, wirklich so sehr ich nur kann als der Beste sowohl zu leben, als auch, wenn ich dann sterben soll, zu sterben; ermuntere aber auch die übrigen Menschen alle, soweit ich kann. Daher ich dann meinerseits auch dich ermuntere zu dieser Lebensweise und diesem Wettstreit, welcher vor allem, was man hier so nennt, den Vorzug hat, und es dir zum Schimpf vorrücke, daß du nicht vermögend sein wirst, dir selbst zu helfen, wenn jenes Gericht und jenes Urteil dir bevorsteht, wovon ich jetzt eben gesprochen; sondern daß, wenn du vor deinen Richter, den Sohn der Aigina, kommst und er (527a) dich vornimmt, du dort ebenso mit offenem Munde stehn und schwindeln wirst, wie ich hier, und dort einer vielleicht dich sogar schmählich ins Angesicht schlagen könnte und auf alle Weise beschimpfen. Vielleicht nun dünkt dich dies ein Märchen zu sein, wie ein Mütterchen eins erzählen würde, und du achtest es nichts wert. Und es wäre auch eben nichts Besonderes, dies zu verachten, wenn wir nur irgendwie suchend etwas Besseres und Wahreres finden könnten. Nun aber siehst du ja, daß ihr drei, die weisesten unter den Hellenen heutzutage, nicht erweisen konntet, daß man auf eine andere Weise leben müsse, als auf diese, die sich auch dort noch als zuträglich bewährt; sondern unter so vielen Reden, die alle widerlegt wurden, ist diese allein ruhiggeblieben, daß man das Unrechttun mehr scheuen müsse, als das Unrechtleiden, und daß ein Mann vor allem andern danach streben müsse, nicht daß er scheine gut zu sein, sondern daß er es sei in seinem besonderen Leben sowohl als in dem öffentlichen. Wenn aber jemand schlecht wird in irgendeiner Hinsicht, daß er dann muß gezüchtiget werden und daß dies das zweite Gut ist, nächst dem Gerechtsein, es werden, und durch Bestrafung dem Recht Genüge leisten. Und daß man alle Schmeichelei, sowohl gegen sich selbst als gegen andere, seien es nun viele oder wenige, fliehen, und nur auf diese Art auch der Redekunst sich bedienen müsse, immer für das Recht, und so auch jedes andern Vermögens.

Schlußermahnung

Gib du also mir Gehör und folge mir dahin, wo angelangt du gewiß glückselig sein wirst im Leben und im Tode, wie unsere Rede verheißt, und laß dann immer einen dich verachten als unverständig und dich beschimpfen, wenn er will, ja, beim Zeus, auch jenen schimpflichen Schlag laß dir getrost zufügen, denn nichts Arges wird dir daran begegnen, wenn du nur in der Tat edel und trefflich bist und Tugend übend. Hernach erst, nachdem wir uns so gemeinschaftlich geübt, wollen wir, wenn es uns nötig dünkt, auch der Staatsangelegenheiten uns annehmen, oder worin es uns sonst gut dünkt, wollen wir Rat erteilen, wenn wir erst besser dazu geschickt sind als jetzt. Denn schmählich ist es uns, so beschaffen, wie jetzt offenbar geworden ist, daß wir sind, noch groß zu prahlen, als wären wir etwas, da wir doch nie einig sind mit uns selbst über dieselbe Sache und zwar über die wichtigste; so ganz und gar sind wir noch untauglich. Zum Führer also laß uns diese Rede gebrauchen, welche uns jetzt klar geworden ist, welche uns anzeigt, daß dies die beste Lebensweise sei, in Übung der Gerechtigkeit und jeder andern Tugend leben und sterben. Dieser also wollen wir folgen, und auch andere dazu aufrufen, nicht jener, welcher du vertraust und mich dazu aufrufst, denn sie ist nichts wert, o Kallikles.
Platon, Sämtliche Werke 1, Apologie, Kriton, Protagoras, Ion, Hippias II, Charmides, Laches, Euthyphron, Gorgias (S.279ff.), Briefe . In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 39

Im Angesicht des Todes siehe auch Xenophon
Apologie 41a - 42a
SOKRATES: […] Es mag wohl, was mir begegnet ist, etwas Gutes sein, und unmöglich können wir Recht haben, die wir annehmen, der Tod sei ein Übel. Davon ist mir dies ein großer Beweis. Denn unmöglich würde mir das gewohnte Zeichen nicht widerstanden haben, wenn ich nicht begriffen gewesen wäre, etwas Gutes auszurichten.

Hoffnungen für den Tod
Laßt uns aber auch so erwägen, wieviel Ursache wir haben zu hoffen, es sei etwas Gutes. Denn eins von beiden ist das Totsein, entweder soviel als nichts sein, noch irgendeine Empfindung von irgendetwas haben, wenn man tot ist; oder, wie auch gesagt wird, es ist eine Versetzung und Umzug der Seele von hinnen an einen andern Ort.

Und ist es nun gar keine Empfindung, sondern wie ein Schlaf, in welchem der Schlafende auch nicht einmal einen Traum hat, so wäre der Tod ein wunderbarer Gewinn. Denn ich glaube, wenn jemand einer solchen Nacht, in welcher er so fest geschlafen, daß er nicht einmal einen Traum gehabt, alle übrigen Tage und Nächte seines Lebens gegenüberstellen, und nach reiflicher Überlegung sagen sollte, wieviel er wohl angenehmere und bessere Tage und Nächte als jene Nacht in seinem Leben gelebt hat: so glaube ich, würde nicht nur ein gewöhnlicher Mensch, sondern der große König selbst finden, daß diese sehr leicht zu zählen sind gegen die übrigen Tage und Nächte. Wenn also der Tod etwas solches ist, so nenne ich ihn einen Gewinn, denn die ganze Zeit scheint ja auch nicht länger auf diese Art als eine Nacht.

Ist aber der Tod wiederum wie eine Auswanderung von hinnen an einen andern Ort, und ist das wahr, was gesagt wird, daß dort alle Verstorbene sind, was für ein größeres Gut könnte es wohl geben als dieses, ihr Richter?

(41a) Denn wenn einer in der Unterwelt angelangt, nun dieser sich so nennenden Richter entledigt dort die wahren Richter antrifft, von denen auch gesagt wird, daß sie dort Recht sprechen, den Minos und Rhadamanthys und Aiakos und Triptolemos, und welche Halbgötter sonst gerecht gewesen sind in ihrem Leben, wäre das wohl eine schlechte Umwanderung? Oder auch mit dem Orpheus umzugehen und Musaios und Hesiodos und Homeros, wie teuer möchtet ihr das wohl erkaufen? Ich wenigstens will gern oftmals sterben, wenn dies wahr ist. Ja, mir zumal wäre es ein herrliches Leben, wenn ich dort den Palamedes und Aias, des Telamon Sohn anträfe, und wer sonst noch unter den Alten eines ungerechten Gerichtes wegen gestorben ist, mit dessen Geschick das meinige zu vergleichen, das müßte, glaube ich, gar nicht unerfreulich sein. Ja, was das Größte ist, die dort eben so ausfragend und ausforschend zu leben, wer unter ihnen weise ist, und wer es zwar glaubt, es aber nicht ist. Für wieviel, ihr Richter, möchte das einer wohl annehmen, den, welcher das große Heer nach Troja führte, auszufragen, oder den Odysseus oder Sisyphos, und viele andere könnte einer nennen, Männer und Frauen: mit welchen dort zu sprechen und umzugehen und sie auszuforschen auf alle Weise eine unbeschreibliche Glückseligkeit wäre. Gewiß werden sie einen dort um deswillen doch wohl nicht hinrichten. Denn nicht nur sonst ist man dort glückseliger als hier, sondern auch die übrige Zeit unsterblich, wenn das wahr ist, was gesagt wird.

Schlußworte an die Richter
Also müßt auch ihr, Richter, gute Hoffnung haben in Absicht des Todes, und dies eine Richtige im Gemüt halten, daß es für den guten Mann kein Übel gibt weder im Leben noch im Tode, noch daß je von den Göttern seine Angelegenheiten vernachlässigt werden. Auch die meinigen haben jetzt nicht von ohngefähr diesen Ausgang genommen: sondern mir ist deutlich, daß sterben und aller Mühen entlediget werden schon das beste für mich war. Daher auch hat weder mich irgendwo das Zeichen gewarnt, noch auch bin ich gegen meine Verurteiler und gegen meine Ankläger irgend aufgebracht. Obgleich nicht in dieser Absicht sie mich verurteilt und angeklagt haben, sondern in der Meinung, mir Übles zuzufügen. Das verdient an ihnen getadelt zu werden. Soviel jedoch bitte ich von ihnen. An meinen Söhnen, wenn sie erwachsen sind, nehmt eure Rache, ihr Männer, und quält sie ebenso wie ich euch gequält habe, wenn euch dünkt, daß sie sich um Reichtum oder um sonst irgend etwas eher bemühen als um die Tugend; und wenn sie sich dünken, etwas zu sein, sind aber nichts: so verweiset es ihnen wie ich euch, daß sie nicht sorgen wofür sie sollten, und sich einbilden etwas zu sein, da sie doch nichts wert sind. (42a) Und wenn ihr das tut, werde ich Billiges von euch erfahren haben, ich selbst und meine Söhne. Jedoch, es ist Zeit daß wir gehen, ich um zu sterben, und ihr um zu leben. Wer aber von uns beiden zu dem besseren Geschäft hingehe, das ist allen verborgen außer nur Gott.
Platon, Sämtliche Werke 1, Apologie, Kriton, Protagoras, Ion, Hippias II, Charmides, Laches, Euthyphron, Gorgias, Briefe (S. 30f.)
In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 39

Was der Philosoph besser verschweigen sollte
Das Wesentliche aus dem siebten Brief
... Solchen Herren muß man die ganze philosophische Aufgabe in ihrer Eigentümlichkeit mit all ihren Ansprüchen und ihrer großen Schwierigkeit aufweisen. Hat einer das vernommen und ist er wirklich ein geborener und zur Sache berufener, das heißt ein göttlicher Mensch, so ist ihm, als habe er Kunde erhalten von einem Weg in ein Wunderland. Nun weiß er, daß er alle Kraft anspannen muß und daß das Leben anders keinen Sinn hat. So spannt er denn sich selbst mit dem Weiser jenes Weges zusammen und läßt nicht nach, bis er alles vollendet oder wenigstens die Kraft erlangt hat, daß er selbst so stark ist, sich selber ohne Wegweiser zu leiten. Auf diese Art und in dieser Gesinnung richtet ein solcher sein Leben ein. Wohl übt er den Beruf, in dem er gerade steht, aus, über allem aber hält er sich immer an die Philosophie und eine solche Lebensweise, die ihn aufs höchste lernbereit, gedächtnisfrisch und zu nüchternem Denken fähig macht. Die entgegengesetzte Haltung ist ihm zeit seines Lebens verhaßt.

Die aber wirklich keine Philosophen sind, sondern sich nur mit leeren Sprüchen geschminkt haben wie die Leute, die ihre Haut von der Sonne haben anbräunen lassen, wenn die sehen, was man alles lernen muß und wie lang die Anstrengung ist und daß nur eine geordnete tägliche Lebensweise zur Sache paßt, dann merken sie, daß es schwer und über ihre Kraft ist, und sie gewinnen auch nicht die Kraft, sich darum zu bemühen. Manche von ihnen aber reden sich selbst ein, sie hätten das Ganze schon genügend vernommen und brauchten keine weiteren Anstrengungen mehr.

Dies ist die deutliche und untrügliche Probe bei Genießern und solchen, die nicht die Kraft haben, sich durchzuringen. Denn so kann nie einer die Schuld auf seinen Lehrer werfen, sondern nur auf sich selbst, insofern er nicht alles, was der Sache zuträglich ist, zu leisten vermag.

In diesem Sinne ergingen sich damals auch meine Vorträge vor Dionysios. Alles freilich ging ich nicht durch, und Dionysios verlangte es auch nicht. Denn vieles und gerade das Wichtigste maßte er sich an selbst schon zu wissen und hinreichend zu besitzen vermöge dessen, was er von den anderen aufgefangen hatte. Ich höre auch, er habe später über das damals Gehörte geschrieben, indem er es als sein eigenes System zusammenstellte, keineswegs als den Niederschlag des Gehörten. Doch kenne ich nichts von seinen Schriften. Wohl aber kenne ich einige andere Leute, die über dieselben Fragen geschrieben haben, — und kannten doch, wer sie auch waren, nicht einmal sich selbst. So viel indes habe ich über alle früheren und zukünftigen Schriftsteller zu sagen, sofern sie behaupten, sie wüßten, um was ich eifere, ob sie es nun von mir oder von anderen gehört haben oder es selbst gefunden haben wollen: Es ist unmöglich, daß diese Leute etwas von der Sache verstehen, nach meiner Meinung wenigstens. Von mir mindestens gibt es darüber keine zusammenfassende Schrift, und es wird auch niemals eine geben.

Denn es läßt sich gar nicht wie andere Einzelerkenntnisse in Worte fassen, sondern aus häufigem Beisammensein, das sich um die Sache selbst zusammenschließt, und aus wirklicher Lebensgemeinschaft wird es im Nu, wie sich aus einem springenden Funken ein Licht entfacht, in der Seele erzeugt, und siehe da! schon nährt es sich aus sich selbst.

So viel freilich weiß ich, daß es in Schrift oder Wort von mir noch am besten dargelegt würde, und daß gewiß eine schlechte Schrift darüber nicht am wenigsten gerade mich kränken müßte. Wenn es mir aber möglich erschienen wäre, diese Dinge den Vielen in Schrift oder Wort hinreichend verständlich zu machen, was hätte Schöneres von uns im Lehen geleistet werden können, als der Menschheit durch eine solche Schrift großen Nutzen zu bereiten und das Wesen der Dinge für alle ans Licht zu bringen?

Aber ich glaube nicht, daß auch nur der Versuch, Worte dafür zu finden, den Menschen heilsam wäre, außer den wenigen, die selbst die Kraft haben, es auf einen kleinen Fingerzeig hin aus Eigenem aufzufinden. Die anderen aber würde es ja doch ganz ungebührlich mit unberechtigter Verachtung erfüllen oder mit einem hohen und aufgeblasenen Wahn, als hatten sie wer weiß welche ehrwürdige Weisheit gelernt.

Es kommt mir in den Sinn, noch weiteres darüber zu sagen. Denn wenn das gesagt ist, wird schnell deutlicher werden, wovon ich überhaupt spreche. Es gibt nämlich eine wahre Lehre, die sich gegen den richtet, der sich erdreistet, was auch immer von solchen Gegenständen schriftlich zu behandeln. Sie ist von mir oft genug auch schon früher vorgetragen worden, scheint mir aber auch jetzt der Mitteilung wert zu sein.

Es gibt für jedes Seiende drei Bedingungen, die da sein müssen, damit Erkenntnis zustandekomme. Das vierte ist dann die Erkenntnis selber. Als fünftes ist das Seiende selbst zu setzen, als durch welches Wahrerkenntnis ja erst möglich ist. Das erste in der ganzen Reihe ist die Wortbezeichnung, das zweite die Begriffsbestimmung, das dritte die Abbildung, das vierte die Erkenntnis. Wenn du nun diese Lehre verstehen lernen willst, greife einen Fall an und denke dann bei allen anderen ebenso:

Kreis ist ein gemeinter Gegenstand, dem eben diese Bezeichnung zugeordnet ist, die wir jetzt aussprachen. Seine Begriffsbestimmung ist das zweite; es setzt sich zusammen aus Ding- und Zeitwörtern. Nämlich: ,,das von den äußersten Punkten bis zur Mitte überall gleich weit Entfernte‘ — das wäre wohl die Begriffsbestimmung für jenes Seiende, dessen Bezeichnung Rund, Zirkel, Kreis ist. Das dritte ist das, was sich zeichnen und auslöschen, drechseln und zerbrechen läßt, wovon dem Kreis an sich, auf den sich dies alles bezieht, nichts geschieht, da er etwas anderes ist. Das vierte aber ist Erkenntnis und Geist und wahre Vorstellung hiervon. All dies wieder als eines zu setzen, als welches nicht in Lauten oder körperlichen Gebilden, sondern in Seelen steckt, womit es offenbar etwas anderes ist als das Wesen des Kreises an sich und die zuvor genannten drei ersten Bedingungen. Von den drei Formen der vierten Bedingung aber steht in Verwandtschaft und Gleichartigkeit dem fünften der Geist am nächsten, die anderen sind weiter entfernt.

Ebenso verhält es sich nun mit der geraden wie der gekrümmten Figur und mit der Farbe, mit dem Guten und Schönen und Gerechten, mit jedem durch Kunst oder Natur geschaffenen Körper, mit Feuer und Wasser und allen derartigen Stoffen, mit dem gesamten Tierreich und allem Seelentum und mit allem Tun und Leiden insgesamt. Denn wer dabei nicht die vier irgendwie faßt, wird niemals vollkommen der Erkenntnis des fünften teilhaftig sein. Kommt doch hier noch hinzu, daß man nicht minder das Sosein bei jedem Ding deutlich zu machen sucht wie das Sein, was eine Schwäche der Sprache ist. Deswegen wird keiner, der Geist hat, sich jemals erdreisten, das vom Geist Erfaßte in die Sprache niederzulegen, oder gar noch in das Unabänderliche, was ja doch das Leid der Buchstabenschrift ist.

An dieser Stelle muß man nun wiederum das Folgende verstehen lernen. Jeder Kreis, der in wirklicher Ausführung gezeichnet oder auch gedrechselt wird, besteht aus lauter Gegensatz zum fünften. Denn er rührt überall ans Gerade. Aber der Kreis an sich, behaupten wir, hat weder im Kleinen noch im Großen etwas von dem gegensätzlichen Wesen an sich. Auch die sprachliche Bezeichnung der Dinge, behaupten wir, ist nirgendwo und bei keinem fest, und nichts hindert, das jetzt krumm Genannte gerade zu nennen und das Gerade dann krumm,; und es wird nicht weniger fest stehen, wenn man es umstellt und es umgekehrt benennt. Und von der Begriffsbestimmung, insofern sie sich aus Ding- und Zeitwörtern zusammensetzt, gilt dieselbe Behauptung, daß sie in keiner hinreichend sicheren Weise feststeht. So gibt es weiterhin tausend Beweise für die Unbestimmtheit von jedem einzelnen der vier. Das Wichtigste aber, auf das wir ja kurz vorher schon hingewiesen haben, ist dies: während das Sein und das Sosein zweierlei ist, die Seele aber nicht das Wie, sondern das Was zu wissen sucht, stellt ein jedes der vier ersten (Name, Begriff, sinnliche Wahrnehmung, Erkenntnis) gerade das Nichtgesuchte vor die Seele in Wort und Sache, und indem es das in jedem einzelnen Falle Gesagte und Gezeigte als ein für die Wahrnehmungen leicht Widerlegbares darbietet, erfüllt es mit Fraglichkeit und Unsicherheit jeder Art sozusagen jedermann.

Hierbei nun infolge schlechter Zucht nicht einmal gewöhnt, das Wahre zu suchen — genügt uns doch die Vorstellung der Abbildungen—, machen wir uns im Streitgespräch voreinander auch nicht lächerlich, wenn solche fragen, die jene vier durcheinander zu wirren und zu verwerfen vermögen. Sowie dabei aber die Aufdeckung des fünften beim Antworten erzwungen wird, bleibt jeder beliebige von denen, die sich aufs Verdrehen verstehen, Sieger und bringt es fertig,. den, der sich in Rede oder Schrift oder Streitgespräch auseinandersetzt, vor der Masse der Zuhörer als einen Menschen bloßzustellen, der nichts von dem versteht, was er schriftlich oder mündlich auszudrücken versucht; dabei merken die Hörer bisweilen nicht, daß nicht die Seele dessen, der sich schriftlich oder mündlich äußert, bloßgestellt wird, sondern das Wesen einer jeden der vier Weisen des Begreifens, das eben von Natur aus unzulänglich ist.

Einzig die Führung durch alle diese Stufen, die zu einer jeden im Wechsel hinauf- und hinabsteigt, erzeugt — und auch nur mühsam — wirkliches Wissen von rechtem Wesen in einem, der selbst ein rechtes Wesen hat. Wenn aber sein Wesen schlecht ist, wie es die seelische Haltung der Vielen für das Lernen und das, was man so Sitten nennt, von Natur aus ist (wobei die Sitten dann auch noch verdorben sind), so, kann auch ein Lynkeus solche Menschen nicht sehend machen. Kurz und gut: Wer nicht von Natur mit der Sache verwandt ist, den kann weder leichte Auffassung je dazu bringen noch gutes Gedächtnis. In Menschen von sachfremder Haltung nämlich setzt sie überhaupt nicht an. Wer daher mit dem Gerechten und dem anderen Schönen allen nicht verwachsen und verwandt ist, mag er auch anderes leicht lernen und behalten, —- umgekehrt, wer wohl damit verwandt ist, aber nur schwer lernt und nicht behält: keiner von diesen wird jemals das unverdeckte Wesen des Guten bis zur höchsten Möglichkeit lernen, und auch nicht des Bösen. In einem nämlich muß man beides lernen, das Falsche und das Wahre des gesamten Seins, und zwar mit Aufwand aller Mühe und von viel Zeit, wie ich schon anfangs sagte. Erst wenn alle einzelnen Stücke (sprachliche Bezeichnung und Begriffsbestimmung, Anschauung und Wahrnehmung) unermüdlich aneinander gerieben, dann in einer sachlich wohlmeinenden Prüfung geprüft und in Fragen und Antworten ohne persönliche Befangenheit ausgeprobt werden — erst dann geschieht es, daß Einsicht in jegliches Ding aufleuchtet und Geist, vorausgesetzt, daß einer sich aufs höchste nach menschlicher Kraft anspannt. Deshalb ist jeder ernste Mann bei den ernsten Dingen weit davon entfernt, jemals über sie zu schreiben und sie so vor die Menschen zu werfen, die sich doch nur darum balgen und nichts damit anfangen können. Hieraus muß man also, kurz und gut, folgendes erkennen: Wenn einer schriftliche Niederlegungen zu Gesicht bekommt, etwa bei Gesetzen von einem Gesetzgeber oder bei anderen Dingen, was es auch sei, dann hatte das für den Schreiber nicht den letzten Ernst, wenn anders er ein ernster Mann ist, sondern der Ernst ruht wohl am schönsten Ort seiner Gedankenwelt. Falls er jedoch tatsächlich diesen letzten Ernst in Schriften niedergelegt hat, so ,,haben ihm füglich denn — Götter“ zwar nicht, wohl aber Sterbliche ,,das Herz zugrunde gerichtet“ (Ilias XII 234).
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 205, Platon, Die Briefe . Übersetzt und eingeleitet von Heinrich Weinstock (S.62-69)
©1977 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart . Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart


Übermensch I: Über das Recht des Besseren und Stärkeren
Gorgias 483a - 494a

Unterschied des durch Gesetz und des von Natur Häßlichen
KALLIKLES: O Sokrates, du scheinst blenden zu wollen mit deinen Reden, wie ein rechter Volksschwätzer; auch jetzt willst du uns hiermit beschwatzen, da dem Polos dasselbe begegnet ist, was er vorher dem Gorgias von dir begegnet zu sein Schuld gab. Er sagte nämlich, als du den Gorgias gefragt, wenn einer um die Redekunst von ihm zu lernen zu ihm käme, der das Gerechte noch nicht verstände, ob er es ihn lehren würde, habe Gorgias sich geschämt und bejaht, daß er es ihn lehren würde, lediglich wegen der Gesinnung der Menschen, weil sie unwillig werden würden, wenn jemand dies leugnete, und durch dieses Eingeständnis sei er hernach in die Notwendigkeit gekommen, sich selbst zu widersprechen, welches eben deine Freude wäre. Und hierüber hat er dich damals, ganz mit Recht, wie mir dünkt, verspottet; jetzt aber ist ihm seinerseits eben dasselbe begegnet. Und ich bin nun wieder eben deshalb mit dem Polos unzufrieden, daß er dir eingeräumt hat, das Unrechttun sei häßlicher als das Unrechtleiden. Denn gerade durch dieses Eingeständnis ist auch er wieder von dir verwickelt worden in den Reden und zum Schweigen gebracht, indem er sich schämte, was er dachte, auch zu sagen. Denn in der Tat, Sokrates, führst du immer, ohnerachtet du behauptest, die Wahrheit zu suchen, die Rede auf solche verfänglichen Dinge, die gut sind vor dem Volke vorzubringen, auf das nämlich, was von Natur nicht schön ist, wohl aber nach dem Gesetz. Denn diese beiden stehn sich größtenteils entgegen, die Natur und das Gesetz. Wenn sich nun jemand schämt und nicht den Mut hat, (483a) zu sagen, was er denkt, so wird er gezwungen, sich zu widersprechen. Was auch du dir eben recht künstlich abgemerkt hast und andere damit übervorteilst in den Reden; wenn jemand von dem Gesetzlichen spricht, schiebst du in der Frage das Natürliche unter, wenn aber vom Natürlichen, dann du das Gesetzliche.
So jetzt gleich beim Unrechttun und Unrechtleiden, als Polos vom gesetzlich Unschöneren sprach, verfolgtest du das Gesetzliche, als wäre es das Natürliche. Denn von Natur ist allemal jedes das Unschönere, was auch das Üblere ist, also das Unrechtleiden, gesetzlich aber ist es das Unrechttun. Auch ist dies wahrlich kein Zustand für einen Mann, das Unrechtleiden, sondern für ein Knechtlein, dem besser wäre, zu sterben als zu leben, weil er beleidigt und beschimpft nicht imstande ist, sich selbst zu helfen, noch einem andern, der ihm wert ist. Allein ich denke, die die Gesetze geben, das sind die Schwachen und der große Haufe. In Beziehung auf sich selbst also und das, was ihnen nutzt, bestimmen sie die Gesetze, und das Löbliche, was gelobt, das Tadelhafte, was getadelt werden soll; und um kräftigere Menschen, welche mehr haben könnten, in Furcht zu halten, damit diese nicht mehr haben mögen als sie selbst, sagen sie, es sei häßlich und ungerecht, für sich immer auf mehr auszugehn; und das ist nun das Unrechttun, wenn man sucht, mehr zu haben als die andern. Denn sie selbst, meine ich, sind ganz zufrieden, wenn sie nur gleiches erhalten, da sie die Schlechteren sind.

Das Gerechte der Natur fordert das Mehrhaben des Besseren

Daher wird nun gesetzlich dieses unrecht und häßlich genannt, das mehr zu haben Streben als die meisten, und sie nennen es Unrechttun.
Die Natur selbst aber, denke ich, beweist dagegen, daß es gerecht ist, daß der Edlere mehr habe als der Schlechtere, und der Tüchtigere als der Untüchtige. Sie zeigt aber vielfältig, daß sich dieses so verhält, sowohl an den übrigen Tieren, als auch an ganzen Staaten und Geschlechtern der Menschen, daß das Recht so bestimmt ist, daß der Bessere über den Schlechteren herrsche und mehr habe. Denn nach welchem Recht führte Xerxes Krieg gegen Hellas, oder dessen Vater gegen die Skythen? Und tausend anderes der Art könnte man anführen. Also meine ich, tun sie dieses der Natur gemäß und, beim Zeus, auch dem Gesetz gemäß, nämlich dem der Natur; aber freilich vielleicht nicht nach dem, welches wir selbst willkürlich machen, die wir die Besten und Kräftigsten unter uns gleich von Jugend an, wie man es mit dem Löwen macht, durch Besprechung gleichsam und Bezauberung knechtisch einzwängen, (484a) indem wir ihnen immer vorsagen, alle müssen gleich haben, und dies sei eben das Schöne und Gerechte. Wenn aber, denke ich, einer mit einer recht tüchtigen Natur zum Manne wird, so schüttelt er das alles ab, reißt sich los, durchbricht und zertritt alle unsere Schriften und Gaukeleien und Besprechungen und widernatürlichen Gesetze, und steht auf, offenbar als unser Herr, er der Knecht, und eben darin leuchtet recht deutlich hervor das Recht der Natur. Auch Pindaros scheint mir das, was ich meine, anzudeuten in dem Liede, worin er sagt: »Das Gesetz, der Sterblichen König und Unsterblichen«, und dies, sagt er, »führt von Natur herbei rechtfertigend das Gewaltsamste mit übermächtiger Hand. Ich zeige es an den Taten des Herakles; denn ungekauft«, so ungefähr lautet es, denn ich weiß das Lied selbst nicht, er meint aber, weder gekauft noch geschenkt habe jener des Geryones Stiere weggetrieben, als ob also dieses das von Natur Gerechte wäre, daß eben Stiere und alles andere Eigentum der Schlechteren und Geringeren dem Besseren gebühre, der mehr ist.

Philosophie eine Sache für Knaben
Dies ist also eigentlich das Wahre, und das wirst du auch einsehen, wenn du zum Größeren fortschreitest und von der Philosophie endlich abläßt. Denn diese, o Sokrates, ist eine ganz artige Sache, wenn jemand sie mäßig betreibt in der Jugend, wenn man aber länger als billig dabei verweilt, gereicht sie den Menschen zum Verderben. Denn wie herrliche Gaben einer auch habe, wenn er über die Zeit hinaus philosophiert, muß er notwendig in allem dem unerfahren bleiben, worin erfahren sein muß, wer ein wohlangesehener und ausgezeichneter Mann werden will. Denn sowohl in den Gesetzen des Staates bleiben sie unerfahren. als auch in der rechten Art, wie man mit Menschen umgehn muß bei allerlei Verhandlungen, eignen und öffentlichen, und mit den Gelüsten und Neigungen der Menschen und ihrer Gemütsart überhaupt bleiben sie unbekannt. Gehen sie hernach an ein Geschäft, sei es nun für sich oder für den Staat, so machen sie sich lächerlich, wie, glaube ich, auch die Staatsmänner wiederum, wenn sie zu euren Versammlungen und Unterredungen kommen, lächerlich werden. Denn hier trifft die Rede des Euripides: Darinnen wohl glänzt jeder, drängt auch dazu sich vorzüglich hin. Die meiste Zeit gern widmend solcherlei Geschäft, worin er selbst der Beste leicht erfunden wird; (485a) worin er aber schlecht ist, das meidet er und schmäht darauf, das andere hingegen lobt er aus Wohlmeinen mit sich selbst, weil er glaubt, so sich selbst zugleich zu loben.
Das Richtigste aber, denke ich, ist, sich mit beiden einzulassen. Mit der Philosophie nämlich, so weit es zum Unterricht dient, sich einzulassen, ist schön, und keineswegs gereicht es einem Jüngling zur Unehre, zu philosophieren. Wenn aber ein schon Älterer noch philosophiert, Sokrates, so wird das ein lächerliches Ding, und es gemahnt mich mit dem Philosophieren gerade wie mit dem Stammeln und Tändeln. Wenn ich nämlich sehe, daß ein Kind, dem es noch ziemt, so zu sprechen, stammelt und tändelt, so macht mir das Vergnügen, und ich finde es lieblich und natürlich und dem Alter des Kindes angemessen. Höre ich dagegen ein kleines Kind ganz bestimmt und richtig sprechen, so ist mir das zuwider, es peinigt meine Ohren und dünkt mir etwas Erzwungenes zu sein. Hört man dagegen von einem Manne unvollkommene Aussprache und sieht ihn tändeln, das ist offenbar lächerlich und unmännlich und verdient Schläge. Ebenso nun geht es mir mit den Philosophierenden. Wenn ich Knaben und Jünglinge bei der Philosophie antreffe, so freue ich mich; ich finde, daß es ihnen wohl ansteht, und glaube, daß etwas Edles in solchen ist; den aber, der nicht philosophiert, halte ich für unedel und glaube, daß er es nie mit sich selbst auf etwas Großes und Schönes anlegen wird. Wenn ich dagegen sehe, daß ein Alter noch philosophiert und nicht davon loskommen kann, solcher Mann, o Sokrates, dünkt mir, müßte Schläge bekommen. Denn wie ich eben sagte, es findet sich bei solchem Menschen gewiß, wie schöne Gaben er auch von Natur besitze, daß er unmännlich geworden ist, das Innere der Stadt und die öffentlichen Orte flieht, wo doch erst, wie der Dichter sagt, sich Männer hervortun, und versteckt in einem Winkel mit drei bis vier Knaben flüsternd sein übriges Leben hinbringt, ohne doch je edel, groß und tüchtig herauszureden.

Rat an Sokrates, die Philosophie zu lassen

Ich meinesteils, Sokrates, bin dir gut und gewogen; und es mag mir beinahe jetzt mit dir gehen wie beim Euripides, dessen ich vorhin schon gedacht, dem Zethos mit dem Amphion. Denn auch ich habe Lust, dir dergleichen zu sagen, wie jener seinem Bruder, daß du, o Sokrates, versäumst, was du betreiben solltest, und ein Gemüt so herrlicher Natur durch knäbische Geberdung ganz entstellst, (486a) daß weder, wo das Recht beraten wird, du richtig vorzutragen weißt, noch scheinbar was und glaublich aufzustellen, noch auch je für andere, wo raten gilt, mutvollen Schluß beschließen wirst. Und doch, lieber Sokrates, aber werde mir nicht böse, denn ich sage es aus Wohlmeinen gegen dich, dünkt es dir nicht schmählich, in solchem Zustande zu sein, in welchem du bist, wie ich glaube, und alle, die es immer weiter treiben mit der Philosophie? Denn wenn jetzt jemand dich oder einen andern solchen ergriffe und ins Gefängnis schleppte, behauptend, du habest etwas verbrochen, da du doch nichts verbrochen hättest, so weißt du wohl, daß du nicht wissen würdest, was du anfangen solltest mit dir selbst, sondern dir würde schwindlich werden und du würdest mit offnem Munde stehn und nicht wissen, was du sagen solltest. Und wenn du dann vor Gericht kämest und auch nur einen ganz gemeinen und erbärmlichen Menschen zum Ankläger hättest, so würdest du sterben müssen, wenn es ihm einfiele, auf die Todesstrafe anzutragen. Und doch, wie könnte das wohl weise sein, Sokrates, wenn eine Kunst den wohlbegabten Mann ergreifend schlechter macht, daß er weder sich selbst helfen und aus den größten Gefahren erretten kann, noch sonst einen, wohl aber von seinen Feinden aller seiner Habe beraubt werden und offenbar ehrlos im Staate leben muß? Einen solchen kann man ja, um es derber zu sagen, ungestraft ins Angesicht schlagen. Darum, du Guter, gehorche mir, hör auf zu lehren, üb’ im Wohlklang lieber dich von schönen Taten, in dem, wo du weise erscheinst, laß andern jetzt dies ganze herrliche, soll ich es Possenspiel nennen oder Geschwätz, weshalb dein Haus armselig, leer und verödet steht, und eifere nicht denen nach, die solche Kleinigkeiten untersuchen, sondern die sich Reichtum erwerben und Ruhm und viel anderes Gute.

Sokrates über die Befähigung des Kallikles als Prüfstein für Wahrheitsfindung
SOKRATES: Wenn ich etwa eine goldene Seele hätte, Kallikles, glaubst du nicht, daß ich gar zu gern von jenen Steinen, an denen sie das Gold prüfen, den trefflichsten möchte gefunden haben, gegen welchen ich sie dann halten könnte, und wenn der Stein mir Zeugnis gäbe, daß meine Seele in gutem Stande wäre, nun ganz gewiß wüßte, daß ich zufrieden sein könne, und keiner weiteren Prüfung bedürfe?

KALLIKLES: Weshalb fragst du das nur, o Sokrates?

SOKRATES: Das will ich dir gleich sagen. Ich glaube nämlich, nun ich dich gefunden, ein solches Kleinod gefunden zu haben.

KALLIKLES:
Wieso?

SOKRATES: Ich weiß gewiß, daß, was du mir zugibst von meinen Meinungen, dieses dann gewiß die Wahrheit selbst ist. Ich denke mir nämlich, wer (487a) eine vollständige Prüfung anstellen soll mit einer Seele, ob sie recht lebt oder nicht, muß dreierlei haben, welches du alles hast, Einsicht, Wohlwollen und Freimütigkeit. Denn ich treffe auf gar viele, welche nicht imstande sind, mich zu proben, weil sie nicht weise sind wie du. Andere sind zwar weise, wollen mir aber nicht die Wahrheit sagen, weil sie sich meiner nicht so annehmen wie du. Und wiederum diese beiden Fremden, Gorgias und Polos, sind zwar weise und mir auch gewogen, ermangeln aber etwas der Freimütigkeit und sind verschämter als billig. Oder wie kann es anders sein, da sie es so weit treiben mit der Verschämtheit, daß sie beide, weil sie sich schämen, so dreist sind, sich selbst, angesichts vieler Menschen, zu widersprechen, und das in den wichtigsten Dingen. Du aber hast dieses alles, was die anderen nicht haben. Denn unterrichtet bist du zur Genüge, wie gewiß die meisten Athener eingestehen würden, und gegen mich bist du wohlmeinend. Woraus ich das schließe will ich dir sagen. Ich weiß, Kallikles, daß ihr vier eine Gemeinschaft der Weisheit unter euch errichtet habt, du und Tisandros, der Aphidnaier, und Andron, der Sohn des Androtion, und Nausikydes, der Cholarger. Und ich habe euch einmal behorcht, als ihr beratschlagtet, wie weit man sich mit der Wissenschaft abgeben müsse, und weiß, daß eine solche Meinung unter euch die Oberhand behielt, man müsse es nicht bis aufs äußerste treiben wollen mit der Philosophie, vielmehr ermahntet ihr euch untereinander, auf eurer Hut zu sein, damit ihr nicht weiser würdet als schicklich und dadurch unvermerkt in Unglück gerietet. Da ich nun höre, daß du mir denselben Rat erteilst wie deinen Vertrautesten, so ist mir dies ein hinreichender Beweis, daß du es wahrhaft wohl mit mir meinst. Daß du aber frei heraus zu reden verstehst, ohne dich zu schämen, sagst du ja selbst, und was du vorher sagtest, bezeugt es dir auch. Daher verhält es sich hiermit jetzt offenbar so, wenn du mit mir über etwas in unseren Reden übereinkommst, das wird alsdann hinlänglich erprobt sein durch mich und dich, und es wird nicht nötig sein, es noch auf eine andere Probe zu bringen. Denn du würdest es ja sonst nicht eingeräumt haben, weder aus Mangel an Weisheit, noch aus Überfluß an Scham; noch auch um mich zu betrügen, würdest du es einräumen. Denn du bist mir Freund, wie du auch selbst sagst. Gewiß also wird, was ich und du eingestehe, das höchste Ziel der Richtigkeit haben. Es gibt aber gewiß keine schönere Untersuchung, o Kallikles, als darüber, weshalb du mir eben Vorwürfe machtest, wie nämlich ein Mann sein muß, und wonach er zu streben hat und (488a) wie weit, im Alter sowohl als in der Jugend. Denn wenn ich irgendwo nicht richtig handle in meinem Leben, so wisse nur, daß ich nicht fehle, sondern in meinem Unverstande. Wie du also schon angefangen hast mich zurechtzuweisen, so laß nicht ab; sondern zeige mir vollständig, was dasjenige ist, dessen ich mich bestreben soll und auf welche Weise ich es wohl erlangen könnte. Und wenn du findest, daß ich dir jetzt zwar beistimme, in der Folge aber dasjenige nicht tue, worin ich dir beigestimmt, so halte mich nur ganz für einen Taugenichts und ermahne mich niemals wieder nachher, wie einen, der nichts wert ist. Wiederhole mir aber noch einmal von Anfang, wie du glaubst, und Pindaros mit dir, daß es sich mit dem Gerechten verhalte, dem der Natur gemäßen, daß der Würdigere gewaltsam wegführt, was dem Geringeren gehört, und der Bessere über den Schlechteren herrscht und der Edlere mehr hat als der Gemeinere? Ist nach deiner Rede das Gerechte etwas anderes, oder habe ich es richtig behalten?

1 . Erklärung des Kallikles: Würdiger, besser und stärker sind identisch

KALLIKLES: Eben das sagte ich damals und sage es auch jetzt noch.

SOKRATES:
Meinst du aber dasselbe, wenn du sagst, einer ist besser, und wenn du sagst, einer ist würdiger? Denn das konnte ich auch schon damals nicht recht verstehen, wie du es meintest. Nennst du die würdiger, welche stärker sind, und soll der Schwächere auf den Stärkeren hören, wie mir dünkt, daß du auch damals zeigtest, daß die größeren Staaten nach dem natürlichen Recht die kleineren angriffen, weil sie nämlich würdiger sind und stärker, wonach dann würdiger und stärker und besser einerlei wäre? Oder kann man besser sein, aber geringer und schwächer, und würdiger, aber schlechter? Oder soll besser und würdiger einerlei besagen? Dieses gerade bestimme mir recht genau, ob das verschieden ist oder einerlei, würdiger und besser und stärker.

KALLIKLES: So sage ich dir denn ganz bestimmt, daß es einerlei ist.

SOKRATES:
Sind nun nicht die vielen von Natur stärker als der eine, da sie ja auch die Gesetze geben für den einen, wie du auch selbst vorher sagtest?

KALLIKLES: Wie anders?

SOKRATES: Was also den vielen gesetzlich ist, ist es auch den Stärkeren.

KALLIKLES:
Allerdings.

SOKRATES: Also auch den Besseren; denn die Stärkeren sind bei weitem die Besseren nach deiner Rede.

KALLIKLES: Ja.

SOKRATES: Also das bei diesen Gesetzliche ist von Natur schön, da sie ja eben die Besseren sind?

KALLIKLES: Das gebe ich zu.

SOKRATES: Setzen nun nicht eben die vielen dieses fest, wie du auch selbst oben sagtest, es sei gerecht, das gleiche zu haben, und Unrecht tun sei unschöner als (489a) Unrecht leiden? Ist dies so oder nicht? Und daß du hier nur ja nicht darauf ertappt wirst, daß du dich auch schämst. Setzen die vielen dieses fest oder nicht, daß das gleiche zu haben, und nicht mehr, gerecht sei? Nicht die Antwort hierauf mir vorenthalten, Kallikles, damit, wenn du mir beistimmst, ich dann befestiget werde durch dich, weil nun ein Mann, der wohl imstande ist, es zu beurteilen, mir beigestimmt hat.

KALLIKLES: Ja, die vielen setzen dies so fest.

SOKRATES: Also nicht nur dem Gesetze nach ist Unrechttun unschöner als Unrechtleiden, und das Gleichehaben gerecht, sondern auch der Natur nach. So daß du im vorigen nicht magst wahr gesprochen noch mir mit Recht Schuld gegeben haben, als du sagtest, Gesetz und Natur wären einander entgegen, was ich wohl wüßte, und dadurch in meinen Reden den andern übervorteilte, indem ich, wenn es jemand nach der Natur meinte, ihn auf das Gesetzliche führte, wenn aber nach dem Gesetz, dann auf die Natur.

2. Erklärung: Der Bessere ist der Einsichtsvollere

KALLIKLES: Dieser Mann wird nie aufhören, leeres Geschwätz zu treiben. Sage mir, Sokrates, schämst du dich nicht, in deinem Alter auf Worte Jagd zu machen, und wenn jemand in einem Worte fehlt, dies für einen großen Fund zu achten? Glaubst du denn, daß ich etwas anderes meine unter dem Bessersein als das Würdigersein? Sage ich dir nicht schon immer, ich setze dies als einerlei, würdiger und besser? Oder glaubst du, ich meine, wenn sich ein Haufen Knechte versammelt oder allerlei andere Leute, an denen weiter gar nichts ist, als daß sie vielleicht körperliche Kräfte haben und diese es behaupten, daß dann eben dieses das Gesetzliche sei?

SOKRATES: Wohl, du weisester Kallikles! So meinst du es?

KALLIKLES: Freilich so.

SOKRATES: Auch ich vermutete selbst schon lange, daß du es so ungefähr meintest mit dem Würdigersein, und fragte dich eben weiter, weil ich gern recht genau wissen wollte, wie du es meintest. Denn du hältst doch wohl nicht allemal zwei für besser als einen, noch deine Knechte für besser als dich, weil sie stärker sind als du. Also sage mir noch einmal von Anfang, was du denn eigentlich verstehst unter den Besseren, wenn doch nicht die Stärkeren. Und du Wunderlicher, lehre mich etwas sanftmütiger sein, damit ich nicht wegbleibe von dir.

KALLIKLES: Du spottest wieder, Sokrates.

SOKRATES: Nein, beim Zethos, vermittelst dessen du nur kürzlich soviel Spott mit mir getrieben hast. Also komm und sage mir, wer du meinst, daß die Besseren sind.

KALLIKLES: Die Edleren, meine ich.

SOKRATES: Siehst du nun, daß du selbst nur Worte vorbringst und nichts erklärst? Willst du mir nicht sagen, ob du etwa unter denen, die würdiger und besser sind, die Einsichtsvolleren meinst oder andere?

KALLIKLES: Nun ja, eben diese meine ich, beim Zeus, ganz eigentlich.

SOKRATES: Oftmals also ist ein Einsichtsvoller besser als zehntausend, (S490a) die ohne Einsicht sind, nach deiner Rede, und dieser muß herrschen, jene aber beherrscht werden, und der Herrschende mehr haben als die Beherrschten. Denn dies dünkt mir willst du sagen, und ich mache nicht Jagd auf Worte, wenn der eine besser ist als die zehntausend.

KALLIKLES: Eben das ist es auch, was ich meine. Denn dies, denke ich, ist das gerechte von Natur, daß der Bessere und Einsichtsvollere herrsche und mehr habe als die Schlechteren.

Was bedeutet hier Mehrhaben und wovon?

SOKRATES: Halt doch hier. Was sagst du nur wieder jetzt? Wenn, wie jetzt hier, unserer sehr viele zusammen wären und hätten gemeinschaftlich hier vielerlei Speisen und Getränk, wären aber durcheinander von allerlei Art, Kräftige und Schwächliche, einer aber unter uns wäre der Einsichtsvollste hierin, weil er ein Arzt wäre, wäre aber selbst, wie es ja wahrscheinlich ist, kräftiger als einige, schwächlicher als andere; nicht wahr, so wäre doch dieser, weil er einsichtsvoller wäre als wir, auch besser und stärker hierin?

KALLIKLES:
Freilich.

SOKRATES: Müßte er nun etwa von diesen Speisen mehr bekommen, weil er der Bessere ist? Oder müßte er, sofern er herrscht, eben alles verteilen, sofern er es aber genießt und verbraucht, für seinen eigenen Leib nicht nach dem meisten streben, wenn er nicht Schaden leiden wollte, sondern mehr haben als einige und weniger als andere, und wenn er zufälligerweise der Schwächlichste wäre, dann gerade am wenigsten, Kallikles, unter allen, unerachtet er der Beste wäre. Nicht so, mein Guter?

KALLIKLES:
Von Speisen sprichst du und Getränk und Ärzten und Possen, ich aber meine das gar nicht.

SOKRATES: Sagst du also nicht, daß der Einsichtsvollere der Bessere ist? Sprich doch ja oder nein.

KALLIKLES: Ja, sage ich.

SOKRATES: Aber nicht, daß der Bessere auch mehr haben müsse?

KALLIKLES: Nicht Speise und Trank.

SOKRATES: Ich verstehe. Aber vielleicht Kleider; und wer sich am besten auf das Weben versteht, muß auch das größte Kleid haben und am vollständigsten und schönsten angezogen umhergehen?

KALLIKLES: Was doch Kleider?

SOKRATES: Aber an Schuhen offenbar doch muß, wer der Einsichtsvollste und Beste hierin ist, auch mehr haben, und der Schuhmacher vielleicht auf die größten und meisten Sohlen treten?

KALLIKLES: Was für Geschwätz machst du nun wieder von Schuhen!

SOKRATES: Also wenn du dergleichen nicht meinst, dann vielleicht dieses, wie ein Landmann, der im Ackerbau einsichtsvoll ist und achtungswert, der muß vielleicht mehr Samen haben und möglichst vielen auf seinem Acker verbrauchen?

KALLIKLES: Wie du doch immer wieder dasselbe vorbringst, Sokrates!

SOKRATES: Nicht nur das, o Kallikles, sondern auch, wohl zu merken, von derselben Sache.

KALLIKLES: Bei (491a) den Göttern, du hörst auch gar nicht auf, immer von Schustern und Gerbern und Köchen und Ärzten zu reden, als wenn davon die Rede wäre unter uns.

SOKRATES: Willst du also sagen, worin denn der Einsichtsvollere und Bessere mehr haben soll, damit er es auch mit Recht habe? Oder willst du weder leiden, daß ich dir etwas vorlege, noch auch es selbst sagen?

KALLIKLES:
Aber ich sage es ja schon lange, zuerst wer die Besseren sind, daß ich nicht Schuster meine noch Köche, sondern die in den Angelegenheiten des Staates einsichtsvoll sind und wissen, wie er gut kann verwaltet werden, und nicht nur einsichtsvoll, sondern auch tapfer, so daß sie imstande sind, was sie ersonnen haben, auch auszuführen und nicht dabei ermüden aus Weichlichkeit des Gemüts.

These des Kallikles: Tugend bedeutet zur größten Zügellosigkeit imstande zu sein

SOKRATES: Siehst du, bester Kallikles, wie es gar nicht dasselbe ist, was du mir Schuld gibst und was ich wiederum dir? Denn du behauptest von mir, ich sagte immer dasselbe und tadelst mich deshalb. Ich aber beschuldige dich im Gegenteil, daß du nie dasselbe sagst von derselben Sache; sondern bald erklärst du, die Besseren und die Würdigeren wären die Stärkeren, dann wieder sind es die Einsichtsvolleren; nun aber bringst du schon wieder etwas anderes, indem du gewisse Tapfere für die Besseren ausgibst und die Würdigeren. Aber, du Guter, sage es doch einmal fertig heraus, wer denn die Besseren sein sollen und worin?

KALLIKLES: Aber ich habe es ja schon gesagt: die in den Staatssachen einsichtsvoll sind und tapfer. Denn diesen kommt es zu, die Staaten zu beherrschen, und das ist eben das Recht, daß diese mehr haben als die andern, die Herrschenden als die Beherrschten.

SOKRATES: Auch mehr als sie selbst, Freund?

KALLIKLES: Wie meinst du das?

SOKRATES: Ich meine, daß doch jeder einzelne über sich selbst herrscht. Oder ist das gar nicht nötig, sich selbst beherrschen, sondern nur die andern?

KALLIKLES: Wie meinst du sich selbst beherrschen?

SOKRATES: Gar nichts besonders Schwieriges, sondern wie es die Leute meinen, besonnen sein und seiner selbst mächtig, und die Lüste und Begierden, die jeder in sich hat, beherrschend.

KALLIKLES:
Wie gutmütig du bist! Diese Einfältigen meinst du, die Besonnenen!

SOKRATES:
Warum denn nicht? Wie doch? Das kann ja jedermann wissen, daß ich das nicht meine.

KALLIKLES: Ganz gewiß doch, Sokrates. Denn wie könnte wohl ein Mensch glückselig sein, der irgend wem diente? Sondern das ist eben das von Natur Schöne und Rechte, was ich dir nun ganz frei heraus sage, daß, wer richtig leben will, seine Begierden muß so groß werden lassen als möglich und sie nicht einzwängen; und diesen, wie groß sie auch sind, muß er dennoch Genüge (492a) zu leisten vermögen durch Tapferkeit und Einsicht, und worauf seine Begierde jedesmal geht, sie befriedigen. Allein dies, meine ich, sind eben die meisten nicht imstande, weshalb sie gerade solche Menschen tadeln aus Scham, ihr eigenes Unvermögen verbergend, und sagen, die Ungebundenheit sei etwas Schändliches, um, wie ich auch vorher schon sagte, die von Natur besseren Menschen einzuzwängen; und weil sie selbst ihren Lüsten keine Befriedigung zu verschaffen vermögen, so loben sie die Besonnenheit und die Gerechtigkeit ihrer eigenen Unmännlichkeit wegen. Denn denen, welche entweder schon ursprünglich Söhne von Königen waren oder welche kraft ihrer eigenen Natur vermochten, sich ein Reich oder eine Macht und Herrschaft zu gründen, was wäre wohl unschöner und übler als die Besonnenheit für diese Menschen, wenn sie, da sie des Guten genießen könnten und ihnen niemand im Wege steht, sich selbst einen Herren setzten, nämlich des großen Haufens Gesetz, Geschwätz und Gericht. Oder wie sollten sie nicht elend geworden sein durch das schöne der Gerechtigkeit und Besonnenheit, wenn sie nun ihren Freunden nichts mehr zuwenden als ihren Feinden, und das, unerachtet sie herrschen in ihrem Staat! Sondern der Wahrheit nach, o Sokrates, die du ja behauptest zu suchen, verhält es sich so: Üppigkeit und Ungebundenheit und Freigebigkeit, wenn sie nur Rückhalt haben, sind eben Tugend und Glückseligkeit: jenes andere aber sind Zierereien, widernatürliche Satzungen, leeres Geschwätz der Leute und nichts wert.

Gegen-Mythologem des Sokrates über den Zustand der zügellosen Seele

SOKRATES: Gar nicht feigherzig, o Kallikles, machst du deinen Ausfall mit großer Freimütigkeit. Denn ganz offen sagst du nun heraus, was die andern zwar auch denken, aber nicht sagen wollen. Ich bitte dich daher, ja auf keine Weise nachzulassen, damit nun in der Tat offenbar werde, wie man leben muß. Und sage mir, die Begierden, sprichst du, muß man nicht einzwängen, wenn man sein will wie man soll, sondern sie so groß wie immer möglich lassen, und ihnen, woher es auch sei, Befriedigung bereiten, und das sei die Tugend.

KALLIKLES: Das behaupte ich.

SOKRATES: Nicht richtig also sagt man, die nichts bedürfenden wären glückselig.

KALLIKLES: Die Steine wären ja auf diese Art am glückseligsten und die Toten.

SOKRATES: Aber doch auch, so wie du es beschreibst, ist das Leben mühselig. Ich wenigstens wollte mich nicht wundern, wenn Euripides Recht hätte, wo er sagt: Wer weiß ob unser Leben nicht ein Tod nur ist, gestorben sein dagegen Leben? und ob wir vielleicht in der Tat tot sind. Was (493a) ich auch sonst schon von einem der Weisen gehört habe, daß wir jetzt tot wären und unsere Leiber wären nur unsere Gräber, der Teil der Seele aber, worin die Neigungen sind, wäre ein beständiges Anneigen und Abstoßen aufwärts und abwärts, welches ein stattlicher Mann, der Sinnbilder dichtet, einer aus Sikelien wohl oder Italien mit dem Worte spielend wegen des Einfüllens und Fassenwollens ein Faß genannt hat und die Ausgelassenen Ausgeschlossene, und bei diesen Ausgeschlossenen könnte nun der Teil der Seele, wo die Neigungen sind, eben wegen der Ungebundenheit und Unhaltbarkeit nicht schließen wie ein leckes Faß, womit er sie der Unersättlichkeit wegen verglich. Und ganz dir entgegengesetzt, o Kallikles, zeigt dieser, daß in der Schattenwelt, worunter er die Geisterwelt meinte, jene Ausgeschlossenen die Unseligsten wären und Wasser trügen in das lecke Faß mit einem ebenso lecken Siebe. Unter dem Siebe aber verstand er, wie der sagt, der es mir erzählte, die Seele, und die Seele der Ausgelassenen verglich er mit einem Siebe, weil sie leck wäre und nichts festhalten könne, aus Ungewißheit und Vergeßlichkeit. Dies ist nun gewissermaßen hinreichend wunderlich; es macht aber doch deutlich, was ich dich gern, wenn ich es dir irgend zeigen könnte, überreden möchte zu wechseln, und anstatt des unersättlichen und ausgelassenen und ungebundenen Lebens das besonnene, und mit dem jedesmal vorhandenen sich begnügende zu wählen. Aber wie ist es nun? überrede ich dich wohl und änderst du deine Behauptung dahin, daß die Sittlichen glückseliger sind als die Ungebundenen; oder schaffe ich nichts, sondern wenn ich auch noch soviel dergleichen dichtete, würdest du doch deine Meinung nicht ändern?

KALLIKLES: Dies war richtiger gesprochen, Sokrates.

Bildlicher Vergleich des zügellosen und des besonnenen Lebens

SOKRATES: Wohlan, ich will dir noch ein anderes Bild erklären aus derselben Schule wie das vorige. Gib acht, ob du wohl dies richtig findest von jeder dieser beiden Lebensweisen, der besonnenen und der ungebundenen, wie wenn zwei Menschen jeder viele Fässer hätte. Die des einen wären dicht und angefüllt, eins mit Wein, eins mit Honig, eins mit Milch und viele andere mit vielen anderen Dingen; die Quellen aber von dem allen wären sparsam und schwierig und geben nur mit vieler Mühe und Arbeit etwas her. Jener eine nun hätte seine Fässer voll und leitete nichts weiter hinein, dächte auch gar nicht weiter daran, sondern wäre hierüber ganz ruhig. Der andere aber hätte eben wie jener solche Quellen, die zwar etwas hergeben, aber mit Mühe, seine Gefäße aber wären leck und morsch und er müßte sie Tag und Nacht (494a) anfüllen oder die ärgste Pein erdulden. Willst du nun, wenn es sich mit diesen beiden Lebensweisen so verhält, dennoch sagen, die des Ungebundenen wäre glückseliger als die des Sittlichen? Überrede ich dich etwa hierdurch zuzugeben, das sittliche Leben sei besser als das ungebundene, oder überrede ich dich nicht?

KALLIKLES:
Du überredest mich nicht, Sokrates. Denn für jenen, wenn er seine Fässer voll hat, gibt es gar keine Lust mehr, sondern das heißt eben, wie ich vorher sagte, wie ein Stein leben, wenn alles angefüllt ist weder Lust mehr haben noch Unlust. Sondern darin besteht eben das angenehm leben, daß recht viel hineinfließe.

SOKRATES: So muß doch notwendig, wenn viel einfließen soll, auch des Abgehenden viel sein und gar große Öffnungen für die Ausflüsse?

KALLIKLES: Allerdings.

SOKRATES: Das ist wiederum ein Leben wie einer Ente, was du meinst, freilich nicht wie eines Toten oder eines Steins! Sage mir aber, du meinst es doch so, wie hungern, und wenn man hungert essen?

KALLIKLES: Ja.

SOKRATES: Auch dursten, und wenn man durstet trinken?

KALLIKLES: Auch; und ebenso alle andern Begierden soll man haben und befriedigen können, und so Lust gewinnen und glückselig leben.
Platon, Sämtliche Werke 1, Apologie, Kriton, Protagoras, Ion, Hippias II, Charmides, Laches, Euthyphron, Gorgias (S.238ff.), Briefe . In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 39

Übermensch II: Die Züchtung der Bestmöglichen
Politeia 449a - 461a

Frage des Adeimantes nach der Weiber- und Kindergemeinschaft

( 449a) Gut also nenne ich eine solche Stadt und Verfassung und richtig und so auch einen solchen Mann; schlecht aber und verfehlt die übrigen, wenn diese richtig ist, sowohl was Anordnung der Staaten als auch was Ausbildung der Gemütsart der einzelnen anlangt, und zwar in vier verschiedenen Gestalten der Schlechtigkeit zu finden.
In was doch für welchen? sagte er.
Da war ich im Begriff, sie der Reihe nach herzuzählen, wie mir deutlich war, daß sie eine aus der andern entständen; Polemarchos aber, denn er saß um ein weniges weiter ab als Adeimantos, streckte seine Hand aus, ergriff dessen Oberkleid oben an der Schulter, und indem er so jenen zu sich zog und zugleich sich selbst vorstreckte, sagte er ihm einiges ins Ohr, wovon wir nichts weiter hörten, als nur: Sollen wir es nun gut sein lassen, sagte er, oder was sollen wir tun?
Nichts weniger, sprach Adeimantos, schon laut redend. Da fragte ich: Was doch eigentlich wollt ihr nicht lassen?
Dich! sprach er, weil ich gesagt hatte: Was doch? Du scheinst dir’s bequem zu machen, fuhr er fort, und einen ganzen gar nicht kleinen Teil der Rede zu unterschlagen, den du nicht durchgehn willst und meinst, es soll uns entgehn, daß du so obenhin gesagt hast, wie von Weibern und Kindern schon jedem deutlich sei, daß Freunden alles gemein sein werde.
Habe ich das also nicht richtig gesagt, o Adeimantos?
Ja! sprach er. Allein dieses Richtig sowie das übrige bedarf der Erklärung, welches die Art und Weise der Gemeinschaft sein soll; denn es kann deren gar viele geben. Übergehe also nicht, welche du eigentlich meinst. Denn wir haben schon lange darauf gewartet, in der Meinung, du werdest irgendwo der Kindererzeugung erwähnen, wie sie soll betrieben und wie die Erzeugten aufgezogen werden, und dieser gesamten Gemeinschaft, deren du erwähntest, der Weiber und Kinder. Denn wir denken, daß dies gar vieles, ja wohl alles ausmache für den Staat, je nachdem es richtig oder nicht richtig geschieht. Nun du aber schon zu einer andern Verfassung übergehn willst, ehe du dieses hinreichend auseinandergesetzt, haben wir dieses beschlossen, was du gehört hast, (450a) dich nicht loszulassen, bis du auch dieses alles wie das übrige durchgegangen bist.
Auch von mir, sagte Glaukon, nehmt nur an, daß ich meine Stimme eben dahin abgegeben.
Laß nur, sprach Thrasymachos, und denke immer, daß wir alle dieser Meinung sind, o Sokrates.

Bedenken des Sokrates gegen dieses Thema

Was habt ihr da angerichtet, sprach ich, daß ihr mich so fest haltet! was für eine Rede regt ihr da wieder auf, wie ganz von vorne über die Staatsverfassung über die ich mich als nun schon abgetan freute! sehr zufrieden, wenn einer dieses, wie es damals gesagt worden ist, annehmen und gut sein lassen wollte; was ihr aber jetzt von mir fordert, ohne zu wissen, welchen Schwarm von Reden ihr aufstört, den ich eben voraussehend dieses damals übergehen wollte, damit er uns nicht zuviel Unruhe mache.
Wie doch, sprach Thrasymachos, glaubst du denn, daß diese hieher gekommen sind, um Gold zu finden und nicht um Reden zu hören?
Ja, antwortete ich, aber doch die das Maß halten.
Das Maß, o Sokrates, sprach Glaukon, um solche Reden zu hören, ist ja wohl das ganze Leben für Vernünftige. Also, was uns betrifft, das laß nur! du aber laß es dir ja nicht zuviel werden, das, wonach wir dich fragen, auf jede Weise, wie es dir beliebt, zu erläutern, welches denn für unsere Hüter die Gemeinschaft der Weiber und Kinder sein soll und der Pflege in ihrer ersten Kindheit, während der Zeit zwischen der Geburt und der eigentlichen Erziehung, welche ja die mühvollste zu sein scheint. Übernimm es also, uns zu sagen, wie sie eigentlich soll beschaffen sein.
Das ist nicht leicht, sprach ich, auszuführen, denn es ist gar viel Unglaubliches dabei, noch mehr als bei dem vorher Ausgeführten. Denn schon, daß möglich ist, was vorgetragen wird, dürfte bezweifelt werden; aber wenn es auch sein könnte, so wird doch, daß es so am besten ist, nicht geglaubt werden. Daher ist denn bedenklich, es anzufassen, damit nicht die Rede nun gar wie ein frommer Wunsch erscheine, lieber Freund.
Nur kein Bedenken! sprach er. Denn weder verstockt noch zweifelssüchtig noch übelwollend sind die Zuhörer.
Da fragte ich, o Bester, sagst du das etwa, um mir Mut zu machen?
Freilich, antwortete er.
Du bewirkst aber ganz das Gegenteil, sprach ich. Denn wenn ich mir zutraute, das zu wissen, wovon ich rede, so wäre mir diese Zusprache ganz willkommen. Denn unter vernünftigen und lieben Menschen auch über die wichtigsten und liebsten Dinge das Wahre, was man weiß vortragen, das ist ganz sicher und ohne Gebärde; aber selbst noch ungewiß und suchend zugleich etwas vortragen, wie ich tun soll, das ist bedenklich und unsicher. Nicht etwa, daß man sich lächerlich (451a) mache; denn das ist ja nur kindisch! sondern daß ich nicht der Wahrheit verfehlend, dann nicht nur selbst liege, sondern auch die Freunde mit mir herunterziehe, und das bei solchen Dingen, wo man am wenigsten sollte fehlgetreten haben. Ich will aber die Adrasteia anflehen, o Glaukon, wegen dessen, was ich sagen will. Denn ich achte es für ein geringeres Vergehen, unvorsätzlich jemanden getötet zu haben, als einen verführt in bezug auf das, was schön und gut ist und gerecht und gesetzlich. Eine solche Gefahr also ist besser unter Feinden zu bestehen als Freunden. Also sprichst du mir nicht gut zu.
Da lachte Glaukon und sagte: aber, o Sokrates, wenn uns etwas Unrechtes widerfahren sollte von der Rede, so wollen wir dich lossprechen wie vom Morde, und du sollst rein sein und nicht unser Betrüger. Also sprich nur guten Mutes!
Wohl denn, sagte ich, rein ist ja auch dort der Losgesprochene, wie das Gesetz sagt, wahrscheinlich also wohl wie dort so auch hier.
Rede also, sprach er, was dieses wenigstens betrifft.
So muß ich denn, sagte ich, jetzt von vorne vortragen, was ich vielleicht früher sollte in einer Reihe vorgetragen haben. Denn es wäre wohl ganz richtig gewesen, nachdem das männliche Schauspiel vollständig aufgeführt worden, ebenso auch das weibliche aufzuführen, schon sonst zumal aber du so dazu aufforderst.

Forderung einer gleichen Erziehung in Gymnastik und Musik

Denn für Menschen, welche so geboren und erzogen sind, wie wir es beschrieben haben, gibt es meiner Meinung nach keine andere richtige Art, zu Weibern und Kindern zu gelangen und mit ihnen umzugehn, als indem sie in der Bahn fortschreiten, welche wir zuerst betreten haben. Wir haben aber doch versucht, die Männer als Hüter der Herde in unserer Rede darzustellen?
Ja.
Laß uns also weiter gehn, auch bei ihnen die gleiche Erzeugung und Erziehung anwendend, und zusehn, ob es so ziemt oder nicht.
Wie doch? fragte er.
So. Die weiblichen Schäferhunde betreffend, sollen wir der Meinung sein, sie müßten dasselbe mit hüten, was die männlichen hüten und auch mit jagen und alles andere gemeinsam verrichten? Oder lassen wir sie nur drinnen das Haus hüten, als untüchtig wegen des Gebärens und Ernährens der Jungen, und jene allein sich mühen und die Sorge für die Herde allein haben?
Gemeinsam, antwortete er, alles; nur daß wir sie als die schwächeren gebrauchen und jene als die stärkeren.
Ist es nun wohl möglich, ein Lebendiges zu demselben zu gebrauchen, wenn du ihm nicht auch dieselbe Erziehung und Unterweisung angedeihen läßt?
Nicht möglich.
Wenn wir also die Weiber zu demselben gebrauchen wollen wie die Männer: so müssen wir sie auch dasselbe lehren?
( 452a) Ja.
Und jenen haben wir doch Musik und Gymnastik angewiesen?
Ja.
Auch den Weibern müssen wir also diese beiden Künste und die Kriegsübungen zuteilen und ebenso mit ihnen verfahren?
Natürlich, demzufolge was du sagst, antwortete er.
Es wird aber wohl, sprach ich, gar vieles Ungewohnte lächerlich erscheinen in dem jetzt Behandelten, wenn es ausgeführt worden sein wird, wie es vorgetragen wird.
Gar sehr, antwortete er.
Und welches siehst du wohl als das Lächerlichste darunter? Oder offenbar wohl die nackten Weiber, die sich auf den Übungsplätzen unter den Männern üben, und zwar nicht nur die jungen, sondern gar erst die schon älteren, wie ja auch ältere Männer, wenn sie schon runzlich sind und gar nicht mehr erfreulichen Anblicks, doch noch die Übungen lieben?
Beim Zeus! sagte er, lächerlich würde das freilich erscheinen unter den jetzigen Verhältnissen.
Nicht wahr, aber, sprach ich, da wir einmal angefangen haben zu reden, dürfen wir auch den Spott der witzigen Leute nicht fürchten, was sie alles sagen könnten auf eine solche Veränderung, wenn sie zustande käme in bezug auf die Gymnasien und die Musik und nicht am schlechtesten auch auf das Anlegen der Waffen und das Besteigen der Pferde?
Richtig gesprochen! antwortete er.
Also weil wir angefangen haben zu reden, müssen wir auch nach der Rauhigkeit des Gesetzes gehen, wenn wir jene erst gebeten haben, daß sie einmal nicht möchten das Ihrige tun, sondern ernsthaft sein und ihnen in Erinnerung gebracht, daß es noch nicht lange her ist, als auch den Hellenen schimpflich und lächerlich schien, wie auch jetzt noch den meisten unter den Barbaren, daß sich Männer nackt sehen lassen. Und als zuerst bei den Kretern die Leibesübungen aufkamen und hernach bei den Lakedaimoniern, konnten die damaligen Witzlinge eben dieses alles auch auf Spott ziehen. Oder meinst du nicht?
Ich freilich.
Seitdem es sich aber, denke ich, durch die Erfahrung als besser bewährt hat, sich zu entkleiden, als alles dieses zu verhüllen: so ist auch das für den Anblick Lächerliche verschwunden vor dem durch Gründe angezeigten Besseren; und dieses hat gezeigt, daß derjenige albern ist, der etwas anderes für lächerlich hält als das Schlechte, und wenn er Lachen erregen will, nach irgendeiner anderen Gestalt des Lächerlichen wegen hinsieht als nach der des Unverständigen und Schlechten, oder der sich um etwas ernsthaft bemüht, dabei aber irgendein anderes Ziel vor sich hinstellt als das gute.
Auf alle Weise freilich, sagte er.

Verschiedenheit der männlichen und weiblichen Natur begründeter Einwand
Müssen wir uns also nicht, in bezug auf das Vorliegende, zuerst darüber verständigen, ob es möglich ist oder nicht und den Streit gestatten, mag nun ein Scherzlustiger oder ein Ernsthafter streiten wollen, ob die (453a) weibliche menschliche Natur imstande ist, sich der des männlichen Geschlechtes zuzugesellen in allen Geschäften oder in gar keinem oder in einigen wohl, in anderen aber nicht und zu welchen von beiden dann die kriegerischen gehören? Würde nicht einer so am besten anfangen und dann auch wahrscheinlich am besten zu Ende kommen?
Bei weitem, sagte er.
Sollten wir nun, sprach ich, gegen uns selbst für die andern streiten, damit die entgegengesetzte Meinung nicht belagert werde, ohne daß eine Besatzung darin ist?
Nichts, sagte er, hindert ja.
So laß uns denn für sie so sprechen, o Sokrates und Glaukon, es ist gar nicht nötig, daß andere gegen euch streiten. Denn ihr selbst habt am Anfang der Gründung eurer Stadt eingestanden, daß nach seiner Natur jeder einzelne auch nur ein Geschäft, das ihm eigentümliche, verrichten müsse.
Das haben wir eingestanden, denke ich. Denn wie sollten wir nicht?
Unterscheidet sich nun nicht etwa gar sehr das Weib von dem Manne ihrer Natur nach?
Wie sollte sie sich nicht unterscheiden!
Ziemt sich also nicht, auch jedem von beiden ein anderes Geschäft aufzulegen, das seiner Natur gemäße?
Wie anders?
Wie solltet ihr also jetzt nicht fehlen und euch selbst Widersprechendes sagen, wenn ihr wiederum behauptet, Männer und Weiber müßten dasselbige verrichten, da sie doch eine so sehr voneinander verschiedene Natur haben? Wirst du dich hierauf zu verteidigen wissen, du Vortrefflicher?
So den Augenblick, sagte er, wohl nicht leicht, aber ich werde dich bitten, und ich bitte dich, nun auch, was sich für uns sagen läßt, was es auch immer sei, uns mitzuteilen.
Das ist eben, sprach ich, o Glaukon, und vieles dergleichen, was ich lange voraussah und deshalb Bedenken trug und mich fürchtete, mich mit diesem Gesetz zu befassen über die Art, Weiber und Kinder zu bekommen und aufzuziehn.
Freilich, sagte er, beim Zeus, leicht scheint es auch nicht zu sein.
Gewiß nicht, fuhr ich fort, aber so steht es. Es mag einer in die kleinste Pfütze fallen oder mitten in das größte Meer, so muß er doch um nichts weniger schwimmen.
Ganz gewiß.
Also müssen wir auch schwimmen und versuchen, uns aus dieser Geschichte zu retten, sei es in Hoffnung, daß irgend ein Delphin uns auffangen wird, oder auf irgend eine andere wunderbare Rettung.
So scheint es, sagte er.
So laß uns denn sehen, sprach ich, ob wir irgendwie einen Ausweg finden.
Wir haben nämlich doch eingestanden, jede andere Natur müsse auch ein anderes Geschäft treiben, und eine andere sei die Natur des Mannes und des Weibes und diese verschiedenen Naturen, sagen wir jetzt wieder, sollen einerlei Geschäft treiben, und dies werft ihr uns vor?
Offenbar.
Es ist doch eine herrliche Sache, sprach ich, o Glaukon, um (454a) die Kunst des Widerspruchs.
Wieso?
Weil mir, antwortete ich, viele auch unwillkürlich hinein zu verfallen scheinen, so daß sie keinesweges glauben, Wortgefechte zu führen, sondern philosophisches Gespräch, weil sie nicht imstande sind, nach Begriffen abteilend etwas Gesagtes zu betrachten, sondern nur an dem Wort hängen bleibend den Gegensatz gegen das Gesagte verfolgen und so miteinander wirklich nur in Gezänk und Wortstreit begriffen sind und nicht in ordentlicher Unterredung und Auseinandersetzung der Sache.
So, sagte er, begegnet es allerdings vielen, aber zielt das etwa auch auf uns in dem gegenwärtigen Fall?
Allerdings, sprach ich. Denn wir scheinen auch unwillkürlich in einem Wortstreit befangen.
Wieso?
Daß, was nicht dieselbige Natur hat, auch nicht dieselbigen Geschäfte betreiben soll, das suchen wir gar tapfer und streitfertig dem Worte nach zu verfolgen; wir haben aber auch nicht im mindesten untersucht, welche Art von Verschiedenheit und Einerleiheit der Natur und in Beziehung, worauf wir damals gestimmt haben, als wir der verschiedenen Natur verschiedene Geschäfte, der gleichen aber die gleichen zuteilten.
Das haben wir freilich nicht untersucht, sagte er.
Also, fuhr ich fort, steht es uns wohl frei, wie es scheint uns selbst zu fragen, ob einerlei Natur ist, die der Kahlen und der Behaarten und nicht eine entgegengesetzte und wenn wir gestehn eine entgegengesetzte, dann dürfen wir wohl, wenn die Kahlen das Schuhmachen treiben, es die Behaarten nicht treiben lassen, und wenn die Behaarten, dann nicht die anderen.
Das wäre ja lächerlich, sagte er.
Etwa in anderer Hinsicht lächerlich, sagte ich weiter, als weil wir damals nicht im allgemeinen die selbige und die verschiedene Natur bestimmt haben, sondern uns nur an jene Art der Verschiedenheit und Ähnlichkeit hielten, welche auf die Beschäftigungen selbst ihren Bezug hat? Wie ein Arzt und einer, der eine ärztliche Seele hat, diese, sagten wir, haben einerlei Natur. Oder meinst du nicht?
Ich gewiß.
Aber ein Arzt und ein Zimmermann eine verschiedene?
Auf alle Weise wohl.

Prinzipielle Gleichheit der männlichen und weiblichen Anlagen

Nicht auch, sprach ich, das Geschlecht der Männer und der Frauen, wenn sich in bezug auf eine Kunst oder ein anderes Geschäft eines vom andern verschieden zeigt, werden wir sagen, daß man dies nur einem von beiden zuteilen müsse; wenn sich aber zeigt, daß sie dadurch allein verschieden sind, daß der Mann erzeugt und das Weib gebärt: so werden wir sagen, es sei dadurch um nichts mehr bewiesen, daß in bezug auf das, wovon wir reden, das Weib von dem Mann verschieden sei, sondern wir werden noch ferner glauben, daß unsere Hüter und ihre Frauen dasselbe betreiben müssen.
Und mit Recht, sagte er.
Und nicht wahr, nach diesem werden wir dem, der das Gegenteil behauptet, aufgeben, (455a) uns eben dieses zu lehren, in bezug auf welche Kunst oder welches Geschäft von denen, die zur Erhaltung des Staates gehörte, die Natur des Weibes und des Mannes nicht dieselbige sei, sondern eine verschiedene?
Das ist ganz billig.
Nun könnte aber, was du vor kurzem sagtest, auch wohl ein anderer sagen, daß dies auf der Stelle hinreichend zu bestimmen nicht leicht sei, nach gehöriger Überlegung aber nicht schwer.
Das könnte einer freilich.
Sollen wir also den, der uns dergleichen entgegenstellt, bitten, uns zu folgen, ob wir vielleicht ihm zeigen können, daß es gar kein besonderes Geschäft für das Weib gibt in dem, was den Staat betrifft?
Das will ich wohl.
So komm denn, wollen wir zu ihm sprechen und antworte. Meintest du es etwa so, daß einer von Natur geschickt zu etwas ist und der andere ungeschickt, inwiefern der eine leicht etwas lernt, und der andere schwer? Und der eine nach kurzem Unterricht schon sehr erfinderisch wird in dem, was er gelernt hat, der andere aber auch, wenn viel Unterweisung und Mühe an ihn gewendet ist, nicht einmal, was er gelernt hat, behalten kann? Und dem einen die körperliche Beschaffenheit zustatten kommt für seine Absicht, dem andern aber entgegen ist? Gibt es wohl irgend etwas anderes als dieses, wodurch du in jeder Sache den, der von Natur dazu geschickt ist, und der nicht, unterscheiden kannst?
Keiner, sprach er, wird wohl etwas anderes anführen können.
Weißt du nun irgend etwas von Menschen Betriebenes, worin nicht dieses alles das Geschlecht der Männer vorzüglich hat vor dem der Weiber? Oder sollen wir erst weitläufig sein und die Weberei anführen und die Bereitung des Gebäckes und Geköches, worin ja das weibliche Geschlecht sich auszuzeichnen scheint, so daß es fast lächerlich herauskommt, daß es auch hierin übertroffen wird.
Ganz richtig, antwortete er, sagst du, daß, um es kurz zu sagen, in alledem gar sehr das eine Geschlecht von dem andern übertroffen wird. Viele Frauen mögen zwar in vielem besser sein als viele Männer, im ganzen aber verhält es sich, wie du sagst.
Also, o Freund, gibt es gar kein Geschäft, von allen, durch die der Staat besteht, welches dem Weibe als Weib oder dem Manne als Mann angehörte, sondern die natürlichen Anlagen sind auf ähnliche Weise in beiden verteilt, und an allen Geschäften kann das Weib teilnehmen ihrer Natur nach, wie der Mann an allen; in allen aber ist das Weib schwächer als der Mann.
Freilich.
Wollen wir also den Männern alles auftragen und dem Weibe nichts?
Woher doch?
Sondern wirklich ist, denke ich, wie wir behaupten werden, die eine Frau von Natur ärztlich und die andere nicht, und die eine tonkünstlerisch, die andere unkünstlerisch von Natur.
Wie anders?
Und auch wohl gymnastisch die eine und kriegerisch, (456a) die andere aber unkriegerisch und ohne Liebe zur Gymnastik?
So denke ich gewiß.
Und wie nicht auch Weisheit liebend und verachtend? und mutartig die eine wie die andere mutlos?
Auch das findet statt.
Also ist auch eine Frau zur Staatshut geschickt und die andere nicht? Oder haben wir nicht ebenso auch eine besondere Natur der zur Staatshut tauglichen Männer angenommen?
Allerdings eine solche.
So haben also Mann und Weib dieselbe Natur, vermöge deren sie geschickt sind zur Staatshut, außer inwiefern die eine schwächer ist, die andere stärker?
So zeigt es sich.

Die gleiche Erziehung ist nicht nur möglich, sondern auch das Beste

Also müssen solchen Männern auch solche Weiber ausgewählt werden, um mit ihnen zu leben und mit ihnen die Hut zu versehen, wenn sie doch dazu tauglich und ihnen verwandt sind, ihrer Natur nach.
Freilich.
Und müssen nicht gleichen Naturen auch gleiche Übungen zugeteilt werden?
Gleiche.
So kommen wir also wiederum auf das Frühere zurück und bekennen, es sei nicht gegen die Natur, den Weibern der Hüter Musik und Gymnastik zuzuteilen.
Allerdings.
Wir haben also nicht Unmögliches oder leeren Wünschen Ähnliches als Gesetz aufgestellt, da wir ja der Natur gemäß das Gesetz gefaßt haben; sondern was jetzt dem entgegen geschieht, scheint mehr gegen die Natur zu sein.
So scheint es.
Und unsere Untersuchung war doch, ob wir Mögliches vorschlügen und Bestes.
Das war sie.
Daß es nun Mögliches war, ist eingestanden.
Ja.
Daß aber auch Bestes, darüber müssen wir uns nächstdem verständigen.
Offenbar.
Nicht wahr nun, daß eine Frau zur Staatshut geschickt werde, dazu wird uns nicht eine andere Erziehung dienen und wieder eine andere die Männer dazu machen, zumal sie ja die gleiche Natur an beiden überkommt?
Keine andere.
Wie denkst du aber hierüber?
Worüber?
Ob du bei dir selbst annimmst, daß ein Mann besser ist und der andre schlechter? Oder gelten sie dir alle gleich?
Keineswegs.
In der Stadt also, die wir gegründet haben, glaubst du, daß uns die Hüter zu besseren Männern ausgebildet worden sind, da ihnen ja die beschriebene Erziehung angediehen ist, oder die Schuster, die schusterhaft erzogen sind?
Das ist ja eine lächerliche Frage, antwortete er.
Ich verstehe, sagte ich. Aber wie? Sind diese nicht unter allen Bürgern die kräftigsten?
Bei weitem.
Und wie? Werden nun nicht dieselbigen Frauen auch unter den Frauen die besten sein?
Auch das, sagte er, bei weitem.
Und gibt es etwas Vorzüglicheres für den Staat, als daß er Männer und Frauen so treffliche als möglich besitze?
Das gibt es nicht.
Dieses also werden Musik und Gymnastik, angewendet, wie wir (457a) es beschrieben haben, bewirken.
Wie sollten sie nicht!
Nicht nur Mögliches also, sondern auch Bestes haben wir in unserer Stadt gesetzlich geordnet.
So ist es.
Mögen sich also immer die Frauen unserer Hüter entkleiden, da sie ja Tugend statt des Gewandes überwerfen werden, und mögen teilnehmen am Kriege und an der übrigen Obhut über die Stadt und mögen anderes nicht verrichten. Hiervon aber wollen wir das Leichtere den Weibern zuteilen vor den Männern, wegen des Geschlechtes Schwäche. Ein Mann aber, welcher lacht über entkleidete Frauen, die sich des Besten wegen auf diese Art üben, und der sich des Lächerlichen unreife Frucht von seiner Weisheit pflückt, weiß, wie man wohl sieht, nicht, worüber er lacht, noch was er tut. Denn aufs trefflichste ist dieses gesagt und wird auch immer so gesagt bleiben, daß das Nützliche schön ist und das Schädliche häßlich.
Auf alle Weise gewiß. —

Die Weiber- und Kindergemeinschaft
Das wäre also gleichsam eine Welle, über die wir uns rühmen können glücklich hinweggekommen zu sein in unserer Verteidigung des Gesetzes über die Weiber, so daß wir doch nicht ganz sind verschlungen worden, indem wir festsetzten, Hüter und Hüterinnen sollten uns gemeinsam dasselbe betreiben, sondern daß die Rede gewissermaßen für sich selbst Zeugnis abgelegt hat, daß sie Mögliches und Nützliches vorträgt.
Und gewiß, sagte er, über keine kleine Welle bist du da hinweggekommen.
Du wirst wohl gestehen, sagte ich, daß sie nicht groß ist, wenn du auf das Folgende siehst.
Rede nur, damit ich es sehe, sagte er.
Hiermit nun, sprach ich, und mit dem übrigen Vorhergegangenen hängt meiner Meinung nach zusammen folgende Einrichtung.
Welche?
Daß diese Weiber alle, allen diesen Männern gemein seien, keine aber irgendeinem eigentümlich beiwohne, und so auch die Kinder gemein, so daß weder ein Vater sein Kind kenne, noch auch ein Kind seinen Vater.
Allerdings, sagte er, übertrifft diese bei weitem noch jene an Unglaublichkeit, sowohl was das Mögliche betrifft, als was das Nützliche.
Ich denke nicht, sprach ich, daß man über die Nützlichkeit streiten werde, daß es nicht ganz vorzüglich gut sein müßte, wenn die Frauen gemein wären und die Kinder gemein, wenn es nur möglich wäre; aber darüber denke ich, ob es möglich ist oder nicht, wird der meiste Streit entstehen.
Über beides, sprach er, ließe sich wohl tüchtig streiten.
Das ist ja eine Rotte von Reden, die du mir ankündigst! sprach ich. Ich aber dachte, ich wollte der einen wenigstens entwischen, wenn die Sache auch dir schiene nützlich zu sein, und es werde mir nur die andere übrigbleiben über die Möglichkeit.
Aber ich merkte wohl, sprach er, daß du entwischen wolltest; also gib nur Rede über beides.
Ich muß ja wohl, sprach ich, meine Strafe ausstehen. Nur das eine tue mir zu Gefallen, laß mich einmal (458a) mir gütlich tun, wie die Faulen von Gemüt sich pflegen selbst zu bewirten, wen sie für sich allein gehen. Denn dergleichen Leute pflegen, ehe sie noch ausgefunden haben, auf welche Weise wohl etwas, wonach sie streben, zustande kommen soll, dies übergehend, damit sie sich nicht plagen dürfen mit Überlegungen über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, anzunehmen, das sei schon da, was sie wünschen, und so ordnen sie dann das übrige an und ergötzen sich an Vorstellungen davon, was sie alles tun werden, wenn es da sein wird, wodurch sie denn ihre schon sonst träge Seele noch träger machen. Nun bin auch ich jetzt schon etwas weichlich, und möchte gern jenes aufschieben, und erst später überlegen, ob es möglich ist; jetzt aber, angenommen die Möglichkeit, betrachten, wenn du es mir gestatten willst, wie wohl die Oberen es anordnen werden, und daß es dann den Staat und seinen Hütern, wenn es so ausgeführt wird, überaus zuträglich sein muß. Dieses möchte ich zuerst mit dir versuchen durchzudenken, jenes aber hernach, wenn du es zufrieden bist.
Freilich bin ich es zufrieden, sagte er, tue es nur.

Einrichtung der Hochzeiten

Ich denke also, sprach ich, wenn doch die Oberen dieses Namens wert sein sollen und ihre Gehilfen gleichfalls, so werden ja wohl die einen in der Art haben, das Befohlene zu tun, die andern aber werden befehlen, so daß sie den Gesetzen teils selbst gehorchen, teils in allem, was wir ihnen selbst freigestellt haben, sie nachbilden.
Wahrscheinlich, sagte er.
Also du, sprach ich, als Gesetzgeber wirst, wie du die Männer ausgewählt hast, so auch die Frauen auswählen und sie soviel als möglich gleicher Natur ihnen übergeben. Sie aber, wie sie denn gemeinsame Wohnungen und Speisungen haben, und keiner etwas der Art für sich allein besitzt, werden also zusammen sein. Und wenn sie sich so zusammenfinden auf den Übungsplätzen und im übrigen Leben, werden sie, denke ich, durch die eingeborene Notwendigkeit getrieben werden, sich miteinander zu vermischen. Oder scheine ich dir nicht ganz Notwendiges zu sagen?
Nicht zwar, antwortete er, nach geometrischer Notwendigkeit, aber doch nach der des Geschlechtstriebes, welche noch weit strenger als jene scheint, den großen Haufen zu überreden und zu bewegen.
Gewiß antwortete ich. Weiter aber, o Glaukon, ohne Ordnung sich zu vermischen oder irgend sonst etwas auf diese Art zu tun, kann wohl weder für fromm geachtet sein in einer Stadt von Seligen, noch werden es die Oberen zulassen.
Das wäre freilich unrecht, sagte er.
Offenbar also haben wir nächstdem Hochzeiten auszurichten, und zwar so heilige als möglich; heilig aber würden wohl die heilsamsten sein.
Auf alle Weise freilich.
( 459a) Wie also werden sie am heilsamsten sein? das sage mir, o Glaukon. Denn ich sehe ja in deinem Hause sowohl Jagdhunde, als auch von dem edlen Geflügel gar mancherlei. Hast du also wohl auf etwas acht gegeben bei ihren Hochzeiten und Kindererzeugungen?
Worauf doch? fragte er.

Zuerst, wiewohl sie alle edel sind, sind nicht auch unter ihnen doch und werden immer einige die besten?
Gewiß.
Erzielst du nun aus allen ohne Unterschied Nachkommenschaft, oder strebst du nicht wenigstens darnach, daß es soviel als möglich nur aus den Besten geschehe?
Aus den Besten.
Und aus den Jüngsten oder Ältesten, oder denen, die am meisten in der Blüte der Jahre sind?
Aus den Blühendsten.
Und wenn es nicht so geschieht, so glaubst du, daß sich dir der Schlag der Hunde sowohl als der Vögel gar sehr verschlechtern werde?
Ich gewiß, sagte er.
Und was meinst du, sprach ich, von den Pferden und den übrigen Tieren? Etwa, daß es sich anders mit ihnen verhalte?
Das wäre ja unerhört, sprach er.
O weh, sprach ich, lieber Freund, wie ausnehmend vollkommen werden dann unsere Oberen sein müssen, wenn es sich mit dem menschlichen Geschlecht ebenso verhält.
Das tut es freilich gewiß, sagte er. Aber was weiter?
Weil sie notwendig, sprach ich, viele Mittel werden anwenden müssen. Und das glauben wir doch, daß für Körper, die keiner Arzneien bedürfen, sondern nur einer guten Lebensordnung willig zu folgen, alsdann auch wohl ein schlechterer Arzt hinreichen könne, wenn aber Arzneien müssen angewendet werden, dann wissen wir, bedarf es eines tüchtigen Arztes.
Richtig. Aber weshalb sagst du das?
Deshalb, sprach ich. Es scheint, daß unsere Herrscher allerlei Täuschungen und Betrug werden anwenden müssen zum Nutzen der Beherrschten. Und wir sagten ja, alles dergleichen sei nur nach Art der Arznei üblich.
Und ganz richtig wohl, sagte er.
Bei den Hochzeiten nun und der Kindererzeugung scheint dies Richtige gar nicht in geringem Maß vorzukommen.
Wieso?
Nach dem Eingestandenen sollte jeder Trefflichste der Trefflichsten am meisten beiwohnen, die Schlechtesten aber den ebensolchen umgekehrt; und jener Sprößlinge sollten aufgezogen werden, dieser aber nicht, wenn uns die Herde recht edel bleiben soll; und dies alles muß völlig unbekannt bleiben, außer den Oberen selbst, wenn die Gesamtheit der Hüter soviel möglich durch keine Zwietracht gestört werden soll.
Das ist ganz richtig, sagte er.
Also werden gewisse Feste gesetzlich eingeführt werden, an welchen wir die neuen Ehegenossen beiderlei Geschlechts zusammenführen werden, und Opfer und Gesänge sollen unsere Dichter dichten, wie sich für die zu feiernden Hochzeiten schicken. (460a) Die Menge aber der Hochzeiten wollen wir den Oberen freistellen, damit diese, indem sie Kriege und Krankheiten und alles dergleichen mit in Anschlag bringen, uns möglichst dieselbe Anzahl von Männern erhalten, und so der Staat nach Möglichkeit weder größer werde noch kleiner.
Richtig, sagte er.
Und dann, denke ich, müssen wir stattliche Lose machen, damit bei jeder Verbindung jener Schlechtere dem Glück die Schuld beimesse und nicht den Oberen.
Ei freilich, sagte er.

Aufzucht der Kinder und Bestimmungen über erlaubte Kindererzeugung
Und denen Jünglingen, die sich wacker im Kriege oder sonstwo gezeigt haben, sind auch andere Gaben zwar und Preise zuzuteilen, aber auch eine reichlichere Erlaubnis zur Beiwohnung der Frauen, damit zugleich auch unter gerechtem Vorwand die meisten Kinder von solchen erzeugt werden.
Richtig.
Weiter nun, die jedesmal geborenen Kinder nehmen die dazu bestellten Obrigkeiten an sich, bestehen sie nun aus Männern oder Frauen, oder beiden, denn die Ämter sind ja auch Frauen und Männern gemeinsam.
Ja.
Die der guten nun, denke ich, tragen sie in das Säugehaus zu Wärterinnen, die in einem besondern Teil der Stadt wohnen, die der schlechteren aber, und wenn eines von den andern verstümmelt geboren ist, werden sie, wie es sich ziemt, in einem unzugänglichen und unbekannten Orte verbergen.
Wenn doch, sagte er, das Geschlecht unserer Hüter ganz rein sein soll.
Diese werden also auch für die Nahrung sorgen, indem sie die Mütter, wenn sie von Milch strotzen, in das Säugehaus führen, so jedoch, daß sie auf alle ersinnliche Weise verhüten, daß keine das ihrige erkenne, und indem sie, wenn jene nicht hinreichen, noch andere Säugende herbeischaffen. Und auch dafür werden sie sorgen, daß die Mütter nur angemessene Zeitlang stillen, die Nachtwachen aber und die übrige beschwerliche Pflege werden sie Wärterinnen und Kinderfrauen auftragen.
Gar große Bequemlichkeit des Gebärens, sagte er, bereitest du ja den Frauen der Hüter.
Das gebührt sich auch, sprach ich. Laß uns nun aber auch das weitere durchgehen, was wir wollten. Denn wir sagten doch, von Blühenden und Vollkräftigen müßten die Kinder erzeugt werden?
Richtig.
Dünkt dich das nun auch die rechte Zeit der vollen Kraft, zwanzig Jahre für die Frau und dreißig Jahre für den Mann?
Aber welche?
Daß die Frau mit dem zwanzigsten Jahre anfangend, bis zum vierzigsten dem Staat gebäre, der Mann aber die Zeit der größten Stärke im Laufen übergehen lasse, und von da an dem Staat erzeuge bis zum fünfundfünfzigsten Jahre.
( 461a) Für beide ist wohl dies, sagte er, die kräftigste Zeit des Körpers und auch des Verstandes.
Also wenn, gleichviel ob ein Älterer oder ein Jüngerer als so, sich mit der Erzeugung für das Gemeinwesen befaßt, wollen wir sagen, es sei eine unheilige und widerrechtliche Vergehung, dem Staate ein Kind zeugen, welches, wenn es unbemerkt ans Licht kommt, nicht wird unter Opfern und Gebeten erzeugt sein, wie bei jeder Verheiratung Priester und Priesterinnen und der ganze Staat sie zu beten pflegen. daß aus guten bessere und aus brauchbaren immer brauchbarere Nachkommen entstehen mögen, sondern welches im Dunkeln aus sträflicher Unmäßigkeit wird erzeugt sein.
Richtig, sagte er.
Und dasselbe wird doch auch gelten, fuhr ich fort, wenn einer von den noch Erzeugenden die Frauen, die noch in den fruchtbaren Jahren sind, berührt, ohne daß der Obere sie mit ihm verbunden hat. Denn auch von einem solchen Kinde werden wir festsetzen, es gelte dem Staat für unecht und unheilig und ohne Verlöbnis erzeugt.
Ganz richtig, sagte er.
Wenn aber, denke ich, Frauen und Männer erst das Alter der Fruchtbarkeit überschritten haben, dann wollen wir letzteren frei lassen, sich zu vermischen, mit welcher sie wollen, nur mit keiner Tochter oder Mutter oder Tochterkind oder über die Mutter hinaus, und den Frauen ebenfalls nur mit keinem Sohn oder Vater, und die mit diesen in auf- und jenen in absteigender Linie zusammenhängen. Und nachdem wir ihnen dies alles anbefohlen, mögen sie dann dafür sorgen, am liebsten nichts Empfangenes, wenn sich dergleichen findet, ans Licht zu bringen, sollte es aber nicht zu verhindern sein, dann es auszusetzen, weil einem solchen keine Auferziehung gestattet wird.
Auch das, sagte er, ist der Sache angemessen verordnet. Aber ihre Väter und Töchter und was du sonst eben anführtest, wie sollen sie denn die erkennen?
Gar nicht, sprach ich, sondern soviel Kinder geboren werden zwischen dem siebenten und zehnten Monat von jenem Tage an, da einer Ehemann geworden ist, alle diese soll er die männlichen Söhne und die weiblichen Töchter nennen, und sie ihn Vater, und so auch die Kinder von diesen Enkeln und sie ihn Großvater und so auch Großmutter, und die in der Zeit geborenen, in der ihre Väter und Mütter noch fruchtbar waren, Brüder und Schwestern; so daß die bisher angeführten einander nicht berühren dürfen, Brüdern aber und Schwestern wird das Gesetz gestatten, einander beizuwohnen, wenn das Los so fällt und die Pythia es bestätigt.
Vollkommen richtig, sagte er.
Aus: Platon, Sämtliche Werke 3, Phaidon, Politea (S.172-182 Politea) In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung,
herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 27


Der Mythos von Atlantis I
Timaios 21a – 25a
KRITIAS: So vernimm denn, Sokrates, eine gar seltsame, aber durchaus in der Wahrheit begründete Sage, wie einst der weiseste unter den Sieben, Solon, erklärte. Dieser war nämlich, wie er selbst häufig in seinen Gedichten sagt, unserem Urgroßvater Dropides sehr vertraut und befreundet; der aber erzählte wieder unserm Großvater Kritias, wie der alte Mann wiederum uns zu berichten pflegte, daß gar große und bewunderungswürdige Heldentaten unserer Vaterstadt aus früher Vergangenheit durch die Zeit und das Dahinsterben der Menschen in Vergessenheit geraten seien, vor allem aber eine, die größte, durch deren Erzählung wir dir wohl uns auf (21 a) eine angemessene Weise dankbar zu bezeigen und zugleich die Göttin bei ihrem Feste nach Gebühr und Wahrheit wie durch einen Festgesang zu verherrlichen vermöchten.

SOKRATES: Wohl gesprochen! Welches ist denn aber die Heldentat, von welcher Kritias als von einer nicht bloß in einer Sage erhaltenen, sondern einst von unserer Vaterstadt wirklich, wie Solon vernommen hatte, vollbrachten erzählte?

Der Bericht des Solon über sein Bekanntwerden mit alter ägpptischer Überlieferung
KRITIAS: Ich will eine alte Sage berichten, die ich aus dem Munde eines eben nicht jungen Mannes vernahm; denn Kritias war damals, wie er sagte, fast an die Neunzig heran, und ich stand etwa im zehnten Jahre; es war aber gerade der Einzeichnungstag des Täuschungsfestes. Die für uns Knaben herkömmliche Festfeier fand auch diesmal statt; unsere Väter setzten uns nämlich Preise beim Vortragen von Gesängen aus. Da wurden nun viele Gedichte vieler Dichter hergesagt, und als etwas zu jener Zeit Neues sangen viele von uns Knaben auch die Gedichte Solons ab. Da sagte denn einer der Gemeindenachbarn, ob nun damals das seine Ansicht war oder ob er dem Kritias etwas Angenehmes sagen wollte: seinem Bedünken nach sei Solon nicht bloß im Übrigen der größte Weise, sondern auch unter allen Dichtern der großsinnigste gewesen. Den alten Mann, recht gut erinnere ich mich dessen, freute das höchlich, und lächelnd erwiderte er: Wenn er nur, Freund Amynandros, das Dichten nicht als Nebensache, sondern wie andere mit vollem Ernst betrieben und die Sage, die er aus Ägypten mit hierherbrachte, angeführt hätte, nicht aber durch Aufstände und anderes Ungehörige, was er bei seiner Rückkehr hier vorfand, das liegenzulassen genötigt worden wäre; dann hätte wohl, meiner Meinung nach, weder Hesiodos, noch Homeros noch sonst ein Dichter einen höheren Dichterruhm erlangt als er.

Was war denn das für eine Sage, Kritias? fragte er.

Gewiß die größte und mit dem vollsten Rechte wohl vor allem gepriesenste Heldentat betreffend, die zwar unsere Stadt vollbrachte, von der jedoch die Kunde, wegen der Länge der Zeit und des Untergangs derer, die sie vollführten, nicht bis zu uns gelangte.

Erzähle, bat ihn der andere, von Anbeginn an, was und wie und von wem hatte das als eine wahre Begebenheit Solon vernommen, was er erzählte.

Es ist in Ägypten, entgegnete er, im Delta, an dessen Spitze der Nil sich spaltet, ein Gau, der der Saitische heißt und dessen größte Stadt Sais ist, aus welcher auch der König Amasis stammte. Diese Stadt hat eine Schutzgöttin, in ägyptischer Sprache Neith, in hellenischer, wie jene sagen, Athene geheißen. Die Bewohner aber sagen, sie seien große Athenerfreunde und mit den hiesigen Bürgern gewissermaßen verwandt. (22 a) Dorthin, erzählte Solon, sei er gereist habe da eine sehr ehrenvolle Aufnahme gefunden und, als er die der Sache am meisten kundigen Priester über die alten Zeiten befragt, erkannt, daß so ziemlich weder er noch sonst einer der Hellenen von dergleichen Dingen das geringste wisse. Einmal habe er aber, um sie zu Erzählungen von den alten Zeiten zu veranlassen, von den ältesten Geschichten des hiesigen Landes zu berichten begonnen, vom Phoroneus, den man den Ersten nennt, und von der Niobe, ferner nach der Wasserflut die Sage von Deukalion und Pyrrha, wie sie glücklich durchkamen. Er habe ihre Nachkommenschaft aufgezählt und, indem er der bei dem Erzählten verstrichenen Jahre gedachte, die Zeitangaben festzustellen versucht. Da habe ein hochbejahrter Priester gesagt: ach, Solon, Solon! Ihr Hellenen bleibt doch immer Kinder, zum Greise aber bringt es kein Hellene. — Wieso? Wie meinst du das? habe er, als er das hörte, gefragt. — Jung in den Seelen, habe jener erwidert, seid ihr alle: denn ihr hegt in ihnen keine alte, auf altertümliche Erzählungen gegründete Meinung noch ein durch die Zeit ergrautes Wissen. Davon liegt aber darin der Grund. Viele und mannigfache Vernichtungen der Menschen haben stattgefunden und werden stattfinden, die bedeutendsten durch Feuer und Wasser, andere, geringere, durch tausend andere Zufälle. Das wenigstens, was auch bei euch erzählt wird, daß einst Phaethon, der Sohn des Helios, der seines Vaters Wagen bestieg, die Oberfläche der Erde, weil er die Bahn des Vaters einzuhalten unvermögend war, durch Feuer zerstörte, selbst aber, vom Blitze getroffen, seinen Tod fand, das wird wie ein Märchen berichtet; das Wahre daran beruht aber auf der Abweichung der am Himmel um die Erde kreisenden Sterne und der nach langen Zeiträumen stattfindenden Vernichtung des auf der Erde Befindlichen durch mächtiges Feuer. Dann pflegen demnach diejenigen, welche Berge und hoch und trocken gelegene Gegenden bewohnen, eher als die an Flüssen und dem Meere Wohnenden unterzugehen, uns aber rettet der auch sonst uns Heil bringende Nil durch sein Übertreten aus solcher Not. Wenn dagegen die Götter die Erde, um sie zu läutern, mit Wasser überschwemmen, dann kommen die Rinder- und Schafhirten auf den Bergen davon, die bei euch in den Städten Wohnenden dagegen werden von den Strömen in das Meer fortgerissen. Hierzulande aber ergießt sich weder dann noch bei andern Gelegenheiten Wasser von oben her über die Fluren, sondern alles pflegt von Natur von unten herauf sich zu erheben. (23 a) Daher und aus diesen Gründen habe sich, sagt man, das hier Aufbewahrte als das älteste erhalten; das Wahre aber ist, allerorten, wo es nicht eine übermäßige Kälte oder Hitze verbietet, lebt eine bald größere, bald kleinere Zahl von Menschen; was sich aber, sei es bei euch oder hier oder in andern Gegenden, von denen uns Kunde ward, Schönes und Großes oder in einer andern Beziehung Merkwürdiges begab, das alles ist von alten Zeiten her hier in den Tempeln aufgezeichnet und aufbewahrt. Bei euch und andern Völkern dagegen war man jedesmal eben erst mit der Schrift und allem andern, dessen die Staaten bedürfen, versehen, und dann brach, nach Ablauf der gewöhnlichen Frist, wie eine Krankheit eine Flut vom Himmel über sie herein und ließ von euch nur die der Schrift Unkundigen und Ungebildeten zurück, so daß ihr vom Anbeginn wiederum gewissermaßen zum Jugendalter zurückkehrt, ohne von dem etwas zu wissen, was so hier wie bei euch zu alten Zeiten sich begab. Was du daher eben von den alten Geschlechtern unter euch erzähltest, o Solon, unterscheidet sich nur wenig von Kindergeschichten, da ihr zuerst nur einer Überschwemmung, deren vorher doch viele stattfanden, euch erinnert. So wißt ihr ferner auch nicht, daß das unter Menschen schönste und trefflichste Geschlecht in euerm Lande entsproß, dem du entstammst und euer gesamter jetzt bestehender Staat, indem einst ein winziger Same davon übrigblieb. Das blieb vielmehr euch verborgen, weil die am Leben Erhaltenen viele Menschengeschlechter hindurch der Sprache der Schrift ermangelten. Denn einst, o Solon, vor der größten Verheerung durch Überschwemmung, war der Staat, der jetzt der athenische heißt, der tapferste im Kriege und vor allen durch eine gute gesetzliche Verfassung ausgezeichnet; er soll unter allen unter der Sonne, von denen die Kunde zu uns gelangte, die schönsten Taten vollbracht, die schönsten Staatseinrichtungen getroffen haben. Mit Verwunderung habe Solon, erzählte er selbst, das vernommen und inständigst die Priester gebeten, ihm der Reihe nach genau alles seine Mitbürger aus alter Zeit Betreffende zu berichten. Diesen Bericht, habe der Priester gesagt, will ich dir nicht mißgönnen, Solon, sondern um deiner selbst und deiner Vaterstadt willen dir ihn mitteilen, vorzüglich aber der Göttin zuliebe, welcher euer Land und dieses hier zum Lose fiel und die beide gedeihen ließ und heranbildete, das eure um tausend Jahre früher, indem sie den Samen eures Volkes vom Hephaistos und der Erde überkam, das hiesige später. Die Zahl der Jahre aber seit der hier bestehenden Einrichtung unseres Staates ist in der geweihten Schrift auf achttausend Jahre angegeben. (24 a) Von deinen vor neuntausend Jahren lebenden Mitbürgern nun will ich dir ganz kurz die Gesetze und die schönste Heldentat, die von ihnen vollbracht ward, berichten; das Genauere über alles aber wollen wir später der Reihe nach, indem wir die Schriften selber zur Hand nehmen, erörtern. Auf ihre Gesetze mache einen Schluß von den hier geltenden; denn viele den damals bei euch bestehenden ähnliche wirst du jetzt hier vorfinden, zuerst den von den übrigen getrennten Stand der Priester, dann den der Werkmeister, deren jeder, von dem andern getrennt, sein eigenes Geschäft betreibt, sowie den der Hirten und Jäger und Landwirte; auch den Stand der Krieger, dem vom Gesetze der Auftrag ward, um weiter nichts als um den Krieg sich zu kümmern, siehst du doch wohl hier von jedem anderen geschieden. Ferner ist auch die Art der Rüstung mit Schild und Speer dieselbe, deren wir unter den Bewohnern Asiens zuerst uns bedienten, indem die Göttin sie uns, wie euch in dortiger Gegend zuerst, lehrte. Was aber die Verstandesbildung anbetrifft, siehst du wohl, welche Sorgfalt die hiesige Gesetzgebung sogleich von Anbeginn an ihr widmete in bezug sowohl auf die Weltordnung, indem sie alles insgesamt, bis auf die Seher- und Heilkunst zur Gesundheit, aus diesen göttlichen Dingen für die menschlichen Angelegenheiten herleitete und auch in den Besitz aller andern damit verbundenen Kenntnisse sich setzte. Insofern also die Göttin euch zuerst diese gesamte Anordnung und Ausbildung verlieh, wies sie euch auch euern Wohnsitz an und wählte die Stätte, der ihr entsprossen seid, dazu aus, weil sie in der Jahreszeiten günstigem Wechsel erkannte, daß sie die verständigsten Bewohner erzeugen werde. Als dem Kriege und der Weisheit hold, wählte die Göttin diejenige Stätte aus, die bestimmt war, die ihr zunächst kommenden Menschen zu erzeugen, und gründete da zuerst einen Staat. In diesem lebtet ihr also unter solchen Gesetzen und einer noch vollkommeneren Verfassung, in jeder Tugend vor allen Menschen ausgezeichnet, wie es sich von euch, als Abkömmlingen und Zöglingen der Götter, erwarten ließ. Demnach erregen viele und große von euch hier aufgezeichnete Heldentaten eurer Vaterstadt Bewunderung, vor allem aber zeichnet sich eine durch ihre Bedeutsamkeit und den dabei bewiesenen Heldenmut aus; denn das Aufgezeichnete berichtet, eine wie große Heeresmacht dereinst euer Staat überwältigte, welche von dem Atlantischen Meere her übermütig gegen ganz Europa und Asien heranzog. Damals war nämlich dieses Meer schiffbar; denn vor dem Eingange, der, wie ihr sagt, die Säulen des Herakles heißt, befand sich eine Insel, größer als Asien und Libyen zusammengenommen, von welcher den damals Reisenden der Zugang zu den übrigen Inseln, von diesen aber zu dem ganzen gegenüberliegenden, an jenem wahren Meere gelegenen Festland offenstand. (25 a) Denn das innerhalb jenes Einganges, von dem wir sprechen, Befindliche erscheint als ein Hafen mit einer engen Einfahrt; jenes aber wäre wohl wirklich ein Meer, das es umgebende Land aber mit dem vollsten Rechte ein Festland zu nennen. Auf dieser Insel Atlantis vereinte sich auch eine große, wundervolle Macht von Königen, welcher die ganze Insel gehorchte sowie viele andere Inseln und Teile des Festlandes; außerdem herrschte sie auch innerhalb, hier in Libyen bis Ägypten, in Europa aber bis Tyrrhenien. Diese in eins verbundene Gesamtmacht unternahm es nun einmal, euer und unser Land und das gesamte diesseits des Eingangs gelegene durch einen Heereszug zu unterjochen. Da nun, o Solon, wurde das Kriegsheer eurer Vaterstadt durch Tapferkeit und Mannhaftigkeit vor allen Menschen offenbar. Denn indem sie durch Mut und die im Kriege anwendbaren Kunstgriffe alle übertraf, geriet sie, teils an der Spitze der Hellenen, teils, nach dem Abfalle der übrigen, notgedrungen auf sich allein angewiesen, in die äußersten Gefahren, siegte aber und errichtete Siegeszeichen über die Heranziehenden, hinderte sie, die noch nicht Unterjochten zu unterjochen, uns übrigen insgesamt aber, die wir innerhalb der Heraklessäulen wohnen, gewährte sie großzügig die Befreiung. Indem aber in späterer Zeit gewaltige Erdbeben und Überschwemmungen eintraten, versank, indem nur ein schlimmer Tag und eine schlimme Nacht hereinbrach, eure Heeresmacht insgesamt und mit einem Male unter die Erde, und in gleicher Weise wurde auch die Insel Atlantis durch Versinken in das Meer den Augen entzogen. Dadurch ist auch das dortige Meer unbefahrbar und undurchforschbar geworden, weil der in geringer Tiefe befindliche Schlamm, den die untergehende Insel zurückließ, hinderlich wurde.
Aus: Platon, Sämtliche Werke 4, Politikos, Philebos, Timaios, Kritias (S.147-152 Timaios)
In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 47


Der Mythos von Atlantis II

Kritias 111a-121a
Größe und Beschaffenheit des alten athenischen Landes
Es bewohnten aber damals dieses Land teils die anderen mit Gewerben und Ackerbau beschäftigten Klassen der Bürger, die streitbare aber, anfangs von gottähnlichen Männern von den übrigen geschieden, wohnte getrennt, der es an nichts zum Unterhalt zur Bildung Erforderlichem fehlte, von der aber keiner etwas Eigentum besaß, indem sie alles als ein ihnen allen Gemeinsamem ansahen und, ausreichenden Unterhalt ausgenommen, von ihren übrigen Mitbürgern nichts verlangten, sondern alle Beschäftigungen trieben, welche gestern den der Annahme nach das Geschäft der Wächter Versehenden zugeteilt wurden.

Insbesondere wurde auch von unserem Lande Glaubwürdiges und der Wahrheit Entsprechendes erzählt. Zuerst, daß dessen Grenzen zu damaliger Zeit bis an den Isthmos sich erstreckten und nach dem andern Festlande hin bis zu den Höhen des Parnes und Kithairon. Diese Grenzhöhen aber senkten sich, indem Oropia ihnen zur Rechten lag und sie zur Linken vom Meer her den Asopos abschnitten. An Trefflichkeit habe aber unser Land jedes andere übertroffen und sei deshalb damals auch imstande gewesen, ein großes Heer von den Geschäften des Ackerbaues Befreiter zu unterhalten. Ein großer Beweis seiner Fruchtbarkeit aber ist: Das jetzt von ihm zurückgebliebene Stück macht noch jedem andern Lande dadurch, daß es alle Früchte reichlich trägt, und durch die Weide, die es allen Herden bietet, den Vorzug streitig; damals aber trug es, abgesehen von der Güte, das alles auch in großer Fülle. (111a) Inwiefern verdient dieses nun Glauben, und in welcher Hinsicht darf ein solcher Landstrich mit Recht ein Überbleibsel des damaligen Bodens heißen? Das gesamte Land liegt, indem es vom übrigen Festlande aus weithin in das Meer sich erstreckt, wie ein Vorgebirge da, und das ganze es umschließende Meer ist an seinen Küsten sehr tief. Da nun in den neuntausend Jahren, denn so lange Zeit ist von damals bis jetzt verstrichen, viele und mächtige Überschwemmungen stattfanden, so dämmte sich die in so langer Zeit und bei solchen Naturereignissen von den Höhen herabgeschwemmte Erde nicht, wie anderwärts, hoch auf, sondern verschwand, immer ringsherum fortgeschwemmt, in die Tiefe. Es sind nun aber, wie bei kleinen Inseln, gleichsam, mit dem damaligen Zustande verglichen, die Knochen des erkrankten Körpers noch vorhanden, indem nach dem Herabschwemmen des fetten und lockeren Bodens nur der hagere Leib des Landes zurückblieb. In dem damaligen noch unversehrten Lande aber erschienen die Berge wie Erdhügel, die Talgründe des jetzt sogenannten Phelleus waren mit fetter Erde bedeckt, und die Berge bekränzten dichte Waldungen, von denen noch jetzt augenfällige Spuren sich zeigen. Denn jetzt bieten einige der Berge nur den Bienen Nahrung; vor nicht gar langer Zeit aber standen noch die Bedachungen von zum Sparrwerk tauglichen, dort für die größten Bauten gefällten Bäumen unverzehrt. Auch trug der Boden viele andere, hohe Fruchtbäume und bot den Herden höchst ergiebige Weide; vorzüglich aber gab ihm das im Laufe des Jahres vom Zeus entsandte Wasser Gedeihen, welches ihm nicht, indem es wie jetzt bei dem kahlen Boden in das Meer sich ergoß, verlorenging; sondern indem er viel Erde besaß, in sie es aufnahm und es in einer schützenden Tonschicht verteilte, entließ er das von den Höhen eingesogene Wasser in die Talgründe und gewährte allerwärtshin reichliche Bewässerung durch Flüsse und Quellen, von welchen auch noch jetzt an den ehemaligen Quellen geweihte Merkzeichen zurückgeblieben sind, daß das wahr sei, was man jetzt davon erzählt.

Die athenische Burg. Ihr Umfang und ihre Besiedlung
So war die natürliche Beschaffenheit des übrigen Landes, verschönert, wie es sich erwarten läßt, von echten Landwirten, die das ausschließend betrieben, von dem Schönen nachstrebenden, wohlbegabten Männern, welche sich des trefflichsten Bodens, der reichlichsten Bewässerung und unter ihrem Himmel des angemessensten Wechsele der Jahreszeiten erfreuten. Die Stadt aber war zu damaliger Zeit in folgender Weise auferbaut. Erstens war die Burg nicht so beschaffen wie jetzt. (112a) Jetzt nämlich hat eine vorzüglich regenreiche Nacht diese durch Abschwemmung der Erde entblößt, indem zugleich Erdbeben und eine gewaltige Überschwemmung, die dritte vor der Deukalionischen Verheerung, eintraten. Was aber den Umfang anbetrifft, den sie damals zu der anderen Zeit einnahm, so senkte sie sich nach dem Eridanos und Ilissos zu, umschloß die Pnyx und wurde von dem der Pnyx gegenüberliegenden Lykabetos begrenzt; ihr Boden aber war durchgängig krumig und bildete, mit wenigen Ausnahmen, eine Hochebene. Ihre äußeren Abhänge waren von Handwerkern bewohnt und von den Landwirten, welche in ihrer Nähe ihr Land bestellten. Auf den oberen Teilen hatte bloß der Stand der Krieger für sich allein, um den Tempel der Athene und des Hephaistos herum, seine Wohnungen, die sie, wie den Garten eines und desselben Hauses, noch mit einer Ringmauer umgeben hatten. Denn die Nordseite bewohnten sie, wo sie gemeinsame Gebäude und Speisesäle für den Winter und alles dem gemeinschaftlichen Staatsleben an Wohnungen für sich und die Priester Zukommende aufgeführt hatten, doch ohne Anwendung von Gold und Silber, dessen sie durchaus in keinem Falle sich bedienten, sondern, die Mittelstraße zwischen stolzem Prunk und kleinlicher Dürftigkeit haltend, erbauten sie schmucke Wohnhäuser, die sie, indem sie selbst und ihre Nachkommen und die Nachkommen dieser in ihnen dem Greisenalter entgegenreiften, stets in demselben Zustande ihnen Gleichgesinnten hinterließen. Auch der Südseite bedienten sie sich, indem sie jedoch, als während des Sommers, Gärten, Übungshäuser und gemeinsame Speisesäle aufgaben, zu denselben Zwecken. An der Stelle, wo jetzt die Burg steht, befand sich eine Quelle, von der, als sie durch Erdbeben versiegte, ringsherum die jetzigen Bächlein geblieben sind; für die gesamten damaligen Bewohner aber strömte sie, bei einem für den Winter und Sommer angemessenen Wärmegrade, in reichem Maße. So eingerichtet, wohnten sie als Wächter der eigenen Mitbürger, als Anführer der übrigen Hellenen mit deren Willen, und sie gaben darauf acht, daß die Zahl ihrer Männer und Frauen möglichst immer dieselbe bliebe, nämlich die noch zum Kriege fähig war und die schon; sie belief sich ungefähr auf 20 000.

Vorbemerkung zur Atlantiserzählung: Grund der Verwendung griechischer Namen

Da sie selbst so wacker waren und in solcher, so ziemlich sich gleichbleibenden Weise gerecht ihr eigenes Vaterland und Hellas verwalteten, erwarben sie sich durch körperliche Schönheit und die allseitigen Vorzüge ihres Geistes durch ganz Europa und Asien einen Ruf und waren unter allen damals Lebenden die gepriesensten. Wie dagegen der Zustand der zum Kampfe gegen sie auftretenden beschaffen war und wie er von Anbeginn an sich gestaltete, das wollen wir euch jetzt, verlor sich uns nicht das, was wir als Knaben hörten, in Vergessenheit, als ein den Freunden zuständiges Gemeingut mitteilen. (113a) Doch eine Kleinigkeit müssen wir noch unserer Erzählung vorausschicken, damit es euch nicht etwa wundernehme, wenn Barbaren hellenische Namen führen; sollt ihr doch den Grund davon vernehmen. Da nämlich Solon die Absicht hatte, diese Erzählung bei seinen Dichtungen zu benutzen, forschte er genau der Bedeutung der Eigennamen nach und fand, daß jene Ägypter, welche zuerst sie aufzeichneten, dieselben in ihre Sprache übertragen hatten; da nahm er selbst den Sinn jedes Eigennamens wieder vor und schrieb sie, indem er auf unsere Sprache sie zurückführte, nieder. Diese Aufzeichnungen aber befanden sich in den Händen meines Großvaters und befinden sich noch in den meinigen und wurden schon in meinem Knabenalter von mir durchforscht. Demnach nehme es euch nicht wunder, wenn ihr auch dort Eigennamen wie hierzulande hört, wißt ihr doch nun den Grund davon. Folgendes war der Eingang zu einer langen Erzählung.

Erlosung der Insel durch Poseidon und Verteilung der Herrschaft an seine Söhne. Der Reichtum der Insel
Wie im Vorigen von der von den Göttern angestellten Verlosung erzählt wurde, daß sie unter sich die ganze Erde in bald größere, bald kleinere Lose verteilten und sich Tempel erbauen und Opfer darbringen ließen: so bevölkerte auch Poseidon, dem jene Insel Atlantis zum Lose fiel, dieselbe mit seinen eigenen Nachkommen, die er mit einem sterblichen Weibe an einer folgendergestalt beschaffenen Stelle der Insel erzeugte. An der Seeküste, gegen die Mitte der ganzen Insel, lag eine Ebene, die schöner und fruchtbarer als irgendeine gewesen sein soll. In der Nähe dieser Ebene aber, wiederum nach der Mitte zu, befand sich, vom Meer in einer Entfernung von etwa 50 Stadien, ein allerwärts niedriger Berg; auf diesem wohnte ein Mann, namens Euenor, aus der Zahl der anfänglich der Erde Entwachsenen, welcher die Leukippe zur Frau hatte. Beide erzeugten eine einzige Tochter, Kleito. Als das Mädchen bereits die Jahre der Mannbarkeit erreicht hatte, starben ihr die Mutter und auch der Vater; Poseidon aber, von Liebe zu ihr ergriffen, verband sich mit ihr und machte den Hügel, den sie bewohnte, zu einem wohlbefestigten, indem er ihn ringsum durch größere und kleinere Gürtel abwechselnd von Wasser und Erde abgrenzte, nämlich zwei von Erde und drei von Wasser, die er mitten aus der Insel gleichsam herausdrechselte, überallhin gleich weit voneinander entfernt, so daß der Hügel für Menschen unzugänglich war, da es damals noch ebensowenig Schiffe wie Schiffahrt gab. Er selbst verlieh, als ein Gott, ohne Schwierigkeit der in der Mitte liegenden Insel fröhliches Gedeihen, indem er zwei Flüsse aus der Erde heraufführte, deren einer seiner Quelle warm, der andere kalt entquoll, und der Erde Nahrungsmittel aller Art zur Genüge entsprießen ließ.

Ferner zeugte er fünf männliche Zwillingspaare, ließ sie auferziehen und verlieh, indem er die ganze Insel Atlantis in zehn Teile teilte, dem zuerst Geborenen des ältesten Paares den Wohnsitz seiner Mutter und den diesen rings umgebenden Anteil, als den größten und vorzüglichsten, und machte ihn zum König der übrigen, die übrigen aber zu Statthaltern; jedem derselben bestimmte er eine Statthalterschaft mit zahlreichen Bewohnern und einem weiten Gebiete. (114a) Allen gab er Namen, dem Ältesten und Könige aber denjenigen, nach welchem auch die ganze Insel und das Meer genannt wurde, welches deshalb das Atlantische hieß, weil damals der erste König den Namen Atlas führte. Dessen nachgeborenen Zwillingsbruder, dem das äußerste, nach den Säulen des Herakles, dem Landstrich , der jetzt der Gadeirische heißt, gelegene Stück der Insel zugefallen war, nannte er in griechischer Sprache Eumelos, in der des Landes aber Gadeiros, was dann jenem Gebiet die Benennung geben konnte. Den einen der zweiten Zwillingsgeburt nannte er Ampheres, den zweiten Euaimon; den erstgeborenen der dritten Mneseus, den nach diesem geborenen Autochthon; den älteren der vierten Elasippos, den jüngeren Mestor; dem Erstling der fünften wurde der Name Azaes, dessen jüngerem Bruder der Name Diaprepes beigelegt. Diese insgesamt nun sowie ihre Nachkommen beherrschten viele Menschenalter hindurch noch viele andere im Atlantischen Meere gelegene Inseln und dehnten auch, wie schon früher berichtet wurde, ihre Herrschaft über die innerhalb der Säulen des Herakles nach uns zu Wohnenden bis nach Ägypten und Tyrrhenien hin aus. Die Nachkommenschaft des Atlas aber wuchs nicht bloß im übrigen an Zahl und Ansehen, sondern behauptete auch die Königswürde viele Menschenalter hindurch, indem der Älteste sie stets auf den Ältesten übertrug, da sie eine solche Fülle des Reichtums erworben hatten, wie weder vorher bei irgendeinem Herrschergeschlecht in den Besitz von Königen gelangt war noch in Zukunft so leicht gelangen dürfte, und da bei ihnen für alles gesorgt war, wofür in bezug auf Stadt und Land zu sorgen not tut. Denn vermöge ihrer. Herrschaft floß von außen her ihnen vieles zu, das meiste für den Lebensbedarf aber lieferte ihnen die Insel selbst. Zuerst, was da an Starrem und Schmelzbarem durch den Bergbau gewonnen wird, und auch die jetzt nur dem Namen nach bekannte Art — damals dagegen war mehr als ein Name die an vielen Stellen der Insel aus der Erde gegrabene Gattung des Bergerzes, welche unter den damals Lebenden, mit Ausnahme des Goldes, am höchsten geschätzt wurde. Ferner brachte die Insel auch alles in reicher Fülle hervor, was der Wald für die Werke der Bauverständigen liefert, und an Tieren eine ausreichende Menge wilder und zahmer. Und so war denn auch das Geschlecht der Elefanten hier sehr zahlreich; (115a) bot sie doch ebenso den übrigen Tieren insgesamt, was da in Seen, Sümpfen und Flüssen lebt und was auf Bergen und in der Ebene haust, reichliche Nahrung wie auch in gleicher Weise diesem von Natur größten und gefräßigsten. Was ferner jetzt irgendwo die Erde an Wohlgerüchen erzeugt, an Wurzeln, Gräsern, Holzarten und Blumen oder Früchten entquellenden Säften, das erzeugte auch sie und ließ es wohl gedeihen, sowie desgleichen die durch Pflege gewonnenen Früchte; die Feldfrüchte, die uns zur Nahrung dienen, und das, was wir außerdem — wir bezeichnen die Gattungen desselben mit dem Namen der Hülsenfrüchte — zu unserem Unterhalt benutzen; was Sträucher und Bäume an Speisen, Getränken und Salben uns bieten, die uns zum Ergötzen und Wohlgeschmack bestimmten, schwer aufzubewahrenden Baumfrüchte und, was wir als Nachtisch dem Übersättigten, eine willkommene Auffrischung des überfüllten Magens, vorsetzen; dieses alles brachte die heilige, damals noch von der Sonne beschienene Insel schön und wunderbar und in unbegrenztem Maße hervor. Da ihnen nun ihr Land dieses alles bot, waren sie auf die Aufführung von Tempeln und königlichen Palästen, von Häfen und Schiffswerften sowie anderen Gebäuden im ganzen Lande bedacht und schmückten es in solcher Aufeinanderfolge aus.

Durchstich zum Meer und Hafenanlagen
Zuerst überbrückten sie die um den alten Hauptsitz laufenden Gürtel des Meeres, um nach außen und nach der Königsburg einen Weg zu schaffen. Diese Königsburg erbauten sie aber sogleich vom Anbeginn in diesem Wohnsitze des Gottes und ihrer Ahnen; indem aber der eine von dem andern dieselbe überkam, suchte er durch jedesmalige Weiterausschmückung des Wohlausgeschmückten seinen Vorgänger nach Kräften zu übertreffen, bis sie ihre Wohnung zu einem durch Umfang und Schönheit Staunen erregenden Bau erhoben. Denn vom Meere aus führten sie einen 300 Fuß breiten, 100 Fuß tiefen und 50 Stadien langen Durchstich nach dem äußersten Gürtel, durch welchen sie der Einfahrt vom Meere nach ihm wie nach einem Hafen den Weg bahnten, indem sie einen für das Einlaufen der größten Schiffe ausreichenden Raum eröffneten.

Auch durch die Erdgürtel, welche zwischen denen des Meeres hinliefen, führten sie, an den Brücken hin, Durchstiche, breit genug, um einem Dreiruderer die Durchfahrt von dem einen zu dem anderen zu gestatten, und überdachten dieselben, damit man unter der Überdachung hindurchschiffen könne; denn die Erdgürtelränder erhoben sich hoch genug über das Meer. Des größten Gürtels, mit welchem das Meer durch den Graben verbunden war, Breite betrug 3 Stadien; ebenso breit wie dieser war der folgende Erdgürtel. Von den beiden nächsten hatte der flüssige eine Breite von 2 Stadien, und der feste war wieder ebenso breit wie der ihm vorausgehende flüssige. Ein Stadion breit war endlich der um die in der Mitte liegende Insel selbst herumaufende. (116a) Die Insel aber, auf welcher die Königsburg sich erhob, hatte 5 Stadien im Durchmesser. Diese Insel sowie die Erdgürtel und die 100 Fuß breite Brücke umgaben sie von beiden Seiten mit einer steinernen Mauer und errichteten auf den Brücken bei den Durchgängen der See nach jeder Seite Türme und Tore. Die Steine dazu aber — teils weiße, teils schwarze, teils auch rote — wurden unter der in der Mitte liegenden Insel und unter der Innen- und Außenseite der Gürtel gehauen und so beim Aushauen zugleich doppelte Behälter für die Schiffe ausgehöhlt, die vom Felsen selbst überdacht wurden. Zu den Bauten benutzten sie teils Steine derselben Farbe, teils fügten sie zum Ergötzen, um ein von Natur damit verbundenes Wohlgefallen zu erzeugen, ein Mauerwerk aus verschiedenartigen zusammen. Den ganzen Umfang der den äußersten Gürtel umgebenden Mauer versahen sie mit einem Überzuge von Kupfer, übergossen den des inneren mit Zinn, den um die Burg selbst aufgeführten aber mit wie Feuer glänzendem Bergerz.

Die Einrichtung des Königssitzes
Der Königssitz innerhalb der Burg war folgendergestalt auferbaut. Inmitten desselben befand sich ein unzugängliches, der Kleito und dem Poseidon geweihtes Heiligtum, mit einer goldenen Mauer umgeben, ebenda, wo einst das Geschlecht der zehn Herrscher erzeugt und geboren wurde. Dahin brachten sie jährlich aus den zehn Landschaften jedem derselben die Früchte der Jahreszeit als Opfer. Der Tempel des Poseidon selbst war ein Stadion lang, 500 Fuß breit und von einer entsprechenden Höhe, seine Bauart fremdländisch. Von außen hatten sie den ganzen Tempel mit Silber überzogen, mit Ausnahme der mit Gold überzogenen Zinnen. Im Innern war die Wölbung von Elfenbein, mit Verzierung von Gold und Silber und Bergerz; alles übrige, Wände, Säulen und Fußboden, bedeckten sie mit Bergerz. Hier stellten sie goldene Standbilder auf; den Gott stehend, als eines mit sechs Flügelrossen bespannten Wagens Lenker, der vermöge seiner Größe mit dem Haupt die Decke erreichte; um ihn herum auf Delphinen hundert Nereiden, denn soviel, glaubte man damals, gäbe es von ihnen. Auch viele andere, von Männern aus dem Volke geweihte Standbilder befanden sich darinnen; außerhalb aber umstanden den Tempel die goldenen Bildsäulen aller von den zehn Königen Abstammenden und ihrer Frauen sowie viele andere große Weihgeschenke der Könige und ihrer Bürger aus der Stadt selbst und dem außerdem ihrer Herrschaft unterworfenen Lande. (117a) Auch der Altar entsprach, seinem Umfange und seiner Ausführung nach, dieser Pracht, und ebenso war der königliche Palast angemessen der Größe des Reiches und angemessen der Ausschmückung der Tempel. So benutzten sie auch die Quellen, die kalt und warm strömenden, die einen reichen Zufluß an Wasser hatten und wovon jede durch Annehmlichkeit und Güte des Wassers wundersam zum Gebrauch geeignet war, indem sie dieselben mit Gebäuden und am Wasser gedeihenden Baumpflanzungen umgaben sowie mit teils unbedeckten, teils für die warmen Bäder im Winter überdeckten Baderäumen, den königlichen abgesondert von denen des Volks sowie denen der Frauen, geschieden von den Schwemmen der Pferde und des anderen Zugviehs, diese alle mit einer der Bestimmung eines jeden angemessenen Einrichtung. Von dem abfließenden Wasser aber leiteten sie einen Teil nach dem Haine Poseidons, zu Bäumen aller Art, vermöge der Trefflichkeit des Bodens von überirdischer Schönheit und Höhe; den anderen aber, vermittels neben den Brücken hinlaufender Kanäle, nach den Gürteln außerhalb, wo vielen Göttern viele Tempel auferbaut waren, außerdem viele Gärten und Übungsplätze für Menschen und davon geschieden für Pferde, auf jeder der beiden Inseln; unter anderem war mitten auf der größten Insel eine Rennbahn abgegrenzt, deren Breite ein Stadion betrug und welche ihrer Länge nach, zum Wettrennen der Pferde bestimmt, die ganze Insel umkreiste. Zu beiden Seiten dieser Rennbahn befanden sich für die Masse der Leibwächter bestimmte Wohnungen; die zuverlässigeren aber waren auf dem kleineren, der Königsburg näheren Gürtel als Wachtposten verteilt, und denjenigen, die durch ihre Treue vor allen andern sich auszeichneten, Wohnungen in der Burg um die der Könige selbst herum angewiesen. Die Schiffswerften waren mit Kriegsschiffen und allem Zubehör eines solchen Schiffes angefüllt, alles aber war vollkommen ausgerüstet.

Solche Einrichtungen waren im Umkreise des Königssitzes getroffen. Hatte man aber nach außen die Häfen, deren drei waren, überschritten, dann lief vom Meere aus eine Mauer rings herum, welche allerwärts vom größten Hafen und Gürtel 50 Stadien entfernt war und welche mit dem Eingang zum Durchstich ihren am Meere gelegenen Teil in eins verband. Diesen ganzen Raum nahmen zahlreiche und dicht gereihte Wohnhäuser ein; die Einfahrt und der größte Hafen aber waren mit allerwärtsher kommenden Fahrzeugen und Handelsleuten überfüllt, welche bei solcher Menge am Tag und in der Nacht Geschrei, Lärm und Getümmel aller Art erhoben.

Einrichtung und Natur des übrigen Landes.
So ward also jetzt so ziemlich das erzählt, was einstmals über die Stadt und die Umgebung des ursprünglichen Wohnsitzes berichtet wurde. (118a) Aber wir müssen auch zu berichten versuchen, wie die Natur und die Art der Einrichtung des übrigen Landes beschaffen war. Erstens also war, der Erzählung nach, die ganze Gegend vom Meere aus sehr hoch und steil, das die Stadt Umschließende dagegen durchgängig eine ihrerseits von bis an das Meer herablaufenden Bergen rings umschlossene Fläche und gleichmäßige Ebene. durchaus mehr lang als breit, nach der einen Seite 3000 Stadien lang. vom Meere landeinwärts aber in der Mitte deren 2000 breit. Dieser Strich der ganzen Insel lief, nordwärts gegen den Nordwind geschützt, nach Süden. Von den ihn umgebenden Bergen wurde gerühmt, daß sie an Menge, Größe und Anmut alle jetzt noch vorhandenen überträfen. Sie umfaßten viele reiche Ortschaften der Umwohnenden sowie Flüsse, Seen, Wiesen zu ausreichendem Futter für alles wilde und zahme Vieh, desgleichen Waldungen, die durch ihren Umfang und der Gattungen Verschiedenheit für alle Vorhaben insgesamt und für jedes einzelne vollkommen ausreichend waren.

Diese Ebene hatte sich nun von Natur und durch die Bemühungen einer langen Reihe von Königen in langer Zeit dermaßen gestaltet. Sie bildete ein größtenteils rechtwinkliges und längliches Viereck; was aber daran fehlte, war durch einen ringsherum aufgeworfenen Graben ausgeglichen. Obgleich aber das, was von seiner Tiefe, Länge und Breite erzählt wird, für ein Menschenwerk, mit anderen mühsamen Schöpfungen verglichen, unglaublich klingt, muß dennoch berichtet werden, was wir gehört haben. Der Graben war nämlich bis zu einer Tiefe von 100 Fuß aufgeworfen, seine Breite betrug allerwärts ein Stadion und, da er um die ganze Ebene herumgeführt war, seine Länge 10 000 Stadien. Indem derselbe aber, die Ebene umschließend, die von den Bergen herabströmenden Flüsse in sich aufnahm und von beiden Seiten der Stadt sich näherte, so ward ihm da der Ausfluß in das Meer eröffnet. Von seinem weiter landeinwärts gelegenen Teil wurden wieder gerade, gegen 100 Fuß breite Durchstiche durch die Ebene nach dem dem Meere zuliegenden Graben geführt, deren einer von dem andern 100 Stadien entfernt war. Auf diesem Wege brachten sie zu Schiffe das Bauholz aus den Bergen nach der Stadt und andere Erzeugnisse der Jahreszeiten, indem sie Durchfahrten von einem Durchstiche zum anderen in schiefer Richtung sowie nach der Stadt zu eröffneten.

Zwei Ernten brachte ihnen jährlich der Boden, den im Winter der Regen des Zeus befruchtete, während man im Sommer den Erzeugnissen desselben von den Durchstichen aus Bewässerung zuführte.

Die Streitmacht des Königs
Was die Streiterzahl betraf, so war angeordnet, daß von den zum Kriege tauglichen Bewohnern der Ebene jeder Bezirk, dessen Flächenraum sich auf 10 mal 10 Stadien belief und deren überhaupt 60 000 waren, (119a) einen Feldhauptmann stelle; die Anzahl der von den Bergen und anderweitigen Landstrichen her kommenden wurde als unermeßlich angegeben, und alle insgesamt waren, ihren Wohnorten und deren Lage nach, diesen Bezirken und Feldhauptleuten zugeteilt. Jeder Feldhauptmann mußte nach Vorschrift in das Feld stellen: zu 10 000 Streitwagen den sechsten Teil eines Streitwagens, zwei berittene Streiter, ferner ein Zwiegespann ohne Wagenstuhl, welches einen leichtbeschildeten Streiter und nächst ihm den Lenker der beiden Pferde trug; zwei Schwergerüstete, an Bogenschützen und Schleuderern zwei jeder Gattung, so auch an Leichtgerüsteten, nämlich Steinwerfern und Speerschleuderern, von jeder drei; endlich vier Seesoldaten zur Bemannung von 1200 Schiffen. So war die Kriegsrüstung für den Herrschersitz des Königs angeordnet, für die neun übrigen anderes anders, was anzugeben zu viel Zeit erheischen würde.

Regelung der gemeinsamen Herrschaft und wichtigste Gesetze

In Beziehung auf Herrsch- und Strafgewalt waren von Anbeginn an folgende Einrichtungen getroffen. Jeder einzelne der zehn Könige übte in seiner Stadt Gewalt über die Bewohner seines Gebietes und über die meisten Gesetze; er bestrafte und ließ hinrichten, wen er wollte. Aber die untereinander geübte Herrschaft und ihren Wechselverkehr bestimmte Poseidons Gebot, wie das Gesetz es ihnen überlieferte und eine Schrift, von den, ersten Königen aufgezeichnet auf einer Säule von Bergerz, welche in der Mitte der Insel im Tempel Poseidons sich befand, wo sie sich das eine Mal im fünften, das andere im sechsten Jahre, um der geraden und ungeraden Zahl gleiche Ehre zu erweisen, versammelten. Bei diesen Zusammenkünften berieten sie sich über gemeinsame Angelegenheiten, untersuchten, ob jemand einem Gesetze zuwiderhandle, und fällten sein Urteil. Waren sie im Begriff, Urteile zu fällen, dann verpflichteten sie sich zuvor gegeneinander in folgender Weise. Nachdem die zehn Könige alle Begleitung entlassen hatten, jagten sie den im Weihbezirk Poseidons freigelassenen Stieren mit Knüppeln und Schlingen, ohne eine Eisenwaffe, nach, den Gott anflehend, sie das ihm wohlgefällige Opfer einfangen zu lassen; den eingefangenen Stier aber führten sie zur Säule und opferten ihn über jener Schrift auf dem Knaufe derselben. Auf der Säule aber befand sich außer den Gesetzen eine Eidesformel, die schwere Verwünschungen über die ihnen den Gehorsam Verweigernden herabrief. (120a) Wenn sie nun, nachdem sie ihren Vorschriften gemäß das Opfertier geschlachtet, die Weihung aller Glieder des Stiers vornahmen, dann füllten sie einen Mischkrug und schleuderten für jeden ein Klümpchen Blutes hinein, das übrige aber trugen sie, nachdem sie ringsum die Säule reinigten, in das Feuer. Darauf schöpften sie mit goldenen Trinkschalen aus dem Mischkruge, gossen ihr Trankopfer in das Feuer und schworen dabei, ihre Urteile den auf der Säule aufgezeichneten Gesetzen gemäß zu fällen und, wenn jemand in etwas dieselben übertreten habe, ihn zu bestrafen, in Zukunft aber in keinem Punkte das Aufgezeichnete zu übertreten sowie weder einen den Geboten des Vaters zuwiderlaufenden Befehl zu geben noch einem solchen zu gehorchen. Nachdem jeder von ihnen feierlich dieses Gelübde für sich selbst und seine Nachkommen getan, getrunken und die Schale in dem Tempel de Gottes geweiht hatte, sorgte er für seine Abendmahlzeit und anderer Bedürfnisse Befriedigung. Wurde es nun finster und war da Opferfeuer niedergebrannt, dann legten alle ein sehr schönes dunkelblaues Gewand an, ließen sich an der Brandstätte des beim Eidschwur dargebrachten Opfers nieder und empfingen während der Nacht, nachdem sie alle Feuer um den Tempel herum ausgelöscht, wenn etwa einer den andern einer Gesetzesübertretung beschuldigte, Urteilssprüche und fällten sie. Diese von ihnen gefällten Urteilssprüche verzeichneten sie, sobald der Tag anbrach, auf einer goldenen Tafel und weihten diese mitsamt ihren Gewändern zur Erinnerung.

Über die Ehrenrechte der einzelnen Könige gab es manche besonderen Gesetze, das wichtigste aber war, keiner solle gegen den andern die Waffen erheben und alle Beistand leisten, wollte etwa jemand unter ihnen versuchen, in irgendeinem Staate dem Königshause den Untergang zu bereiten, gemeinsam aber, wie ihre Vorgänger, sollten sie sich beraten über Krieg oder andere Unternehmungen und dabei dem atlantischen Geschlechte den Vorrang einräumen. Jedoch einen seiner Anverwandten zum Tode zu verurteilen, das sollte, ohne Zustimmung des größeren Teils der Zehn, in keines Königs Gewalt stehen.

Entartung des atlantischen Geschlechts und Eingreifen des Zeus
Die damals in jenen Gegenden in solchem Umfange und so geübte Herrschgewalt stellte nun der Gott gegen unsere Lande, durch Folgendes, wie erzählt wird, dazu veranlaßt. Viele Menschenalter hindurch, solange noch die göttliche Abkunft bei ihnen vorhielt, waren sie den Gesetzen gehorsam und freundlich gegen das verwandte Göttliche gesinnt; denn ihre Gedanken waren wahr und durchaus großherzig, indem sie bei allen sie betreffenden Begegnissen sowie gegeneinander Weisheit mit Milde gepaart bewiesen. (121a) So setzten sie auf jeden Besitz, den der Tugend ausgenommen, geringen Wert und ertrugen leicht, jedoch als eine Bürde die Fülle des Goldes und des anderen Besitztums. Üppigkeit berauschte sie nicht, noch entzog ihnen ihr Reichtum die Herrschaft über sich selbst oder verleitete sie zu Fehltritten; vielmehr erkannten sie nüchtern und scharfen Blicks, daß selbst diese Güter insgesamt nur durch gegenseitige mit Tugend verbundene Liebe gedeihen, daß aber durch das eifrige Streben nach ihnen und ihre Wertschätzung diese selbst sowie jene mit ihnen zugrunde gehe.

Bei solchen Grundsätzen also und solange noch die göttliche Natur vorhielt, befand sich bei ihnen alles früher Geschilderte im Wachstum; als aber der von dem Gotte herrührende Bestandteil ihres Wesens, häufig mit häufigen sterblichen Gebrechen versetzt, verkümmerte und das menschliche Gepräge die Oberhand gewann: da vermochten sie bereits nicht mehr ihr Glück zu ertragen, sondern entarteten und erschienen, indem sie des schönsten unter allem Wertvollen sich entäußerten, dem, der dies zu durchschauen vermochte, in schmachvoller Gestalt; dagegen hielten sie die des Lebens wahres Glück zu erkennen Unvermögenden gerade damals für hochherrlich und vielbeglückt, wo sie des Vollgenusses der Vorteile der Ungerechtigkeit und Machtvollkommenheit sich erfreuten.

Aber Zeus, der nach Gesetzen waltende Gott der Götter, erkannte, solches zu durchschauen vermögend, daß ein wackeres Geschlecht beklagenswerten Sinnes sei, und versammelte, in der Absicht, sie dafür büßen zu lassen, damit sie, zur Besonnenheit gebracht, verständiger würden, die Götter insgesamt an dem unter ihnen vor allem in Ehren gehaltenen Wohnsitze, welcher im Mittelpunkt des gesamten Weltganzen sich erhebt und alles des Entstehens Teilhaftige zu überschauen vermag, und sprach zu ihnen: ...
Aus: Platon, Sämtliche Werke 4, Politikos, Philebos, Timaios, Kritias (S.220-231Kritias)
In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung, herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 47

Der Mythos des Prometheus
Protagoras 320a-323a
Ausstattung des Menschen mit Kunstfertigkeit und Feuer.Es war einst eine Zeit, wo es Götter zwar gab, sterbliche Geschlechter aber gab es noch nicht; nachdem aber auch für diese die vorherbestimmte Zeit ihrer Erzeugung gekommen war, bil­deten die Götter sie innerhalb der Erde aus Erde und Feuer und auch das hinzumengend, was von Erde und Feuer gemengt ist. Und als sie sie nun ans Licht bringen sollten, übertrugen sie dem Prometheus und Epimetheus, sie auszustatten und die Kräfte unter sie, wie es jedem zukomme, zu verteilen. Vom Prometheus aber erbat sich Epimetheus, er wolle verteilen, und, sagte er, wenn ich ausgeteilt, so komme du, es zu besichtigen. Und so, nachdem er ihn beredet, verteilte er. Bei der Verteilung nun verlieh er einigen Stärke ohne Schnelligkeit, die Schwächeren aber begabte er mit Schnelligkeit, einige bewaffnete er, anderen, denen er eine wehrlose Natur gegeben, ersann er eine andere Kraft zur Rettung. Welche er nämlich in Kleinheit gehüllt hatte, denen verlieh er geflügelte Flucht oder unterdische Behausung, welche aber zu bedeutender Größe ausgedehnt (321a), die rettete er eben dadurch, und so auch verteilte er alles Übrige ausgleichend. Dies aber ersann er so aus Vorsorge, dass nicht eine Gattung gänzlich verschwände. Als er ihnen nun des Wechselverderbens Entfliehungen zustande gebracht, begann er ihnen auch gegen Zeiten des Zeus leichte Gewöhnung zu ersinnen durch Bekleidung. mit dichten Haaren und starken Fellen, hinreichend um die Kälte, aber auch vermögend, die Hitze abzuhalten, und außerdem zugleich jedem, wenn es zur Ruhe ging, zur eigentümlichen und angewachsenen Lagerbedeckung dienend. Und unter den Füßen versah er einige mit Hufen und Klauen andere mit Haaren und starren, blutlosen Häuten. Hiernächst wies er dem einen diese, dem anderen jene Nahrung an, dem einen aus der Erde die Kräuter, dem anderen von den Bäumen die Früchte, einigen auch verordnete er zur Nahrung anderer Tiere Fraß, Und diesen letzteren verlieh er dürftige Zeugung, dagegen den von ihnen verzehrten ene vielerzeugene Kraft, dem Geschlecht zur Erhaltung. Wie aber Epimetheus doch nicht ganz weise war, hatte er unvermerkt schon alle Kräfte aufgewendet für die unvernünftigen Tiere; übrig also war ihm noch unbegabt das Geschlecht. der Menschen, und er war ratlos, was er diesem tun sollte In dieser Ratlosigkeit nun kommt ihm Prometheus, die Verteilung zu beschauen, und sieht die übrigen Tiere zwar in allen Stücken weislich bedacht, den Menschen aber nackt, unbeschuht, unbedeckt, unbewaffnet, und schon war der bestimmte Tag vorhanden an welchem auch der Mensch hervorgehen sollte aus der Erde an das Licht. Gleichermaßen also der Verlegenheit unterliegend welcherlei Rettung er dem Menschen noch ausfände, stiehlt Prometheus die kunstreiche Weisheit des Hephaistos und der Athene, nebst dem Feuer - denn unmöglich war, dass sie einem ohne Feuer hätte angehörig oder nützlich sein können -, und so schenkte er sie dem M enschen. Die zum Leben nötige Wissenschaft also erhielt der Mensch auf diese Weise; die bürgerliche hatte er nicht Denn diese war beim Zeus, und dem Prometheus stand in die Feste, die Behausung des Zeus einzugehen nicht mehr frei, auch waren furchtbar die Wachen des Zeus. Aber in das dem Hephaistos und der Athene gemeinschaftliche Gemach, wo sie ihre Kunst übten, geht er heimlich hinein, und nachdem er so die feurige Kunst des Hephaistos und die andere der Athene gestohlen, gibt er sie dem Menschen Und von da an genießt nun der Mensch Behaglichkeit des Lebens; den Prometheus aber hat hernach so wie erzählt wird, die Strafe für diesen Diebstahl um des Epimetheus (322a) willen ergriffen.

Verteilung der bürgerlichen Tugend an alle. Grund dafür.
Da nun aber der Mensch göttlicher Vorzüge teilhaftig geworden, hat er duch zuerst, wegen seiner Verwandtschaft mit Gott, allein unter allen Tieren Götter geglaubt, auch Altäre und Bildnisse der Götter auf­zurichten versucht, dann bald darauf Töne und Worte mit Kunst zusammengeordnet, dann Wohnungen und Kleider und Beschuhungen Und Lagerdecken und die Nahrungsmittel aus der Erde erfunden. So ausgerüstet, wohnten die Menschen anfänglich zerstreut, Städte aber gab es nicht. Daher wurden sie von den wilden Tieren ausgerottet, weil sie in jeder Art schwächer waren als diese, und die verarbeitende Kunst war ihnen zwar zur Ernährung hinreichende Hilfe, aber zum Kriege gegen die Tiere unwirksam; denn die bürgerliche Kunst hatten sie noch nicht, von welcher die kriegerische ein Teil ist. Sie versuchten also, sich zu sammeln und sich zu erretten durch Erbauung der Städte; wenn sie sich aber gesammelt hatten, so be­leidigten sie einander, weil sie eben die bürgerliche Kunst nicht hatten, so dass sie wiederum sich zerstreuend auch bald wieder aufgerieben wurden. Zeus also, für unser Geschlecht, dass es nicht etwa gar untergehen möchte, besorgt, schickt den Hermes ab, um den Menschen Scham und Recht zu bringen, damit diese der Städte Ordnungen und Bande würden, der Zuneigung Vermittler. Hermes nun fragt den Zeus, auf welche Art er den Menschen das Recht und die Scham geben solle. Soll ich, so wie die Künste verteilt sind, auch diese ver­eilen? Jene nämlich sind so verteilt: Einer, welcher die Heilkunst innehat, ist genug für viele Unkundige, und so auch die andern Kün­ste. Soll ich nun auch Recht und Scham ebenso unter den Menschen aufstellen, oder soll ich sie unter alle verteilen? Unter alle, sagte Zeus, und alle sollen teil daran haben; denn es könnten keine Staaten bestehen, wenn auch hieran nur wenige Anteil hätten, wie an anderen Künsten. Und gib auch ein Gesetz von meinetwegen, dass man den, der Scham und Recht sich anzueignen unfähig ist, töte wie einen bösen Schaden des Staates. Auf diese Art also, Sokrates, und aus dieser Ursache glauben alle anderen und auch die Athener, dass, wenn von der Tugend eines Baumeisters die Rede ist oder eines anderen Künstlers, alsdann nur wenigen Anteil zustehe an der Be­ratung; und wenn jemand außer diesen wenigen dennoch Rat geben will, so dulden sie es nicht, wie du sagst, und zwar ganz mit Recht, wie ich sage. Wenn sie aber zur Beratung über die bürgerliche Tugend gehen, wo alles auf Gerechtigkeit und Besonnenheit ankommt, (323a) so dulden sie mit Recht einen jeden, weil es jedem gebührt, an dieser Tugend Anteil zu haben, oder es könnte keine Staaten geben, Dieses, Sokrates, ist hiervon die Ursache . S. 61 - 63
Aus: Platon, Sämtliche Werke, Band 1, Apologie, Kriton, Protagoras, Ion, HippiasII, Charmides, Laches, Eutyphron, Gorgias, Briefe
In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Numerierung,
herausgegeben von Walter F. Otto, Ernesto Grasso,Gert Plamböck, Rowohlts Klassiker 1