Plutarch (um 50 – um 125)

  Griechischer Philosoph und Historiker, der um 95 Priester in Delphi wurde und u. a nach Alexandria und Rom reiste. In 44 vergleichenden Biographien berühmter Griechen und Römer (Alexander, Caesar u. a.) führte er seinen griechischen Landsleuten - im lebendigen Vergleich und Gegensatz zu den Helden ihrer eigener Geschichte - anschaulich und anekdotenhaft den Charakter großer Römer vor Augen. Die »Moralis« Plutarchs enthalten populäre, ethisch-erzieherische Schriften, aber auch streng philosophische Untersuchungen, politische Abhandlungen, teilweise mit lebhaften religiösen Akzenten.

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Atheismus und Aberglaube
Der Mangel an Kenntnis und Verständnis hinsichtlich der Götter teilt sich von Anfang an in zwei Ströme, von denen der eine in robusten Charaktern wie auf felsigem Boden den Atheismus produziert, der andere aber in zarteren Gemütern wie in lockerer Erde den Aberglauben. Jedes falsche Urteil nun ist schädlich. Ganz übel aber wird es, wenn noch die Leidenschaft mit ins Spiel kommt. Jede Leidenschaft nämlich ist eine Täuschung, die gleichsam entzündliche Prozesse auslöst. Und wie die Verrenkungen von Gliedern schlimmer werden, wenn Wunden hinzukommen, verschlimmern sich auch die Verkehrtheiten der Seele, wenn Leidenschaften sie begleiten. S.62 [. . .]

Der Atheismus, der auf dem untauglichen Urteil beruht, es gebe kein seliges und unzerstörbares Wesen, scheint durch den Unglauben gegenüber dem Göttlichen zu einer gewissen Unempfindlichkeit zu führen. Daraus, dass man Götter nicht anerkennt, ergibt sich als Endresultat, dass man sie auch nicht zu fürchten braucht. Der Aberglaube jedoch ist, wie schon sein Name verrät, eine emotional gefärbte Meinung und eine Annahme, die eine den Menschen niederdrückende und aufreibende Angst verursacht: Er glaubt zwar, daß Götter existieren, dass sie aber Schmerz und Verderben hinzufügen.
Folglich bleibt der Atheist ungerührt gegenüber dem Göttlichen. Der Abergläubische lässt sich rühren, aber in unzuträglicher Weise, und wird auf Abwege gebracht. Denn der Mangel an Verständnis provoziert bei dem einen Unglauben hinsichtlich einer nützlichen Macht, führt bei dem anderen aber zusätzlich zu der Einbildung, daß sie schade.
Woraus folgt, daß der Atheismus ein trügerisches Erkenntnisurteil ist, der Aberglaube hingegen aus einem falschen Erkenntnisurteil entspringt.
S.63 [. . .]

Denn Gott ist Hoffnung für die Tüchtigkeit, nicht Vorwand für Feigheit. Im Gegensatz dazu blieben die Juden, weil Sabbat war, in neuen Gewändern ruhig sitzen, während die Feinde Leitern anlegten und die Mauern einnahmen. Sie standen nicht auf, sondern verharrten an ihrem Platz, durch ihren Aberglauben miteinander gefangen wie in einem großen Netz. S.75 [...]

Ist es also eine Freveltat, über die Götter Abwertendes zu sagen, aber keine Freveltat, so über sie zu denken? Ist es nicht vielmehr die Intention dessen, der lästerlich redet, was seine verbale Äußerung fehl am Platze sein läßt? Auch wir wehren lästerliche Reden doch ab, weil sie ein Anzeichen feindlicher Gesinnung sind, und die, die schlecht über uns reden, halten wir für unsere Feinde in der festen Annahme, dass sie auch schlecht von uns denken.
Du siehst, was die Abergläubischen alles über die Götter denken. Sie halten sie für wankelmütig, unzuverlässig, unbeständig, rachsüchtig, roh, reizbar. Als Resultat muss der Abergläubische notwendigerweise die Götter hassen und fürchten. Wieso sollte er das nicht tun, wo er doch glauben muss, die schlimmsten seiner Leiden seien ihm von jenen zugefügt worden und würden ihm auch weiterhin von ihnen zugefügt werden?
Da er die Götter hasst und fürchtet, ist er ihr Feind. Wenn er sie dennoch auch verehrt, ihnen opfert und ihre Tempel belagert, so ist das nicht verwunderlich. Denn auch die Tyrannen heißt man willkommen, umgibt sie mit Aufmerksamkeit und errichtet ihnen goldene Statuen, obwohl man sie im stillen hasst und »den Kopf (über sie) schüttelt«. Hermolaos leistete Alexander Dienste, Pausanias war Leibwächter bei Philipp, Chaerea bei Gaius (Caligula), und doch sprach ein jeder von ihnen bei sich, wenn er sie begleitete: »Ich würde mich gern an dir rächen, wenn ich dazu die Macht besäße«.
Der Atheist nimmt an, dass es keine Götter gibt. Der Abergläubische wünscht sich, dass es keine gäbe, glaubt aber an sie wider eigenen Willen, denn noch mehr Angst jagt ihm der Gedanke ein, ungläubig zu sein. Könnte er nur die Furcht ablegen, die ihn bedrückt wie den Tantalus der Stein, der über ihm schwebte, würde er den Zustand des Atheisten schätzen lernen und ihn als wahre Freiheit selig preisen. Tatsächlich hat der Atheist am Aberglauben keinerlei Anteil, während der Abergläubische mit Vorliebe Atheist wäre, aber zu schwach ist, als daß er sich über die Götter die Meinung bilden könnte, die er möchte.
S.78, 79

Es gibt keine Krankheit, die so voller Irrtümer und Leidenschaften steckt, in der sich solch widersprüchliche, ja einander aufhebende Meinungen vermischen, wie die Krankheit des Aberglaubens. Deshalb muß man ihm entfliehen, aber auf sichere und bekömmliche Weise, nicht so wie jene, die blindlings vor Räubern oder wilden Tieren oder vor dem Feuer flüchten, dabei aber in wegloses Gelände voll von Schluchten und Abgründen geraten. Denn so verfallen einige, weil sie den Aberglauben fliehen, in hartnäckigen, störrischen Atheismus, verfehlen aber die wahre Frömmigkeit, die in der Mitte liegt. S.82
Aus: Plutarch von Chaironeia, Moralphilosophische Schriften
Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Hans-Josef Klauck
Reclams Universalbibliothek Nr. 2976 (S. 62, 63, 75, 78, 79, 82)
© 1997 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages