Carl du Prel (1839 – 1899)

  Deutscher Philosoph, der noch in seiner Dienstzeit als bayrischer Offizier Philosophie studierte. 1868 promovierte er aufgrund einer Dissertation über die Traumdeutung, die ungewöhnliche Beachtung fand, an der philosophischen Fakultät der Universität Tübingen. Er ist der Begründer einer transzendentalen, monistischen Psychologie, in der er sowohl den materialistischen Monismus und seinen Chemismus des Geistes wie den durch die Thesen des Spiritualismus in unlösbare Widersprüche gekommenen Dualismus Seele-Leib zu überwinden sucht.


Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis
Das Rätsel des Menschen
Die Welt als Pflanzschule für Geister
Der Doppelgänger

Das Rätsel des Menschen
Das Verhältnis der beiden Personen unseres Subjekts ist von solcher Art, dass zwar uns die Seele unbewusst, richtiger ungewusst ist, nicht aber wir der Seele. Darum erwachen wir aus dem Somnambulismus erinnerungslos, während umgekehrt das transzendentale Bewusstsein, als der größere Kreis, den kleineren Kreis des sinnlichen Bewusstseins mit umfasst. Wir können also den Menschen mit einer Ellipse vergleichen, deren einer Brennpunkt — das transzendentale Bewusstsein — die ganze Fläche der Ellipse beleuchtet, während der andere — das sinnliche Bewusstsein — ein andersartiges Licht aussendet, welches auch nur von halber Ausdehnung ist. Oder wir können ihn mit einer Kugel vergleichen, deren stereometrischer Mittelpunkt den kubischen Inhalt beleuchtet, während an der Oberfläche das Licht des sinnlichen Bewusstseins leuchtet, aber keinen Strahl in das Innere sendet.

Die physiologische Psychologie will das Rätsel des Menschen gleichsam geometrisch lösen, und für sie liegt nur das Problem vor, wie sinnliches Bewusstsein und Leben mit organischer Materie verbunden sein kann. Weil nun aber stereometrische Probleme sich geometrisch nicht lösen lassen, mündet die physiologische Psychologie beim Ignoramus [wir wissen (es) nicht], ja Ignorabimus [wir werden (es auch) nicht wissen] ein. Die transzendentale Psychologie dagegen ist dem Menschenrätsel gewachsen; sie löst das stereometrische Problem stereometrisch. Für sie liegt das viel tiefere Problem vor — das aber gerade durch seine Vertiefung die Lösbarkeit des Menschenrätsels zeigt —, wie ein transzendentales Subjekt mit einem irdischen Körper verbunden sein kann. Die Antwort ergibt sich aus jenen Tatsachen, in welchen sich die Seele als eine organisierende erweist. Diesen Tatsachen begegnen wir im Hypnotismus, Somnambulismus und Spiritismus, aber auch schon in der Ästhetik und Technik. Daraus, dass unser transzendentales Subjekt teleologisch zu organisieren vermag, erklärt sich der mit einem Gehirn versehene Körper, in welchem Gehirn wie in einem Kephaloskop* die transzendentale Erkenntnisweise in eine sinnliche umgebrochen wird. Dass wir ein Bewusstsein überhaupt haben, ist Sache der Seele; dass dieses Bewusstsein für den Körper die Form des Irdischen hat, ist Sache des Gehirns. Wir unsererseits haben also keinen Grund zu dem Seufzer: Ignorabimus.
*Als Kephaloskop wird heute z. B. die Entwicklung eines dreidimensionalen anatomischen Schlüsselmoduls bezeichnet, das die Aspekte der grundlegenden Lehre (Anatomie) mit den Aspekten der weiterführenden Lehre (Traumatologie) vereint.

Die neue Seelenlehre, welche auf den Tatsachen der transzendentalen Psychologie beruht, zeigt also unverkennbare Vorteile vor der alten. Die alte Seelenlehre ist dualistisch, die neue ist monistisch. Die alte konnte die Seele nur erschließen aus der Unzulänglichkeit der Physiologie für die Erklärung des Menschen; die neue dagegen zeigt die Seele empirisch, weist sie direkt in ihren Funktionen auf. Die alte Seelenlehre gleicht dem Astronomen, der aus der Unregelmäßigkeit der Uranusbewegung die Existenz des Nachbarplaneten Neptun erschließt; die neue Seelenlehre gleicht dem anderen Astronomen, der den Neptun mit dem Teleskop entdeckt. Man könnte sagen, dass es viel mehr Verstand erfordere, den Neptun zu errechnen, als ihn mit dem Teleskop zu finden. Ich bestreite das nicht. Aber wenn Leverrier den Ort des Neptun gewusst hätte, würde er sich seine Rechnung erspart haben; und wenn wir jetzt behufs jeder Neptunbeobachtung erst seinen Standort errechnen wollten, statt kurzweg das Teleskop hinzurichten, so wären wir unbestreitbar große Narren. Eben solche Narren wären wir aber, wenn wir bei dem Versuch, eine Seelenlehre zu begründen, die Tatsachen der transzendentalen Psychologie unbeachtet ließen, in welchen doch der Seelenbeweis ganz direkt liegt, und wenn wir dagegen uns auf die Psychologie des normalen Lebens beschränken würden, aus welcher die Seele nur indirekt erschlossen werden kann und die sich zudem erst die Mühe geben muss, sich mit dem Materialismus auseinanderzusetzen, was wir gar nicht nötig haben.

Bei unserer theologischen Fakultät ist die Seelenlehre in der mittelalterlichen Scholastik steckengeblieben; bei der naturwissenschaftlichen Fakultät ist sie materialistisch geworden, und bei der philosophischen ist die Seele pantheistisch zerflossen. Eine monistische und individualistische Lösung des Seelenproblems kann nur mehr von der transzendentalen Psychologie mit den Geheimwissenschaften als empirischer Grundlage erhofft werden. Die moderne Wissenschaft sträubt sich noch dagegen, aber insofern ist sie nicht nur hinter den mittelalterlichen Okkultisten zurückgeblieben, sondern steht noch auf einem vorbiblischen Standpunkt; denn schon in der Bibel wird vielfach zwischen Seele und Ich unterschieden. Paulus sagt:

»Denn welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, ohne den Geist des Menschen, der in ihm ist« (1. Kor. 2, 11).

Sogar von Cicero könnten wir lernen: »Intelligendum est, duobus, quasi a natura nos indutos esse personis.« [Sinngemäß verdeutscht: Man begreife doch, dass wir zwei von der Natur in ein einziges Gewand gesteckte Personen sind] Am deutlichsten aber findet sich diese Lehre bei Kant, und zwar in seinen »Vorlesungen« aus der kritischen Periode. Als ich aber den wichtigsten Teil dieser Vorlesungen, den über Psychologie, 1889 neu herausgab, wurde dieses Buch — abgesehen von ein paar journalistischen Stimmen von der bekannten Oberflächlichkeit und Verständnislosigkeit — mit jenem großen Schweigen aufgenommen, in dem die ganze Verlegenheit der Gegner sich verriet. Man konnte mir den Nachweis nicht verzeihen, dass meine philosophischen Anschauungen, auf Grundlage der Geheimwissenschaften gewonnen, sich mit denen Kants deckten, der intuitiv vorgegangen war. Man hat es mir verübelt, dass ich ein Buch wieder ans Licht zog, das man vorsichtigerweise in die Gesamtausgaben nicht aufgenommen hatte, in den öffentlichen Bibliotheken nicht angeschafft hatte und das im Buchhandel vergriffen war; ein Buch, worin Kant nicht nur Präexistenz und Unsterblichkeit lehrt, sondern auch die Geburt des Menschen als Inkarnation eines transzendentalen Subjekts hinstellt, das Jenseits als bloßes Jenseits der Empfindungsschwelle, und worin er — wenn er es auch nicht mit dem modernen Wort bezeichnet — lehrt, dass wir alle unbewussterweise Somnambule und Medien sind. Einen solchen Kant, der, da nunmehr seine Ansichten empirisch bestätigt sind, heute ganz unbestreitbar, und so gut wie Schopenhauer, Spiritist sein würde, kann unsere Wissenschaft natürlich nicht brauchen, und da man mir doch keine Fälschung vorwerfen kann, blieb nur Schweigen übrig. Hätte ich dagegen einen alten Waschzettel Kants entdeckt und mit einer grundgelehrten Abhandlung über dessen unzweifelhafte Echtheit herausgegeben, so wäre das allerdings ein anderer Fall gewesen, und ich wäre alsdann dem Antrag einer Professur kaum entgangen. Dem Leser aber, der sich für Geheimwissenschaften interessiert, kann ich nur dringend empfehlen, Kants »Vorlesungen« zu lesen. Er wird sich dann sagen, dass man den Beifall, den die dii minorum gentium verweigern, entbehren kann, wenn man einen Kant auf seiner Seite hat. Unvermeidlich werden nun aber die Geheimwissenschaften, weil sie eben auf Tatsachen beruhen, bald anerkannt werden, und dann wenigstens wird man die mystische Seite der Kantischen Philosophie nicht mehr vertuschen, sondern auf ihn als einen Vorläufer der derzeitigen Bewegung hinweisen; die Anhänger der Bewegung kann man aber nicht hindern, dass sie es schon heute tun.

Wenn man nun mit Kant zwischen unseren beiden Wesenshälften unterscheidet, so könnte man allerdings versucht sein, die irdische Geburt als einen Fall, etwa Sündenfall, unseres transzendentalen Subjekts und den Körper — wie die Alten sagten — als einen Kerker der Seele zu bezeichnen. Aber diese Anschauung drückt das richtige Verhältnis nicht aus, weil sie die Gleichzeitigkeit der beiden Existenzweisen nicht berücksichtigt. Das irdische Dasein kommt durch die Geburt zum transzendentalen Dasein, unbeschadet des letzteren, hinzu, und der Schein der Ablösung besteht nur für den irdischen Menschen und entsteht aus der Beschränkung seines Bewusstseins auf die irdische Situation, während das transzendentale Dasein für ihn optisch verschwindet. Von einem Kerker der Seele ist also keine Rede; wohl aber ist ein Vergleich zwischen dem sinnlichen und transzendentalen Bewusstsein gestattet, und dieser fällt allerdings zugunsten des letzteren aus, obwohl wir es nur fragmentarisch kennen. Soweit sich die Seele in einem Leibe verkörpert, stellt sich ein Höheres in einem Niederen dar, und insofern kann man allerdings sagen:

»Ein grober Leib beschwert die Seele, und eine irdische Hülle schränkt die Denkkraft ein«
(Weish. Sal. 9, 15).

Nehmen wir an, es würde — wie die alte Reinkarnationslehre es als möglich hinstellt — eine menschliche Seele in dem Körper eines niederen Lebewesens wiedergeboren werden, so könnte sie keine menschlichen Fähigkeiten zeigen, sondern nur solche, die durch Beschaffenheit und Gebrauch ihrer neuen Organe begrenzt sind. Was würde z. B. aus der menschlichen Vernunft in einem Körper ohne Hände? Helvetius sagt, dass, wenn die Natur unsere Handgelenke statt mit Händen und beweglichen Fingern mit Pferdehufen versehen hätte, so würden die Menschen ohne Kunst, ohne Wohnung, ohne Verteidigungsmöglichkeit in den Wäldern herumirren. Es ist auch gar nicht zu leugnen, dass der menschliche Verstand nur vermöge der ganzen menschlichen Organisation sich entwickeln konnte. Ohne Werkzeuge keine Zivilisation; die Hand aber ist, wie Aristoteles sagt, das Werkzeug aller Werkzeuge. Ein Geist kann sich nur so weit manifestieren, als sein Körper es ihm gestattet, und insofern kann das transzendentale Subjekt in einem irdischen Körper nicht alle seine Fähigkeiten zeigen. Aber wir sind eben in diesem irdischen Körper nur in der Halbheit unserer Natur begriffen; unsere transzendentale Existenzweise hört bei der Geburt nicht auf, und sie bildet die andere uns unbewusste Halbheit.

Man kann auch, wie es vielfach geschieht, das Leben einen Traum nennen, insofern als die Welt als Vorstellung sich mit der Welt an sich nicht deckt. Man kann mit Giordano Bruno das irdische Leben im Vergleich mit dem künftigen einen Tod nennen, insofern als das transzendentale Leben ein viel intensiveres ist; man kann mit demselben Autor die Zeugung mit einem Lethetrank vergleichen, der das Vorleben vergessen macht; aber alle diese Ausdrücke geben leicht zu Missverständnissen Anlass und haben vom Standpunkt der Gleichzeitigkeit der beiden Personen unseres Subjekts nur bedingte Geltung. Das gleiche gilt von dem Worte »Nachtseite des Seelenlebens«; denn die Phänomene der transzendentalen Psychologie, obwohl sie nur wie ein Wetterleuchten in die Erscheinung treten, sind in mehrfacher Hinsicht als die geistesfreieren unseres Wesens zu bezeichnen.

Sehen wir nun zu, wie sich vom Standpunkt der monistischen Seelenlehre das Problem des Todes darstellt, ohne Zweifel das wichtigste Problem für ein Wesen, dessen Essenz Lebenswille ist, welches nicht etwa den Lebenswillen hat, sondern Lebenswille ist. Nach materialistischer Voraussetzung müsste dieser Wille proportional sein dem Glücksinhalt der individuellen Existenz; der Glückliche müsste das Leben bejahen, der Unglückliche verneinen. Das trifft aber nicht zu, der Lebenswille ist vielmehr eine mehr oder minder konstante, vom Lebensinhalt unabhängige Größe. Auch die Armen und Elenden fürchten den Tod. Das ist nur begreiflich, wenn der Wille zum Leben nicht erst durch den Lebensinhalt erzeugt wird, sondern metaphysischer Natur ist und dem Leben vorhergeht, wenn er also nicht Wirkung, sondern Ursache des Lebens ist. So weit hat Schopenhauer ohne Zweifel recht; wir sind Wille zum Leben, der Wille ist primär. Wenn er beifügt, der Intellekt sei sekundär, so gilt das nur von der sinnlichen Erkenntnis, die transzendentale Erkenntnisweise ist ebenso primär wie der Lebenswille, d. h. unsere Essenz ist kein blinder, sondern ein erkennender Wille; sie fällt auch nicht mit der Weltsubstanz zusammen, sondern ist ein transzendenrales Subjekt, eine individuelle Seele. Da sich diese zudem als eine organisierende erwiesen hat, so ist die irdische Geburt ein Willensakt dieses Wesens. Es ist das eine unabweisliche Folgerung aus der Präexistenz, daher denn Kant im Anschluss an Swedenborg die Folgerung auch gezogen hat, dass unsere Eltern nur unsere Adoptiveltern sind.

Bedenken wir ferner, dass das Fernsehen ein Vermögen des transzendentalen Subjekts ist, so ergibt sich noch weiter, dass nicht nur die Geburt überhaupt, sondern auch die in die gegebenen individuellen Lebensverhältnisse hinein ein freiwilliger Akt unseres Wesens ist. Auch dann, wenn diese Lebensverhältnisse den Wünschen der irdischen Personen durchaus widersprechen, müssen sie unseren transzendentalen Zwecken entsprechen, und es ist nur unsere eigene individuelle Vorsehung, die unser Schicksal bestimmt hat. Die monistische Seelenlehre leistet also, was noch keine Weltanschauung zu leisten vermochte: sie stellt den Menschen auf die eigenen Füße. In jeder anderen Weltanschauung dagegen bleiben wir berechtigt, entweder dem blöden Zufall der Geburt zu grollen oder der wie immer gedachten außer uns selbst liegenden Ursache unseres Daseins und Schicksals.

Wenn wir nun den Inhalt des menschlichen Lebens betrachten, den Kampf ums Dasein, der auf der Erde biologisch, geschichtlich und gesellschaftlich wütet, die Not und das Leiden, die mit den allermeisten menschlichen Existenzen verknüpft sind, so erscheint es auf den ersten Blick völlig unbegreiflich, wie die Menschen je das Wort wagen konnten:

»Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe da, es war sehr gut«
(1. Mose 1, 31).

Gut sein könnte der Kampf ums Dasein nur in dem einzigen Fall, wenn er Mittel zum Zweck wäre, aber wahrlich nicht an sich. Nur im ersteren Fall wäre der Weltgrund moralisch entlastet. Haben wir nun ein Recht zu dieser Annahme? Es scheint so; denn überall der Natur, im astronomischen, biologischen und geschichtlichen Gebiete sehen wir als Resultat des Kampf es ums Dasein die Höherentwicklung und den Fortschritt. Eine Weltvernunft ist also eine gar nicht zu vermeidende Annahme, mögen wir sie nun personifiziert denken oder nicht; mögen wir sie außerhalb der Naturgesetze denken oder in diese selbst legen. So gewiss, als Entwicklung ist, so gewiss ist die Weltvernunft, so gewiss aber auch ist es ein übermenschliches Problem, sie näher definieren zu wollen. Betrachtet man dagegen diese leidensvolle Welt nicht als Mittel zu einem unbekannten, aber jedenfalls in der Verlängerungslinie der bisherigen liegenden Zweck, sondern als Selbstzweck, so müsste man wahrlich sagen, dass zwar der Meister sein Werk lobe, aber nicht das Werk den Meister.

Es wird alles gut werden — das zu glauben, haben die Menschen allen Grund; es sei alles gut gewesen — das kann gelten von der transzendentalen Welt, die dem Materialisierungsprozess vorherging; aber es sei alles gut, dieser Optimismus, von der Welt des Kampfes ums Dasein als Selbstzweck ausgesagt, wäre eine ruchlose Gesinnung, die nur aus der Blindheit oder Hartherzigkeit ihrer Vertreter erklärt werden könnte. Wer mitleidig ist, muss dem irdischen Pessimismus anheimfallen; aber dieser Pessimismus, die berechtigte Weltanschauung vom Standpunkt der irdischen Person, wird zum transzendentalen Optimismus vom Standpunkt der Entwicklung, wenn das Ziel derselben im Transzendenten liegt, nicht innerhalb der materiellen Weltphase.

Was von der Welt gilt, gilt von uns. Wenn unser Dasein, ja unser Schicksal unser eigenes Werk sind, deren Zweck ein metaphysischer ist, dann kann ein transzendentaler Optimismus berechtigt sein, und der Tod erscheint uns dann erst in seinem wahren Licht. Der Tod wäre für Wesen, deren Essenz Lebenswille ist, eine himmelschreiende Veranstaltung, wenn er der Vernichtung gleichkäme; das irdische Leben, welches fast nur irdisches Unglück ist, wäre für Wesen, deren unüberwindlicher Trieb nach Glück geht, eine perfide Grausamkeit der Natureinrichtung, wenn es nicht einem transzendentalen Zweck diente, dem Wohl unseres eigentlichen Wesens.

Den Leiden wie dem Tode gewinnt also die monistische Seelenlehre eine versöhnliche Seite ab, und sie gibt dem Problem des Todes ein solches Ansehen, wodurch wir bestimmt werden, das Leben zur Vorbereitung auf das Jenseits zu benutzen. Sie weist uns also auf die richtige Lebensführung hin, sie liefert uns ein Moralprinzip, welches Materialismus und Pantheismus vergeblich suchen. Man hat es der mystischen Weltanschauung zum Vorwurf gemacht, dass der Glaube an das Jenseits uns vom Diesseits zu sehr abziehe und uns untüchtig mache für die irdischen Aufgaben. Diese Gefahr besteht allerdings, wie verschiedene Auswüchse der indischen und christlichen Weltanschauung schon vielfach gezeigt haben. Aber diese Gefahr liegt nur in der falsch verstandenen mystischen Weltanschauung, die in der Welt etwas Nichtseinsollendes sieht, statt etwas Sichentwickelnsollendes. Dagegen ist es ganz unvermeidlich, dass der Glaube an das bloße Diesseits uns zu einer verkehrten Lebensführung bestimmen muss, dass er uns hindern muss, uns auf das Jenseits vorzubereiten. Der Glaube an das bloße Diesseits macht jedes Moralprinzip unmöglich; er macht die irdische Person zum Feinde des transzendentalen Subjekts; er ist kulturfeindlich und macht die irdische Person zum Feinde der Gesellschaft. Insofern ist das Todesproblem auch für die Menschheit im ganzen das wichtigste Problem. Die Art seiner Lösung bestimmt unsere Lebensführung, also auch die Gestaltung unserer sozialen Verhältnisse. Diese würden in der Tat nicht so zerfahren sein, wenn die Menschheit einheitlicher über den Tod dächte, also auch einheitlicher sich auf das Jenseits vorbereiten würde. Ist der Tod nur eine Entseelung des Leibes, dann besteht zu einer solchen Vorbereitung überhaupt kein Anlass, sondern nur zu jener Weisheit aus Not, die man Resignation nennt. Wenn wir bloß in unseren Werken fortleben, dann steht es schlimm um die meisten Menschen, besonders die Schriftsteller; übrigens könnte dann auch im besten Falle der gute Nachruf nichts Verlockendes für uns haben, weil es ja doch früher oder später hieße:

»Bald weiß keiner mehr zu sagen,
Wer du warst und wie dein Bild,
Das sie welk hinausgetragen
In ein blühendes Gefild.«

(Martin Greif)

Ist dagegen der Tod nur eine Entleibung der Seele, so erscheint er nicht mehr als eine Natureinrichtung, von der man nicht zu sagen weiß, ob ihre Absurdität oder ihre Grausamkeit größer ist. Wenn unsere Existenz nicht eingeschlossen ist zwischen Geburt und Tod, sondern — nach Ansicht der alten Seelenlehre — eine Fortsetzung zwar nicht jenseits der Wiege, aber jenseits des Grabes hat, so wäre das zwar ganz schön, aber auch ganz unverständlich; denn eine Seele, die zugleich mit dem Körper begonnen hat, kann nicht unsterblich sein. Eine Ewigkeit kann keinen Anfang haben. Denkbar ist unsere Unsterblichkeit nur dann, wenn die Existenz auch jenseits der Wiege eine Verlängerung hat, also in Verbindung mit Präexistenz. Als Geschenk von außen und erst im Momente des Todes eintretend, kann die Unsterblichkeit wohl geglaubt, aber nicht bewiesen werden; bewiesen wird sie nur, wenn wir sie aus unserer derzeit bereits gegebenen Beschaffenheit ableiten können, also als innerlich in unserer Natur begründet.

Das leistet die alte Seelenlehre nicht, wohl aber die monistische. Uns ist die Unsterblichkeit kein Geschenk von außen, sondern die Fortdauer eines bereits Gegebenen, des transzendentalen Subjekts. Uns ist der Tod Entleibung der Seele, aber einer Seele, die schon vor dem Körper war. Für die alte Seelenlehre ist ferner der Tod doch nur ein großer Sprung in die Finsternis, weil sie über den Zustand nach dem Tode nichts auszusagen und höchstens zu phantasieren weiß. Uns dagegen stehen bezüglich des künftigen Zustandes positive Anhaltspunkte zu Gebot. Unsere transzendentale Psychologie ist die Psychologie des künftigen Lebens. In den Geheimwissenschaften lernen wir Kräfte und Fähigkeiten kennen, die nicht am leiblichen Organismus haften, daher auch nicht von der Auflösung des Leibes betroffen, sondern dabei vielmehr aus der Gebundenheit treten werden. Wenn man ohne materielles Auge sehen kann, wenngleich anders, so bedeutet der Verlust des Auges nicht Blindheit; wenn man ohne Gehirn denken kann, wenngleich anders, so bedeutet der Verlust des Gehirns nicht die Vernichtung des denkenden Wesens.

Wenn Kräfte vorhanden sind, welche nicht am Organismus haften, so muss der Träger dieser Kräfte notwendig den Tod überdauern, und seine jenseitige Existenzweise wird dann eben darin bestehen, von diesen Kräften Gebrauch zu machen.

Aus: Carl Du Prel: Das Rätsel des Menschen. Eine Einführung in das Studium der Geheimwissenschaften (S.94-107)
Neu herausgegeben, eingeleitet, ergänzt und kommentiert von Dr. Herbert Fritsche
R. Löwit . Wiesbaden


Die Psychologie des Jenseits:

Die Welt als Pflanzschule für Geister
In der alten Seelenlehre ist die Psychologie des jenseits von unbestimmbarer Qualität, und kein Auge hat gesehen, kein Ohr gehört, wie es im Jenseits aussieht. In der neuen Seelenlehre dagegen hat die Psychologie des Jenseits als positive Merkmale eben das, was wir in der transzendentalen Psychologie des Diesseits erkennen. Also auch das Problem über die Beschaffenheit des künftigen Lebens kann auf Grund von Tatsachen gelöst werden. Dass diese Tatsachen heute noch bestritten werden, ist relativ gleichgültig; denn jedenfalls ist schon durch die bloße Behauptung ihrer Realität die Seelenfrage über das Stadium des bloßen Spekulierens hinausgehoben und zu einer Tatsachenfrage geworden. Reine Spekulationen können in alle Ewigkeit ohne Entscheidung fortgeführt werden; Tatsachenfragen dagegen können nicht lange fraglich bleiben, sondern müssen naturgemäß immer bald eine Entscheidung finden. Wir werden also jedenfalls in bezug auf das Problem des Todes in dem derzeitigen Schwanken nicht mehr lange verharren. Es wird in Bälde gelöst sein, so oder so.*
*Das Problem des Todes ist heute in der Tat gelöst, aber man darf sich nicht dem Optimismus hingeben, die offizielle Wissenschaft nehme diese Lösung auch zur Kenntnis. So hat z. B. das bereits mehrfach, 1936 und 1939 erschienene dreibändige Werk »Das persönliche Überleben des Todes; eine Darstellung der Erfahrungsbeweise« von Dr. Emil Mattiesen keineswegs etwa eine wissenschaftliche Revolution in Theorie und Praxis hervorgerufen. Nicht einmal die Theologen kümmerten sich darum - in der unbegreiflichen, aber üblichen Eifersucht, es könne dem »Glauben« etwas verlorengehen, wenn das Wissen an seine Stelle tritt.

Dass es im Sinne der Unsterblichkeit gelöst werden wird, ist für den Kenner der Geheimwissenschaften keine Frage. Wer diese Erscheinungen kennt, wird zunächst die Ungereimtheiten der physiologischen Psychologen durchschauen, welche mit ihrer Zunge eben jenes organisierende Prinzip leugnen, welches eben diese Zunge gestaltet hat und in Bewegung setzt. Dass aber sodann jene organisierende Kraft ihr Produkt, den Körper, überlebt, versteht sich aus logischen Gründen von selbst und wird abermals durch die Geheimwissenschaften bewiesen, und zwar im eminentesten Sinne durch den Spiritismus. Dem Philister freilich, weil er nach Brentano nur viereckige Dinge versteht und selbst diese ihm oft noch zu rund sind, wird bei dem bloßen Wort »Geistererscheinung« ganz schwindlig.

Aber ist der Mensch denn etwas anderes als eben eine Geistererscheinung, als die Inkarnation eines transzendentalen Subjekts, also die materiellste aller Materialisationen und schon darum die wunderbarste, weil sie viel länger dauert als eine spiritistische? Sind denn so außerordentliche Voraussetzungen nötig, um ein Gespenst für möglich zu halten? Ganz und gar nicht; die einzige nötige Voraussetzung ist vielmehr die, dass die Seele von ihrer organisierenden Kraft - die, wie wir gesehen haben, nicht bloß aus den Geheimwissenschaften beweisbar ist, sondern aus Ästhetik und Technik - nicht nur einmal Gebrauch macht, nämlich bei der irdischen Geburt, und dass sie diese Kraft durch den Tod nicht einbüßt. Das versteht sich aber doch wahrlich von selbst. Der Handwerker, der ein Werkzeug einmal schafft, kann es auch mehrmals schaffen, und wenn eines dieser Werkzeuge vernichtet wird, so kann man daraus doch noch nicht auf den Tod des Handwerkers schließen!

Für den Kenner der Geheimwissenschaften ist die Leugnung der Phänomene so unbegreiflich, dass er wirklich nur Schopenhauer beipflichten kann, welcher den Gegnern derselben vorwirft, sie seien nicht skeptisch, sondern unwissend. Perty schätzt die Literatur der Geheimwissenschaften auf etwa 30 000 Bände. Nun lässt sich allerdings nicht leugnen, dass darin sehr viel unkritisches Material enthalten ist, aber auch nicht, dass diese Literatur beständig kritischer wird. Man lese doch z. B. die »Phantasms of the Living« von Gurney, Myers und Frank Podmore oder die noch jüngeren »Annales des sciences psychiques«. Darin wird man schon genug sehr kritisches Material finden, welches auf den Unsterblichkeitsbeweis hinzielt. Wer aber den entscheidenden Beweis haben will, den aus Geistererscheinungen, der lese Crookes oder Aksakow *

* Alexander N. Aksakow, »Animismus und Spiritismus«, in deutscher Sprache, Verlag Oswald Mutze, Leipzig; 2 Bände. Vor Mattiesen das klassische Beweiswerk des Spiritismus.

oder suche selber ein Medium auf. Aber die Gegner schauen nicht dorthin, wohin man sie verweist, nur um fortgesetzt behaupten zu können, es sei dort nichts zu sehen; sie schließen fest die Augen - und leugnen dann die Sonne. Die Anzahl der Gelehrten von der offiziellen Wissenschaft, die sich entschließen konnten, den anrüchigen Spiritismus zu untersuchen, ist beschämend gering. Oft waren sie auch nur von der Absicht geleitet, den vermeintlichen Schwindel zu entlarven; aber noch jedesmal ist aus dem Saulus ein Paulus geworden. So haben Crookes und Wallace, unberührt von jener chronischen Geisteskrankheit, dem apriorischen Vorurteil, den Spiritismus untersucht und wurden bekehrt. So haben die Professoren Zöllner, Fechner, Weber und Scheibner spiritistische Experimente angestellt und wurden ebenfalls bekehrt. So haben in jüngster Zeit erst die Professoren Lombroso, Tamburini, Ascensi, Gigli und Vigioli den Gedanken gewagt, dass die Natur doch vielleicht reicher an Tatsachen sein könnte, als Gelehrte es wissen, haben spiritistische Sit­zungen gehalten und haben wenigstens die Tatsachen anerkannt. In dem darüber aufgesetzten und unterzeichneten Protokoll vom 25. Juni 1891 sagt Professor Lombroso: »Ich schäme mich sehr und bedauere, die Möglichkeit der sogenannten spiritistischen Tatsachen so hartnäckig bekämpft zu haben: ich sage der Tatsachen, denn mit der Theorie selbst stimme ich noch nicht überein. Aber die Tatsachen existieren nun einmal, und ich rühme mich, Sklave der Tatsachen zu sein.« Leider hat diese Bekehrungsgeschichte der Sache nur teilweise Vorteil gebracht, weil zwei große Fehler gemacht wurden. Es war ein Fehler, dass mit dem schnell berühmt gewordenen Medium Lombrosos Dunkelsitzungen von Laien angestellt wurden, wobei denn alsbald die bekannte »Entlarvung« sich einstellte. Dunkelsitzungen sind nun ohne Zweifel die reichhaltigsten; aber in einer Zeit, in welcher geleugnet wird, was am hellen Tage geschieht, ist es doch wahrlich inopportun, Zweifler durch Berichte über Dunkelsitzungen bekehren zu wollen. Ein zweiter Fehler war, dass Lombroso, kaum dass er Schüler geworden, schon Lehrer sein wollte und mit einer Theorie auftrat. *
* Darin gleicht ihm gegenwärtig Prof. Pascual Jordan, der auch bereits kurz nach Kenntnis und Anerkenntnis der parapsychischen Phänomene 1947 eine ihnen gewidmete, vollkommen unzureichende und nur Bruchteile der Gesamttatsachen berücksichtigende Theorie aufstellte. Man mag zugeben, dass es Professoren schwerfällt, sich ausdauernd und treu als Schüler zu verpönten Außenseitern zu setzen - aber vorschnelle Anmaßung eines Lehramtes auf noch nicht genügend selbsterforschtem Gebiet führt immer nur zur Demonstration der eigenen Inkompetenz.

Es gibt nun aber überhaupt keine Wissenschaft, in der man innerhalb weniger Stunden zur Klarheit kommen könnte, und am wenigsten ist es der Fall in der schwierigsten aller Wissenschaften, im Spiritismus. Vor der offenen und ehrlichen Revokation Lombrosos muss man alle Hochachtung haben; wenn er aber schon jetzt die Theorie der Spiritisten bekämpft, so sollte er doch bedenken, dass diese Theorie von Leuten kommt, die eine vieljährige Untersuchung vor ihm voraushaben. *
* Gegen Ende seines Lebens hatte sich Lombroso nicht nur zur Anerkenntnis der spiritistischen Theorie durchgerungen, sondern sie auch in Bekenntnisform gefasst.

Am Fortgang des Spiritismus wird dadurch freilich nichts geändert werden, und die Seelenfrage wird gerade aus diesem Teil der Geheimwissenschaften den größten Nutzen ziehen, weil er nicht nur das jenseits beweist, sondern sogar, wenn auch nur wie durch einen Schleier hindurch, Einblicke in dasselbe gestattet, die alsdann auf ihre Übereinstimmung geprüft werden können mit jenen Einsichten, die wir aus dem Somnambulismus gewinnen.

Der alten Seelenlehre klebt der Nachteil an, dass sie bestenfalls nur für das Ob der Unsterblichkeit ausreicht, das Wie aber unbestimmt lässt. Die Seelenlehre muss aber beide Fragen zugleich lösen, und sie kann es. Wenn sie Kräfte im Menschen aufweist, welche nicht leiblich bedingt sind, so sind es eben diese Kräfte, welche die Qualität des künftigen Daseins bestimmen; denn dieses künftige Dasein ist - man muss das immer wiederholen - identisch mit der Präexistenz und mit unserem unbewussten Dasein zu Lebzeiten. Jene Kräfte kommen aber in den verschiedenen ekstatischen Zuständen keineswegs zur ungehemmten Entfaltung, wir müssen sie also entsprechend gesteigert denken, um einigermaßen klare Vorstellungen über das künftige Leben zu gewinnen. Den besten Aufschluss werden wir erhalten können von den Ekstatischen selbst während ihres Zustandes. Zu diesen Anhaltspunkten kommen nun aber noch jene, die der Spiritismus bietet, und wir können dann die Kreuzprobe anstellen, ob die Fähigkeiten der Spirits übereinstimmen mit jenen der Somnambulen. So nämlich muss es sein, wenn unser unbewusstes Leben zu Lebzeiten identisch sein sollte mit dem künftigen, wenn der Somnambulismus die teilweise, der Spiritismus die gänzliche Entleibung der Seele enthält.

Dass die transzendentale Psychologie in der Tat die des künftigen Lebens ist, wird bewiesen:

1. durch die Aussagen der Ekstatiker selbst,
2. durch die Analogien zwischen Somnambulismus und Spiritismus.

Die Somnambulen vergleichen ihren vorübergehenden Zustand mit dem nach dem Tode. So die Somnambule Auguste K. und die Seherin von Prevorst. *

* Vgl. Justinus Kerner, »Die Seherin von Prevorst; Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere«, herausgegeben von Dr. Carl du Prel, Reclams Universal-Bibliothek Nr. 3316-3320, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig o. J.

Es besteht auch durchaus keine Schwierigkeit, sich den Somnambulismus als permanenten Zustand zu denken. Es gibt genug Beispiele, wo derselbe Wochen und Monate anhielt und wobei die Somnambulen, weil sie auch noch die Geschäfte des Tages verrichteten, ein normales Ansehen zeigten. Die Somnambulen stellen ihren Zustand über den des Wachens; sie betrachten ihn als den realeren und sprechen von ihrer irdischen Person mit Geringschätzung. Muratori berichtet von einem Mädchen, das nach einem heftigen Fieber scheintot dalag, so dass man schon das Leichenbegängnis bedachte, bis sie einen Seufzer ausstieß, worauf man sie wieder zu sich brachte. Sie brach aber dann in Klagen aus, dass man sie einem Zustand von unaussprechlicher Ruhe und Seligkeit entrissen habe. Keine Freude ihres Lebens komme der von ihr erfahrenen im geringsten gleich. Sie habe das Jammern ihrer Eltern und die Unterredungen bezüglich der Beerdigung gehört, aber ihre Ruhe sei dadurch nicht gestört worden: auf Erhaltung ihres Lebens sei sie nicht mehr bedacht gewesen. Oft äußern die Somnambulen Betrübnis über das bevorstehende Erwachen.»Wie sollte ich nicht traurig sein« - sagt eine solche - »da ich das Kleid, den schweren Körper, wieder anziehen muss«. Manche wollen ihre Autodiagnose nicht vornehmen, weil sie keinen Wert auf ihre Heilung legen; der Tod erschreckt sie nicht, sie wissen, dass sie glücklich sein werden, wenn sie den Körper verlassen.

Die ekstatischen Zustände zeigen eben vor dem leiblichen einen doppelten Vorteil: die Unterdrückung der leiblichen Beschwerden und Hemmnisse und die intellektuelle Steigerung. Die sinnliche Erkenntnis hat ihre Schranken; sie lässt uns die Dinge nur nach ihrer Äußerlichkeit erkennen. Die Somnambulen dagegen werden von der inneren Substanz der Dinge affiziert [affizieren = reizen, erregen]; sie erfahren von leblosen Dingen Eindrücke, die im Wachen gar nicht oder nur als Idiosynkrasien zum Bewusstsein kommen. Pflanzen und Medikamente, sogar homöopathische, werden von ihnen in bezug auf ihre Zuträglichkeit oder Schädlichkeit für den Organismus geprüft. *
* Das Wort »sogar homöopathische« ist - was das »sogar« betrifft - hier sinnwidrig, denn die hochpotenzierten homöopathischen Arzneien wirken nicht auf den physischen, sondern unmittelbar auf den ätherischen Leib, weshalb Somnambule und Sensitive auf solche Medikamente mit wesentlich deutlicherer Wahrnehmung reagieren als auf die üblichen grobstofflichen Medikamente. Vgl. Herbert Fritsche, »Hahnemann; die Idee der Homöopathie«, Suhrkamp Verlag vorm. S. Fischer, Berlin 1944 .

Die unklaren Sympathien und Antipathien, von welchen wir im Umgang mit Menschen geleitet werden, sind bei Somnambulen ausgesprochener und klarer; es ist die innere moralische Substanz der Menschen, wovon sie affiziert werden.

Mehr oder minder vollkommen zeigt sich bei ihnen das Gedankenlesen, welches demnach, nach der Entleibung gesteigert, als die Sprache der Geister sich ergibt. Ebenso können wir die Psychometrie auf das künftige Leben übertragen, jene merkwürdige Eigenschaft sensitiver Personen, welche sogar im Wachen von leblosen Gegenständen anschauliche Bilder aus deren Vergangenheit empfangen. Das gleiche gilt vom Fernsehen und Fernwirken. Telepathien und Teleenergien jeder Art, die schon im Wachen ausnahmsweise vorkommen, werden im leibfreien Zustand über den somnambulen Grad hinaus gesteigert sein.

Ohne eine intellektuelle Gleichartigkeit aller transzendentalen Subjekte anzunehmen - welche sicherlich nicht und auch nicht in moralischer Hinsicht existiert, werden wir doch die Intuition, die in der genialen Produktion an Stelle der Reflexion tritt, als eine transzendentale Fähigkeit und als die Form des jenseitigen Denkens beanspruchen. Auch die organisierende Fähigkeit der Seelen müssen wir uns künftig gesteigert denken und werden auch ein Objekt derselben, einen irgendwie beschaffenen Leib der Seele, voraussetzen müssen, die also im Tode nur den grobmateriellen Leib ablegt. Von einem reingeistigen Zustand im jenseits, von einem Denken als Substanz statt bloßem Attribut, können wir uns keinen Begriff bilden; wir werden uns also den künftigen Zustand nicht völlig körperlos denken. »Es ist eine Hoffart«, sagt Baader, »ohne Leib sein zu wollen.«*
* Franz von Baader, 1765-1841, der von Jakob Böhme abhängige katholische Philosoph, vertrat wie Böhme selber und wie Friedrich Christoph Oetinger die Anschauung, dass die Leiblichkeit das Ausgestaltete, ein letztes Gottesgeheimnis von hohem metaphysischem Rang sei.

Nun sehen wir zwar im Wachen die physiologischen Funktionen dem Bewusstsein und der Willkür entrückt, aber im Somnambulismus zeigen sie sich teilweise von transzendentalem Bewusstsein begleitet und im Hypnotismus teilweise der Willkür unterworfen, indem Autosuggestionen organische Veränderungen hervorrufen können, eine Entdeckung, welche Kant vor Braid gemacht hat. *
* Es ist hier die Spätschrift Kants, die er dem Arzt Hufeland widmete, gemeint: »Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein«, Neuausgabe von K. C?. Schmidt, Johannes Baum Verlag, Pfullingen (Wttbg.) o. J.
Auch hier tut du Prel Kant zu viel Ehre an: nicht die heilsame Auswirkung von in die Tiefenperson hinabgesandten Autosuggestionen entdeckte Kant, sondern - auch darin seinem stramm preußischen >kategorischen Imperativ< getreu – die Macht des >bloßen Vorsatzes<, die massive Kunst des >sich-gefälligst-Zusammennehmens<.

Wir werden uns also - immer die Steigerung voraussetzend - den künftigen Leib frei von den Mängeln des irdischen denken, und die psychische Kurmethode, die bei uns kaum erst in ihren Anfängen gegeben ist, werden wir als eine Fähigkeit des künftigen Daseins anerkennen müssen. *
* Diese psychische Kurmethode ist heute mannigfach ausgebaut, wie du Prel es richtig voraussah; z. B. im »autogenen Training«, das sein Urheber I. H. Schultz aus altindischen Yoga-Methoden kombinierte; vgl. I. H. Schultz, »Das autogene Training«, Verlag Georg Thieme, Leipzig, 4. Auflage, 1940.

Wir begegnen dem Leibe des künftigen Lebens, dem Astralleib, schon innerhalb der irdischen Erfahrung und nennen ihn alsdann Doppelgänger. Dieses Phänomen entzieht den Streit über das organisierende Prinzip allen physiologischen und biologischen Einwürfen. Wir begegnen ferner derselben organisierenden Kraft, von Verstorbenen ausgehend, in den spiritistischen Materialisationen und endlich in der irdischen Geburt selbst, der merkwürdigsten Materialisation. Unsere eigene Geburt ist also eine spiritistische Tatsache, und wir leugnen noch den Spiritismus!*
* Vgl. Herbert Fritsche, »Sinn und Geheimnis des Jahreslaufs«, Karl Rauch Verlag, Boppard (Rhein) 1949: » . . . da das Menschenleben die Einweihung eines Geistes in die Mysterien des Irdischen bedeutet ... «

Man hat den Astralleib häufig auch Ätherleib genannt, und vielleicht haben wir in der Tat ein Recht, ihn im ganz eigentlichen naturwissenschaftlichen Sinne so zu nennen.*
* Zu du Prels Zeiten wurden Äther- und Astralleib noch nicht klar unterschieden. Der Äther- oder Bildekräfteleib ist das Vehikel des Bios, der Astralleib das Vehikel der Emotionen. Mit Hilfe des Ätherleibes formen und erhalten wir unsere Leibesgestalt, er bleibt zeitlebens unserem physischen Leibe - der sonst ein Leichnam wäre - eingefügt, auch im Schlaf, während welcher Zeit der Astralleib austritt. Nach dem Tode löst sich der - dem physischen Leib ähnliche - Ätherleib relativ rasch auf, der Astralleib jedoch verliert allmählich seine (zu Lebzeiten vom Ätherleib geprägte) Ähnlichkeit mit dem physischen Leibe - der ja ebenfalls sein Formgepräge dem Ätherleib verdankt - und wird Wesensausdruck. Daher die Vorstellungen des Volkes von einem jenseits voller Missgestalten (Teufel mit Hörnern, Ziegenfüßen, Schweinerüsseln und dgl.).
Näheres vgl. C. W. Leadbeater, »Die Astral-Ebene«, Th. Griebens Verlag (L. Fernau), Leipzig o. J

Wenn die Materie des Doppelgängers und der Materialisationen verdichteter Äther wäre, so würden dieser und die Gespenster eben jene Fähigkeiten besitzen, die sich aus der physischen Natur des Äthers ergeben: die Geschwindigkeit im Raum, die Durchdringung der Materie, die Aufhebung der Schwerkraft. Fernsehen und Fernwirken könnten so geradezu eine naturwissenschaftliche Erklärung erhalten.

Bei spiritistischen Sitzungen begegnen wir Phänomenen, aus welchen auf eine ätherische Natur der sich manifestierenden Wesen und Verwendung von Ätherbewegungen zu ihren Kundgebungen sich schließen lässt; aber auch beim Fernwirken der Somnambulen, besonders wenn dadurch materielle Veränderungen eintreten, kann von ätherischer Bewegung nicht wohl abgesehen werden.

Es bestehen also Analogien zwischen den Fähigkeiten der Somnambulen und der Entkörperten, und dieses lässt auf die wesentliche Identität und nur graduelle Verschiedenheit beider Daseinsweisen schließen. Diese Analogien erstrecken sich auf die materielle Wirkungsweise und auf intellektuelle Fähigkeiten. Dem Gedankenlesen, dem Fernsehen in Zeit und Raum begegnen wir auf beiden Gebieten, Somnambulismus und Spiritismus. Und wie manche Fälle somnambulen Fernwirkens nicht wohl als ätherisches Fernwirken erklärlich sind, sondern nur durch das Eingreifen des Doppelgängers, wenn er auch nicht bis zur Sichtbarkeit verdichtet ist, so ist auch bei manchen spiritistischen Vorgängen eine leibliche, wenn auch unsichtbare Gestaltung der sich manifestierenden Kraft nicht leicht abzuweisen, z. B. bei direkten Schriften. Wie aber der Doppelgänger einen Dichtigkeitsgrad erreichen kann, der ihn sichtbar werden lässt, so auch Materialisationen, die denn auch bekanntlich schon photographiert und auf Gewicht wie Puls- und Herzschlag geprüft werden konnten. *
* Was die Prüfungstechnik betrifft, hat sonst nur noch die Kriminalistik so durchgearbeitete, maximal-misstrauische Methoden wie der kritische Experimental-Okkultismus. Hiergegen wäre gar nichts einzuwenden, wenn diese Prüfungstechnik nicht von vornherein so augenfällig von dem Wunsche beherrscht wäre, um jeden Preis nichts Richtiges am Okkultismus gelten zu lassen.

Um nur kurz noch weitere Analogien zwischen Somnambulismus und Spiritismus anzuführen, so können sogenannte Spukwirkungen sowohl von Lebenden als Verstorbenen ausgehen; durch Medien können sich Verstorbene, aber auch Lebende*
* Okkulte Phänomene Lebender sollte man besser nicht als Spuk bezeichnen.

- die gleichzeitig in tiefem Schlaf liegen - manifestieren; medizinische Ratschläge gehen von Somnambulen wie Medien aus. überhaupt ist ja der Somnambulismus nur ein Spezialfall von Mediumität, sie verhalten sich zueinander wie Autosuggestion und Fremdsuggestion. Der Somnambule steht unter dem Einfluss seines eigenen Spirit, das Medium unter dem eines fremden Spirit. *
* Der Somnambule unterscheidet sich vom Initiaten, vom Eingeweihten dadurch, dass dieser vollwach unter dem Einfluss, d. h. im Kontakt mit seinem obersten Seinsprinzip steht, während jener oft nur den Einfluss seines Astralwesens erleidet, also zwar im Okkulten, aber nicht ohne weiteres im Licht der Erleuchtung lebt.

Alle diese Analogien zwischen Somnambulismus und Spiritismus nötigen uns zu der Folgerung, dass wir nach dem Tode eben das sein werden, was wir zu Lebzeiten bereits unbewussterweise sind. Wir sind schon zu Lebzeiten Geister, und der Zustand nach dem Tode ist permanent und normal gewordener Somnambulismus gesteigerter Art.

In solcher Weise löst also die monistische Seelenlehre, auf den Tatsachen der Geheimwissenschaften aufgebaut, das Ob der Unsterblichkeit zugleich mit dem Wie . Je mehr wir diese Gebiete erforschen, desto klarer erkennen wir, dass der Tod nicht die Vernichtung der Individualität bedeutet, noch deren Auflösung in die Weltsubstanz, sondern dass wir mit gesteigerter Individualität fortdauern, dass also die sogenannten Toten viel lebendiger sind als wir. Im Vergleich mit der transzendentalen Realität der künftigen Existenz bezeichnet Giordano Bruno - eben weil er die Geheimwissenschaften kannte - das irdische Leben als eine Schmälerung der Individualität: »Was wir sterben heißen, ist die Geburt zu einem neuen Leben - und oft wäre gegen jenes zukünftige Leben wohl das jetzige Tod zu nennen.«

Die Pythagoräer nannten den Tod ein Geburtsfest - … - des Geistes. In den Martyrologien heißt der Todestag dies natalis, und Angelus Silesius nennt den Tod »das beste von allen Dingen«. Als in der Erfahrung gegeben kennen wir nur die Annäherungszustände an den künftigen Zustand bei den Somnambulen und, dem Wesen nach damit identisch, den Zustand der Entkörperten, soweit dieselben in das irdische Element zurücktauchen können, was ohne Einbuße an Geisterhaftigkeit nicht möglich ist. Trotzdem lässt sich auch aus den spiritistischen Phänomenen der Tod als eine Steigerung der Individualität erkennen, und da sich dabei der jenseitige Zustand in gewissem Sinne als ein leiblicher verrät, so kann der Tod als eine Essentifikation unseres ganzen Wesens, des Bewusstseins sowohl wie der Leiblichkeit, angesehen werden.

Bei dem Widerstande, den die Unsterblichkeitslehre findet, sollte man meinen, sie sei ganz und gar undenkbar und nur Gegenstand des Glaubens. Zerlegen wir sie aber in ihre Bestandteile, so ergeben sich zwei Fragen, welche beide bejaht werden müssen:

1. Kann ein lebendes Wesen unter Wechsel der Form fortdauern? Das ist unleugbar und zeigt sich sogar innerhalb der irdischen Existenz in der wohlbekannten Entwicklung des Schmetterlings aus der Raupe.

2. Kann ein lebendes Wesen seine Bewusstseinsform verlieren und mit einem bis dahin latent gewesenen Bewusstsein fortdauern? Auch das ist nicht zu leugnen. In der Abwechslung von Wachen und Schlafen haben wir den Wechsel des Bewusstseins und den zwischen animalischen und vitalen Funktionen. Ausgesprochener noch zeigt sich der Dualismus des Hypnotismus und Somnambulismus. *
* Hierzu vgl. die Problematik des okkulten Romans »Der Golem« von Gustav Meyrink, Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1915

Die Unsterblichkeit ist also physiologisch und psychologisch möglich. Dazu kommt noch ihre logische Gewissheit aus der Erkenntnis, dass wir das Produkt einer organisierenden Kraft sind, und ihre empirische Gewissheit, die der Spiritismus liefert. Wer aber diesen leugnet, hat eben noch einiges zu lernen.

Allerdings hat die alte Seelenlehre es selber verschuldet, dass sie ihre Anhänger immer mehr verlor. So, wie sie dargestellt wurde, konnte sie sich der fortschreitenden Wissenschaft gegenüber nicht halten. Die Lösung des Problems war falsch, weil schon die Frage unrichtig gestellt war. Wenn man nämlich fragt: Wo ist das Jenseits?, dann könnte der Zweifler die Frage selbst für überflüssig erklären und sagen, die moderne Astronomie habe den Himmel gestrichen. Wenn man fragt: Was wird aus uns nach dem Tode?, dann könnte der Aufgeklärte einwerfen, es sei überhaupt nicht denkbar, wie ein sterbliches Geschöpf in einem gegebenen Momente unsterblich werden sollte. Wenn man fragt: Wie kommen wir ins Jenseits?, so kann eine irgendwie befriedigende Antwort nicht gegeben werden. Kurz, wenn man die Unsterblichkeit als Erwerbung eines neuen Daseins und Versetzung an einen neuen Ort auffasst, kann sie nicht bewiesen werden; wohl aber ist sie beweisbar als Fortdauer eines unbewusst bereits gegebenen Zustandes am gleichen Ort. Dass wir im Tode Geister werden, kann wohl gezungt werden, aber nicht gehirnt; wohl aber ist es denkbar und durch den Somnambulismus beweisbar, dass wir schon jetzt Geister sind und dass diese unsere Wesenshälfte vom Tode nicht betroffen wird. *
* Schon hier auf Erden sind wir auch im rein biologischen Sinne primär »Geist«, denn der Stoff wird unaufhörlich durch uns hindurchgewechselt, »alles fließt«, das Leben ist Stoffwechsel, unser physischer Leib stellt kein Ding, sondern ein Geschehnis dar. Hört dieses Hindurchgleiten der Stoffe durch ihn auf, so ist er Leichnam; dann zersetzt er sich. Was ihn »in Form hielt« und die wechselnden Stoffe durch ihn hindurchdirigierte, war ein nichtstoffliches Prinzip.

Das Jenseits ist nicht ein anderer Ort, wohin wir auf ganz unbegreifliche Weise im Tode versetzt würden, um dort unter ganz neuen Lebensbedingungen weiterzuleben; es ist nicht räumlich geschieden vom Diesseits, sondern ein bloßes Jenseits des Bewusstseins.

Das Jenseits ist das anders angeschaute Diesseits.
Wer nun aber in einem solchen Jenseits einen schlechten Ersatz für den religiösen Himmel sehen wollte, möge zunächst bedenken, dass nicht die Qualität eines Ortes darüber entscheidet, ob er ein Himmel oder eine Hölle ist, sondern die Qualität und das Verhältnis unserer Organisation zum Ort. Das Diesseits und Jenseits, wiewohl sie objektiv zusammenfallen, können doch subjektiv für die respektiven Bewohner himmelweit verschieden sein, ja vielleicht nicht die mindeste Ähnlichkeit miteinander haben.

Der Übergang vom diesseitigen Erkenntnismodus zum jenseitigen allein schon kommt faktisch einer Versetzung in eine andere Welt gleich, weil keine Ähnlichkeit besteht zwischen den Eindrücken, welche diesseitige und jenseitige Wesen aus der gleichen Welt beziehen. Aber auch der Wirkungsmodus, also die ganze Existenzweise der beiderseitigen Bewohner ist gänzlich verschieden. Wenn auch nur jene Übel, welche mit unserer grobmateriellen Körperlichkeit gegeben sind, aus unserer irdischen Existenz plötzlich gestrichen würden, so würden wir uns wie im Himmel vorkommen. Mindestens dieses zukünftigen Himmels also sind wir sicher, auch wenn keine Versetzung nach einem anderen Ort eintritt. Bedenken wir zudem, dass unsere irdischen Sinne weit mehr Schranken als Organe der Erkenntnis sind, so muss mit der Beseitigung dieser Schranken ein beträchtlicher Zuwachs an Erkenntnis eintreten, wie denn schon der Somnambulismus erkennen lässt, dass die jenseitigen Wesen in einem erweiterten und viel freieren Verhältnis zur Natur stehen als wir, welches noch gesteigert wird durch die den ätherischen Wesen zukommende Art der Ortsbewegung. Kurz, diese unsere Erde, schon so oft als Jammertal und Ort der Buße bezeichnet, könnte doch für Wesen von anderer Existenzweise ein Ort der Seligkeit sein.*
*Da der Eingeweihte diejenigen Erkenntnisumstellungen, die sonst der Tod mit sich bringt – der Tod ist eine Art Zwangseinweihung für jedermann -, bereits im Erdenleben vollzieht, kann ihm auch dieses Erdenleben zur »Seligkeit« werden.

Wie nun zweierlei Wesen in so verschiedenen Verhältnissen zu einer und derselben Welt stehen können, dass sie voneinander und ihren respektiven Welten nichts wissen, so kann auch ein und dasselbe Wesen gleichzeitig in zweierlei Verhältnissen zur Welt stehen, deren Verschiedenheit so beträchtlich sein kann, dass für die eine Wesenshälfte die andere unbewusst ist. Und das eben ist der Fall beim irdischen Menschen, der unbewusst bereits im Jenseits lebt und, da der Tod nur die diesseitige Wesenshälfte betrifft, darin auch bleibt.

Solange man die Seele ins Bewusstsein verlegte, welches doch unbestreitbar körperlich bedingt ist, konnte man ihre Unsterblichkeit nicht beweisen, und der Tod musste als das und bloß als das erscheinen, was er auf der einen Seite allerdings ist, eine bloße Beraubung, eine Entseelung des Leibes. Erkennt man aber, dass die Seele jenseits des Bewusstseins ist, dass wir schon jetzt im Jenseits stehen, dass unser sinnliches Bewusstsein eine Schranke der Erkenntnis ist, jenseits welcher die übersinnliche Welt und in ihr unser übersinnliches Wesen liegen, dann gewinnt der Tod auch eine positive Seite, er wird dann zur Entleibung der Seele. *
* Obwohl die gegenwärtige Psychologie das Wesentliche und Wirksame der Seele tatsächlich weitgehend im Nicht-, im Unbewussten sucht, hat sie dennoch nicht - wie du Prel es erhoffte - spiritistische Anschauungen in sich aufgenommen, sondern gefällt sich in panpsychistisch fundierten Verneinungen einer objektiven jenseitigen Realität, so z. B. insbesondere C. G. Jung, der es als seine Aufgabe bezeichnet, »den metaphysischen Anspruch aller Geheimlehren ohne Gnade beiseite zu schieben« (so wörtlich in seinem Kommentar zu dem von Richard Wilhelm herausgegebenen chinesischen Yoga-Buch »Das Geheimnis der goldenen Blüte«, Verlag Rascher, Zürich 1939).

Wie man sieht, ist die Streitfrage der Unsterblichkeit nur darum nicht zum Austrag gekommen, weil sie sich um ein falsches Objekt drehte: um den irdischen Menschen, um den Gegenstand unseres sinnlichen Bewusstseins. Dabei musste der Materialismus Sieger bleiben. Wird dagegen die Unsterblichkeit eingeschränkt auf das transzendentale Subjekt, so muss der Materialismus unterliegen; denn die Anerkennung dieses Subjekts auch von seiner Seite ist nur eine Frage der Zeit, weil Tatsachen nicht in alle Ewigkeit geleugnet werden können. Die alte Seelenlehre der Religionen hat so gut wie der Materialismus das transzendentale Subjekt übersehen, und doch hätte sie sich dafür sogar auf die Bibel berufen können. Dort kommt nämlich die Erschaffung des Menschen zweimal vor. Zuerst heißt es:

«Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde; zum Bilde Gottes schuf er ihn«
(1. Mose 1, 27).

Dann wieder gegen Erwarten heißt es:

»Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele« (1. Mose 2, 7).

Das könnte man ungezwungen zuerst auf den Beginn des transzendentalen und dann des irdischen Daseins beziehen.*
* Eine bis ins naturwissenschaftliche Detail berechtigte Exegese! Vgl. mein bereits mehrfach genanntes, ganz diesem Thema gewidmetes Buch »Der Erstgeborene«.

Hypnotismus und Somnambulismus beweisen, dass in unserem Unbewussten Kräfte und Fähigheiten liegen, von deren Gebrauch, ja Existenz unser sinnliches Bewusstsein nichts weiß, weil unser Bewusstsein ein körperliches ist, jene Kräfte aber nicht am Körper haften.

Wenn der Somnambule erwacht, d. h. zum körperlichen Bewusstsein kommt, so ist er erinnerungslos, und darin zeigt sich, dass sein Bewusstsein eben nicht körperlich war. Damit ist bewiesen, dass unser Selbstbewusstsein nicht unser ganzes Wesen umfasst. Der Spiritismus ferner beweist, dass jene transzendentalen Kräfte und Fähigkeiten des Unbewussten die Kräfte der künftigen Welt sind, was vorweg zu erwarten war. Sie sind uns unbewusst; das kann aber unmöglich so verstanden werden, als wären diese Kräfte nur im Zustand der bloßen Spannung und Funktionslosigkeit vorhanden. Sie müssen vielmehr in einem ganzen System von Kräften gerade so eingegliedert sein, wie die Kräfte unserer irdischen Person, deren wir uns bewusst sind, in die sichtbare Welt eingegliedert sind. Jenes Kräftesystem nun, dem wir unbewussterweise angehören, ist das Reich der Geister. In diesem Geisterreich werden wir uns selbstverständlich nach dem Tode bewusst finden, weil wir schon jetzt darin sind; wir werden uns der Kräfte der künftigen Welt teilhaftig finden, weil wir sie schon jetzt besitzen. Das Jenseits ist also kein anderer Ort, sondern nur ein Jenseits des Bewusstseins; und wie sich unser Bewusstsein zusammensetzt aus den Eindrücken, deren Reizstärke groß genug ist, um empfunden zu werden, kann man auch sagen, das Jenseits sei ein bloßes Jenseits der Empfindungsschwelle.*
* Verändern wir - im Sinne der okkulten Schulung - diese Empfindungsschwelle schon bei Lebzeiten, so wird sie zur Offenbarungsschwelle.

Nur wenn der Mensch gleichzeitig im Diesseits und Jenseits lebt, ist es begreiflich, dass jene Kräfte, vermöge welcher wir schon jetzt unbewussterweise Geister sind, ausnahmsweise über die Empfindungsschwelle gehoben werden und in die Erfahrung treten, wie z. B. das Fern­sehen und Fernwirken der Somnambulen; nur so ist es ferner begreiflich, dass sich jene Kräfte dem Wesen nach als identisch mit jenen zeigen, die wir im Spiritismus als die Kräfte der entleibten Seele kennen lernen. Daraus geht für die Spiritisten die Lehre hervor, dass sie den Menschen nur halb verstehen, wenn sie den Somnambulismus nicht studieren; und für die Materialisten geht daraus die Lehre hervor, dass sie, weil sie weder Spiritismus noch Somnambulismus studieren, den Menschen überhaupt nicht verstehen.*
* Wir würden heute sagen: Zu einer das Ganze verstehenden Menschenkunde gehören:

der Spiritismus (als das Wissen um die den Tod überlebenden Wesensprinzipien),
die Psychologie des Unbewussten (und seiner okkulten Möglichkeiten, d. h. die Parapsychologie) und ferner
die Biologie.
Da aber der Materialismus weder Bios (Leben) noch Psyche (Seele), noch »Spirit« (Geist) kennt, sondern nur Stoff, weiß er vom Menschen nichts.


Im großen und ganzen lässt sich also sagen, dass die Lösung des Menschenrätsels durch den Materialismus sehr trostlos ist, die der transzendentalen Psychologie viel trostreicher. Um uns für diese Trostlosigkeit zu entschädigen, akzentuiert der Materialismus das Leben der Gattung. Nicht um das Individuum sei es der Natur zu tun, sondern um die Gattung. Im beständigen Fortschritt soll die Menschheit einem Zustand entgegengehen, der schließlich bis zum goldenen Zeitalter gesteigert gedacht werden kann. In dieser Entwicklungsgeschichte des Menschengeschlechtes als dienendes Glied mitzuwirken, sei die Aufgabe des Einzelnen.*
* Das ist und bleibt Theorie und Praxis aller totalitären Systeme, daher kommt ihnen der Materialismus als Staatsphilosophie (meist idealistisch maskiert) so gelegen; nur aus diesem Grunde auch hat er seinen Fortbestand; schon längst stützt er sich nicht mehr auf Argumente, sondern auf Berufsentlassungen, Konzentrationslager und Genickschüsse - ohne freilich damit jemals den Geist töten zu können.

Dieser Trost hält aber leider nicht lange vor; denn abgesehen davon, dass auch Gattungen aussterben, ist es überhaupt eine Willkür, auf dem biologischen Standpunkt der Betrachtung stehen zu bleiben. Als Naturforscher muss der Materialist den höheren, astronomischen Standpunkt einnehmen: Es wird ein Zeitpunkt eintreten, da die Erde durch die Abwärtsbewegung der Isothermen von den Polen zum Äquator schließlich unbewohnbar sein - wird, später aber wird die Erde in einen Meteoritenstrom zerfallen und in die Sonne stürzen. Mag also die Menschheit selbst ein goldenes Zeitalter erreichen, so fehlt ihr doch ein Erbe. Was überhaupt einmal ein definitives Ende nehmen kann, ist jedenfalls zwecklos. Materialistisch betrachtet macht der Individualtod das vorangegangene Leben ebenso zwecklos, wie durch das Aussterben der Menschheit die vorangegangene Kulturgeschichte zwecklos wird. Man kann in keinen Punkt der Entwicklung einen Zweck legen, wenn man in den Endpunkt keinen Endzweck legen kann. Zwar hebt, astronomisch betrachtet, das Spiel immer wieder von neuem an, indem Sonnensysteme in kosmische Nebel sich auflösen und aus diesen wieder Sonnensysteme werden. Aber das Resultat der biologischen und geschichtlichen Prozesse geht ja doch immer verloren. Eine Zwecklosigkeit wird nicht dadurch vernünftig, dass sie ewig erneuert wird. Es fehlt also jeder Anlass, sich für die Geschichte der Gattungen zu enthusiasmieren, deren Realität zudem über die der Individuen nicht hinausgeht. Ein Künstler, der sein Werk immer wieder zerstört, braucht nicht angestaunt zu werden, sondern gehört ins Narrenhaus, und zwar um so mehr, je genialer seine Werke sind. Es ist also eine bloße Phrase, wenn der Materialismus uns für die Großartigkeit der Natur zu begeistern sucht; er müsste sie vielmehr als eine materialisierte Absurdität bezeichnen.

Ganz anders von unserem Standpunkt aus. Die einzige Tatsache der Unsterblichkeit, in die Weltformel eingeführt, verwandelt die Welt aus einer Absurdität in eine großartig angelegte Veranstaltung. Zunächst nämlich gilt von der ganzen Welt, was von uns gilt. Wie wir die Materialisierung eines übersinnlichen Wesens sind, so ist die ganze sichtbare Welt die Materialisierung einer übersinnlichen Welt, und zwar führt auch die Welt, gleich uns selbst, gleichzeitig beide Daseinsweisen. Wir treffen also mit unserem Urteil über die sichtbare Welt nicht die ganze Welt, und wenn uns dieses Urteil selbst zu Pessimisten machen würde, so könnte es doch nur unter dem Vorbehalt ausgesprochen werden, dass die Einseitigkeit unseres Standpunktes vermutlich ein einseitiges Urteil ergeben muss, welches wesentlich anders ausfallen könnte, wenn uns ein Überblick über beide Welthälften vergönnt wäre.

Nun zwingt uns aber die sichtbare Welt, selbst einseitig betrachtet, noch keineswegs das Bekenntnis des Pessimismus ab. Zwar besteht der ewige Kreislauf der Welten, und in der ganzen Natur nimmt jeder biologische und geschichtliche Prozess früher oder später ein Ende; aber nur für den Materialisten ist das eine ewig sich wiederholende Absurdität, nur der pessimistische Pantheist muss darin wenigstens eine vorübergehende, mit dem Selbstmord Gottes endende Absurdität erkennen. Uns aber, indem wir nur wieder die Unsterblichkeit in diesen Kreislauf der Welten einführen, wird der scheinbare Selbstzweck der Natur ein bloßes Mittel zum Zweck. Der Kreislauf betrifft nur den äußeren Naturschauplatz, und er ist nicht Selbstzweck, sondern daraufhin angelegt, Leben in ewiger Abwechslung zu erzeugen; aber dieses ewig sich wiederholende Abreissen der biologischen Entwicklungen betrifft wieder nur die materielle Lebenshälfte; der Akzent aber liegt auf der übersinnlichen Lebenshälfte der Einzelindividuen, und nur um diese, um die beständige Steigerung der Gestalten und ihres Bewusstseins innerhalb der sichtbaren Welt ist es der Natur zu tun, und darum, dass der Mühe Lohn für die Einzelindividuen der unsichtbaren Welt nicht verloren geht.*
* Die ins All versprühten Gottfunken bereichern durch ihre Werdewege die Gottheit.

Das ist nun aber auch der Fall. Der Erwerb unseres Lebens bleibt uns aufbewahrt. Er verschwindet nur optisch für uns, indem sein Niederschlag dem Unbewussten überliefert wird. Wenn wir uns eine mechanische Fertigkeit aneignen, so beginnen wir mit bewussten langsamen und ungeschickten Bewegungen, die sich allmählich in unbewusste schnelle und geschickte Bewegungen verwandeln; ebenso konden­sieren sich die bewussten Gedanken zu unbewussten Talenten, die moralischen Handlungen verdichten sich zu moralischen Anlagen, während die Enthaltung von unmoralischen Handlungen die Verkümmerung der unmoralischen Anlagen nach sich zieht. Den Erben unserer Mühen und des Resultates unserer Leiden tragen wir also in uns selbst. Wir vererben die Anlagen sogar nach zweierlei Richtungen; auf uns selbst, soweit wir der unsichtbaren Welt angehören, d. h. auf das transzendentale Subjekt; auf unsere Nachkommen in der sichtbaren Welt, auf die sich unsere Anlagen übertra­gen, so dass in der Aufeinanderfolge der Generationen die Einzelnen ein immer geeigneteres Medium vorfinden, sich im Sinne der Kultur weiter zu entwickeln, was dann wiederum deren transzendentaler Natur zum Vorteil gereicht und die Kulturgeschichte zu einem sekundären Zweck herabsetzt.*
* »Unsere Nachkommen, auf die sich unsere Anlagen übertragen«, sind nicht unsere Kinder und Kindeskinder, wie du Prel hier meint, obwohl er weiter oben sehr richtig sagte, Eltern seien stets nur Adoptiveltern, sondern wir selber sind, okkult gesehen, in künftigen neuen Runden des Seins diese unsere Nachkommen und Erben. Nur diese Vererbung ist wichtig, die lediglich biologische hingegen ist umstritten, unüberblickbar und zudem nur für Pflanzen­und Tierzüchter von einigem Wert:

Das Leben hat also einen individuellen Zweck, aber er ist transzendental. Der Zweck ist da, weil der Erbe da ist. Zweckvoll ist auch die Kulturgeschichte der Menschheit, aber in letzter Instanz wieder nur für die transzendentale Natur der Einzelnen. Der Zweck liegt ferner nicht etwa bloß im biologischen und geschichtlichen Endstück der irdischen Entwicklung, sondern er erfüllt sich auf der ganzen Linie des Prozesses. Mögen auch die geschichtlichen Kulturwellen sich immer wieder glätten und in räumlicher Verlegung neue Wellen ansteigen: mögen auch die Planeten zugrunde gehen und die Sonnensysteme verschwinden, so ist doch das Resultat der Entwicklung nicht verloren; der transzendentale Zweck hat sich von Anfang bis zum Ende erfüllt, und mit dem Ende ist auch der Endzweck erreicht. Der ewige Wechsel in der sichtbaren Welt hat ein dauerndes Resultat für die unsichtbare. Auch in der unsichtbaren Welt und für unser unsichtbares Wesen findet also Entwicklung statt, weil die Resultate unseres sichtbaren Lebens aufgesaugt werden.

Wenn nun aber die Arbeit unseres Lebens nach zweierlei Richtungen vererbt wird, auf das transzendentale Subjekt und auf unsere irdischen Nachkommen, so ließe sich fragen, ob die irdische und die transzendentale Entwicklung immer nur wie Mittel zum Zweck sich verhalten sollen oder ob sie vielleicht bestimmt sind, vereinigt zu werden. Einerseits ist nämlich unser Unbewusstes und was von den Erwerbungen des Lebens zum Unbewussten hinzugeschlagen wird, bewusster Besitz unserer Seele. Andererseits ist dieses Unbewusste die Quelle, aus welcher der biologische Prozess schöpft, indem die in der biologischen Steigerung der Gestalten erworbenen Fähigkeiten der organisierenden Seele auf­bewahrt werden und in den biologischen Prozess hineinstrahlend immer höhere Gestalten hervorbringen. Das Unbewusste ist endlich auch die Quelle des geschichtlichen Prozesses, in dem die intellektuellen und moralischen Anlagen erhalten bleiben und die Kulturgeschichte steigern. Das Endziel dieses Prozesses würde also sein, dass der Besitz der Seele immer mehr in deren irdische Erscheinungsform überfließen würde, und wäre es selbst auf dem Wege der Reinkarnation; dass also die Erde schließlich ein Geschöpf hervorbrächte, in welchem der Besitz des transzendentalen Subjekts ohne Rest vereinigt wäre mit dem Besitz seiner irdischen Er­scheinungsform und alles Unbewusste dem Bewusstsein einverleibt wäre. Ein solches Wesen würde demnach unsere beiden Naturen, die heute noch durch die Emp­findungsschwelle getrennt sind, in sich vereinigen.

Dass unsere transzendentalen Kräfte uns unbewusst sind, ist ein klarer Beweis, dass sie mit der Körperlichkeit nichts zu tun haben - denn unser Bewusstsein umfasst nur die Körperlichkeit - und dass sie vom Tode nicht betroffen werden, denn auch der Tod umfasst nur die Körperlichkeit. Jenes hypothetische Zukunftswesen nun, das vielleicht auf der Erde erscheinen wird und im normalen bewussten Besitz unserer derzeit noch transzendentalen Fähigkeiten wäre, würde nicht mehr nötig haben, durch Geburt und Tod hindurchzugehen; es hätte den Tod überwunden, indem die Seele als organisierendes Prinzip mit der Leiblichkeit vereinigt wäre und ihr nicht mehr wie ihrem bloßen Produkt gegenüberstände. Nur dürfen wir dabei nicht an die Leiblichkeit des derzeitigen Menschen denken, sondern an jene Lebensform, bis zu welcher alsdann der biologische Prozess sich hinaufgesteigert haben wird. In einem solchen Wesen wäre das Körperliche mit dem Geistigen vereinigt, weil das Körperliche sich immer mehr ins Geistige erhoben hätte und das Geistige im­mer mehr ins Körperliche übergeflossen wäre. Die Gleichzeitigkeit der beiden Daseinsweisen würde einer Verschmelzung derselben Platz machen. Die Idee der verklärten Leiblichkeit, d. h. der Vereinigung des vorwiegend materiellen mit dem vorwiegend geistigen Dasein, ist ein Gedanke Schellings - und unter Nichtberücksichtigung der schon derzeitigen Gleichzeitigkeit spricht er von einer Sukzession dreier Zustände am Schlusse (der Separatausgabe) des Gespräches »Clara« *
* Schelling, »Clara oder über den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt«, Neuausgabe von Ludwig Kuhlenbeck im Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig o. J. - eine unter Swedenborgs und Oetingers Einfluss entstandene, durch den Tod der geliebten Lebensgefährtin Caroline, einer der wundervollsten Frauen des Abendlandes, veranlasste fragmentarische Betrachtung in Dialogform.

und in seiner »Philosophie der Offenbarung«; aber er erwartet diese Vereinigung, die er der christlichen Lehre von der »Auferstehung des Fleisches« gleichsetzt, von einer »Krisis«, während sie in der Tat seit dem Auftreten des Lebens sich vorbereitet durch die ebenso langsame wie beständige Verlegung der Empfindungsschwelle, wodurch eben der transzendentale Lebensgehalt zum irdischen geschlagen wird.

Es gibt Probleme, welche ihre Tiefe darin anzeigen, dass von ihrer Lösung Licht ausstrahlt weit über ihre eigenen Grenzen hinaus. Selbst wenn wir es dahingestellt sein lassen, ob unsere beiden Daseinsweisen zur einstigen Verschmelzung berufen sind, so lässt doch das Unsterblichkeitsproblem allein schon in der hier vorliegenden Lösung den Sinn des menschlichen Daseins und der Kulturgeschichte in einem ganz anderen Lichte erscheinen als bisher. In der Lösung des Menschenrätsels sind wir also der des Welträtsels näher gerückt, und wenn uns die materialistische wie pantheistische Lösung nur in eine Stimmung versetzen können, die zwischen erbitterter Verzweiflung und höhnendem Galgenhumor schwankt, so ergibt die Vertiefung des Problems, nämlich die Einsicht, dass die Wurzel unserer Individualität jenseits der Empfindungsschwelle liegt, im Unbewussten und nicht im Bewusstsein, eine Lebensauffassung, der gemäß wir die irdischen Aufgaben gerne auf uns nehmen und aus irdischen Leiden in eine trostvolle Perspektive schauen. Materialismus und Pantheismus können nur lähmend auf das Individuum und darum auf die Kulturgeschichte einwirken.

Durch die Vertiefung des Menschenrätsels sind wir aber auch unwillkürlich in die Lösung des Welträtsels hineingeraten und sind nun nicht mehr genötigt, uns für die Unvernunft des Seins auszusprechen. Wenn wir selbst auf zunehmende Erkenntnis und Moral hin an­gelegt sind, so muss, weil wir als ein sehr wesentliches Glied in die Natur eingegliedert sind, die Welt selbst ein geistiges und moralisches Problem sein.*
* Wo du Prel die Worte »Moral« oder »moralisch« gebraucht, meint er nicht das, was »Sitte« oder »sittlich« ist - »mores« heißt »die Sitten«-, sondern etwas, was in Verantwortungsbeziehung zu einem göttlichen Werdeziel steht. »Sittliches« ist Übereinkunft oder Gewohnheit; Verantwortungsbeziehung zu einem Göttlichen hingegen umfasst die einzige wesenswürdige Situation eines Geschöpfes im All: die seines Ich zu sich selbst (»Werde, der du bist!«), zum jetzt und Hier als dem Acker künftiger Ernten, zum Du (Mysterium des Eros) und zu Gott, dessen Wille sich in Welten und Weltenzielen offenbart, die weder ohne ihn noch ohne uns erreicht werden können.

Wie ferner wir nur die Materialisierung eines übersinnlichen Wesens sind, so ist die ganze Natur die Materialisierung einer übersinnlichen Welt. Dass die materielle Welt aus Nichts entstanden wäre, kann man ohnehin wohl mit den Lippen aussprechen, aber nicht mit dem Gehirn denken; wohl aber lässt es sich denken, dass vermöge einer unergründlichen Fatalität - mögen wir sie Sündenfall oder sonstwie nennen - die übersinnliche Welt oder ein Teil von ihr von der Materialisierung ergriffen worden wäre, wie das Einzelwesen bei der Geburt. Auch ließe sich sagen, dass diese Materialisierung wieder rückgängig gemacht werden könnte, wie unsere eigene materielle Existenz, so dass die Ewigkeit der Welt nicht mehr im materialistischen Sinne als Ewigkeit der materiellen Welt zu verstehen wäre. Auch wäre die Gleichzeitigkeit unserer beiden Daseinsweisen in Parallele zu setzen mit der Gleichzeitigkeit der sinnlichen und übersinnlichen Welt. Die Materialität ist also eine Phase der Entwicklung für das Individuum und für die Welt.*
* Jedoch schon du Prels obiger Hinweis auf Schelling zeigt, dass »Materialität« im tiefsten und letzten Sinne nicht lediglich dazu vorhanden sein dürfte, um schließlich wieder spurlos vernichtet, sondern um erfüllt, um transparent für das Transzendente und um dessen gültiger Ausdruck zu werden. Oetingers Wort: »Leiblichkeit ist das Ende der Wege Gottes« weist darauf hin, dass Materia (Muttergrund, von »mater«, die Mutter) auf Schwängerung und Gebärung wartet, dass das aus ihr Geborene unter anderem auch »Fleisch von ihrem Fleisch« sein wird und nicht nur etwas in konturlose »Geistigkeit« Entlassenes.

Materialismus
und Pantheismus sind sich ihrer eigenen Trostlosigkeit im Gegensatz zur Tröstlichkeit der mystischen Weltanschauung sehr wohl bewusst; sie begegnen aber diesem Einwand durch die Worte, die Tröstlichkeit sei durchaus kein notwendiges Merkmal der Wahrheit. Das ist sie auch nicht, aber doch ein mögliches! Der Begriff »trostlose Wahrheit« ist keine contradictio in adjecto. Tröstliche Weltanschauungen können auch dadurch zustandekommen, dass der Wunsch zum Vater des Gedankens wird, wie bei den meisten Religionen. Aber die Materialisten und pessimistischen Pantheisten, indem sie diesen Fehler vermeiden wollten, sind in den entgegengesetzten Fehler verfallen.

Dum stulti vitant vitia, in contraria currunt. *

* Sinngemäß verdeutscht: »Wollen Schwachköpfe Fehler meiden, so rasen sie ins geradeso fehlerhafte Gegenteil.«

Durch Gewöhnung an ihre Vorstellungsweise hat sich ihnen das Vorurteil herausgebildet, die Trostlosigkeit der Wahrheit als ein notwendiges Merkmal der Wahrheit anzusehen, und jede Weltanschauung, die irgend­welchen Gemütsbedürfnissen entspricht, gilt ihnen schon darum vorweg als verdächtig. Die Popularisierer der naturwissenschaftlichen Weltanschauung schwelgen förmlich in der elegischen Stimmung, wenn sie das irdische Leben mit seinem schmerzlichen Kampf und dem Grabhügel am Endpunkte betrachten, wenn sie Planeten und ganze Fixsternsysteme auflösen, und leichten Kaufes gewinnen sie dabei auch noch das Ansehen zu erhabener Poesie gestimmter Gemüter. *
* Ähnliches gilt vom modernen Existentialismus Heideggerscher Prägung. Mit Recht nennt Kurt Hiller den Philosophen Heidegger einen »Clown des Nichts«; er ist ein elegischer, aber kein tragischer Clown.

Dem ist aber entgegenzusetzen, dass auch der Begriff »tröstliche Wahrheit« keine contradictio in adjecto enthält. Die mystische Weltanschauung wäre nur dann zu tadeln, wenn ihre Begründer schon bei ihren Gedankenoperationen auf den Trost verstohlen hingeschielt und ihre Vernunft hingelenkt hätten. Das ist aber nicht der Fall. Die mystische Weltanschauung beruht auf den Tatsachen des Somnambulismus und Spiritismus und zieht aus denselben die unvermeidlichen logischen Schlüsse, die durchaus nicht notwendig mit Parteilichkeit für die Annehmlichkeit der Folgerungen verknüpft zu sein brauchen. Der Kritiker darf nie das Resultat der Forschung kritisieren, sondern nur den Weg, auf dem es erreicht wurde, und ebenso hat der Forscher nur auf den Weg zu sehen, auf dem er wandelt, ohne sich darum zu kümmern, wohin er führt.

Die mystische Weltanschauung kommt nun auf wissenschaftlichem Wege zustande, durch logische Folgerungen aus gegebenen Tatsachen. Während seiner Arbeit sucht der Forscher Wahrheit und weiter nichts, und die Frage, ob sie tröstlich sei, kommt ihm so ungereimt vor wie die an den Mathematiker, ob ein Dreieck grün oder blau sei. Aber diese kühle Objektivität ist doch nur nötig während der Arbeit, in der sich der Verstand von den Einflüsterungen des Gemütes frei halten soll. Erklärt sich aber am Schlusse das Gemüt mit dem Resultat einverstanden, so kann das den Wert der Arbeit nicht schädigen. Würde der Verstand des Kritikers um dieses Resultates willen Einspruch erheben, wäre er ein geschworener Feind des Gemütes, so wäre er seinerseits nicht mehr objektiv.

Die Wahrheit muss durchsichtig wie Eis sein; sie braucht aber nicht eiskalt zu sein; und wenn sie es nicht ist, bleibt es dem Forscher unbenommen, sich darüber zu freuen, wie der Meteorologe einen von ihm prophezeiten schönen Sommertag auch als Spaziergänger genießen darf; es wäre läppisch, von ihm zu verlangen, er dürfe nur seine Verstandeskühle durch den Wald tragen. Wenn meine Kritiker sagen, meine Weltanschauung entspreche manchen Gemütsbedürfnissen, so haben sie recht, aber was kann ich dafür? Wenn sie dagegen sagen, sie sei darauf berechnet, so werde ich daraus höchstens schließen, dass sie mir mit wissenschaftlicher Kritik, mit Kritik des Weges, nichts anhaben können und darum die Kritik des Resultates vornehmen.

Wenn die Tatsachen des Hypnotismus, Somnambulismus und Spiritismus richtig und die daraus gezogenen Folgerungen einwurfsfrei sind, so muss die Richtigkeit der daraus sich ergebenden Weltanschauung so lange zugegeben werden, bis etwa durch die Einführung neuer Erfahrungstatsachen in die Weltrechnung ein anderes Fazit sich ergeben würde. Nun ist der Hypnotismus bereits anerkannt, und wenn einzelne Professoren, wie Dubois-Reymond und Meynert, den von ihnen gar nicht studierten Tatsachen ihre Theorien entgegenstellen, so heißt das eben mit dem Kopf gegen die Wand rennen, was niemals zum Nachteil der Wand ausfällt.

Als eine Phase des Hypnotismus ist auch der Somnambulismus anerkannt, und darum werden schon in Bälde von den Professoren alle jene Tatsachen »entdeckt« werden, welche schon vor hundert Jahren die Spatzen von den Dächern gepfiffen haben. Wie flüssig endlich die Grenze zwischen Somnambulismus und Spiritismus ist, habe ich schon oft genug ausgeführt, als dass ich es hier wiederholen rnüßte; und wenn trotzdem Dr. Moll in Berlin jüngst die Klopflaute der Medien durch das Aneinanderschlagen der Rippen erklärt, so darf er des homerischen Gelächters der Nachwelt sicher sein. *
* Dr. med. Albert Moll hat du Prel um Jahrzehnte überlebt und ermüdete während dieser Jahrzehnte nicht, als eintöniger Apostel der Verneinung alles Okkulten immer wieder dieselben Redensarten mündlich und schriftlich pausenlos zu verbreiten - ähnlich wie es Robert Henseling im Hinblick auf die Astrologie tut.

Der Geisteszustand von Menschen, die nichts zu sagen haben und dieses Nichts dennoch bis zum Überdruss - außer ihrem eigenen, welcher nie eintritt - lebenslänglich in immer wieder dieselben Worte kleiden, ist geradeso unbegreiflich wie diesen Menschen das Okkulte.

Die Anerkennung der ganzen transzendentalen Psychologie ist demnach nur noch Frage einer kurzen Zeit, und wenn es auch moderne Lehrbücher der Psychologie gibt, in denen dem Somnambulismus nicht der bescheidenste Platz eingeräumt ist, so muss eben geradezu gesagt werden, dass solche Bücher, so dickleibig sie sein mögen, schon am Tage ihres Erscheinens veraltet sind. Von »Fachgelehrten« dieser Art gilt, was Lichtenberg sagt: »Ich habe das schon mehr bemerkt, die Leute von Profession wissen oft das Beste nicht.«

Die physiologische Psychologie wird immer ihre Geltung als ein wichtiger Wissenszweig behaupten, aber sie ist ganz unvermögend, das Menschenrätsel zu lösen. Das kann nur die transzendentale Psychologie. Man kann dieselbe nicht dadurch herabsetzen, dass man auf ihre häufige Verbindung mit krankhaften Zuständen verweist; es ist vielmehr eine Verwechselung von Ursache und Bedingung, wenn man daraus folgert, die mystischen Fähigkeiten seien an sich krankhaft. Man kann diese auch dadurch nicht herabsetzen, dass man die normalen psychischen Fähigkeiten für die höchsten erklärt. Das sind sie in bezug auf praktische Verwertbarkeit fürs Leben, und wie schon Kant sagt, kann »die Erkenntnis der anderen Welt allhier nur erlangt werden, indem man etwas von demjenigen Verstand einbüßt, welchen man für die gegenwärtige nötig hat« (»Träume eines Geistersehers«). Aber trotzdem haben die transzendentalen Fähigkeiten die größere theore­tische Bedeutung für die Erklärung des Menschen; denn sie beweisen, dass er nicht bloß für dieses Dasein eingerichtet ist. Dieser Beweis ist aus der normalen Psyche schwerer zu führen, und nur darum konnte sich der Materialismus so hartnäckig behaupten; er geht aber in die Brüche, wenn auch nur ein einziger Fall von Fernsehen nachgewiesen ist, wie deren tausend nachgewiesen sind. Von den Fähigkeiten des Embryo im Mutterleib sind diejenigen gewissermaßen die höchsten, die für sein Embryonaldasein die wichtigsten sind; aber von viel größerer philosophischer Bedeutung sind diejenigen Ansätze, die für diese Existenzphase keine Bedeutung haben, die aber erkennen lassen, dass er sich zum Eintritt in unsere Welt des Lichtes vorbereitet. Seine Bewegungsorgane und Sinnesapparate sind momentan zwecklos, aber gerade aus ihnen erkennen wir seinen hohen Beruf.

Fassen wir kurz die Gründe zusammen, welche die Bedeutung der transzendentalen Psychologie für das Menschenrätsel erkennen lassen:

1. Pope sagt, das eigentliche Studium des Menschen sei der Mensch. Es ist subjektives Bedürfnis, dass wir zunächst über uns selbst zur Klarheit kommen wollen; da wir aber unbestreitbar auf der Erde den ersten Rang einnehmen, sind wir auch objektiv das interessanteste Untersuchungsobjekt.

2. Die Bemühungen, die Welt zu erklären, und uns aus ihr, sind bisher so unbefriedigend ausgefallen, dass sich der Versuch verlohnen dürfte, vom Menschenrätsel aus auf die Bedeutung der Welt zu schließen. Dieser Weg muss sogar eingeschlagen werden; der Mensch als höchste Naturtatsache muss erst richtig definiert sein, wenn die Natur selbst richtig gewürdigt werden soll. Ein Schriftsteller und Künstler muss nach seinen besten Werken beurteilt werden; ein Homer nicht nach jenen Stellen, bei welchen er nach dem Ausspruch des Horaz geschlafen hat: quandoque dormitat Homerus. Erst wenn wir wissen, was der Mensch ist, können wir rückschließend aussagen, was die Welt ist. Da wir auf Bewusstsein und Moral hin angelegt sind und im Einklang mit der Natur geschaffen sind, ist eben auch die Natur ein geistiges und moralisches Problem. Welt und Mensch können zwar begrifflich auseinandergehalten werden, gehören aber zusammen. Das ganze Welträtsel erscheint in verschiedenem Licht, je nachdem wir den Menschen materialistisch als ein bloß physikalisches Problem auffassen oder spiritualistisch als ein metaphysisches Problem.

3. Die höchste Definition des Menschen ergibt sich aus der transzendentalen Psychologie heraus, die also auch der ganzen Natur ein höheres Ansehen verleiht. Ein Vergleich aus dem astronomischen Gebiet wird das erläutern:

Der erste, der eine fallende Sternschnuppe wissenschaftlich beobachtete, wird ohne Zweifel nach dem Augenschein geurteilt haben, dass aus irgendeiner Ursache in der Atmosphäre leuchtende Punkte entstehen, mit großer Geschwindigkeit fortrücken und dann erlöschen. Was der Augenschein lehrt, ist damit richtig bezeichnet, aber die Natur der Sternschnuppe ist damit noch nicht erkannt. Diese wurde erst verstanden als eine der kosmischen Physik angehörige Erscheinung: die Sternschnuppe auf ihrer Wanderung um die Sonne gelangt zeitweilig in die irdische Atmosphäre; dadurch wird ihre räumliche Bewegung gehemmt und verwandelt sich nach physikalischen Gesetzen in molekulare Bewegung, d. h. Wärme. Die Sternschnuppe gerät in Glühhitze, und jenes Bahnstück, das innerhalb der Atmosphäre liegt, wird leuchtend; sie erlischt aber wieder außerhalb der Atmosphäre, wo ein Widerstand der Luft nicht vorhanden ist; sie verschwindet optisch, setzt aber in der Tat ihre Wanderung fort. Das Dasein der Sternschnuppe ist daher nicht auf das leuchtende Bahnstück beschränkt, sondern diesseits wie jenseits verlängert.

Wer nun den Menschen mit der Geburt anheben, wer ihn durch den Tod vernichtet werden lässt, gleicht einem Astronomen, der die Sternschnuppe als bloß atmosphärische Erscheinung aus ihrem leuchtenden Bahnstück heraus erklärt. Wenn wir nur das irdische, im Lichte seines sinnlichen Bewusstseins leuchtende Bahnstück des Menschen betrachten, gelangen wir zu einer falschen Definition, verwandeln ihn in ein bloß physikalisches Problem. Wir müssen ihn als kosmisches Wesen erkennen, sein irdisches Bahnstück nach vorwärts und rückwärts verlängern, um seine wahre Natur zu durchschauen.

Weil nun von unserem sinnlichen Selbstbewusstsein in der Tat nur unser irdisches Bahnstück erhellt ist, das Übrige im Dunkeln liegt, darum liegt das Fundament, das ceterum censeo*
* Zu deutsch: » Übrigens meine ich. . .«

aller Mystik in dem Satze: das Selbstbewusstsein erschöpft nicht seinen Gegenstand; mit anderen Worten: es gibt eine transzendentale Psychologie. Wer diesen Satz, dass wir über unser Selbstbewusstsein hinausragen, beweisen und die Frage, wie weit wir hinausragen, erschöpfend beantworten kann - dies wird ohne Zweifel die Aufgabe der Philosophie des nächsten Jahrhunderts sein* -,
* Bis zur Hälfte dieses 20. Jahrhunderts ist vor allem bewiesen worden, wie tief wir unter unser Selbstbewusstsein hinabreichen: zur Tiefenpsychologie muss sich - was die offizielle Forschung betrifft - eine Höhenpsychologie erst noch hinzugesellen.

der wird für das Menschenrätsel leisten, was Schiaparelli für die Sternschnuppe geleistet hat, indem er nachwies, dass ihr atmosphärisches leuchtendes Bahnstück nur ein Teil einer größeren kosmischen Kurve ist. Sind aber von dieser einige Punkte bestimmt, so lässt sich auch Form und Lage der ganzen Bahn berechnen.

Weil unser sinnliches Bewusstsein nur das irdische, zwischen Geburt und Tod liegende Bahnstück beleuchtet, muss diesem der Schein anhaften, als sei die Geburt der Beginn der Existenz, wie der Tod ihr Ende, welche Existenz zudem durch eine fremde, bloß irdische Ursache als Geschenk von außen uns verliehen wurde, und dieser Schein müsste für die irdische Person selbst dann bestehen, wenn wir als Subjekt mit transzendentalem Bewusstsein den freiwilligen Entschluss gefasst hätten, ins Irdische zu tauchen.

Die Geheimwissenschaften lehren nun aber die organisierende Natur der Seele, und damit ist dem irdischen Bahnstück eine Präexistenz und Postexistenz
[Weiterexistenz nach dem Tode] beigefügt; sie lehren ferner, dass wir diese Verlängerungsstücke, die für uns im Unbewussten liegen, mit transzendentalem Bewusstsein durchwandern, welches wir überall da ansetzen müssen, wo das sinnliche Bewusstsein aufhört oder anfängt, jenseits der Geburt wie des Todes; sie lehren endlich, ja schon die geniale Produktion zeigt es, dass dieses transzendentale Bewusstsein gleichzeitig mit dem sinnlichen Bewusstsein, wenn auch verborgen für dieses, besteht. Unser Eintritt ins Leben erfolgt also durch eine von uns ungewusste, aber nicht an sich unbewusste Ursache, und diese Ursache liegt nicht außerhalb unser in den irdischen Verhältnissen, sondern in uns selbst; er ist ein transzendenter Willensentschluss.

Der äußere Zwang ist nur ein Schein. Das alles wird noch deutlicher, wenn wir den umgekehrten Fall betrachten, dass die Begleitung einer Handlung durch das sinnliche Bewusstsein den Schein der Freiheit erweckt, auch wenn sie unter fremdem Zwang geschieht. Spinoza hat in einem seiner Briefe das tiefe Wort ausgesprochen, dass ein mit Bewusstsein versehener Stein, wenn er geworfen wird, glauben würde, freiwillig zu fliegen. Der Satz ist vielleicht buchstäblich wahr: denn wenn alle Kraft - nach Schopenhauer und Wallace*
* Der Zoologe (speziell Tiergeograph) A. R. Wallace, erster Mitarbeiter Charles Darwins, aber im Gegensatz zu diesem Spiritist und Verfasser tiefgründiger Bücher über die okkulten Wirklichkeiten.
Darwin wurde volkstümlich; seine Lehre von der Entstehung der Arten durch Zufall und Massenmord setzte sich durch, sein Apostel Ernst Haeckel bescherte uns den Gorilla als Urgroßvater der Menschheit (dann wieder den Schimpansen, andere Forscher tippen auf den Gibbon, wieder andere auf den Orang-Utan).
Der massivste Prediger der Affenabstammung unter den modernen Verkäufern des Menschen an die Zoologie, Hans Weinert, plädiert für eine eiszeitliche Vorform des Schimpansen, deren Menschwerdung er während der nationalsozialistischen Jahre sich beeilte vom bis dahin so beliebten Hochasien nach dem germanischen Norden zu verlegen. - A. R. Wallace hingegen wurde nur kleinsten Kreisen bekannt. Die Anschauungen Darwins haben sich inzwischen weithin ausgewirkt -: es wird Zeit, dass sich auch die von Wallace einmal auszuwirken beginnen!

- Wille ist, so würde jener Stein, sein Inneres erkennend, in sich einen Willen finden, der ihn auf der Wurfkurve vorwärts treibt, wie er, auf dem Boden angelangt, diesen Willen nicht mehr finden, also seine physikalische Trägheit für eine psychische halten würde.

Wie also der Schein der Freiheit entstehen kann vermöge des Bewusstseins, so der Schein der Unfreiheit vermöge des Unbewusstseins. Ja sogar der durch unser eigenes Handeln bestimmte Inhalt unseres Lebens, einerseits von den äußeren Existenzverhältnissen herbeigeführt, könnte doch andererseits transzendental bestimmt sein. Nehmen wir zum Vergleich den eingangs erwähnten Matrosen. Wenn diesem vor seiner Aussetzung auf der Insel posthypnotische Befehle erteilt worden wären, die er nach Monaten und Jahren auszuführen hätte, so würde er sie zur rechten Zeit ausführen, und weil es mit Bewusstsein geschähe, würde er in der Täuschung der Freiheit befangen sein. *
* Tatsächlich pflegt der Mensch, wenn er posthypnotisch wirksame Befehle ausführt, sein Tun zu »rationalisieren«, d. h. sich vom Verstand her ganz andere Motive zurechtzumachen, als sie tatsächlich vorliegen; die Einsicht ins Tatsächliche ist ihm in solchen Fällen durch die Erinnerungssperre nicht möglich .

Auch Handlungen unseres Lebens könnten also sehr wohl mit Bezug auf eine individuelle oder auch geschichtliche Mission gleichsam durch posthypnotische Befehle erfolgen, vom transzendentalen Subjekt als Hypnotiseur erteilt, während wir im Zustand sinnlicher Unbewusstheit waren, dann aber ausgeführt mit dem Scheine der Freiheit.

Kant sagt in seiner dritten Antinomie der reinen Vernunft, welche den Gegensatz von Notwendigkeit und Freiheit behandelt, dass die Veränderungen in der Welt, mit Einschluss unserer Handlungen, notwendig eintreten. Irdisch betrachtet ist jede Handlung das notwendige Produkt aus Motiv und Charakter, und Kant selbst sagt, dass, wenn wir den empirischen Charakter eines Menschen genau kennen würden, wir auf sein Handeln in einer bestimmt gegebenen Situation mit derselben Sicherheit schließen könnten, womit wir eine Sonnenfinsternis berechnen. Freiheit, sagt Kant, sei nur im Reiche des Übersinnlichen, des Intelligiblen zu treffen, im »Ding an sich«. Wenn nun aber unserem irdischen, empirischen Charakter ein übersinnliches Wesen, ein transzendentales Subjekt, zugrunde liegt, dann ist die übersinnliche Freiheit die eines »Ich an sich« und ist individuell zu denken. Insofern müsste der Eintritt ins Leben, der dem Bewusstsein als notwendig erscheint, weil es die Bedingungen des Lebens mit dessen Ursache verwechselt, ein freiwilliger Akt des Subjekts sein, und da der empirische Charakter selbst nur die Darstellung des transzendentalen ist, sind auch die Handlungen unseres Lebens dem transzendentalen Subjekt als frei anzurechnen.

So lässt sich also jene Spekulation Kants, deren Tiefsinn Schopenhauer und Schelling so sehr bewundert haben, jetzt nach 100 Jahren durch eine Tatsache der transzendentalen Psychologie, durch den posthypnotischen Befehl, verdeutlichen. Die Einsicht in die Notwendigkeit unserer Handlungen steht daher nicht im Widerspruch mit unserem Gefühl der Freiheit und Verantwortlichkeit, sondern ist mit ihr vereinbar.

Autohypnose und posthypnotische Befehle
sind anerkannte Phänomene, und sie drängen unwillkürlich zu ihrer Verwertung im obigen Sinne, weil sie nicht nur zwei philosophische Rätsel, die Geburt und das trotz der Notwendigkeit bestehende Verantwortlichkeitsgefühl, erklären, sondern auch gewisse sonst unerklärliche Erfahrungstatsachen, z. B. die rhythmischen Bewegungen in unserem Lebensschicksal, wovon Hellenbach in der »Magie der Zahlen«, und die »Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen«, wovon Schopenhauer spricht? *
* Lazar Baron Hellenbach (1827-1887) wurde besonders durch sein Werk »Geburt und Tod als Wechsel der Anschauungsform« (1885; Neuausgabe 1925 im Verlag O. Mutze, Leipzig) bekannt, ferner durch seine Studien über die Magie der Zahlen. Schopenhauers Aufsatz findet sich in »Parerga und Paralipomena«.

Wäre es nun so, so würde sich auch daraus ergeben, dass unser irdischer Lebensgang zu unserem transzendentalen Wohl eingerichtet ist, und das verleiht uns eine transzendental begründete Resignation, die weit mehr leistet, als die Weisheit aus Not zu leisten vermöchte. *
* Tatsächlich begegnen wir auch in unserem Schicksal immer nur uns selbst. Die göttliche Letztinstanz unseres Wesens, der ewige Individualitätsfunke, der unaustauschbar und ein Original aus Gottes Werkstatt ist, erbrütet gleichsam vorgeburtlich - ehe wir uns einhüllen in Mentalität, Astralität und physische, von Lebenskräften durchflutete und gestaltete Leiblichkeit - das Rechte, das uns schicksalsmäßig zukommt. Sind die irdischen Umstände dafür günstig, d. h. ist das uns gemäße Elternpaar vorhanden und bergen die Zeitläufte in ihrem Schoß die Möglichkeit, die ein Realisieren des uns zugemessenen Schicksals gewährleisten, dann, erst dann steht das Portal für unsere Verkörperung offen.

Weil das so ist, leitet uns die Weisheit unseres höchsten Wesensprinzips tatsächlich durchs Leben - und deshalb auch ist es möglich, vom Diagramm der kosmischen Stunde, die wir für unsere Verkörperung wählten, d. h. vom Horoskop, dasjenige abzulesen, was uns als »karmisches Programm« zugewiesen wurde - tief genug erfasst: was wir selbst uns zuwiesen von jener höchsten Ebene her, wo wir in Einheit mit dem Göttlichen und dennoch Individualitätsfunke sind.

Auf allen Punkten wiederholt es sich also, dass die transzendentale Psychologie, weil erst in ihr die Lösung des Menschenrätsels zu finden ist, Vernunft in unser Dasein bringt, welches, materialistisch bloß von der irdischen Seite betrachtet, als die größte Unvernunft erscheint. Denn materialistisch genommen ist die Geburt nur die Folge eines kurzen Vergnügens, welches sich zwei Individuen in dem bekannten »egoisme à deux« auf Kosten eines dritten bereitet haben, welches letztere als Buße dafür einige Jahrzehnte lang die Plackereien des Lebens zu tragen hätte. Die Frage, ob ein solcher egoisme à deux moralisch ist, wäre alsdann zu verneinen; die Frage, ob es Pflichten der Kinder gegen die Eltern, ja ob es überhaupt Pflichten irgendwelcher Art gebe, wäre ebenfalls zu verneinen. Alle drei Fragen aber sind zu bejahen vom Standpunkt der transzendentalen Psychologie, die darin ihre eminente Bedeutung auch in praktischer Hinsicht verrät.

Die Materialisten, wenn sie von Moral reden, beschränken charakteristischerweise ihre Untersuchung auf die Frage, wie die Moral entstanden sei; die andere, ob die Moral Pflicht sei, bleibt aus guten Gründen unerörtert. In einer bloß materiellen Welt, die sich nur durch größeren Umfang von einer Retorte unterscheidet, ist eben absolut nichts vorhanden, worauf sich eine Moral gründen ließe; die Moral setzt ihrem Begriffe gemäß schon voraus, dass Welt und Mensch nicht bloß physikalische Probleme seien, sondern auch metaphysische. Wenn der Materialist das leugnet und dennoch Moral predigt, so ist er eben unlogisch, was ihm allerdings nie schwer fällt.

Die transzendentale Psychologie dagegen vermag allerdings eine Moral nicht bloß zu predigen, sondern zu begründen, weil sie Unsterblichkeit lehrt und die Abhängigkeit des künftigen Zustandes vom Gebrauch, den wir im Diesseits von unseren Anlagen und Fähigkeiten machen. Das ist aber nicht nur von praktischem Interesse, sondern heute sogar von sehr aktuellem Interesse; denn im Zersetzungsprozeß der Religionen hat die Moral ihre alten Stützen verloren, sie müsste also auf dem bisherigen Wege selbst allmählich zersetzt werden. Die derzeitige Moral ist der Niederschlag der idealistischen Weltanschauungen der Vergangenheit, die ihren pädagogischen Wert hatten und ihren Zweck erfüllten, wiewohl in ihnen die Moral ungenügend, ja unrichtig begründet war. Die Moral müsste also notwendig verkümmern, wenn ihr nicht aus einer neuen idealistischen Weltanschauung neue Blutzufuhr zufließen würde.

Diese Weltanschauung ist erst in den Anfängen ihrer Bildung begriffen, und darum spiegelt sich unsere theoretische Zerfahrenheit hinsichtlich des Moralproblems wider in der gesellschaftlichen Zerfahrenheit, womit die modernen Menschen ihr Leben gestalten. Der eine strebt mit faustischem Drang nach Wissen, aber seine Nebenmenschen kümmern ihn nicht; der Sinn des andern ist ganz auf Werke der Wohltätigkeit gerichtet, aber er verschmäht ganz und gar Wissenschaft und Kunst. Der eine isoliert sich, indem er zu den Trappisten geht oder sonstwie in bloßer Beschaulichkeit ein mehr vegetatives Dasein führt; der andere stürzt sich ins Menschenleben, dem Phantom des Ruhmes nachzujagen, strebt dabei vielleicht auch nach Wissen, aber nur weil es Macht verleiht. Die meisten endlich jagen nur nach sinnlichen Genüssen und nach Gold als dem Mittel, sich diese Genüsse zu verschaffen. Weil nun bei diesem Streben notwendig viele zu kurz kommen müssen - die Erde ist eben keine Schlaraffia - und weil unvermeidlich ungesunde Extreme von Pauperismus und Reichtum eintreten, so ist in neuerer Zeit die soziale Frage aufgetaucht, die sich in den Köpfen sehr verschieden äußert, bei den einen als philanthropische Schwärmerei, bei anderen als blinde Zerstörungswut oder auch als kleinlichste Eitelkeit und Sucht, von sich reden zu machen. Wer kein Heros zu sein vermag, will wenigstens ein Herostratus werden. Bei allen diesen verschiedenen Tendenzen in unserer Gesellschaft glaubt doch jeder das Richtige zu tun und hat die korrespondierende Weltanschauung, um gerade sein Verhalten zu motivieren - und hier zeigt sich eben die praktische Zerfahrenheit als Wirkung der theoretischen.

Leider sind selbst die berechtigten Bestandteile dieser sozialen Bewegung mit der Ansicht verquickt, die Re­form sei im großen und ganzen auf dem Boden der materialistischen Weltanschauung vorzunehmen. Dies ist aber geradezu ein logischer Widerspruch; denn je mehr der theoretische Materialismus Überzeugungssache wird, desto mehr wird er sich praktisch ausleben und damit den Kampf ums Dasein immer mehr verschärfen, den der Sozialismus doch mildern will. Durch äußere nationalökonomische Maßregeln kann das wohl bis zu einem gewissen Grade geschehen, aber die Hauptsache bleibt doch immer, die Menschen ihrer inneren Substanz nach so umzuändern, dass die Philanthropie auch ohne jene äußeren Veranstaltungen besteht, die sonst immer von einem Bruchteil als lästiger Zwang empfunden würden. Diejenigen Sozialisten, die in der Tat nur die moralische Tendenz haben, den Armen und Elenden aufzuhelfen, werden früher oder später zur Einsicht gelangen, dass der mit der materialistischen Weltanschauung verschmolzene Sozialismus dies es Ziel nie dauernd erreichen kann und dass nur auf Grund einer metaphysischen Weltanschauung erreichbar ist. Eine solche kann aber in unserem Jahrhundert nur auf der Grundlage von Erfahrungstatsachen aufgebaut werden, und darum bedarf es zunächst der Anerkennung der transzendentalen Psychologie; sie bildet die eigentliche Eingangspforte in die Metaphysik. *
* Eine echte »Societas«, Menschengemeinschaft, ist nur möglich, wenn erkannt wird, dass - um mit du Prel zu reden - jedes »transzendentale Subjekt« als Original aus Gottes Werkstatt nur einen einzigen Platz im All einnehmen kann: den unaustauschbar seinen. Ihm dazu zu verhelfen, gewährleistet soziale Gerechtigkeit: denn wo nur dieser und kein anderer Mensch an seinem Platze ist, vermag er diesen Platz auch keinem anderen Mitmenschen wegzunehmen. Richtig verstandener Individualismus und richtig verstandener Sozialismus bedingen einander, wenn man tief, d. h, erleuchtet genug zu erkennen weiß. Erleuchtung und Liebe sind dazu notwendig. Lieblose Erleuchtung ist ebenso wenig wert wie unerleuchtete Liebe.

Es gibt sehr viele unter uns, welche unsere Kultur optimistisch verblendet betrachten, alles rosig und in unseren Gesellschaftszuständen schon einen bedeutenden Moralitätsgrad verwirklicht sehen, daher auch von der Notwendigkeit einer neuen Weltanschauung sich nicht überzeugen können. Aber näher besehen löst sich die moralische Färbung unserer Kultur in bloßen Schein auf, nämlich in bloße Legalität des Handelns ohne moralische Gesinnung. Diese Legalität wird aufrechterhalten bei den Gebildeten durch die öffentliche Meinung, bei den Ungebildeten durch die Staatsgewalt und das Strafgesetzbuch. Nur was nach Abzug dessen, was auf Rechnung dieser beiden Faktoren kommt, in un­serer Kultur an Moral noch übrigbleibt, ist waschecht und kann der inneren Gesinnung zugeschrieben werden. Das zeigt sich, so oft die Stützen der Legalität, wenn auch nur vorübergehend, umgestürzt werden. jedesmal ist dann der Bestialismus zutage getreten; so bei der »großen« Revolution, bei welcher Köpfe auf Piken gespießt herumgetragen wurden, so dass Paris mit einem Schlag auf die Kulturstufe von Dahomey herabsank. Von einer Verringerung der Moral ist dabei keine Rede; nur der Zwang war verringert, der bislang die Legalität aufrechterhalten hatte. So würden aber auch bei einer neuen Revolution Anarchisten*
* Hier tut du Prel dem Begriff »Anarchist« das übliche spießbürgerliche Unrecht. Anarchisten - wörtlich: Verneiner des Herrschaftsprinzips - sind ebenso wenig Unmenschen, wie es die von allerchristlichsten Abendländern planmäßig ausgerotteten und korrumpierten Rothäute waren. Sie sind vielmehr diejenigen Politiker, die zum Guten im Menschen so viel Vertrauen haben, dass sie Staat, Polizei, Militär und ähnliche Institutionen des Herrschaftsprinzips für künstliche (und schädliche) Herausforderungen des Bösen halten. Bezeichnenderweise heißt das (gegen Darwin gerichtete) Hauptwerk der anarchistischen Bewegung, das Pjotr Alexejewitsch Kropotkin verfasste »Gegenseitige Hilfe im Tier- und Menschenreich«.

und Nihilisten den Beweis erbringen, dass wir mitten in unserer Zivilisation unsere Rothäute haben, und den Sozialisten von berechtigten Tendenzen wird es schwerlich gelingen, sich dieser Gesellschaft zu erwehren.

Das alles muss bei einer objektiven Abschätzung unseres Moralitätsgrades in Rechnung gestellt werden und zeigt, wie notwendig die Wiederbelebung des Glaubens an eine Metaphysik ist, weil nur so die Moral neu gestützt werden kann. Eine Moral aber, die nicht bloß äußerlich anbefohlen, sondern innerlich begründet werden soll, muss aus der Definition selbst folgen, welche der Mensch in dieser neuen Metaphysik erhält. Es kommt also auch hier auf die richtige Lösung des Menschenrätsels an.

Die Begründung der Moral ist ohne Zweifel die schwierigste, aber auch die eigentliche Aufgabe der Philosophie; denn der Mensch ist die höchste Naturtatsache, und die Moral ist seine höchste Funktion. Instinktiv stellen wir dieselbe höher als die Bildung. Am moralischen Menschen vermissen wir kaum die Bildung, Genie ohne Moral aber stößt uns ab. Dummheit erregt Bedauern oder Heiterkeit, Schlechtigkeit erregt Entrüstung. Der eigentliche Prüfstein philosophischer Systeme liegt also darin, ob sie fähig sind, die Moral zu begründen.

Der moralische Instinkt ist nun aber unlogisch, wenn die menschliche Individualität nur zwischen Wiege und Grab liegt. Hätte nur unser sichtbares Bahnstück Geltung und gingen wir mit Bewusstsein unserem Erlöschen entgegen, dann glichen wir dem zum Tod Verurteilten, nur dass unser Weg zur Richtstätte etwas länger und der Zeitpunkt ungewiss ist, wann wir sie erreichen. Das Gesetz gesteht dem Verurteilten für seine letzten Tage die Erfüllung seiner leiblichen Wünsche zu. So war es schon bei den alten Griechen. Diesen Anspruch mit Vernachlässigung der Vorbereitung für das Jenseits werden wir aber für unsere ganze Lebensdauer erheben, wenn wir als Materialisten den Tod als Vernichtung ansehen.

Hier zeigt sich, dass für die Moral ein analoges Verhältnis existiert wie für die Intelligenz. Der Intelligenzgrad ist nämlich abhängig von der Entwicklung des Zeitsinns. Das Tier lebt in der anschaulichen Gegenwart; es hat kein Zeitbewusstsein. Nicht viel anders der Mensch im Zustand des Nomadenlebens; er schöpft keine Belehrung aus der Vergangenheit und trifft keine Anstalten für die Zukunft. Der Kulturmensch ist darum das höchste irdische Wesen, weil er bei seinen Handlungen Vergangenheit und Zukunft in Rechnung zieht. Der Entwicklungsgrad des Zeitsinns bestimmt also die biologische Stufe eines Wesens und ist identisch mit dem Entwicklungsgrad der Vernunft; denn die Vergangenheit lässt sich nur in der Form abstrakter Begriffe aufbewahren, die Zukunft nur in solchen denken; das Vermögen abstrakter Begriffe ist aber eben die Vernunft. Insofern ist also unsere ganze Kultur in Hinsicht der Intelligenz an die Entwicklung des Zeitbewusstseins gebunden. Ohne dieses wäre der biologische Prozess nicht über das Tier hinausgekommen.

Wie nun die Entwicklung der Intelligenz an die des irdischen Zeitsinns geknüpft ist, so die Entwicklung der Moral an die des überirdischen Zeitsinns. Sie ist allererst möglich, wenn wir unser irdisches, vom sinnlichen Bewusstsein beleuchtetes Bahnstück als bloßen Teil einer vielleicht hyperbolischen Kurve erkennen, die wir zu durchwandern haben. Mag in der Steigerung der Intelligenz die irdische Zeit noch so vollkommen, nach Vergangenheit und Zukunft, umfasst werden, so kann das immer nur der Intelligenz zugute kommen und zum Motiv werden, dem Wohl unserer irdischen Person nachzustreben. Damit tritt aber der Konflikt mit der Moral ein. Dem Wohle unseres ganzen, unseres eigentlichen Wesens werden wir erst nachstreben, wenn unser Zeitbewusstsein über die irdische Existenz hinausgreift und die metaphysische Natur des Menschen wieder erkannt sein wird. Von dieser Steigerung des Zeitsinnes und der damit verbundenen Erhöhung des Menschen wird auch der moralische Mensch betroffen. *
* An dieser Stelle wird ganz deutlich, dass du Prel unter »Moral« in der Tat Verantwortung höheren Zielen gegenüber versteht (und nicht etwa »Sittlichkeit« im bürgerlichen Sinne).

Dieses Ziel uns erkennen zu lassen, ist die Aufgabe der transzendentalen Psychologie. Sie lehrt, dass der Mensch die Materialisierung eines transzendentalen Subjekts, die Verkörperung eines übersinnlichen Wesens ist. Als ein wesentlicher Teil der Natur ist er wohl das gleiche, was diese ganze Natur zu sein scheint, die nicht aus Nichts entstanden, sondern nur die Materialisierung einer unsichtbaren Welt sein kann. So dachten die Mystiker. Die Bibel nennt diese Materialisierung unseres unsichtbaren Wesens »Vertreibung aus dem Paradiese«. Wir können den Mythos beibehalten, nur werden wir ihn im Sinne der Geheimwissenschaften auslegen, wie es Philo, Origenes, die Kabbalisten, Plotin und Platon in seiner Ideenlehre getan. Das Paradies geht der Geburt vorher und ist die Präexistenz. Der Sündenfall folgt nicht erst der Geburt, sondern er ist die irdische Geburt. Er fällt mit der Vertreibung aus dem Paradiese zusammen, d. h. durch die Geburt wird uns unsere transzendentale Existenz unbewusst. Die »Leibröcke von Fell«, womit Gott den gefallenen Menschen bekleidet, sind die irdischen Körper, deren sie sich schämten, als sie sie erkannten, während sie ihrer früheren Nacktheit des ätherischen Leibes sich nicht schämten. Durch den Sündenfall, so sagt die Bibel, ist der Tod in die Welt gekommen. Gewiss; denn die Materialisierung ist wegen der Vergänglichkeit aller Materie nur zeitlich und es muss ihr die Dematerialisierung, der Tod, folgen. Darum eben sollen wir das Leben benutzen, solche Güter zu erwerben, die den Tod überdauern. Das Programm unserer Lebensführung wird bestimmt durch die Erkenntnis, dass wir über den Tod hinaus entwicklungsfähig sind.

Diese Definition des »Sündenfalls« wird zwar den Theologen nicht behagen, die von der esoterischen Seite ihrer eigenen Dogmen keine Ahnung haben; aber esoterisch verstanden ist der Mythos wahr. Versteift man sich dagegen auf die buchstäbliche exoterische Auslegung der Dogmen, so werden sie auf der wissenschaftlichen Erkenntnisstufe unhaltbar, und alle Bemühungen der Theologen können alsdann nicht verhindern, dass die Zahl der Ungläubigen beständig wächst. Darin besteht eben die Wahrheit jedes tiefsinnigen Mythos, dass er auf jeder Erkenntnisstufe in eine andere Auslegung hineinwächst, ohne zu veralten; wenn die naive Auslegung unhaltbar geworden ist, stellt eine tiefere sich ein. Esoterisch verstanden kommt also auch der Geschichte vom Adam in unseren Kinderkatechismen ein Wahrheitsgehalt zu.

Die Kirche wird sich freilich mit solchen Konzessionen nicht zufrieden geben, und darum ist auch ihr Konflikt mit der modernen Mystik nicht zu vermeiden, und er wird vielleicht in Bälde zum Austrag kommen. Zu bedauern ist dieser Konflikt insofern, als der eigentliche Feind der Menschheit und einer idealen Kultur der Materialismus ist, zu dessen Bekämpfung alle sich verbinden sollten, die, in welcher Form immer, an eine Metaphysik glauben. Es wäre aber naiv, das von einer Kirche zu erhoffen, die von jeher alle Andersgläubigen verfolgt hat, auch wenn deren Glaube sich vom kirchlichen nur durch eine Schattierung unterschied. Sie hat diesen Kampf von jeher mit allen ihr jeweilig zu Gebot stehenden Mitteln geführt, mit Feuer und Schwert, solange sie mächtig war, und führt ihn noch heute, da sie ihre Macht verloren, mit gelinderen Mitteln.

Im übrigen kann es dem modernen Mystiker nicht einen Augenblick zweifelhaft sein, auf welcher Seite bei dem bevorstehenden Konflikt der Sieg sein wird. Die Kirche wird nie von der Behauptung lassen, dass ihre Dogmen Offenbarungen seien, an denen nicht gedeutelt werden darf, sondern die einfach geglaubt werden müssen, und zwar im exoterischen Sinne. Mit diesen Ansprüchen durchzudringen hat sie aber keine Aussicht. Man versteht unser Jahrhundert nicht, wenn man nicht einsehen will, dass die Menschheit dem Gängelbande des Glaubens entwachsen ist und mit demselben nicht mehr gelenkt werden kann: Das Jahrhundert der Naturwissenschaften will nicht mehr glauben, sondern wissen. Der Übergang ist allerdings nicht so leicht, und er muss vorübergehend schwere Nachteile im Gefolge haben; aber an sich betrachtet ist es eine erfreuliche Erscheinung, wenn die Menschheit das Bedürfnis empfindet, von der Stufe des Glaubens auf die höhere des Wissens gehoben zu werden. Die Wahrheit kann an Macht dadurch nur gewinnen, wenn sie nicht bloß geglaubt, sondern gewusst wird, und der wissende Mensch selbst steht höher als der glaubende. Die Glaubenslosigkeit, wenn sie die Massen ergreift, noch bevor der Ersatz da ist, ist freilich bedenklich, aber doch nur für die Übergangsperiode. Könnte unser Blick über diese Periode weit hinaussehen, so würden die Jeremiaden über den modernen Unglauben verstummen.

Zur Zeit ist es freilich gerade unser Problem der Unsterblichkeit, welches unter dem modernen Unglauben am schwersten leidet. Die Überzeugung von der Unzulänglichkeit der bisherigen Beweise ist bereits Massenphänomen, und solange die stärkeren, ja vollkommen einwurfsfreien Beweise der Unsterblichkeit nicht in die Massen dringen, werden diese das Kind mit dem Bad ausschütten und die Zwischenzeit durch den Materialismus ausfüllen. So sehen wir heute, dass in Arbeiterkreisen Büchners »Kraft und Stoff« zu den meistgelesenen Büchern gehört. *
* Das ist längst vorbei! Theoretisch ist der Materialismus nirgends mehr aufrechtzuerhalten, am wenigsten unter einfachen und unverbildeten Menschen; nur noch bewusst tendenziöse Intellektuelle und vor allem persönlich interessierte Machthaber sowie deren Lohnschreiber vertreten ihn mündlich und schriftlich.

Darin liegt unbestreitbar eine große Gefahr; man ist sich derselben bewusst, und die Kirche versteht es, aus dieser ängstlichen Stimmung Kapital zu schlagen. Als Löschmittel gegen das Petroleum bietet sie dem Staate das Weihwasser an. Man will z.B. an der Schule den Hebel ansetzen, um die Massen wieder gläubig zu machen; man glaubt also über die charakteristische Signatur unseres Jahrhunderts, welches vom Glauben zum Wissen fortschreiten will, einfach hinweggehen zu können. Die Massen sollen wieder gläubig werden, und zu diesem Behufe soll die Wissenschaft sich dem Glauben unterordnen. Mit diesem ungeheuren Anspruch hat die Kirche bisher nur erreicht, dass der Unglaube beständig zugenommen hat, und es liegt auf der Hand, dass sie damit auch künftig nichts anderes erreichen kann. Wenn das Wort Entwicklung für die Geschichte ebenso gilt wie für die Biologie, so kann eine Kirche, welche die Entwicklungsunfähigkeit der Religion und die ewige Geltung ihrer Dogmen im buchstäblichen Sinne zum Prinzip erhebt, an Macht immer nur verlieren. Über eine Wissenschaft, die dem Glaubensollen ein Wissenwollen entgegenstellt, kann die Kirche nicht siegen.

Nur eine solche Metaphysik hat Aussichten, bei den Massen Eingang zu finden und den Materialismus aus ihnen zu verdrängen, die das Prinzip der geistigen Entwicklung der Menschheit anerkennt und den metaphysischen Vorstellungen die Unterlage von Erfahrungstatsachen zu geben vermag. Weil die Naturwissenschaft diesem Anspruch genügt hat, ist sie in die Massen gedrungen, und von nun an werden diese Massen diesen Anspruch auch jeder Metaphysik gegenüber erheben. Kurz, dem Offenbarungsglauben entwächst die Menschheit mehr und mehr, die spekulative Metaphysik wird immer Kaviar für das Volk bleiben, und die Massen können nur zu einer solchen Metaphysik bekehrt werden, welche die Nachteile des Dogmatismus abgestreift und die Vorteile der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gewonnen hat. Diesen Vorteil bietet nun jene Weltanschauung, die, auf den Tatsachen der Geheimwissenschaften fußend, ihre Fühlhörner bis in das metaphysische Gebiet vorstreckt. Es ist demnach klar, dass die moderne Mystik, wenn ihr Konflikt mit der Kirche eintreten wird, alle Aussichten hat, die Massen für sich zu gewinnen. Selbst in unseren Arbeiterkreisen regt sich schon das Bedürfnis nach Bildung. Sie wissen es sehr gut, dass Wissen Macht ist, ja darüber sind sie sich klar, dass ein dauernder Sieg immer nur jener Partei zufallen kann, welche die Wahrheit vertritt. Nun kommt die Kirche und behauptet, sie eben sei im Besitze der Wahrheit, und bietet Dogmen, an welche zu glauben mit zunehmender Erkenntnis immer schwerer wird, an welchen schon der Lateinschüler zu zweifeln beginnt und die der Student bis auf den letzten Rest über Bord wirft.

Davon tut die moderne Mystik das gerade Gegenteil. Sie verlangt nicht, dass man glaube, sondern untersuche; sie bietet Tatsachen statt der Dogmen; sie bietet eine Weltanschauung, die mit zunehmendem Studium immer plausibler und schließlich zur festen wissenschaftlichen Überzeugung, zum Wissen wird. Sie hat die Untersuchung nicht zu fürchten, sondern fordert sie. Ja noch mehr; sie verlangt das Experiment und weiß es bestimmt, dass jeder, der diesem Rate folgt, zum überzeugten Anhänger dieser neuen Weltanschauung werden muss. *
* Es könnte mit der gleichen Berechtigung hier auch heißen: »dieser uralten Weltanschauung«.

Eine solche Weltanschauung muss unvermeidlich in die Massen immer mehr eindringen. Die Kirche ist einem solchen Gegner nicht gewachsen; sie, die das »Opfer des Verstandes« fordert, ist nicht konkurrenzfähig gegenüber einer Weltanschauung, welche den Gebrauch des Verstandes verlangt, ja zum exakten Experiment auffordert und davon immer neue Beweise zu erwarten hat.*
* Hier wird du Prel nicht nur euphemistisch, sondern auch flach. Tausend exakte Experimente führen zu keiner festeren Überzeugung als ein einziges-und auf die »Massen« kommt es nicht in einem derart agitatorischen Sinne an, wie es hier formuliert wird. »Massen« von Experimental­Okkultisten brauchen nicht erfreulicher zu sein als Massen von Religions- oder politischen Parteifanatikern. Statt einer Häufung von Experimenten und einer noch größeren Häufung von Anhängern ihrer Ergebnisse wird stets die Erweckung einer Elite von Eingeweihten das Ziel der Geheimwissenschaften sein und bleiben.

Nun kommt aber noch dazu, dass der Staat und eine auf ihr wirkliches Wohl, auf ihre Lebensfähigkeit bedachte Kirche allen Grund hätten, eine solche Bewegung zu fördern, die den Materialismus hinwegfegen und den Glauben an Metaphysik wieder beleben wird. Wenn eine solche Metaphysik zudem in einem so wesentlichen Punkte, wie es die Unsterblichkeit ist, mit der Religion übereinstimmt und Beweise dafür liefert, während die Kirche über solche nicht verfügt, so fällt ja für die Religion selbst ein Gewinn ab, dem gegenüber es nicht in Betracht kommt, wenn andere Bestandteile der katholischen oder protestantischen Orthodoxie in die Brüche gehen sollten.

Die Menschheit wird also zum Glauben an Metaphysik zurückkehren, aber nicht dadurch, dass man den Kindern Dogmen eintrichtert, sondern dass man den Erwachsenen Tatsachen zur Prüfung vorlegt. Der Kirche gelingt es trotz ihres großartigen Apparates nicht einmal, sich ihre Gläubigen zu erhalten, noch weniger aber ist es päpstlichen Bullen und bischöflichen Hirtenbriefen je gelungen, auch nur einen Materialisten zurückzubekehren; die moderne Mystik dagegen, bloß weil ihr die Tatsachen zur Seite stehen, sieht die Zahl ihrer Anhänger beständig wachsen und hat schon bisher dem Materialismus ungeheuren Abbruch getan.

So erweist sich denn die Seelenlehre, indem sie die transzendentale Psychologie mit in Rechnung zieht, von sehr weittragender Bedeutung in praktischer Beziehung. Als Theorie aber löst sie nicht nur das Menschenrätsel in einem bisher noch nicht erreichten Grade, sondern teilweise das Welträtsel; der Weltzweck wird uns teilweise durchsichtig, und wir erkennen, dass die Welt eine Pflanzschule für Geister ist, welche durch die Vertreibung aus dem transzendentalen Paradiese vielleicht mehr gefördert werden mögen als im Paradiese.
Aus: Carl Du Prel: Das Rätsel des Menschen. Eine Einführung in das Studium wie der Geheimwissenschaften (S.94-154, 175-188)
Neu herausgegeben, eingeleitet, ergänzt und kommentiert von Dr. Herbert Fritsche, R. Löwit . Wiesbaden