Ramakrishna, eigtl. Gadadhar (1836 – 1886)

  Indischer Mystiker und Philosoph, der Brahmane und Priester der unheimlichen Muttergöttin Kâlî in Dakshineshvar bei Kalkutta war. Kâlî, in der sich die ambivalente Urnatur des Gottes Shîva personal ausdrückt, wird auch als »grausame Mutter Bengalens« bezeichnet: Die Urnatur ist schöpferisch und zerstörerisch zugleich. In seiner ekstatischen Tempel-Vision sah Ramakrishna nicht nur die lebendige Göttin, der er täglich im Tempel diente, sondern er fühlte sich von ihr besessen. Danach lebte Ramakrishna im Bewusstsein der ständigen Gegenwart der Muttergöttin Kâlî und das hat sich nach der Überlieferung auch nach außen hin ausgewirkt: Besucher des Tempels sollen in Ramakrishna selbst bald Kâlî, bald den Gott Shiva selbst gesehen haben. Ramakrishna vertrat die Überzeugung, dass alle Religionen in der visionären Erfassung Gottes übereinstimmen. Von seinen Schülern (insbesondere von Vivekananda) wurden seine Lehren in den USA und Europa verbreitet. Zentrum der »Ramakrishna-Mission« ist seit 1897 Belur bei Kalkutta.

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis
Ramakrishnas Schilderung seiner Vision im Tempel der Göttin Kâlî
Leben in der Welt
Alles wird von Gott bestimmt
Alle Religionen sind Begegnungen mit Gott

Gottesliebe
Die Formen göttlicher Wirklichkeit
Das Innewerden Gottes
Praktische Vedanta

Ramakrishnas Schilderung seiner Vision im Tempel der Göttin Kâlî
»Eines Tages war ich unerträglicher Beängstigung preisgegeben. Mir war, als winde man mein Herz aus, gleich einem nassen Linnen.. . Qual zerriß mich. Bei der Vorstellung, daß mir mein Leben lang der Segen jener göttlichen Erscheinung versagt sein sollte, packte mich schreckliche Raserei. Es hing das große Schwert in Kâlîs Heiligtum. Mein Blick fiel darauf und ein Blitz durchzuckte mein Hirn . . . Sie! . . . >Sie wird mir helfen, ein Ende zu machen!<... Ich stürzte vor. Ich packe das Schwert wie ein Rasender... Und siehe!

Der Raum mit all seinen Türen und Fenstern, der ganze Tempel verschwindet. Mir war, als ob er gar nicht mehr existiere. Doch an dessen Stelle gewahrte ich einen Ozean des Geistes, ohne Grenzen, blendend. Wohin ich auch die Augen wendete und so weit ich auch die Blicke schickte, überall sah ich Riesenwogen dieses leuchtenden Meeres anrollen. Wütend, mit furchtbarem Tosen stürzten sie gegen mich heran, als wollten sie mich verschlingen. Schon waren sie über mir, brachen sich, rissen mich in den Abgrund. Dahingerollt von ihnen, meinte ich zu ersticken. Ich verlor das Bewußtsein und sank... Wie dieser Tag und der folgende vergangen ist, davon weiß ich nicht das geringste. In mir wogte ein Ozean unaussprechlicher Seligkeit. Und bis zum untersten Grunde war ich der Gegenwart der göttlichen Mutter gewiß.«

Leben in der Welt
Sei frei. Lebe in der Welt wie das weggeworfene Blatt, von dem gegessen wurde. Es ist wertlos. Wem liegt an seinem Besitz? Wer würde es auch nur berühren wollen? Es treibt vor dem Winde, bald hierhin, bald dorthin. Genauso. Heute wirst du hierhin gestellt. Das ist gut. Bleibe. Wenn er dich aber da fortnimmt und an einen besseren Platz stellt, werden die Welt und dein Heim nichts verloren haben.

Warum können die Weltkinder nicht allem entsagen und zu Gott hineilen? Diese Welt ist wie eine Bühne, auf der die Menschen viele Rollen in verschiedenen Verkleidungen spielen. Darum legen sie nicht gern die Maskierung ab, bevor sie nicht eine Zeitlang gespielt haben. Laßt sie eine Weile spielen, und sie werden von selber die Verkleidung abwerfen.

Alles wird von Gott bestimmt
Die Gemüse im Kochtopf bewegen sich und hüpfen, daß die Kinder meinen, es seien lebende Wesen. Die Erwachsenen aber erklären ihnen, daß sie sich nicht von selbst bewegen. Wenn man sie vom Feuer nimmt, regen sie sich nicht mehr.

So denkt nur der Unwissende: »Ich tue es. « All unsere Kraft ist Kraft Gottes. Alles kommt zur Ruhe, wenn das Feuer entfernt ist. Die Marionetten können tanzen, solange an den Drähten gezogen wird. Sobald aber die Meisterhand fehlt, versinken sie in Untätigkeit.

»Wann werde ich frei sein?«

»Wenn dies Ich geschwunden sein wird. >Ich< und >Mein< bedeutet Unwissenheit — >Du< und >Dein< aber Wissen.«

Der Heilige spricht: »Du, o Herr, bist der Wirkende (kârtr).«

Frage:
»Herr, warum sind wir so unfrei? Warum können wir Gott nicht schauen?«

Antwort:
»Weil die Vorstellung von einem Ich die Mâyâ der Seele ist. Es ist unsere Ichsucht, die das Licht ausschließt. Wenn dies Ich geschwunden ist, wird alle Not ein Ende haben. Wenn der Gedanke: >Ich bin nicht der Wirkende<, sich durch Gottes Gnade dem Herzen tief einprägt, wird ein Mensch sogar in diesem Leben schon frei. Für ihn gibt es keine Furcht mehr.«

Wenn man zur Überzeugung gelangt, daß alles durch Gottes Willen geschieht, wird man zu einem bloßen Werkzeug in seiner Hand. Dann ist man selbst in diesem Leben schon frei.

»Du wirkest dein Werk. Menschen sagen, ich tue es.«

Alle Religionen sind Begegnungen mit Gott
Gott besitzt viele Namen und unendlich viele Gestalten, durch die man ihm nahen kann. Unter welchem Namen und in welcher Gestalt du auch immer ihn anbetest, gerade darin wird er sich dir offenbaren.

Wie ein und dasselbe Wasser in den einzelnen Sprachen verschieden benannt ist — der eine nennt es »Wasser«, ein anderer »vâri«, ein dritter »aqua« und ein vierter »pâni« —, so wird das eine Saccidânanda von einigen als »Gott« angerufen, von anderen als »Allah«, von einigen als »Hari« und von wieder anderen als »Brahman«.

Zwei Menschen stritten sich heftig über die Farbe des Chamäleons. Der eine sagte: »Das Chamäleon auf diesem Palmbaum ist von einem schönen Rot!« Der andere widersprach ihm und sagte: »Du irrst, das Chamäleon ist nicht rot, sondern blau.« Da keiner seine Meinung beweisen konnte, gingen sie zusammen zu einem Menschen, der unter jenem Baum lebte und lange beobachtet hatte, wie das Chamäleon seine Farbe beständig wechselt. Einer der Streitenden sagte:

Ist nicht das Chamäleon auf jenem Baume rot?« Der Mann entgegnete: »Ja, Herr.« Der andere Streitende sagte: »Was? Wie ist das möglich? Bestimmt ist es nicht rot, sondern blau!« Der Mann gab demütig zur Antwort: »Ja, Herr, es ist blau.« Er wußte, daß das Chamäleon beständig die Farbe wechselt, deshalb beantwortete er beide Fragen mit »Ja«.

So ist auch das Saccidânanda (= das Göttliche) verschieden gestaltet. Der Fromme, der ihn nur in einer Gestalt sah, kennt allein diese. Nur wer ihn in vielfältiger Gestalt sah, kann sagen:

»All diese Formen sind die eines Gottes, denn vielgestaltig ist Gott!«

Ein großer Teich besitzt mehrere Ghats (Landestellen mit Stufen). Wer auch immer eines dieser Ghats benutzt, um zu baden oder seinen Krug zu füllen, gelangt zum Wasser, und es ist zwecklos, zu streiten und zu behaupten, das eigene Ghat sei besser als das eines andern.
So gibt es auch viele Ghats, die zum Quellwasser der ewigen Wonne führen! Jede Religion in der Welt ist eines dieser Ghats. Gehe unbeirrt mit aufrichtigem und ernstem Sinn durch eines dieser Ghats, und du wirst zu den Wassern ewiger Wonne gelangen. Behaupte aber nicht, deine Religion sei besser als die eines andern.

Jeder Mensch sollte sich zu seiner Religion bekennen: Ein Christ zum Christentum, ein Mohammedaner zur Lehre Mohammeds. Für den Hindu ist der alte Pfad der arischen Seher (rishi) der beste.

Gottesliebe
Wißt ihr auch, wie stark unsere Gottesliebe sein sollte? Die Liebe eines hingebenden Weibes zu dem geliebten Mann, die Anhänglichkeit eines Geizhalses an sein angehäuftes Geld und das Verlangen des Weltkindes nach den Dingen dieser Welt, wenn die Kraft dieser drei sich in der Sehnsucht deines Herzens nach Gott vereinigt, wirst du zu ihm gelangen.

In weichem Ton bleibt ein Abdruck zurück, nicht aber in gebranntem Ton oder Stein. So prägt sich dem in Liebe Gottergebenen die göttliche Weisheit ein, dagegen nicht den Herzen der gebundenen Seelen, die im Feuer der weltlichen Wünsche brennen.

Die Formen göttlicher Wirklichkeit
Wie Wasser, wenn es friert, zu Eis wird, so ist die sichtbare Gestalt des Allmächtigen die verkörperte Manifestation des alldurchdringenden, formlosen Brahman. Sie ist gleichsam verdichtetes Saccidânanda (= Sein, Geist, Seligkeit, die Eigenschaften Brahmans). Und wie das Eis dem Wesen nach Wasser ist, im Wasser verbleibt und zu Wasser wieder zerschmilzt, so ist der persönliche Gott ein Teil und Bestandteil des Unpersönlichen, in dem er bleibt und schließlich untertaucht und verschwindet.

Gott ist gestaltlos und gestaltet zugleich. Er ist auch das, was beides, Gestalt und Gestaltlosigkeit, transzendiert. Er allein weiß, was alles er ist.
Gott der Absolute und der persönliche Gott sind ein und derselbe. Der Glaube an den einen schließt den Glauben an den anderen in sich. So ist Feuer getrennt von seiner Brennkraft undenkbar, wie Brennkraft undenkbar ohne Feuer ist. Wiederum kann man sich die Sonnenstrahlen nicht ohne die Sonne denken, noch die Sonne ohne ihre Strahlen. Ihr könnt euch nicht die Weiße der Milch gesondert von der Milch vorstellen, noch die Milch gesondert von ihrer milchigen Weiße. So ist der Gedanke an Gott, den Absoluten, untrennbar von dem an den persönlichen Gott mit Eigenschaften, und umgekehrt.

Richtet euren Sinn nur auf eines, entweder auf den persönlichen Gott oder auf den unpersönlichen. Nur wenn ihr beständig seid, könnt ihr Gottes innewerden, sonst nicht. Ist der Verehrer des persönlichen Gottes beständig, so wird er Gottes ebensogut innewerden wie der des unpersönlichen Gottes. Ob ihr nun ein süßes Brot der Länge oder der Breite nach schneidet, es wird immer süß schmecken. Doch ihr müßt beständig sein, müßt ihn voller Ernst anrufen. Was ihr einmal ergriffen habt, daran haltet fest. Taucht tief hinab. Wenn ihr nicht untertaucht, werdet ihr keine Schätze auf dem Meeresgrunde finden. Ihr könnt sie nicht erlangen, wenn ihr nur einfach an der Oberfläche des Wassers treibt.

Das Innewerden Gottes
Zum Ewigen muß man durch das Endliche gelangen, zum Wirklichen mit Hilfe des Unwirklichen, zum Noumenon [das nur mit dem Geist Erkennbare] mit Hilfe des Phänomenon [das sinnlich Erkennbare] .
Suche das Unwandelbare (nitya) durch das Weltspiel (lîlâ) zu erkennen.

Durch das Weltspiel müßt ihr euch hinauftasten zum Unwandelbaren. Und vom Unwandelbaren müßt ihr euch wieder zurücktasten zum Weltspiel, das nun nicht länger unwirklich, sondern den Sinnen soviele Manifestationen des Unwandelbaren ist.

Je tiefer die Gottesliebe im menschlichen Herzen nach der Innewerdung wurde, um so leichter ist Seine Gegenwart in allem zu spüren. Bis durch eine Überschwemmung der Fluß über seine Ufer tritt, muß man seinem gewundenen Lauf folgen, will man das Meer erreichen. Nach der Überschwemmung steht auch auf dem Lande das Wasser hoch, und man kann in gerader Linie wie der Flug der Krähe von überallher zum Meer hinrudern. Wenn die Ernte eingebracht ist, braucht man nicht mehr am Rain entlang um das Feld herumgehen. Man kann quer über die Felder gehen, wohin man will.
Zitiert aus: Worte des Ramakrishna. Hrsg. von E. v. Pellet. 1930 S.31ff., 56ff., S.162ff., S.176f.
Enthalten in: Die Söhne Gottes, Aus den heiligen Schriften der Menschheit, (S.81ff.)
Auswahl und Einleitungen von Gustav Mensching, R. Löwit . Wiesbaden

Praktische Vedanta
Dies eine Leben ist das Gesamtleben, Himmel und all diese Orte sind wir. Alle Götter sind hier, die Vorbilder des Menschen. Die Götter haben den Menschen nicht nach ihrem Bilde erschaffen, sondern der Mensch erschuf die Götter. Und hier sind die Vorbilder, hier ist Indra, hier ist Varuna und alle die Götter des Universums. Wir haben unsere kleinen Doppelgänger herausprojiziert, und wir sind die Urbilder dieser Götter, wir sind die wirklichen, die einzigen Götter, die verehrt werden müssen. Dies ist die Ansicht des Vedanta, und dies ist seine praktische Seite. Wenn wir frei geworden sind, brauchen wir nicht verrückt zu werden, die Gesellschaft fortzuwerfen und umzustürzen, um im Walde oder in einer Höhle zu sterben; wir werden
bleiben, wo wir waren, nur werden wir die ganze Sache verstehen. Die gleichen Erscheinungen werden bleiben, aber sie erhalten einen neuen Sinn.

Wir kennen die Welt noch nicht; nur durch die Freiheit sehen wir, was sie ist und verstehen ihre Natur. Dann werden wir sehen, daß das sogenannte Gesetz oder Fatum oder Schicksal nur einen unendlich Meinen Teil unserer Natur einnahm. Es war nur eine Seite, aber auf der andern Seite war allezeit Freiheit; wir wußten dies nicht, und das ist der Grund, weshalb wir versucht haben, uns dadurch vor dem Bösen zu schützen. daß wir unsern Kopf in den Sand steckten, wie der gehetzte Hase Infolge der Enttäuschung haben wir versucht, unsere Natur zu vergessen, und doch konnten wir es nicht; sie meldete sich allezeit bei uns, und all unser Suchen nach Gott oder den Göttern oder nach äußerer Freiheit, war ein Suchen nach unserer wirklichen Natur. Wir mißverstanden die Stimme. Wir dachten, sie käme vom Feuer oder von einem Gott oder von der Sonne, dem Monde oder den Sternen, aber zuletzt haben wir herausgefunden, daß sie in uns selber war. In uns selbst ist diese ewige Stimme, die von ewiger Freiheit spricht; ihre Musik klingt ewig fort. Ein Teil dieser Musik der Seele ist zur Erde geworden, zum Gesetz, zu diesem Universum, aber sie gehörte immer zu uns und wird es stets bleiben. Mit einem Wort, das Ideal des Vedanta ist, den Menschen zu kennen, wie er wirklich ist, und das ist seine Botschaft, daß, wenn Du nicht Deinen Brudermenschen, den manifestierten Gott verehren kannst, wie könntest Du einen Gott verehren, der unmanifestiert ist?

Erinnern Sie sich nicht, was die Bibel sagt: »Wenn du deinen Bruder nicht lieben kannst, den du gesehen hast, wie kannst du Gott lieben, den du nicht gesehen hast?« Wenn du Gott nicht im menschlichen Antlitz sehen kannst, wie kannst du ihn in den Wolken, oder in Bildern aus tauber, toter Materie oder in völlig erdichteten Ausgeburten deines Hirnes sehen? Ich werde dich religiös nennen von dem Tage an, wo du beginnst; Gott in Männern und Frauen zu erblicken, und dann wirst du begreifen, was es bedeutet, dem Menschen, der deine rechte Wange schlägt, die linke zu reichen. Wenn du den Menschen als Gott siehst, wird dir jedes Ding willkommen sein, selbst der Tiger. Was dir auch begegnet, ist nur der Herr, der Ewige, der heilige Eine, der uns in verschiedenen Formen erscheint als unser Vater und Mutter, als Freund und Kind; sie sind unsere eigene Seele, die mit uns spielt.

Wie unsere menschlichen Verwandtschaften auf diese Weise göttlich werden können, so kann unsere Verwandtschaft mit Gott einige von diesen Formen annehmen, und wir können ihn betrachten als unsern Vater, Mutter, Freund oder Geliebten. Gott Mutter zu nennen, ist ein höheres Ideal als ihn Vater zu nennen, und ihn Freund zu nennen, ist noch höher, doch das höchste ist, ihn als Geliebten zu betrachten. Die höchste Spitze von allem ist, zwischen Liebendem und Geliebtem keinen Unterschied zu sehen. Sie erinnern sich vielleicht der alten persischen Erzählung, wie ein Liebhaber kam und an die Türe der Geliebten pochte. »Wer bist du?« kam die Frage. Er erwiderte: »Ich bin es!« und es ertönte keine Antwort. Ein zweites Mal kam er und rief aus: »Ich bin hier!« Aber die Türe ward nicht geöffnet. Er kam zum dritten Male, und die Stimme von innen fragte: »Wer ist da?« Er erwiderte: »Ich bin dein Selbst, meine Geliebte«, — und da öffnete sich die Türe.

So ist das Verhältnis zwischen Gott und uns. Er ist in jedem Ding, er ist jedes Ding. Jeder Mann, jedes Weib ist der greifbare, lebendige Gott. Wer sagt, Gott sei unbekannt? Wer sagt, man muß nach ihm suchen? Wir haben Gott ewig gefunden. Wir haben ewig in ihm gelebt. Überall ist er ewig bekannt, ewig verehrt.

Dann taucht eine andere Vorstellung auf, daß nämlich andere Formen der Verehrung keine Irrtümer seien. Dies ist einer der großen Gesichtspunkte, an die man sich erinnern muß, daß diejenigen, die Gott durch Zeremonien und Formen verehren, so roh wir sie uns auch vorstellen mögen, sich nicht im Irrtum befinden. Es ist der Weg von der Wahrheit zur Wahrheit, von der niedrigeren Wahrheit zur höheren Wahrheit. Dunkelheit ist weniger Licht; Übel ist weniger Gutes; Unreinheit ist weniger Reinheit. Es muß dem Geist immer eingeboren sein, daß wir andere mit dem Auge der Liebe, mit Sympathie anschauen sollten, in dem Bewußtsein, daß sie denselben Pfad entlang gehen, den wir betreten haben. Wenn Sie frei sind, so müssen Sie wissen, daß alle es früher oder später sein werden, und, wenn Sie frei sind, wie können Sie das Undauerhafte erblicken? Wenn Sie wirklich rein sind, wie können Sie das Unreine erblicken? Denn was innen ist, ist außen! Wir können die Unreinheit nicht sehen, ohne sie in uns selbst zu haben. Dies ist eine von den praktischen Seiten des Vedanta, und ich hoffe, daß wir alle versuchen werden, sie in unser Leben zu tragen. Unser ganzes Leben hier besteht darin, dies in die Praxis zu überführen, aber der eine große Gewinn besteht darin, daß wir mit Genugtuung und Zufriedenheit, statt mit Mißvergnügen und Ungenügen arbeiten werden, denn wir wissen, daß die Wahrheit in uns ist, daß wir sie als unser Geburtsrecht empfangen haben, und wir brauchen sie nur zu offenbaren und fühlbar zu machen.
Zitiert aus: Svami Vivekânanda, Jnana Yoga, 1923
Auch enthalten in: Ramakrishna – Ausgewählte Texte. Herausgegeben von Hans Christian Meiser, Goldmann Verlag (S.180-184)