Johannes Reuchlin, griech. Capnion (1455 – 1522)

  Erster deutscher Humanist, Philosoph und Philologe, der anfangs als Jurist im Dienst Eberhards von Württemberg stand, dann 1502—13 Mitglied im Richterkollegium des Schwäbischen Bundes und in seinen letzten Jahren Lehrer des Griechischen und Hebräischen an den Universitäten Ingolstadt und Tübingen war. Reuchlin gilt neben Erasmus von Rotterdam als Primus des deutschen Humanismus. Mit seinen beiden - 1496/97 in Heidelberg entstandenen - Dramen »Sergius« und »Henno« wurde er zum Mitbegründer des Schuldramas in Deutschland. Er erkannte die Bedeutung der griechischen Sprache für das Verständnis der antiken Geisteswelt und förderte maßgeblich das Studium der griechischen Sprache. Bahnbrechend engagierte sich Reuchlin für das in Deutschland noch wenig betriebene Studium des Althebräischen, mit dem er wissenschaftlich die Texte des Alten Testaments erschloss. Grundlegend sind in diesem Zusammenhang seine Werke »De rudimentis hebraicis« (1506) und »De accentibus et orthographia hebraeorum libri tres« (1518). Nachdrücklich setzte er sich für die Rechte und Wahrung des geistigen und physischen Freiraums der Juden ein. In einer langdauernden Auseinandersetzung mit Johannes Pfefferkorn und der Kölner Theologischen Fakultät kämpfte er gegen die Vernichtung des jüdischen Schrifttums und im Bündnis mit den Humanisten für die Freiheit der wissenschaftlichen Arbeit. Im nachfolgenden Beitrag befasst sich Reuchlin mit der »Kunst der Kabbalistik«, die er als »Philosophie der Symbolik« bezeichnet und die für ihn ein mystischer und allegorischer Weg ist, der aus der sichtbaren Welt in die Wahrheit des unsichtbaren Göttlichen führt. Höchstes Ziel des kabbalistischen Weges zur Wahrheit ist - und da folgt er ganz seinen Lehrern Asriel aus Gerona und Abraham Abulafia – die Erkenntnis des Messias.

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Die Kunst der Kabbalistik
De arte Cabbalistica
Ich bitte Dich, hochheiliger Papst, daß Du mich, einen unbedeutenden Mann mitten aus dem Volk, mit Dir etwas ungezwungener sprechen läßt: Was glaubst Du, von welcher Bewunderung ich damals ergriffen war, als ich zu meiner großen Freude und unter dem Beifall aller gehört hatte, daß Du, der beste Sohn des besten und weisesten Fürsten, des seligen Lorenzo de‘ Medici, die höchste Stellung der Welt eingenommen hast. Ich erinnerte mich wie irgendein Hierophant plötzlich an jene Weissagung Deines Vaters, die einer echten Prophetie gleichkommt: »Was aus diesem Lorbeerbaum, Lorenzo, auszusprossen vermag, stellt nicht nur für die Völker des Lorenzo, sondern auch für alle Völker der Erde ein überaus kostbares Gut dar.« Welch größerer Schatz könnte ersonnen werden, als es diese Deine mit Worten nicht zu beschreibende Herrschaft ist, von wo uns alle Reichtümer wie aus der Tiefe des Pactolus zufließen, alle Annehmlichkeiten, alle Zierden der besten Wissenschaften und alles, was im menschlichen Bereich gut ist? Der Vater warf die Samen der gesamten alten Philosophie aus, die nunmehr durch Dich, seinen Sohn, zu Halmen emporwachsen, so daß es uns unter Deiner Herrschaft möglich ist, seine Ähren in allen Sprachen zu ernten: der griechischen, der lateinischen, der hebräischen, der arabischen, der chaldäischen und der chaldikischen, in denen derzeit Deiner Majestät Bücher angeboten werden; und in reicherem Maße wird alles unter Deiner Herrschaft vollendet, was von Deinem Vater in überaus kluger Weise begonnen worden ist. Als ich daher bei mir dachte, daß den um die Wissenschaft Bemühten nur noch die Schriften des Pythagoras fehlten, die jedoch verstreut in der Laurentianischen Akademie versteckt sind, glaubte ich, es werde Dir nicht unwillkommen sein, wenn ich veröffentlichte, was nach allgemeiner Aussage Pythagoras und die edlen Pythagoraer geglaubt haben, damit das, was den Lateinern bisher unbekannt war, mit Deiner glückbringenden Zustimmung gelesen werden könne. Für Italien gab Marsilio den Plato heraus, und den Franzosen machte Jakob Faber Stapulensis den Aristoteles wieder zugänglich. Ich werde die Zahl vollmachen: ich, Capnion, werde den Deutschen Pythagoras nahebringen, der durch meine Bemühungen wieder neu ersteht und Dir gewidmet ist.

Dies konnte jedoch nicht ohne die Kabbala der Juden geschehen, weil die Philosophie des Pythagoras ihre Anfänge von den Vorschriften der Lehrer der Kabbala genommen hat als diese Philosophie zur Zeit der Väter aus Großgriechenland ihren Abschied nahm, hat sie sich dann wieder in den Schriften der Kabbalisten niedergelassen. Es mußte somit fast alles von dort herausgesucht werden. Aus diesem Grund habe ich »Die Kunst der Kabbalistik«, die eine Philosophie der Symbolik darstellt, geschrieben, damit die Lehrsätze der Pythagoräer den um die Wissenschaft Bemühten besser bekannt würden. In all dem stelle ich keine eigenen Behauptungen auf, sondern gebe lediglich die Äußerungen der Ungläubigen wieder, welche Meinung auch immer sie vertreten mögen. —

In der Absicht, den in der Kabbala bewanderten Juden Simon zu hören, trafen auf getrennten Wegen zu Frankfurt in einer Gastwirtschaft der Pythagoräer Philolaus der Jüngere und der Mohammedaner Marranus zusammen. Nachdem die Reisenden in der Herberge ihr Gepäck abgelegt hatten, wollten sie ihren Hunger stillen, verabscheuten aber die lärmende Menge der anderen Gäste; doch als sie nach dem Mahl das Gasthaus verließen, begann Marranus folgendermaßen: »Bei einem solchen Tumult der einheimischen Tischgenossen, die in allzugroßer Trunkenheit nunmehr den Mittagstisch verlassen, habe ich nicht viele Worte verloren, da ich fürchtete, ich hätte mich unbeliebt gemacht, wenn ich als Fremder durch irgendein Gespräch den Lärm dieser Leute unterbrochen hätte, von denen ich weiß, daß sie schlimm betrunken sind. Nachdem jene aber nun das Gasthaus verlassen haben, sind wir allein in dieser Herberge, wo wir vor kurzem zusammengekommen sind. Wir sind beide ganz offensichtlich Reisende und nicht wenig von der Reise erschöpft. Sag bitte dem Wirt, wenn du genauso denkst wie ich, daß ein zweites Essen und ein keineswegs üppiger Nachtisch aufgetragen werde, da es nun möglich ist, in einer ungezwungeneren Haltung zusammenzusein und sich zu unterhalten. Doch sieh, es kommen Kellner herbei und bringen irgendwelche Süßigkeiten, zusammen mit Nüssen und Käse — hoffentlich aus Bithynien — und mit einem Krug, wobei es ungewiß ist, ob er Bier oder Wein enthält, obwohl wir von all dem überhaupt nichts bestellt haben.«

Da sagte Philolaus: »Mit nicht geringem Geschick betreibt dieser Krämer seine Schenke, da er doch für die Münzen überall Fußangeln auslegt; auch erweist er seinen Gästen aufmerksame Dienste, damit er ihnen, wenn sie vom Wein zu kosten verlangen, noch mehr davon verkaufen kann. Sowie nämlich das Gespräch auf den Nachtisch kommt, sind die Leckereien schon da. Jetzt wünsche ich fürwahr, bei anständigen Humpen, daß zwischen uns eine ganz zwanglose Kameradschaft entsteht. Ich rate nun uns beiden, mein Tischgenosse, daß wir uns frisch machen sollten und unsere erschöpften Glieder ausruhen lassen. Dies gilt freilich insbesondere für mich — nach dem allzulangen und rauhen Weg und den harten Bergtriften, die ich bis hierher durchmessen habe. Inwieweit du dich wohl befindest, weiß ich nicht, da ich über deine Reise noch nichts erfahren habe — wie weit sie war, oder wer du bist oder von wo du gekommen bist.« »Aus Byzanz«, sagte jener, »der Stadt Konstantins, die viele das Neue Rom nennen; ich bin der Abstammung nach Byzantiner, betreibe aber verschiedenartige Studien: Griechisch oder Hebräisch oder mehr noch Latein; aber am besten verstehe ich mich auf die Lehre der Araber. Und wenn es dir nicht lästig ist, dann weigerst du dich nicht zu sagen, wer du selbst bist.« »Man nennt mich Philolaus«, sagte jener, »von Geburt bin ich Alane, der Schule nach Pythagoräer, und ich bin — dir vielleicht nicht unähnlich — sprachenkundig; doch wie, bitte, heißt du?« »In Konstantinopel nennt man mich Marranus«, sagte jener, »der Name ist von den Scholastikern Cherinthus und Ebion her bekannt. Und da ich sowohl mit Wasser getauft als auch beschnittener Jude bin, wurde ich in beides, nämlich in die Gesetze des Mose wie auch in die Lehre der Christen eingeweiht.« »Ich höre, daß du die Scholastiker erwähnst», sagte hierauf Philolaus. »So frage ich dich nun: Gibt es in Konstantinopel etwa auch Humanistenschulen — unter diesen allergrausamsten und blutrünstigsten Türken?« »Sehr viele«, sagte jener, denen sich Männer von herausragender Begabung anvertraut haben. Es befinden sich nämlich dort innerhalb eines einzigen Gebäudes mehr als zehntausend Studenten aus Persien, Griechenland, Italien und aus dem Judentum, unter denen ich schon mit achtzehn Jahren Hörer vieler Wissenschaften gewesen bin; ich wollte dann schließlich anderswohin gehen, um zu sehen, ob ich vielleicht jenseits der Alpen Männer finden könnte, die mit Hingabe für die Philosophie ausgestattet sind und über die höchsten Fragen gedankenreich und ordentlich zu diskutieren vermögen.« Darauf verlangte Philolaus zu wissen: »Welcher philosophischen Richtung?« Marranus erwiderte: »Welche auch immer gelehrt wird, da ich nicht den Gesetzen einer einzigen Schule verpflichtet bin, damit ich in keinem Fall durch eine bestimmte Glaubenslehre daran gehindert werde, in Freiheit all das zu verteidigen, was ich denke.«

Darauf Philolaus: »Zweifelsohne hast du, wie ich sehe, den gleichen Forschungsdrang wie ich. Denn ich habe mich Kaufleuten, die von Thrakien aus zu dieser hochangesehenen Frankfurter Messe nach Deutschland reisten, als Begleiter angeschlossen, weil ich erfahren hatte, daß hier ein Jude lebt, der aufgrund seiner Beschäftigung mit der Kabbalistik in einem ausgezeichneten Ruf steht und ungemein hochgeschätzt wird; einzig und allein diese wissenschaftliche Richtung — wie ich oft gehört habe, sind auch hochgelehrte Männer, die sich der süßen Beschäftigung mit der Philosophie hingeben und in meinem Beisein überaus ergiebige Gespräche miteinander geführt haben, eben dieser Meinung — vermag vor allen anderen der pythagoräischen Philosophie ganz nahe zu stehen, wie wenn ihr nichts ähnlicher wäre. Denn man sagt, Pythagoras habe fast alle seine Lehrsätze von dort herausgefischt. Bekanntlich heißt jener Jude Simon, Sohn des Eleazar, und stammt aus dem alten Geschlecht derer des Jochai. Mir steht nunmehr der Sinn danach, diesen aufzusuchen, nachdem die Tafel aufgehoben ist.« »Ich meinerseits«, sagte Marranus, »möchte gerne diesen Mann zusammen mit dir, wenn es dir recht ist, ebenfalls besuchen, auch wenn ich in der pythagoräischen Lehre nur wenig gebildet bin; die Araber standen nämlich bei mir immer in höherem Ansehen: Alcazel, Alpharabi, Abucates, Hali, Abumaron, Abensina, den die Lateiner Avicenna, und Abenrust, den sie Averroes nennen, und die übrigen Peripatetiker, die diesen ähnlich sind, obwohl es zu meiner Zeit in Konstantinopel niemandem jemals verwehrt war, jeglicher Art von Philosophie fast aller Sprachen und Lehrmeinungen nachzugehen, da täglich die Lehrer ganz unterschiedlicher Völker öffentlich Vorlesungen hielten.« Darauf sagte Philolaus: »Nur Mut, denn mit Leichtigkeit wird zum Pythagoräer der, welcher mit Freuden dem Wort des Meisters vertraut, zur richtigen Zeit zu schweigen versteht und alle seine Lehren mit Verstand in sich aufnimmt.« Darauf jener: »Ich werde, wenn du es mir erlaubst, wenigstens wie ein Pythagoräer dabeistehen und zuhören, worüber ihr miteinander sprecht. Und so wirst du mich mit unsagbarer Freude erfüllen, da ich es ungemein schätze, an einem Gespräch von Weisen teilgenommen zu haben.« Und der Alane sagte: »Laß uns aufbrechen, denn er soll zur Zeit im Obstgarten des Hauses, in dem er wohnt, allein spazierengehen. Und gewiß ist es hier, und das Tor steht offen. Siehst du, wie er vom Garten aus auf uns zukommt? Mach schneller, wir wollen eintreten. Sei gegrüßt, Meister!« Ihm entgegnete Simon nach der Gepflogenheit seines Volkes: »Der Herr sei mit euch.« »Bist du Simon, der berühmte Jude?«, fragten die Ankömmlinge. Darauf jener: »Beides, denn ich bin sowohl Jude als auch Simon. Welche Namen von euch beiden darf ich hören damit ich euch richtig anreden kann?«

Die beiden antworteten darauf »Ich bin Philolaus, und ich bin Marranus, und wir sind, ohne daß der eine vom anderen wußte, auf verschiedenen Wegen nach einer langen Reise schließlich hier zusammengetroffen. Es ist nicht dieser durch seinen Verkehr weithin bedeutende Handelsplatz, der in fast ganz Europa gerühmt wird, und auch nicht die durch so zahlreiche und kostbare Waren bekannte und aufgrund des Zusammenstroms so verschiedener Völkerschaften prächtige Messe, die uns angezogen hat, sie anzuschauen, sondern ganz allein der Ruhm deiner Person führte uns zu dem Verlangen, daß du uns über den gesamten Grundgedanken der Kabbala, die, wie die Gelehrten meinen, überaus zu verehren und zu erstreben ist, deine edlen und sowohl in Skythien als auch in Thrakien mit ungeheurem Lobpreis bedachten Gedanken kurz und nutzbringend darlegst.« Hierauf sagte Simon: »Denkt man an mich auch bei den Skythen und den Thrakern, einem so weit entlegenen Volk?« »Tatsächlich«, sagten beide, »ist die Erinnerung an dich überaus groß. Denn vor etwa 23 Jahren oder, wie eure Leute zu rechnen gewohnt sind, 5238 Jahre nach der Erschaffung der Welt, wurden aus Spanien 124 000 Juden vertrieben, und von dort wanderte der größte Teil von ihnen bei ihrer Flucht weit weg bis in unsere Gegend aus; sie rühmen, daß in dir — einem ihnen, wie sie versichern, bestens bekannten Mann — ein großes Wissen über die Künste, eine außerordentliche Belesenheit, eine unglaubliche Höhe des Geistes und eine ungezwungene Klarheit der philosophischen Rede, vor allem auch eine von Gott stammende Kenntnis der kabbalistischen Philosophie vorhanden sei, die alle Zuhörer nur bewundern könnten, so daß du in den Augen der Lernbegierigen bis hin zu den Sarmaten und dem Eismeer in hellem Glanz erstrahlst.«

Hierauf nahm jener das Wort: »Eure so große Wertschätzung meiner Person, ihr Pythagoräer, treibt mir eine nicht geringe Schamröte ins Gesicht; ich fürchte nämlich, daß, wenn ich dieses euer aus dem Gerede der Leute stammendes Urteil bitter enttäusche — wenn dies auch noch so sehr meiner Gebrechlichkeit zuzuschreiben wäre —, ich dann meinerseits aufgrund meiner Unfähigkeit in bezug auf dieses göttliche Studium der Kabbala offensichtlich ein geradezu beklagenswertes Unrecht begangen hätte; dadurch nämlich würde überhaupt alles, was ihr an mir als schwach, gebrochen und unvollkommen erkannt habt, zu einer Abwertung dieser Philosophie führen, nach der ihr verlangt, gerade so, wie der Fehler eines Handwerkers zur Geringschätzung seiner Kunst führen müßte, was ich von allem am wenigsten möchte. Denn ich selbst weiß, wie unbedeutend und wie gering ich bin, oder mit mir alle Kabbalisten, wie immer man sie freilich auch einschätzen mag, wobei ich es euch zu sagen überlasse, ob ihr sie gerühmt oder verachtet wissen wollt: Es gibt aber bei dieser Kunst der Betrachtung nirgendwo etwas, was dem Geschlecht der Menschen, die hier auf der Erde ihr Leben verbringen und vor den anderen Lebewesen über Verstand verfügen und geistig in Blüte stehen, was als Gabe Gottes erstrebenswerter wäre, nichts für das Seelenheil Vorzüglicheres, nichts zur Erlangung der Unsterblichkeit Geeigneteres, wodurch der menschliche Verstand in Übereinstimmung mit der Natur näher zur Gottwerdung aufzusteigen vermag, das heißt, zum Gipfel der Glückseligkeit, was die Griechen >Telos< nennen, ob ihr dies nun mit >das Äußerste< oder >das Letzte< bezeichnen wollt, oder aber mit >Ziel<; so kann es gelingen, daß man lebt, ohne etwas zu brauchen, losgelöst, immer glückselig und ohne jede Beeinträchtigung, in Ruhe und Zufriedenheit, wenn wir, nachdem wir alles Irdische abgelegt und den Stoff der Dinge entfernt haben, in überaus kunstgerechter Weise mit Hilfe gewisser Symbole die Form aus der Form herausschälen. bis wir zur ersten allförmigen und ungeformten Form aufgestiegen sind. In bezug hierauf verstehen die Kabbalisten das Gebot Gottes aus dem Buch Genesis: >Die Erde bringe lebendes Wesen hervor nach seiner Art< [1,24], nämlich nach der Idee Gottes; und es ist dies eben die Erde der lebendigen Wesen in der Kraft des lebendigen Gottes, der durch den Namen Adonai in dieses Leben einfließt, >damit ihr erkennt<, wie Josua sagt [3, 10], >daß der lebendige Gott mitten unter euch ist und vor euren Augen die feindlichen Mächte vertreibt<. Dies ist im zweiten Kapitel des Buchs mit dem Titel >Pforten des Lichts< zu lesen.

Daher kommt es, daß alles, was Leben hat, aus eigenem Antrieb nach oben strebt, und alles, was in das Leben einfließt, sich nach unten wendet. In dieser Welt des Sinnenhaften besteht alles aus den vier Elementen gemischt; dies alles entbehrt nun entweder der Seele, die ja die verschiedenen oder flüchtigen Bewegungen bewirkt, und liegt unbeweglich und ruhend da, wie der Stein oder das Eisen, oder aber es lebt dahin und wächst, wie die Pflanze oder das Gras, oder es wird in verschiedene Richtungen auseinanderbewegt, entwickelt sich und lebt so, wie es lebendige Tiere und die Muscheln tun, oder es spricht sogar vernünftig wie der Mensch. Unsere jungen Leute sind es gewohnt, sich aus dem Buch >Der Geist der Gnade< diese Begriffe auf hebräisch aufzuschreiben und zu lernen, nämlich: das Liegende, das Sprießende, das Lebendige und das Sprechende. In der Tat gibt es von diesen Seinsweisen keine, die, wenn sie dem Himmel zugewandt wird, sich nicht in irgendeiner Weise emporrichtete, als ob sie sich durch dessen Anblick einen gewissen Gebrauch ihrer Kraft verschaffte und ein bestimmtes Verhalten ausbildete; wie wir zum Beispiel erkennen, daß sich die höchsten Berge der Erde von den tiefsten Tälern aus zum Himmel erheben — gemäß dem Lied des Psalmisten [104,8]: >Da erhoben sich Berge und senkten sich die Täler<; [oder] wie wir bei Ezechiel [26,3] erfahren, daß sich die Stürme des Meeres in die Höhe erheben >und das Meer anbrandend aufsteigt<; wie wir spüren, daß sich das Brausen der Luft aus den Höhlen erhebt. Denn auch der Herr der Natur läßt beim gleichen Propheten >den Sturmwind losbrechen< [Ez 13,13], und schließlich strebt alles Feurige, wie wir sehen, nach oben. Im Buch der Richter [6,21] >steigt Feuer von dem Felsblock auf<.

So erkennt ihr, ihr Männer, die ihr zeigt, welche Geisteskraft in euch wohnt, daß wir mit einer gewissen Notwendigkeit sagen müssen: Je edler ein jegliches Ding beschaffen ist, desto mehr erfreut es sich daran, daß es eine höhere Stellung erlangen wird, wie zum Beispiel das in die Erde gelegte Getreidekorn, welches nicht ruht, bis es die Scholle durchbricht und, aus den Ackerfurchen herausgewachsen, nach oben blickt und sich der Himmelsluft erfreut. Ebenso verhält es sich auch bei den Metallen, da das, was edler ist, zu dem höheren Zustand von Dämpfen aufwallt, wenn es von der Alchimie geläutert worden ist, so daß immer das reiner zu sein scheint, was sich auf einer höheren Stufe befindet. Infolgedessen wird das zur unteren Welt Gehörende fahl und unrein genannt, und wir glauben, es sei vom Schmutz niedergehalten; die Dinge der oberen Welt jedoch bestaunen wir als strahlend hell und leuchtend und mit unglaublicher Schönheit ausgestattet, und bedenken sie mit Lobpreis. Wenn nun die Natur in ihrer Geschicklichkeit sogar den liegenden, wachsenden und atmenden Dingen solche Fähigkeiten einpflanzt, daß sie nach Höherem streben — um wieviel weniger hat sie nach einhelliger Meinung dann wohl gewiß den Menschen außer acht gelassen, den Beherrscher alles Lebendigen, ein herrliches und verehrungswürdiges Lebewesen, das edelste Lebewesen, den übrigen vorangestellt, das nicht nur klug und verständig ist, sondern auch zur Betrachtung und zur Religion fähig. Ja, sie hat ihn sogar mit besseren und geheiligteren Gaben ausgestattet und ihn insbesondere mit einer solchen Veranlagung beschenkt, daß er aus dem ihm eingepflanzten natürlichen Verlangen heraus mit allen nur möglichen Kräften zum Höchsten und Besten strebt. Gott, der höher steht als die Natur, setzte nämlich nach der Aussage der Hochheiligen Schrift den Menschen aus zweierlei zusammen: dem Lehm der Erde und dem Lebensodem [Gen 2,71, damit er, bekleidet mit dem Lehm, in kluger Weise für das Körperliche sorge, und ausgestattet mit dem Lebensodem, in Weisheit das Göttliche liebe. >Und die Erde bringe hervor lebendes Wesen nach seiner und der ihm eigenen Art< [Gen 1,24], nämlich nach dieser ihm eigenen Idee — es ist nicht die Idee der Tiere, noch die der Pflanzen, nicht die der Steine oder Hölzer, sondern die vom Mund Gottes geschaffene und nach seinem Bild durch den Heiligen Geist eingehauchte Idee seines Geistes — die Erleuchtung selbst.

Es ist dies jene Erleuchtung, die wir vorhin >Gottwerdung< genannt haben, wenn von dem vorliegenden Gegenstand die äußere Wahrnehmung durch das ihm entsprechende Mittel in die innere Wahrnehmung übergeht, und jene in die Vorstellungskraft, und die Vorstellungskraft in das Urteilsvermögen, und das Urteilsvermögen in die Vernunft, und die Vernunft in den Verstand, und der Verstand in den Geist, und der Geist in das Licht, das den Menschen erhellt und den Erleuchteten begierig in sich aufnimmt. Von daher ist es offenbar richtig verstanden worden, wenn die Kabbalisten glaubten, am Baum der zehn Zählungen in die Mitte der Sefirot die >Thiphereth<, den Mikrokosmos, setzen zu müssen — jenen großen Adam als den Lebensbaum in der Mitte des Paradieses der Ideen oder gleichsam als die gerade Linie in der Mitte, wie sich die Kabbalisten ausdrücken. Der königliche Prediger sagt nämlich, daß >Gott den Menschen aufrecht geschaffen hat< [Koh 7,29]. Dieser ist deshalb dazu imstande, sich sowohl nach oben als auch nach unten zu wenden, so daß er mittels der Begriffe des Empedokles, >Streit< und >Freundschaft<, die unterhalb der Zählungen >Netzach< [= Ewigkeit] und >Hod< [= Pracht] aufgeführt sind, durch menschliche Überlegung erkennt, daß er an diesem Reich der Elemente und des Weltlichen teilhat. Aufgrund der Gottesfurcht aber und der Heiligung, bezeichnet durch >Furcht< und >Gnade<, die über ihn ausgebreitet werden, kann er entsprechend seinem Fassungsvermögen die drei Wörter der all-einfachsten Gottheit verstehen, nämlich >Kether< [= Krone], >Chokmah< [=Weisheit], >Binah< [= Verstand]. Hierzu also ist der Mensch geboren und dazu hat ihn die Natur gebildet und geformt, daß er sowohl auf seinen Füßen mit den Tieren auf der Erde umhergeht als auch als einziges von allen Lebewesen erhobenen Hauptes mit den Engeln im Himmel Umgang hat. Beide Hände aber, die zwischen den Füßen und dem Haupt gelegen sind, soll er einerseits durch Arbeit für den notwendigen Lebensunterhalt zur Erde richten, andererseits soll er sie für das ewige Leben betrachtend zum Himmel erheben.

Zu ihrem Schutz sind dem Menschen die Augäpfel, die als einzige von den Werkzeugen aller Sinne beweglich sind, geschaffen worden, damit sie zur Erde, zum Heil des Körpers, und zum Himmel, zum Heil der Seele, blicken können. Solchermaßen beschaffen ist die Ausstattung und die Kraft des Menschen; dies ist seine Fähigkeit und dies sein Vermögen, die Gott oder die Natur keinesfalls eingepflanzt hätte, wenn nicht irgendwann einmal die Fähigkeit zur Anwendung und die Möglichkeit zur Tat gebracht würde, zumal bei einem Menschen, der danach strebt und sich zum Handeln bereitmacht. Wenn nämlich dem Menschen jenes Erfassen des göttlichen Wesens nicht möglich wäre, hätte die Natur das Verlangen danach umsonst eingepflanzt, denn ein tatkräftiger und dazu fähiger Mensch begnügt sich niemals nur mit der Wahrnehmung der körperlichen und mit der groben Berührung der zusammengesetzten Dinge, damit er auf allen Wegen des Denkens zur Reinheit der abgesonderten Formen und zur Erkenntnis der höchsten Dinge voranschreitet. Dies ist gewiß das unruhige Bemühen aller Wißbegierigen, denen mit Hilfe der Wahrheiten der Moral, der Natur und der Mathematik eine heftige Zuneigung des Geistes zur Ordnung der übernatürlichen Dinge angeboren ist, und denen dann schließlich ein zuverlässiger Aufstieg zur Ersten Entität gewährt wird. Zum Beispiel: Ihr seht weit in der Ferne ein sehr helles Feuer aufleuchten, dessen Schein sich über ein lichtdurchlässiges Mittel, das die Griechen >Diaphanon< nennen, auf das Auge des Körpers richtet. Drinnen wartet das geistige Schauen und erkennt, daß die Form des gegebenen, eigentümlichen Gegenstandes zu ihm gehört, weswegen es dieser Form, die es als verwandt und ihm zugehörig erkennt, gerne Gastfreundschaft gewährt und sie über das Mittel der Vorstellungskraft, die von uns auf griechisch >Phantasia< genannt wird, auf geistige Weise dem sinnlichen und instinktiven Urteilsvermögen vorlegt; dieses gibt dann freilich das Bild wieder weiter nach oben in den Bereich des menschlichen Urteilsvermögens, und dieses bewegt dann das Ganze noch ein wenig weiter nach oben zur Vernunft selbst. Dann endlich, nach einem raschen Ablauf, überführt diese die Abstraktion des körperlichen Feuers, die somit erhöht und geläutert ist, zum Verstand.
Im Verlauf dieses Aufstiegs lassen sich somit drei Bereiche finden, und in jedem einzelnen gilt ein einziger Grad der Abstraktion:

Im ersten Bereich gibt es den Gegenstand, das lichtdurchlässige Mittel und die äußere Sinneswahrnehmung — die erste Stufe.

Im zweiten findet sich die innere Sinneswahrnehmung, die Vorstellungskraft und das instinktive Urteilsvermögen — die zweite Stufe.

Im dritten das menschliche Urteilsvermögen, die Vernunft und der Verstand — die dritte Stufe.

Herr über dies alles ist der Geist: Nachdem er das Licht von oben erhalten hat, erleuchtet er den Verstand des Menschen und vollendet ihn. Und nichts anderes glauben wir von dem, das die Kabbalisten über Sechel, Sandalphon und Metatron gelehrt haben. Eine jede Stufe weist aber eine doppelte Verschiedenheit auf:

In der ersten Stufe nämlich hört das Körperliche auf, und die Seele fängt an; daher spricht man von >Lebewesen<.

In der zweiten Stufe hört die Seele auf, und der Verstand fängt an; daher spricht man von >Mensch<.

In der dritten hört das Verstandesvermögen auf, und der Geist fängt an, welcher unbestreitbar als einziger von außen kommt, weswegen man von >Gott< spricht — gemäß dem Schriftwort: >Ich habe gesagt: Ihr seid Götter< [Ps 82,6].

Die Bezeichnungen der Stufen sind daher: Sinneswahrnehmung, Urteilsvermögen und Verstand. In der Mitte der Abstände aber, welche diese Erscheinungsweisen ausmachen, liegen das lichtdurchlässige Mittel, die Vorstellungskraft und die Vernunft.

Dem nicht unähnlich führen die Kabbalisten im Buch >Merkaba< drei Patriarchen an. Es sind dies: Abraham oben, Isaak unten und Jakob in der Mitte. Wenn nun also die zwei Zwischenräume der drei Bereiche, nämlich die Sinneswahrnehmung und das Urteilsvermögen, entsprechend ihrer Stellung nach oben und unten verdoppelt und beide auf je zwei Endpunkte zurückgeführt werden, ergeben sich zehn Rangstufen, mit Hilfe derer wir zur Erkenntnis alles Wahren — entweder durch den Sinn oder durch das Wissen oder durch den Glauben — von ganz unten zum Höchsten aufsteigen können. Darüber sagt der Kabbalist Abraham in dem bewundernswerten Buch >Jezirah< [= Über die Schöpfung]: >Es gibt ganz genau zehn Zählungen, zehn — und nicht neun; zehn — und nicht elf. Erkenne sie in Weisheit und begreife sie im Verstand! Forsche in ihnen und ziehe deine Schlüsse aus ihnen und ordne die Dinge nach ihren reinen Wesenheiten und setze den Schöpfer wieder auf seinen Thron.< Soweit dieser. Der menschliche Verstand nämlich erkennt das Obere in Weisheit und begreift das Untere in seinem Erkenntnisvermögen. Und der äußere Sinn bestimmt das Ding, das ihm vom Gegenstand mittels der Abbilder dargeboten worden ist, und der innere Sinn bestimmt das Ding nach den reinen Wesenheiten, das heißt, nach Loslösung der Abbilder, die zuvor dem Diaphanon angehört hatten und nunmehr der Phantasie zu eigen sind. Sodann forscht das Urteilsvermögen, das zwischen der Phantasie und der Vernunft liegt, anhand eben dieser offensichtlichen Gegebenheiten, und die Vernunft prüft sie in verschiedenen Unterscheidungen und Schlüssen. Nunmehr kehre ich zum Anfang zurück und sage, daß der Verstand den Schöpfer als erste Ursache aller Ursachen wieder auf seinen Thron setzt, die der Geist selbst ist. Ihr habt also, ihr klugen Männer, zehn Zählungen, durch die dem Menschen die Erfassung der Dinge gelingt. Es sind dies: der Gegenstand, das Durchsichtige, die äußere Sinneswahrnehmung, die innere Sinneswahrnehmung, die Vorstellungskraft, das untere Urteilsvermögen, das obere Urteilsvermögen, die Vernunft und der Verstand; und all dies ist nicht eigentlich das Was des Erkennens, sondern vielmehr das Wodurch. Das Höchste im Menschen aber, der Geist, stellt eine andere Seinsweise dar. Daher gilt: Wie Gott in der Welt, so trägt der Geist im Menschen unter den zehn Zählungen das königliche Diadem, und er wird mit Recht >Krone< genannt [vgl. Jes 62,3]; so bezeichnet ihn auch Aristoteles im zweiten Buch der >Naturgeschichte der Tiere<. Der Geist allein ist göttlich, und nur er kommt dem Menschen von außen her zu. Nach der Erleuchtung durch ihn werden die unter ihm liegenden Seelenkräfte gelenkt und geleitet, bis der Verstand, der Verstehende und das Verstandene ein und dasselbe sind, wie der Kommentator des >Baums der zehn Sefirot< schreibt, was die Meister in bezug auf die Worte des Propheten: >In deinem Licht schauen wir das Licht< [Ps 36,10] so beurteilten, daß >wir unter dem Einfluß des Geistes, der von dir [= Gott] ausgeht, verstehen und gerechtfertigt werden<.

Ich glaube, daß dies nunmehr allen, die die Beschaffenheit der menschlichen Natur sorgsam erforscht haben, offenbar ist: nämlich daß wir erstens von einem natürlichen Verlangen dazu geführt oder, wenn wir es richtiger ausdrücken wollen, gezogen werden, die höchsten und göttlichen Wirklichkeiten zu erfassen. Zweitens, daß wir diese, soweit es zu unserer Glückseligkeit ausreicht, und wenn wir uns darum bemüht haben, auf unsere Weise und entsprechend unserem Fassungsvermögen begreifen können. Zu dem einen führt uns die Natur, zu dem anderen das göttliche Wesen. Beides wird uns von den Kabbalisten meisterhaft durch die Gestalt des Feuers dargestellt, das nach oben strebt und alles in irgendeiner Weise umfaßt und umzüngelt. Darüber sagt Rabbi Joseph von Kastilien im zweiten Buch seines >Nußgartens< unter anderem folgendes: >Wisse, daß die erkennende Seele, die in dem Menschen eingegossen ist und in ihm die höchste Form darstellt, selbst Feuer genannt wird.< Hierauf läßt sich jenes berühmte Wort Salomos anwenden: >Die Leuchte Gottes ist der Geist des Menschen.< Um aber ganz deutlich zu sprechen: Das, was die Vernunft zunächst als wahr erweist, bestätigt dann die praktische Erfahrung. Hierzu ist notwendig, daß derjenige zuvor in nicht wenigen Künsten, den unverkürzten Kenntnissen der humanistischen Wissenschaften und nicht geringer Gelehrsamkeit unterwiesen worden ist, durch dessen Eifer die Anlage und Fähigkeit zur Betrachtung der abgetrennten Formen und der einfachen Wesenheiten der oberen und erkennbaren Welt daran gewöhnt wird, fast geradezu ins innerste Heiligtum Gottes zu gelangen. Denn es gehört sich, daß wir vor allem anderen in den sittlich hochstehenden und guten Bräuchen kluger Männer unterwiesen werden, um Schändlichkeiten zu vermeiden und dem Ehrenhaften zu folgen. Daran erinnert mahnend der Prediger: >Zügle deinen Schritt, wenn du zum Gotteshaus gehst< [Koh 4,17], denn Ethan der Ezrait singt bei seiner Unterweisung den Psalm: >Recht und Gerechtigkeit sind die Stützen seines Throns< [Ps 89,15]. Mit diesem Lied sind nicht nur die Werke des Menschen gemeint, die durch Gerechtigkeit erst noch zu vollenden sind, sondern auch die Gedanken seines Herzens und die Worte aus seinem Mund, die in einem richtigen Urteil bestehen müssen.

Daher überliefern die Kabbalisten einstimmig und einmütig: >Wenn man sich nur der Begierlichkeit und der Lust hingibt, wie es die Toren tun, wird das Verlangen nach philosophischen Betrachtungen zerstört.< Nachdem man daher die Sitten wohl geordnet und den Geist gereinigt hat (ich spreche hier allerdings nicht von den fast unendlichen Regeln des richtigen, wahren und guten Sprechens, die lediglich Zugänge und Tore zu den Wissenschaften darstellen, nicht aber die Wissenschaften selbst sind), wird die Beschäftigung mit der Mathematik und der Physik notwendig sein, die Unzählbares umfassen und überall in den Büchern der Araber, Griechen und Lateiner enthalten sind, um sich mit dem Weltall, der Zahl, dein Gewicht und dem Maß zu befassen. Oder auch mit jeglicher Art von Bewegung und Ruhe, die den Dingen wesenhaft innewohnen, was man Natur nennt. >Die Natur ist nämlich<, wie Rabbi Juda Ben Levi in seinem Buch >Alcozer< schreibt, >der Ursprung und die Ursache, wodurch das Ding ruht und bewegt wird; in ihm ist die Natur wesenhaft vorhanden, und nicht rein zufällig<. An dieser Begriffsbestimmung seht ihr, in welcher Größe und in welcher Beschaffenheit, in welcher Zahl und Unbegrenztheit die Dinge angehäuft sind, so daß für uns Naturforscher fast alles in Angriff genommen werden muß, was vom höchsten Himmel oben bis ganz unten hin im Zentrum der Erde enthalten ist — sei es, daß es auf eigener Kraft beruht und in sich Bestand hat, sei es, daß es sich auf Substanzen stützt und irgendwie zufällig hinzukommt — so daß in einem ganzen Menschenleben nicht einmal die Bezeichnungen der Einzelwesen gefunden werden können, ganz zu schweigen von ihren Eigenschaften, Beschaffenheiten, Kräften, Verhaltensweisen und Tätigkeiten. Der Grund hierfür ist die fast unendliche Fülle dessen, was wir zu wissen wünschen, das Fassungsvermögen unserer Verstandeskraft, die Schwierigkeit der zu erforschenden Dinge, die Gebrechlichkeit des menschlichen Vermögens und die vielfältige Ablenkung unseres Verlangens. Was nun? Wurde etwa nicht dem Abraham gesagt: >Sieh doch zum Himmel hinauf und zähle die Sterne, wenn du sie zählen kannst?< [Gen 15,5] Und selbst er konnte es nicht, obwohl er zu seiner Zeit, wie Rambam bezeugt, ein bedeutender Astrologe war.

Daher überliefern die Kabbalisten, daß >der Mensch nichts von all dem, was im Himmel ist, versteht, es sei denn nach Art der Mathematik oder mit einer wenn auch noch so bescheidenen Kenntnis ihrer Methoden<. Durch diesen Ausspruch der Kabbalisten werde ich daran erinnert, daß die Alten auf dem Gebiet der Mathematik viele Irrtümer begangen haben, auch in den Bereichen, auf die sie, wie es die Gepflogenheit der um die Wissenschaft Bemühten ist, fast ihr gesamtes Leben verwandt haben. Daran erinnert in seinen Schriften Abubacher, der uns Späteren bezeugt, daß die Alten zu ihrer Zeit und auch bis zu den Zeiten nach Aristoteles keine vollständigen Kenntnisse der Mathematik gehabt hätten. Er sagt nämlich: >Die Kenntnisse der Mathematik waren zur Zeit des Aristoteles nur unvollkommen.< >Da nämlich<, wie Salomo sagt [Koh 1, 8], >alle Dinge schwierig sind< im Bereich der natürlichen Gegebenheiten, deren Ursprünge uns zumindest bekannt sind oder sein können, nämlich Stoff, Form und Eigenschaft, wohnt den Menschen eine so große Schwerfälligkeit des Erkennens inne. Wie wird es um uns bestellt sein, mögen wir denken, die wir danach streben, jene obersten Arten der geistigen Urgründe zu schauen? Hierzu wird die Abstraktion von allem Unteren notwendig sein, Erörterung, Beweisführung und Betrachtungen nach den Regeln der Logik, was leicht ein ganzes Menschenleben in Beschlag nehmen könnte, wie es auch von beträchtlichem Nutzen ist, die Eigenschaften zu lernen, die wir als >Prädikamente< bezeichnen und die ich, nach der Gewohnheit dieser Autoren, die allgemeinsten Gattungsbegriffe nennen will. Es sind dies nämlich:

Wesen, Größe, Beschaffenheit, Verhältnis, das Wann [= die Zeit], das Wo [= der Ort], Stellung, Erscheinung, das Handelnde [= aktiv], das Leidende [= passiv].

Sie glauben nämlich, daß durch diese Begriffe alles bestehe und erkannt werde, was auf diesem runden Erdball des Schöpfers enthalten ist. Aufzuspüren ist gleichwohl aber auch das, was sich über die Dinge selbst und ihre Begriffe verbreiten und sagen läßt, weswegen diese Aussagen >Prädikabilien< genannt werden:

Gattung, Art, Unterschied, Eigentliches und Zufälliges.


Tag und Nacht gehen all diese Logiker auf die Jagd, verwenden Fallen und Netze, um nach den einzelnen Ursachen eines jeden Dings zu suchen. Es sind dies der Stoff, die Form, die Wirkung und das Ziel. Aus diesen können wir, so schmeicheln wir uns behaglich selbst, die Wahrheit einer jeglichen Tätigkeit mit Hilfe eines, wie sie sagen, einleuchtenden Beweisgangs erhaschen, den sie >Mophet< nennen, nämlich von einem Extrem zum anderen, wie wenn man von der Startlinie zum Ziel läuft — entsprechend einer gewissen Fertigkeit, der sie den Namen >Heqes< gegeben haben.

Mit welcher Geschicklichkeit aber und mit welchen Winkelzügen sind jene Männer vorgegangen, die dies mehr zur Schau zu stellen pflegen, als sich darüber kundig zu machen, wie solche Sophistereien zu beweisen seien! Die Unseren haben folgendes gelehrt:

>Jedes logische Schlußverfahren und jeder Beweisgang setzen sich aus zwei Vordersätzen oder Prämissen zusammen, einem oberen und einem unteren, von denen jeder drei Teile hat, die man ,Begriffe‘ nennt. Der eine von ihnen ist das Subjekt des Gesuchten und wird der ,untergeordnete Begriff‘ genannt. Und der zweite Teil ist das Bindeglied und wird auch ,Mittelbegriff‘ genannt. Und der dritte Teil ist das Prädikat des Gesuchten, der der ,Oberbegriff genannt wird. Und aus diesen erfolgt der logische Schluß.<


Dies ist jenes Fangnetz, dieser Angelhaken, Vogelleim und Köder, dies die Fessel, womit nach deren Meinung die freie Wahrheit eingefangen wird, und dies wenden sie ohne Unterschied und mitunter vergeblich an: sei es bezüglich der Dinge, die der Natur unterworfen sind, wie die physikalischen, oder bezüglich solcher Dinge, die die Natur begleiten, wie die mathematischen, oder bezüglich solcher Dinge, die die Natur irgendwie abstreifen, wie die metaphysischen. Was aber von der Natur vollständig und von jeglicher Materie und Bewegung seinem Wesen nach losgelöst und getrennt ist, nennen wir Theologie. Dies ist freilich jenem Gerede und syllogistischen Geschwätz nicht unterworfen, so daß es von ihm als dem Unmittelbaren — im eigentlichen Sinne gesprochen — keine Wissenschaft gibt, sondern es ist vielmehr eine festere und stärkere Erkenntnis. Noch unbedingter legt uns Aristoteles im ersten Band der berühmten Bücher, die er über die ,Physik‘ schrieb, nahe, daß der Besitz dieses Wissens nicht menschlicher Art ist. Denn einerseits ist ein solches Wissen, wie wir sehen, selten und fällt kaum einem von Tausenden zu, wie wenn es mehr vom Himmel herabzukommen schiene, als daß es von Menschen erworben würde. Andererseits befindet es sich in einer höchst schwierigen Lage aufgrund des kraftlosen (meine ich) und dürftigen Antriebs unseres Verstandes von Anfang an. Das deutet Zophar im Buch Ijob mit einem Bild an: >Wird denn das Junge eines Wildesels als Mensch geboren?< [11,12]. Schließlich wegen des Mangels und des Fehlens der natürlichen Fähigkeit, der durch eine geeignete Erziehung aufgeholfen worden wäre. Schon seit langer Zeit werden auch die noch nicht gebildeten Knaben, die von schlechten Lehrern hinters Licht geführt worden waren, in zartem Alter zu verachtenswerten Sophismen genötigt, nachdem sie die Studien der besten Wissenschaften aufgegeben hatten; dies geschah durch das Zureden von solchen Leuten, deren Ohren außer jenem bekannten Einerseits oder Andererseits zusammen mit Vorder— und Folgesätzen nichts zulassen wollen.

In dieser Sache kommt noch das schnelle Voranschreiten der Schüler zu höheren Graden hinzu, denen so Erhabenes noch nicht anvertraut werden konnte, da sie in den Wissenschaften des Humanismus bisher zu wenig Lampenöl verbraucht hatten. Daher ziehen sie sich angesichts so vieler und so großer Dornen und eines solchen Gestrüpps, und von der harten und vergeblichen Mühe erschöpft, wieder zurück, noch bevor sie zu den Jahren eines verehrungswürdigen Alters gelangt sind, als ob sie bis dahin im Mannesalter aufgeblüht wären. Hört aber, ich beschwöre euch, die Worte des Ijob: >Bei Greisen findet sich Weisheit, und in einem langen Leben liegt Einsicht< [12,12]. In diesem Sinne antwortete einmal Rabbi Eleazer seinem Lehrer Jochanan, der ihm in seiner Güte sagte: >Komm, ich werde dich über das Werk der Merkaba unterrichten<, das heißt über die erhabeneren Betrachtungen: >Ich bin noch nicht grau geworden<, wie wenn er sagen wollte: >Ich bin noch nicht alt genug geworden.<

Jener scharfsinnige Schüler und junge Mann von herausragender Begabung wußte nämlich, daß zu einer so erhabenen und hohen Philosophie nur diejenigen befähigt und geeignet sind, die, nachdem die Glut ihrer Begierden beruhigt und ausgetilgt und die jugendliche Hitze abgekühlt ist, an Jahren vorgerückt sind, aber mit einer gewissen natürlichen Aufrichtigkeit alt werden. Denn welchen Vorteil würde das Greisenalter mit sich bringen, wenn es dem Leben nicht Redlichkeit und beständige Lauterkeit hinzufügte? Es soll daher, wie ich meine, ja niemand glauben, daß diejenigen die wahren Theologen seien — wie alt sie auch sein mögen und mit welch streitsüchtiger Geschwätzigkeit auch immer sie ausgestattet wären —, die, besudelt mit jeglicher Art von Lastern wie Hochmut, Heuchelei, Habsucht, Haß, Neid und Prunksucht, und das oft unter dem Deckmantel der Religion, das Licht des Geistes mißachten und den Neigungen der Tiere folgen. Dieser meiner Meinung pflichtet Salomo bei, wenn er sagt: >Ein verkehrter Mensch ist dem Herrn ein Greuel< [Spr 11,20]. Das ist jener Mensch, der sich von der Höhe weg zur Tiefe wendet, obwohl ihn die Natur zur Höhe hin aufgerichtet hat. Dein Alcazel, Marranus, jener berühmte Mohammedaner, wußte genau, daß diese in der Seele einander widerstreitenden Bewegungen nach oben und nach unten einen gebildeten Menschen ins größte Unglück stürzen, wenn er in seinem Buch >Über die Erkenntnis Gottes< darlegt, daß aus der Gegensätzlichkeit solcher sich wechselseitig anziehenden Eindrücke in der Seele die stärkste und furchtbarste Qual entsteht. So führen, von den Lastern ganz abgesehen, auch die weltlichen Tätigkeiten zum Verderben und lenken ab, wenn etwa die Eltern, die Ehefrau, die Kinder, das Vermögen, die Freunde, die Feinde, die Ereignisse und Begebenheiten und alle möglichen Erfordernisse für die Verwandten es nicht zulassen, daß die Kräfte der Menschen zu den höchsten Stufen der Einsicht aufsteigen. Es soll aber jeder von euch darum besorgt sein, daß in uns nichts befindlich ist, was uns daran hindert. Denke Dir ein geeignetes und erfolgreiches Mittel aus, um eure Begabung in den Griff zu bekommen, damit nicht im geringsten der Anschein von Torheit und Unverstand erweckt wird. Nunmehr bereit, soll alles zu Hilfe kommen, was sich darauf richtet, die höchsten Dinge aufzunehmen, damit sich niemand mit Recht über unsere Schwäche beklagen kann.

Dennoch: Wird jene Verborgenheit des Göttlichen, die höher ist als der Himmel und tiefer als die Unterwelt und die weder durch unsere Sinne noch durch unsere Vernunft erforscht werden kann, nicht die meisten abschrecken? Sie erhält, anders als die übrigen Wissenschaften, das Licht nicht von unseren Bemühungen, sondern bringt dieses von sich aus mit und strahlt und leuchtet ihrerseits gleichsam wie aus einer Vorratskammer in Männer hinein, die nicht unwürdig sind, obgleich sie sich weder von sich aus überall wie eine wohlfeile Dirne preisgibt, noch sich anbietet, wenn sie nicht eingeladen ist. Vielmehr wird sie von unserem Willen, der zuvor durch die humanistischen Wissenschaften hervorragend eingerichtet wurde, ohne großes Sträuben angezogen. Es ist so, wie >wenn die Axt stumpf geworden ist<, wie Salomo sagt, >und ihr Benutzer sie vorher nicht geschliffen hat; dann braucht er mehr Kraft< [Koh 10, 10]; und seinem Einsatz wird die Weisheit folgen. Was nämlich von der Sinneswahrnehmung zum Verstand gebracht wird, wird durch eine gewisse Anstrengung der wissenschaftlichen Bemühungen und der Einsicht in die Künste zusammengeführt; was aber vom Verstand zum Geist und zu dessen Erleuchtung führt, nimmt sozusagen die Gestalt Gottes an und bedarf keiner menschlichen Vorstellung, so daß von uns nichts Tiefgründigeres gedacht werden kann als dies. Darüber scheint derselbe Salomo geseufzt zu haben, wenn er sagt: >Tiefer Abgrund< oder >tief, tief versunken<, wie ja auf hebräisch zu lesen ist, >wer könnte sie finden?< [Koh 7,24] Er sagte nicht: >Wer wird sie besitzen?<, denn manche besaßen sie. Doch >wer könnte sie finden?< Es ist dies wohl schwierig, aber nicht etwas vollkommen Unmögliches, denn >der Herr gibt Weisheit< [Spr 2,6] und >glücklich sind die, die sie finden< [Spr 2, 10], wie es in den heiligen Sprichwörtern steht. Die Weisheit zu finden ist also nur wenigen gegeben, und zwar nur denjenigen Glücklichen, über die der Glanz des so verehrungswürdigen Lichtes nicht aufgrund ihrer Verdienste, sondern durch das Geschenk Gottes leuchtet. Ich glaube ganz sicher, es gibt niemanden, der nicht wüßte, daß es nicht die Sache der Masse ist, die Reden Gottes zu hören, weswegen sie zu Mose sagten: >Rede du mit uns, und wir werden hören. Gott soll nicht mit uns sprechen< [Ex 20,19]. >Dich<, sagten sie, >dich werden wir hören<, was Onkelos mit >Nekabel< übersetzte. Deshalb ist in den Kapiteln der Väter zu lesen: >Mose kibel<, das heißt >Mose hörte< und empfing das Gesetz vom Sinai. Daher heißt Kabbala: >Entgegennahme, durch das Hören.< Ich glaube, daß man darauf achten und im Gedächtnis festhalten muß, daß es aus einer solch großen Menschenmenge, und auch von so vielen Heiligen, Mose selbst gewesen ist, der als einziger - und außer ihm sonst keiner — dazu bestimmt wurde, die Erkenntnis des Wahren und Richtigen aus dem Mund Gottes zu empfangen. So nämlich schreibt jener berühmte Kabbalist Asriel Bar Salomo aus Gerona: >Nicht alle Propheten freilich waren imstande, die Rede aus dem Munde Gottes zu hören, außer Mose.<

Ihr also, beste Männer, denen ich in Zuneigung durch unsere gemeinsamen wissenschaftlichen Bemühungen in besonderer Weise verbunden bin, erseht aus dem Gesagten leicht, was mir gelegentlich nicht mehr bewußt war, nämlich daß die Kabbala etwas für das Menschengeschlecht dringend Notwendiges ist und uns als Gnade vom Himmel geschenkt wurde; ohne sie vermag niemand das so seltene, so schwierige Verständnis des Göttlichen zu erlangen, das eben aufgrund seiner Göttlichkeit gewiß nicht den Darlegungen der menschlichen Vernunft, nicht den dornenreichen Gefechten nutzloser Worte und nicht den menschlichen Schlußfolgerungen unterworfen ist. Das Göttliche ist sogar so groß, so gewaltig, so unendlich, daß es in einem einzigen Menschenalter oder, wenn ihr so wollt, auch in mehreren — selbst bei unermüdlichster Anstrengung — nicht bewältigt werden kann, auch wenn sich unsere Lebensjahre auf viele Jahrhunderte erstrecken würden, solange wir in diesem Lehm, in dieser Tonerde und dem Gemisch eines zusammengesetzten Körpers atmen und alles mit den leiblichen Sinnen wahrnehmen. Die weisen Meister der Juden sagen nämlich: >Für ein Wesen aus Fleisch und Blut ist es unmöglich, die Kraft des Schöpfungswerkes zu erklären.< Um wieviel mehr gilt dies für die Merkaba!

Wir müssen daher genauso vorgehen, wie es die einzelnen Fachleute und die Lehrer der freien Künste zu tun pflegen. Wir sollen einem jedem auf seinem Gebiet Kundigen Vertrauen schenken. Denn der Logiker vertraut bezüglich eines Teils seiner Rede auf das, was er vom Grammatiker erhalten hat. Der Rhetor übernimmt vom Logiker die allgemeinen Sätze seiner Beweisgründe. Der Dichter und Redner entlehnt vom Musiker, der Geometer leiht sich die Zahlenverhältnisse vom Arithmetiker, die Astronomie schenkt den Zahlen, Figuren und Maßen aus der Mathematik ihr Vertrauen. Bei der Beschäftigung mit dem Übernatürlichen gelangt die begründete Annahme aus dem natürlichen Bereich zur Anwendung. Und jede höhere Wissenschaft holt mit Recht ihre Voraussetzungen aus den Gegebenheiten der niedrigeren und unternimmt keinen Versuch, das zu beweisen, wovon sie vernommen hat, daß es durch irgendeine andere Kunst bereits gesichert ist, sondern sie glaubt gerne den Aussagen, damit die Menschen nicht eines ganzen Lebens verlustig gehen, bevor auch nur eine ganz kleine Lehre einer einzigen Disziplin vollkommen erforscht werden kann Wenn dies im menschlichen Bereich und in gleichsam niedrigeren und handwerklichen Tätigkeiten geschieht, daß die Menschen durch das Hören aufnehmen und den Männern Vertrauen schenken, von denen sie glauben, daß sie vor allen anderen mit einer einzigartigen Gelehrsamkeit ausgestattet sind —werden wir dann glauben, daß das Wissen um die höchsten und göttlichen Dinge, das auch der eine oder andere von uns unter Aufbietung aller Kräfte kaum erreichen kann, daß die Weitergabe durch heilige Männer und daß der Empfang, welcher auf hebräisch Kabbala heißt, zu verachten sein wird? Die Kabbala nämlich ist der symbolische Empfang der göttlichen Offenbarung, die zur heilbringenden Anschauung Gottes und der für sich bestehenden Formen weitergegeben worden ist. Diejenigen, denen diese Offenbarung durch göttliche Eingebung zuteil wird, werden mit dem zutreffenden Namen >Kabbaliker< bezeichnet; deren Schüler aber werden wir mit dem Namen >Kabbaläer< benennen; und diejenigen, die diese sonst irgendwie nachzuahmen suchen, sind als >Kabbalisten< zu titulieren. Ebenso auch solche, die sich in täglicher Anstrengung damit abmühen, deren Aussprüche zu veröffentlichen.«

»Ich meinerseits, Philolaus«, sagte Marranus, »bin der Meinung, wenn Du erlaubst, daß dieser Jude in einem einzigen Paket alles, was über die Kabbala gesagt werden konnte, mit der Beredsamkeit eines Nestorius zusammengefaßt hat, so daß wir nunmehr genau wissen, was eben dieser Name bezeichnet und woher er kommt, ob es in der Natur oder im Gebrauch der Menschen irgendetwas dergleichen gibt, das man Kabbala nennt, schließlich deren Ursache oder weswegen sie so ist, inwieweit und wozu sie dient, wie notwendig sie für die Betrachtung des Göttlichen zu sein scheint, und inwiefern sie für einen Menschen, der dazu fähig ist und sich auf sie vorbereitet, überhaupt möglich ist. Wer muß >Kabbaliker<, wer >Kabbaläer< genannt werden, und wer ist als >Kabbalist< zu bezeichnen? Doch wozu die vielen Worte! Dafür muß er insgesamt von Kopf bis Fuß gelobt werden, daß er die Augen mit keinerlei Finsternis verdunkelt.«

Darauf Philolaus: »Du hast das Schiffstau gelöst, Marranus, und bist auf das große und kaum befahrbare Meer gegangen, doch du segelst noch nicht im Hafen. Und was dieser Simon da gleichsam auf eine kleine Tafel gemalt hat, scheinst du durch die Finsternis zu sehen und mitten durch den Nebel anzuschauen. Wir sind nämlich noch nicht einmal an die Tore dieser Kunst herangeführt worden, weswegen, mein kontemplativster aller Juden, wir dich darum bitten werden, daß du fortfährst. Bisher nämlich hast du uns noch nicht weiter gebracht, als uns einen Anlaß zu geben, über die Kunst der Kabbala in größerem Umfang nachzudenken, was jenes sei, das geoffenbart worden ist, wer es geoffenbart hat, wer es empfangen hat, welchen Nutzen dieser Empfang bringt, welcher Art diese Kunst ist, durch die (wie das Gerücht geht) Wunder geschehen, denn das letztere hat mich aus so weiter Entfernung hierhergebracht.« »Vor allem anderen«, sagte Simon, »werde ich Einspruch gegen die Beredsamkeit eines Nestorius erheben, deren mich Marranus bezichtigt. Eine solche wäre nämlich für mich als Philosophen wie auch als Juden tadelnswert — wie einem, der Schmeicheleien liebt —, da in einer derartigen Kürze der Rede Eloquenz nicht enthalten sein kann, die eine Fülle von Worten und Inhalten erfordert; und es liegt nicht in der Art von uns Juden, dem schönen Schein von Worten nachzugehen. Wir haben nämlich im eigentlichen Sinne unter der Zuchtrute zu sprechen gelernt, aber nicht schön daherzureden, und wir suchen mehr die Wahrheit des untersuchten Gegenstandes als den Glanz der Rede. Doch ich werde einiges weniges sagen, weil ihr so dringend danach verlangt, damit ich euch, die ihr durch so vielfältige und so gefährliche Reisen erschöpft oder angesichts der dunklen Nichtigkeiten gewissermaßen schläfrig seid, nicht im ungewissen lassen will. Nachdem ihr nämlich ohne jeden Verdruß, wie es scheint, zugehört habt, werde ich euch sagen, auf welchen Spuren und Fährten, mit wie vielen und welchen — sozusagen — Hunden ich bei meiner Jagd eine Definition der Kabbala aufgestöbert habe, damit es euch nicht widerfährt, schon beim Namen selbst in die Irre zu gehen. So haben gewisse Sophisten — sie sind aufgrund ihrer eigenen Leichtfertigkeit oder, wenn ihr lieber wollt, aufgrund ihrer Lernunfähigkeit verlachenswert — behauptet, die Kabbala sei ein teuflischer Mensch und Irrlehrer, weswegen alle Kabbalisten Häretiker seien. (Ich beschwöre euch: enthaltet euch, wenn ihr könnt, des Gelächters, wenngleich es ungemein lächerlich ist; aber hört bitte auf, diese Unmenschen und Scheusale zu verlachen).

Ich werde euch nun das vortragen, woran ihr zweifelt, daß es gewiß ist, und worüber ihr mich befragt habt, wenn ich euch zuvor daran erinnert habe, daß die Kabbala weder mit einer groben Berührung der Sinne noch mit den gebieterischen Beweisgründen der Kunst der Logik aufgesucht werden kann. Ihre Grundlage befindet sich im dritten Bereich der Erkenntnisse, wo es kein zwingendes Urteil, keine einsichtige Beweisführung, keine darlegende logische Schlußfolgerung gibt, ja, wo nicht einmal die Vernunft des Menschen selbst herrscht. Es geht um eine Art edlere Erkenntnis, bei der das Licht des Geistes auf den Verstand herabfällt und den feien Willen zum Glauben bewegt. Was nämlich mit den Sinnen erfaßt wird, steht unterhalb der Wissenschaft und ist sicherer als die Vernunft; was aber der Geist eingibt, stellen wir über die Wissenschaft, wie wenn es gesicherter wäre als das vernünftige Denken. Ich habe ein wenig innegehalten und verharrt, damit ihr nicht glaubt, diese so göttlichen Dinge seien den Erfindungen der menschlichen Schwäche und, wie man sagt, den Gesetzen der Logik unterworfen. Verzeiht, meine Freunde. Ich trage hier nichts Wohldurchdachtes vor, sondern ich hole das eine aus dem anderen, wie sich die Fragen gerade ergeben. Nunmehr aber komme ich schnell zu dem, was ihr zu hören wünscht: Was ist das, das geoffenbart worden ist? Niemand wird von mir erreichen können, daß ich glauben müßte, ihr hättet diese Frage bezüglich jeglicher Offenbarung aller Glaubensartikel vorgelegt, was fast unendlich zu sein scheint. Es geht vielmehr darum, was jener uranfängliche, allgemeine und vorzügliche Offenbarungsinhalt des göttlichen Wesens sei, auf den die Einzeloffenbarungen des Göttlichen bezogen und zurückgeführt werden.« »Eben genau dies«, sagte Philolaus. Da sprach Simon: »Nun gut. Es ist in der Tat nichts anderes, als die nach dem uranfänglichen Untergang des Menschengeschlechts ganz allgemeine Wiedererneuerung, die von uns >Jesuah< und von den Lateinern >Salus< [= Heil, Erlösung] genannt wird. (...)

Und durch Vermittlung des Messias schreiten wir schließlich ganz hinüber zu dem unbegreiflichen Gott; dann aber steigen auch mit Hilfe dieser heiligen Schriften — wie auf der Jakobsleiter, die den Himmel mit ihrer Spitze berührt, auf der Gott selbst steht [Gen 28, 12f.] — unsere Engel hinauf und hinab. Von hier befördern sie die Gebete, von dort die Gaben; von hier aus tragen sie die Gebete ins Jenseits und von dort aus die Hilfen ins Diesseits, wie einer von euren Leuten sagt. Und ich glaube, dass in der Tat nichts anderes, was man sich vorstellen könnte, unsere Seele enger — gleichsam wie eine Kette bei der Weberei — an Gott bindet, als eben jene schon genannte heilige Schrift, die uns zunächst zur Bewunderung des Göttlichen führt, sodann, dem menschlichen Fassungsvermögen entsprechend, zu seiner Erkenntnis, schließlich zu jener lodernden Liebe dem göttlichen Wesen gegenüber, in welcher Weise es auch immer erkannt zu werden vermag, da diese Liebe die sicherste Verwirklichung der Hoffnung verspricht. Durch diese heilige Schrift werden wir mit den Lebewesen und den Rädern des Ezechiel von der Erde in die Höhe gehoben, um mit ihnen zu gehen, wenn sie gehen, und mit ihnen stehenzubleiben, wenn sie stehenbleiben [Ez 1,4—21]. Dies allein ist der Bereich wahrer Kontemplation, in der jedes einzelne Wort jeweils ein heiliges Zeichen darstellt; und jede einzelne Rede, jede Silbe, jeder Akzent und Punkt ist voll von verborgenen Bedeutungen; doch nicht nur unsere eigenen Autoren bezeugen dies, sondern auch die der Christen.

Das ist die Kabbala, die es nicht zuläßt, daß wir in Niedrigkeit verbleiben, sondern die unseren Geist zum allerhöchsten Grenzpunkt unseres Begreifens erhebt, das allerdings nicht dazu fähig ist, zur Seele des Messias hinüberzusteigen, außer durch ein gewisses unbegreifbares Schauen, gleichsam auf dem Weg eines momentanen Dahingerissenwerdens, wodurch es, wie wir glauben, uns Kabbalisten nicht unmöglich ist, daß wir im Geist fast bis zur dritten Welt mitgerissen werden, wo der Messias wohnt, der in alles Niedrigere einfließt. Es gibt nämlich der Zahl nach drei allgemeinste Welten:

Die erste ist die der Materie, die zweite die der Form, und die dritte ist ungeformt. Oder ich möchte, wenn ihr so wollt,
die erste die unterste nennen, die auch die des sinnlich Erfahrbaren ist;

die zweite ist die höchste und die geistige, die auch die Welt des Begreiflichen ist; und

die dritte ist die allerhöchste oder, wenn man so sagen dürfte, oberhöchste; sie ist unvergleichlich und göttlich.

Ich möchte aber, daß diese körperliche, den anderen unterworfene Welt in bezug auf uns als erste gezählt wird; wenn man nun diese Ordnung umkehrt, müßte sie aus berechtigtem Grund in der Art der Ursachen als letzte genannt werden, gleichsam als Aufnahmeort aller höheren. Diese wird gebildet erstens durch die Himmel und die himmlischen Dinge, zweitens aus den Elementen und dem aus den Elementen Zusammengesetzten, drittens aus der menschlichen Natur und den je einzelnen Menschen, die auf hebräisch >Olam ha-qatan<, auf griechisch >Mikrokosmos< und auf lateinisch >Parvus Mundus< [= die kleine Welt] genannt wird. Dieses gesamte Gefüge besteht, wie euer Aristoteles in seinem Buch >Über die Welt< schreibt, aus dem Himmel und der Erde und den darin enthaltenen Naturen, nämlich aus sieben himmlischen und sieben irdischen Wohnungen, die Rabbi Menahem Racanat in Kapitel 25 seines Kommentars zum Buch >Leviticus< mit folgenden Namen, die sich auf den Himmel beziehen, bezeichnet: >Himmel, Weltall, Wolke, Lebensraum, Haus, Wohnung, verlassener Ort.< Zweitens die Namen für die Erde: >Erde, Arqa, Tal, trockenes Land, Wüste, unbewohntes Land, Lebenswelt.< Joseph von Salem hat in seinem >Nußgarten< (wie ihr ein wenig weiter oben gehört habt) namentlich auch die sieben Wohnungen der Unterwelt aufgeführt.

In bezug auf >die kleine Welt< aber ist auch dies uns allen nicht verborgen, wenn ihr die Beschaffenheit des Menschen hinsichtlich aller seiner Teile betrachtet. Es sind dies sieben: Der Körper, die Seele und das aus diesen Zusammengesetzte ,das wir >Nephesch< nennen, wie jenes bekannte Wort des Königs von Sodom lautet: Gib mir das >Nephesch< [= Menschenwesen; Gen 14,21]. Aus vier Seelenkräften aber ist es zusammengesetzt und aus vier Eigenschaften der größeren Welt. Da diese Welt beseelt ist, wird sie durch einen eigenen Geist erleuchtet, der >Metratron< genannt wird.

Die zweite ist die höchste Welt der abgesonderten Geistwesen, die von den Kabbalisten >Sikelim nifradim<, von den jüdischen Philosophen aber >De‘ ot nifradot< genannt werden. Diese Welt aber — voll von Ideen, Formen, unstofflichen Geistwesen und Engeln — wird von der Seele des Messias selbst umfaßt, umschlossen und beherrscht; diese Seele des Messias ist bei den Kabbalisten die urbildhafte Idee aller Lebensformen, auf die jede individuelle, art- und gattungsbildende Lebensform zurückgeführt wird. Aus ihr wird gleichsam wie aus einem Gehege jegliches Leben entnommen; sie wird von den Kabbalisten >Land der lebenden Wesen< genannt. Und daher kommentieren sie den Vers >Die Erde bringe hervor lebendes Wesen nach seiner Art> [Gen 1,24] mit: >Das ist die Seele des Messias<. Diese Worte sind so im zweiten Kapitel der >Pforten des Lichts< zu lesen. Und wie in der Welt der Menschen, die >Mikrokosmos< genannt wird, der Geist über die menschliche Seele gebietet, gebietet Metatron über die himmlische Welt, und die Seele des Messias gebietet über die Engelwelt, und über die mit nichts vergleichbare Welt gebietet Adonai [= Name Gottes]. Ja mehr noch: Wie das Licht des Geistes der tätige Verstand ist, so ist das Licht des Metatron >Schaddai< [= der Mächtige], und das Licht der Seele des Messias ist >Elchai<, das heißt: >der lebendige Gott<, und das Licht des Adonai ist >Ejn Sof< [= das Unendliche).

Und mit den erfahrensten Erforschern der Naturdinge ist leicht zu erkennen, daß das Unterste der oberen Natur mit dem Obersten der unteren Natur in Verbindung steht. Lediglich darüber — wie es recht häufig bei ganz eng miteinander Verknüpftem der Fall ist — kann man in Zweifel geraten, ob es gegenseitig nur angrenzt oder ob es miteinander verbunden ist, und von welcher Art dasjenige ist, wo sich das miteinander Verbundene vereinigt. Es verhält sich nicht anders als mit dem Punkt, wo der Fuß eines Pferdes und sein Huf zusammentreffen. Ist er nun wegen der unmittelbaren Verbindung der Seinsweisen aus Horn oder aus Fleisch? Daher kann man nun, glaube ich, auch zweifelsfrei sagen, daß der Mensch-Mikrokosmos und jene große, sinnlich erfahrbare Welt im Geist zusammentreffen. Auch treffen die Körperwelt und die Vernunftwelt im Metatron zusammen, der der handelnde Verstand des ersten Beweglichen ist. Er ist eins mit der Himmelsnatur als dem Unteren und mit der Engelsnatur als dem Oberen. Die oberste Welt aber trifft mit der dritten Welt, der unvergleichlichen und oberhöchsten, zusammen in der Seele des Messias, die gleichsam eine Wesenheit darstellt, die beides, nämlich die Welt der Engel und die Welt Gottes, umfaßt. Es gibt nämlich keinen Unterschied zwischen der Seele des Messias und dem Elchai. Doch der Elchai ist der Quell der lebendigen Wasser, und die Seele des Messias ist der Bach des Lebens.

Die dritte Welt ist die des göttlichen Wesens. Sie besteht aus dem, was die Seraphim riefen: >Heilig, heilig, heilig, JHWH< [Jes 6,3]. Und er wird im Buch Deuteronomium [10, 17] genannt: >Groß, mächtig und furchterregend<, oder vielmehr: >ehrfurchtgebietend.< Groß vor der Schöpfung, mächtig während der Schöpfung, ehrfurchtgebietend nach der Schöpfung. Und er ist der AHD, der >Eine<, oder im eigentlichen Sinne noch mehr: der Urgrund der Einheit, denn das Aleph [= erster Buchstabe des hebräischen Alphabets] bezeichnet den Urgrund, und das HD den Einen. Als Urgrund des Einen enthält er in seiner Einfachheit der Einheit alles.

Der Ausfluß aus ihm vollzieht sich nach der Auffassung der Kabbalisten als Geist, als Wort, als Stimme. So nämlich hat Rabbi Asriel in seinem >Kommentar über die Heiligkeit< gleich nach der eben zitierten Textstelle mit folgenden Worten geschrieben: >Aus dem Geist wird das Wort hervorgebracht und die Stimme — nicht durch das Offnen der Lippen und nicht durch das Sprechen der Zunge und nicht durch das Atmen des Menschen.< Und diese drei sind ein einziger Geist, weil Gott ein Einziger ist, wie wir im Buch Jezirah über die Schöpfung mit folgenden Worten lesen: >Ein einziger Geist ist der lebendige Gott; gepriesen sei er, und gepriesen sei sein Name, der in Ewigkeit lebt als Stimme, Geist und Wort. Und das ist der Heilige Geist, zweimal Geist aus dem Geist.< Soweit unser Vater Abraham. Und es stimmt mit dem überein, was Rabbi Hamai im Buch >Über die Betrachtung< geschrieben hat: >Diese drei, die eins sind, haben untereinander das Verhältnis von: einer, einigend, geeint.< Ja, er sagt etwas zuvor sogar dasselbe: >Und sie sind der Anfang und die Mitte und das Ende, und diese sind ein einziger Zeitpunkt, und es ist dies der Herrscher über das Weltall.< So in dem zitierten Werk. Daher wird jene dritte Welt, die unvergleichbar höchste, aus diesen dreien gebildet, die eines sind, wie wenn sie sich gleichsam aus der höchsten Wesenheit, ihrer Kraft und ihrer Wirksamkeit in die Ewigkeit und darüber hinaus erstreckte; sie ist weder nach außen oder innen gewölbt, noch weist sie Hohlraum oder Oberfläche auf. Denn so schreibt Asriel in dem vorhin erwähnten Buch >Über die Heiligkeit<: >Sie ist die erste ohne Anfang, und sie ist die letzte ohne Ende<, zu der fürwahr nicht einmal unsere Gedanken gelangen können; und sie wird >En Soph< genannt, das heißt >Unendlichkeit<, die das Höchste ist und ihrer Natur nach unbegreiflich und unaussprechbar; sie zieht sich in den abgelegensten Winkel ihrer Göttlichkeit und in den unzugänglichen Abgrund des Lichtquells zurück und verbirgt sich in der Weise, daß man nichts erkennt, was von ihr ausginge. Sie ist gleichsam die absoluteste Gottheit, aufgrund ihrer Nichttätigkeit verharrend im vollkommenen Abschluß in sich selbst, nackt, ohne Gewand und ohne jeglichen Mantel von Umfeldern; sie verströmt sich nicht und verbreitet sich nicht durch die Güte ihres Glanzes. Sie ist ununterscheidbar Sein und Nichtsein und schließt alles, was unserer Vernunft gegensätzlich und widersprüchlich erscheint, als abgeschiedene und uneingeschränkte Einheit in einfachster Einfachheit in sich ein. So ist nämlich im Buch >Über den Glauben und die Sühne< zu lesen: >Ich habe dir schon gesagt, daß das Sein, das aus dem Nichts erschafft, keines anderen bedarf, und daß das Sein im Nichtsein ist, insofern es am Nichtsein teilhat; und das Nichtsein im Sein, insofern es am Sein teilhat.< Und darunter: >Dadurch sollst du lernen, daß das Nichtsein das Sein ist, und das Sein das Nichtsein<; so ist dort zu lesen geschrieben.

Dies aber übersteigt unseren gesamten Verstand, der nicht dazu fähig ist, das im Prinzip Widersprüchliche auf dem Weg der Vernunft miteinander zu vereinbaren, da wir uns in dem bewegen, was uns von Natur aus offensichtlich ist. Die Vernunft, die weit von dieser unendlichen Kraft abfällt, ist nicht in der Lage, das Widersprüchliche, das sich in einer unendlichen wechselseitigen Entfernung befindet, zum gleichen Zeitpunkt miteinander zu verknüpfen, wie es einer der größten deutschen Philosophen, ein Kardinal [= Nikolaus von Kues], vor fast 52 Jahren der Nachwelt zu verstehen gegeben hat. Wenn nun der glückselige Kabbalist die Last der zeitlichen Sorgen beseitigt hat und die Sophismen altweiberhafter Disputationen mißachtet, durchbricht er mit Hilfe der Kabbala, das heißt auf dem Weg des Empfangs und des Glaubens, das Dunkel und schwingt sich zur Klarheit empor, durch die er an die Helligkeit rührt; und so geht er von der Helligkeit zum Licht und erfaßt durch das Licht, soweit die menschliche Natur es begreifen kann, jenen wahren Lichtgrund unter der Weise des Seins, nicht aber des Nichtseins, es sei denn, daß dies durch die Abstraktion von all dem erfolgt, was nicht der absolut erste Urgrund ist. Und wenn der Geist des Kabbalisten immer wieder auf diesem Weg durch die unsagbare Freude und Wachheit des Denkens hindurch in das Geheimnis tiefen Schweigens — wobei er das Niedrige und Irdische verläßt — zum Überhimmlischen und Unsichtbaren versetzt wird, das alle menschlichen Sinne übersteigt, dann wird er, auch wenn er in menschlicher Haut noch Gast auf Erden ist, dennoch zum Gefährten der Engel, gleichsam zu einer Art Mitbewohner der überhimmlischen Wohnstätten, von dem man weiß, daß er häufig in den Himmeln verkehrt. Dann schreitet er mitunter mit jenen als den Begleitern seiner Wege in höhere Gefilde und sucht die Seele des Messias auf; mitunter aber steigt er unter der Führung der Engel, gleichwohl aber auch nicht ohne eigene Vernunft, zu den niedrigeren Kräften hinab, die genauso himmlisch sind wie die übrigen der Natur, und bemüht sich, deren Würden und Tätigkeiten zu erkennen und in besonderer Verehrung zu bewundern. Somit entsteht eine sehr enge Freundschaft des Kabbalisten zu den Engeln, mit deren Hilfe er manchmal die göttlichen Namen richtig erkennt und erstaunliche Dinge bewirkt, die das Volk Wunder nennt; so bewahrte Rabbi Meir kraft des göttlichen Namens, der sogar von einem Heiden erwähnt worden war, die Schwester seiner Frau vor dem Verderbnis eines Bordells. Nachdem dieses Wort gesprochen worden war, war kein Zuhälter — wie stark auch immer er gewesen sein mag — in der Lage, der unter Gewaltanwendung zur Prostitution Gezwungenen Gewalt anzutun und sie zu schänden.

Diese Begebenheit wird am Anfang der >Pforten des Lichts< aufgeführt, und — zusammen mit deren Urhebern — sehr viel anderes von dieser Art. Und so leicht fiel den Kabbalisten, nach der Erinnerung der Väter, das Wirken solcher Wunder, daß sie von Neidern und von Heiden sehr häufig in ehrenrühriger Weise als verschlagene Zauberer bezeichnet wurden, wie wenn jene Wunder nicht Michael vollbracht hätte, sondern vielmehr ganz hauptsächlich Samael, nämlich unter Einsatz von ägyptischen Zaubersprüchen und anderen geheimen Zeichen, obgleich doch der Stab der Kabbalisten immer die Stäbe der Wahrsager [Ex 7,12] verschlingt, und alles, was göttlich ist, zum größeren Heil führt als jegliches dämonische Tun. Immer nämlich strebt die Lehre der Kabbala zum Heil der Menschen, dagegen aber führt die Zauberei der magischen Eitelkeit immer zum Verderben; die Magie wirkt im Namen der Finsternis und der bösen Geister, die Kabbala im Namen des Lichts und der heiligen Engel.
Aus: Johannes Reuchlin, Deutschlands erster Humanist, Ein biographisches Lesebuch von Hans-Rüdiger Schwab S.204-233
© 1998 Deutscher Taschenbuch Verlag, München, dtv 12609, ISBN 3-423-12609-4
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