Horst-Eberhard Richter (1923 - )
Philosophisch versierter deutscher Psychoanalytiker; Professor für Psychosomatik und Psychotherapie in Gießen. Engagierter Familien- und Sozialtherapeut, der sich seit längerem verstärkt gesellschaftskritisch angelegten sozialpsychologischen und sozialphilosophischen Analysen widmet. Richters originelle und scharfsinnige Analyse der religions-philosophischen Entwicklung des Gottesverständnisses von Augustinus bis Nietzsche besticht durch ihre - von profundem Wissen getragene - nachvollziehbare psychologische Hintergründigkeit. Siehe auch Wikipedia |
Es war dann im 17. Jahrhundert die Philosophie des DESCARTES, die am prägnantesten den wegweisenden
Entschluss des Menschen ausdrückte, sich das absolute Wissen und die
Kraft des Allmächtigen anzueignen; um nach dem Verlust des mittelalterlichen
Gotteskindschaftsverhältnisses ein neues Gleichgewicht zu finden. Nach
Wegfall des göttlichen Schutzes wird das Selbstbewußtsein des individuellen
Ich zum Garanten eines modernen Sicherheitsgefühls. In psychoanalytischer Betrachtungsweise kann man von einer narzißtischen
Identifizierung sprechen. Die grandiose Selbstgewissheit des Ich ist an
die Stelle der Geborgenheit in der großen idealisierten Elternfigur getreten.
Deren gewaltige Macht taucht nun als maßlose Überschätzung der
eigenen Bedeutung und Möglichkeiten auf. Das
individuelle Ich wird zum Abbild Gottes. Die
höchste und zentrale Wahrheit steckt infolgedessen in dem berühmten
Satz: Cogito ergo sum; ich
denke, also bin ich. Was wie ein logischer Schluss aussieht,
ist im Grunde eine intuitive Entscheidung. Das Ich setzt seine Selbstgewissheit
obenan. Freilich kann man von Entscheidung hier nur in dem Sinne sprechen, dass
das Ich letztlich auch für den unbewussten Abwehrvorgang verantwortlich
ist, der zu diesem Resultat geführt hat. Dies folgt jedenfalls aus der
Annahme, dass im Hintergrund eine ähnliche Dynamik wirksam war, wie
sie an dem Beispiel des narzißtisch überkompensierenden Kindes erläutert
worden ist.
Noch immer hat man freilich im 17. Jahrhundert mit der großen Angst zu
kämpfen, die willkürliche Entmachtung Gottes als solche einzugestehen
und dessen vernichtende Rache heraufzubeschwören Also musste sich
DESCARTES mit allen Mitteln bemühen, die ungeheure Anmaßung des individuellen
Ich nicht nur als gottgewollt, sondern geradezu als von Gott her bestimmt zu
interpretieren. Er erfand eine scheinbare Begründung, die man im Sinne
der Psychoanalyse als klassische Rationalisierung bezeichnen könnte. Die
Idee, von der individuellen Selbstgewißheit alle weiteren Erkenntnisse
ableiten zu können, führte er ursächlich auf Gott zurück:
Die höchste Klarheit und Deutlichkeit, mit der das individuelle Ich seiner
selbst bewußt sei, könne nur von Gott dem Menschen eingegeben worden
sein. Und da Gott gut sei, müsse auch alles wahr sein, was an ähnlich
klaren und deutlichen Vorstellungen im Ich vorhanden sei. Denn der gute Gott
könne uns ja nicht täuschen wollen. — Auch der berühmte Gottesbeweis des DESCARTES bedeutete im Grunde nur eine rationalisierende
Verleugnung der tatsächlichen Entmachtung Gottes: Die Idee eines vollkommenen
Wesens müsse eine Ursache haben. Da der Mensch indessen unvollkommen sei,
könne seine Vorstellung des vollkommenen Wesens nur von Gott als Ursache
herkommen. Wie könnten wir ein vollkommenes Wesen denken, wenn dieses nicht
real existierte und diese Idee nicht in uns hervorgebracht hätte? «Wir
werden in dieser Idee
(gemeint ist die Idee Gottes, der Verf.) eine
solche Unermeßlichkeit finden, daß wir uns davon überzeugen,
daß sie uns nur von einem Gegenstande eingeflößt sein kann,
welcher wirklich alle Vollkommenheiten in sich vereinigt, das heißt nur
von dem wirklich daseienden Gott. Denn es ist nach dem natürlichen Licht
offenbar, daß aus Nichts nicht Etwas werden kann, und daß das Vollkommene
nicht von einem Unvollkommeneren als wirkender und vollständiger Ursache
hervorgebracht werden kann, und dass in uns keine Idee oder kein Bild einer
Sache sein kann, von dem nicht irgendwo in uns selbst oder außer uns ein
Urbild existiert, das alle seine Vollkommenheiten wirklich enthält.»
In Wirklichkeit vertraut dieser Beweis nicht auf Gott, sondern auf die Unfehlbarkeit
des eigenen Intellekts: Würde der intellektuelle Schluss zu einem
anderen Resultat führen, wäre Gott gewissermaßen widerlegt.
Das logisch denkende Ich bestimmt, dass Gott ist — bzw. sein darf.
Aber natürlich durfte seinerzeit niemand diese Anmaßung eingestehen,
und von der Renaissance bis zur Aufklärung mühten sich Generationen
von Philosophen mit immer neuen Argumenten darum, sich um das Bekenntnis herumzudrücken,
daß man sich eben nicht mehr auf Gott, sondern darauf verließ, durch
Identifizierung selbst göttlich und omnipotent sein zu wollen, um alle
Gefahren selbständig vorausberechnen und abwenden zu können.
Jedenfalls stellt sich in der Philosophie des DESCARTES besonders deutlich der
Umschlag aus passiver Ergebenheit in eine Haltung wachsamer Dominanz dar. Das
individuelle Ich setzt sich an die Stelle Gottes. Gerade in dem Augenblick,
als GALILEI endgültig das klassische Weltbild
als Illusion entlarvt und damit der Verlorenheitsangst neue Nahrung gibt, vollzieht
sich diese Flucht nach vorn in einen großartigen Allmachtsglauben. Das
Ich erträgt auch nicht länger, in die Geister- und Dämonenwelt
der mystisch-magischen Periode verwickelt zu sein. Es saugt gewissermaßen
das ganze Potential an Magie in sich selbst auf, indem es alle Wirklichkeit
leugnet, die es nicht selbst intellektuell in Besitz genommen hat. Die mit DESCARTES,
GALILEI und LEIBNIZ einsetzende stürmische,
auf die Mathematik gestützte Naturerforschung steht von Anfang an unter
dem Druck der Angst, alle Ursachen erkennen zu müssen, um nicht doch am
Ende von unbekannten Mächten überwältigt zu werden. Man muß
die Umwelt restlos erkunden und sich ihrer bemächtigen, da kein elterlicher
Beschützer mehr da ist, der Geborgenheit vermittelt. Die Furcht, von Gott
verlassen zu werden, verwandelt sich in die Sorge vor dem Verlust der absoluten
Selbstgewißheit und der intellektuellen Beherrschung der Umwelt. Die mit
der Renaissance einsetzende und sich bis heute fortsetzende großartige
Bewegung der naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Eroberungen
entstammt jedenfalls psychologisch sehr ähnlichen Wurzeln wie die gehetzte,
misstrauische Neugierhaltung und die tyrannische Herrschsucht jener unbeschützten
Kinder, die nicht mehr schlafen und nicht mehr passiv sein können. Die
nur noch einer Welt trauen, die sie selbst durch Berechnen und Machen in der
Hand haben — oder zumindest in der Hand zu haben glauben.
Der lange Zeit als großartige Selbstbefreiung gepriesene Schritt des mittelalterlichen
Menschen in die Neuzeit war im Grunde eine neurotische Flucht aus narzißtischer
Ohnmacht in die Illusion narzißtischer Allmacht. Der psychische Hintergrund
unserer so imposant scheinenden neueren Zivilisation ist nichts anderes als
ein von tiefen unbewältigten Ängsten genährter infantiler Größenwahn.
Wie das Kind, das sich gewaltsam und illusionär selbst in eine allmächtige
Elternfigur verwandelt, um seinen unverläßlichen Eltern nicht länger
wehrlos ausgeliefert zu sein, trägt unsere Zivilisation seit damals zahlreiche
Merkmale einer krampfhaften Selbstüberforderung. Der verunsicherten Beziehung
zu Gott, die einen langen Prozeß schmerzhafter Auseinandersetzung erfordert
hätte, hat man sich durch Identifizierung entzogen. Aber das durch diese
Gleichsetzung erzeugte großartige Selbstbewußtsein ist stets trügerisch
geblieben, und das auf die technische Naturbeherrschung fundierte Machtgefühl
verleugnet seit je die tatsächliche infantile Abhängigkeit von eben
dieser Natur, ohne deren Ressourcen ein Überleben der Menschheit undenkbar
ist. Dies ist eben der Pferdefuß der neurotischen Überkompensation:
Da die Ohnmachtsangst nur durch unkritische Selbstüberschätzung, die
passive Auslieferung nur durch gewaltsame Überaktivität in Schach
gehalten wird, hat sich eine verhängnisvolle Unfähigkeit fixiert,
noch diejenigen natürlichen Abhängigkeiten zu registrieren und zu
akzeptieren, welche die menschliche Existenz begrenzen. Aber es liegt eben im
Wesen dieses unbewußten Ohnmacht-Allmacht-Komplexes, dass die Brüchigkeit
des größenwahnsinnigen Selbstbildes so schwer durchschaut werden
kann. Nachdem die Gewissheit der Geborgenheit in Gott entfallen ist und
das Ich nur noch in seiner Selbstgewißheit und in der egozentrischen Naturbeherrschung
Halt sucht, bleibt ihm nichts anderes übrig, als das illusionäre Moment
dieser Selbstvergötterung zu verleugnen. Die spektakulären Entdeckungen
der naturwissenschaftlichen Ursachenforschung stützen von Anfang an das
Verleugnungssystem, weil sie ja, anders als die Rezepte der mittelalterlichen
Magie, tatsächlich viele unheimliche Naturprozesse durchschaubar machen.
Begeistert von der Tragfähigkeit der mathematischen Methode vermag man
sich — mit DESCARTES — fortan zu suggerieren, die intellektuelle
Gewissheit mache eine Selbsttäuschung unmöglich. Die mathematische
Logik trüge nie. Wenn man der «raison», der Vernunfterkenntnis
folge, so erklärt MALEBRANCHE, einer der
bedeutendsten französischen Philosophen in der unmittelbaren Nachfolge
des DESCARTES, verfüge man über das unendliche und unabhängige
Prinzip, an welches auch Gott gebunden sei:
«Car Dieu ne peut agir que selon cette raison, il
dépend d‘elle dans un sens; il faut qu‘il la consulte et
qu‘il la suive.» Die Verfügung über die «raison»
garantiert dem Menschen, das ist die heimliche triumphale Folgerung, gottgleiche
Unabhängigkeit und Macht.
Der seit dem Mittelalter versteckt erhalten gebliebene Aberglaube bedingt die
Illusion, durch praktische Ausnutzung der mathematischen Naturgesetze die eigene
Endlichkeit überwinden zu können. Damit hat sich die Überschätzung
der kabbalistischen Zauber- und Beschwörungsformeln aus der Zeit des AGRIPPA
VON NETTESHEIM nur auf die moderne Mathematik verschoben. Das kontinuierliche
Vordringen der mathematischen Naturerkenntnis und die damit verbundene Erweiterung
technischer Macht werden immerfort gleichgesetzt mit einer allmählichen
Annäherung an das Ziel, der Unendlichkeit habhaft zu werden und die Grenzen
der menschlichen Existenz definitiv aufzuheben. Das undurchschaute magische
Moment dieser phantastischen Illusion wird gegenwärtig eklatant durch die
Tatsache deutlich, daß nur die allerwenigsten vernünftig auf die
Tatsache reagieren können, daß derzeit gerade die exakte naturwissenschaftliche
Forschung die Zwangsläufigkeit eines kollektiven Selbstzerstörungsprozesses
prognostiziert, die mit einer automatischen Fortsetzung der bisherigen expansionistischen
Naturbeherrschungsstrategie verbunden wäre. Die Menschen sind unfähig
zu akzeptieren, daß eben die Mittel, die bislang unumstritten zur unaufhörlichen
Erweiterung unserer Selbstsicherheit tauglich sein sollten, nun auf einmal ganz
anders bewertet werden müssen. Es ist eine mit der hintergründigen
neurotischen Dynamik verbundene Paradoxie, daß den so lange idealisierten
quantitativen Methoden in dem Augenblick nicht mehr vertraut werden kann, in
dem diese beweisen, daß der Anspruch einer immer vollständigeren
naturwissenschaftlich-technischen Inbesitznahme der Natur gleichbedeutend mit
Selbstvernichtung ist. Die Angst, sich die seit dem Mittelalter nur verdrängte
infantile Abhängigkeitsposition einzugestehen, ist fatalerweise momentan
immer noch viel größer als die Angst, mit einem objektiv selbstmörderischen
Größenwahn unterzugehen. Das ist der Fluch dieses kollektiven Komplexes,
des Ohnmacht-Allmacht-Komplexes, den man auch zusammenfassend als «Gotteskomplex»
bezeichnen kann.
Die
Geschichte des Egozentrismus und seiner Verkleidungen von Leibniz bis Nietzsche
Ein wesentliches Merkmal, das den narzißtischen Ohnmacht-Allmacht-Komplex
kennzeichnet und sich durch die neuere Zivilisation hindurchzieht, ist der radikale Egozentrismus. Wiederum
sei an den Reaktionstypus des kleinen Kindes erinnert, das aus der Verlassenheitsangst
in eine unumschränkte Dominanzhaltung flüchtet. Solche Kinder bleiben
in aller Regel hartnäckige Egozentriker. Weil sie nichts mehr für
vertrauenswürdig halten, was von außen kommt, können sie keinem
anderen zugestehen, über sie zu bestimmen. Beziehungen zu Mitmenschen sind
ihnen nur dann erträglich, wenn sie darin eine herrschende Rolle einnehmen.
Es würde ihre ursprüngliche, unerträglich gewordene Abhängigkeitsangst
reproduzieren, würden sie sich auch nur partiell von anderen lenken lassen.
Ihr ganzes Trachten geht also dahin, ihre Umwelt so zu manipulieren, dass
sie sich zumindest beständig einbilden können, ihr Leben vollständig
aus dem eigenen Willen zu bestimmen.
In Analogie zu diesem Schema kann man die Fixierung jenes starren Egozentrismus begreifen, die als Folge mit der Identifizierung mit Gott verbunden war, die
der Renaissance-Europäer vollzogen und die sich in unserer neueren Zivilisation
fortgeerbt hat. Dieser Egozentrismus ist das Produkt der Einverleibung des einen
großartigen Gottes, wie ihn die lange monotheistische Glaubenstradition
geprägt hatte. Der Mensch verwandelt sich selbst
in ein Abbild dieser Gestalt und sieht sich fortan als eine in sich und von
allen anderen vollständig abgeschlossene Einheit.
Die Philosophie hat sich seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert um metaphysische
Konstruktionen bemüht, die den einzelnen in dem Bewusstsein bestätigen,
dass er quasi mit dem Universum identisch sei, dass er in der eigenen
Person die Vollständigkeit des Weltalls enthalte. In der Naturphilosophie
der Renaissance kam es zur Gleichsetzung des Wesens von Gott und Welt. Man
könne nur erkennen, lehrte VALENTIN WEIGEL,
was man selbst sei. Der Mensch erfasse das All, weil er
es selbst sei. WEIGEL und JAKOB BÖHME sahen
im Menschen einerseits die leibliche Verdichtung aller materiellen Dinge. Daher
sei ihm die gesamte materielle Welt einsichtig. Genauso nehme er an der geistigen
Welt in ihrer Ganzheit teil und könne sich als «göttlicher Funke»
als Ebenbild des göttlichen Wesens erfassen.
GIORDANO BRUNO hat in einem Lehrgedicht den Begriff der Monade
entwickelt. Jedes Einzelwesen, jede Monade sei eine individuelle Daseinsform
des göttlichen Seins, eine endliche Existenzform der unendlichen Essenz.
Hundert Jahre später nahm LEIBNIZ die Monadenlehre BRUNOS wieder auf und
modifizierte sie. Auch er ging von der These aus, daß jedes Einzelwesen,
jede Monade, das ganze Universum in sich repräsentiere. Aber jede Monade
sei auch ein Individuum, das heißt etwas Besonderes, von allen anderen
Monaden Verschiedenes. Den scheinbaren Widerspruch, daß die Verschiedenheit
eine qualitative Unvollkommenheit der einzelnen Monaden voraussetze, löste
er auf, indem er die Differenzen zwischen den Monaden lediglich auf den Grad
der Deutlichkeit bezog, in dem jede Monade das Universum darstelle. Keine Monade
sei also qualitativ anders als alle anderen. Jede bilde das Universum nur in
einer jeweilig spezifischen Deutlichkeit oder Undeutlichkeit ab. Gott sei die
Zentralmonade eines großen Monadensystems. Während jede Monade sich
selbst auslebe, stimme sie wegen der Gleichheit ihres Inhaltes mit allen anderen
überein. Zwischen sämtlichen Monaden herrsche eine «prästabilierte
Harmonie».
Im Unterschied zu anderen Lebewesen sei der Mensch nicht nur ein Abbild des
Universums der Geschöpfe, sondern durch den Geist Abbild der Gottheit selbst,
«fähig, das System des Universums zu erkennen und es durch architektonische
Proben wenigstens in etwas nachzuahmen, da jeder Geist innerhalb seines Bereiches
wie eine kleine Gottheit ist.
Zur Erläuterung der prästabilierten Harmonie bedienten sich
die Philosophen jener Zeit des berühmten
Uhrengleichnisses, das wohl ursprünglich auf GEULINCX
zurückgeht; Alle psychischen und physischen Vorgänge im All
seien absolut gleichgeschaltet wie Uhren, die vollkommen miteinander übereinstimmen.
Der geheime Impuls, Gott zu entmachten, ist in diesem Uhrengleichnis deutlich
zu erkennen. Deshalb löste das Uhrengleichnis auch manche Kontroversen
aus. So hielt z. B. CLARKE LEIBNIZ in einem berühmt gewordenen Streit vor: «Wenn man sich die Welt als eine große Maschine
vorstellt, die — wie eine Uhr ohne Hilfe des Uhrmachers, ohne den Eingriff
Gottes weiter geht, so führt das . . . unter dem Vorwand, Gott zu einem
überweltlichen Verstandeswesen zu machen, dahin, die göttliche Vorsehung
und Leitung tatsächlich aus der Welt zu verbannen.» «Gegen
alle die, die behaupten, daß in einer irdischen Regierung die Dinge ohne
Einmischung des Königs vollkommen ihren Gang gehen könnten, ist der
Verdacht gerechtfertigt, dass sie am liebsten den König ganz beiseite
schieben möchten.» Man braucht Gott nicht mehr. Er hat durch
die Schöpfung die Uhren einmal gestellt. Jetzt laufen alle Monaden, alle
Lebewesen unabhängig von seinem Einfluss für sich weiter.
Aber das Uhrengleichnis ist noch in einer anderen Hinsicht belangvoll. Es stellt
eine Welt dar, in der die Einzelwesen einander nicht berühren. Jede Monade
ist für sich. Ihr Einklang mit dem Universum und untereinander setzt keine
wechselseitigen Beziehungen voraus. Die
Individuen geben sich gegenseitig nichts, und sie nehmen auch nichts voneinander.
Jeder einzelne trägt die Vollständigkeit von vornherein latent in
sich. Die Aufgabe der einzelnen Monade ist deshalb nach LEIBNIZ, ihre eigene
zunächst nur beschränkt deutliche Abbildung des Universums durch Selbsterkenntnis
weiter aufzuhellen. Das Individuum hat demnach also die Möglichkeit, sich
aus dem eigenen Inneren heraus zu vervollkommnen. Es braucht dazu nicht die
Mitwirkung der anderen.
Der Soziologe NORBERT ELIAS hat zu Recht festgestellt, dassin den europäischen
Gesellschaften seit der Renaissance die Idee des Menschen von seiner Vereinzelung,
von der Abschließung des eigenen Inneren gegenüber allem, was draußen
ist, bestimmt worden ist. In der philosophisch-soziologischen Tradition gibt
es, wie ELIAS darlegt, kaum einen Denkansatz, bei dem man grundsätzlich
von einer Vielzahl aufeinander angewiesener Menschen ausgeht. «Im Mittelpunkt
des menschlichen Universums, so erschien es von nun an, steht jeder einzelne
Mensch für sich als ein von allen anderen letzten Endes völlig unabhängiges
Individuum.» Die Gesellschaft stellt sich von diesem Ausgangspunkt aus
als ein Haufen total vereinzelter Menschen dar, «deren eigentliches Wesen
in ihrem Inneren verschlossen ist und die daher allenfalls äußerlich
und von der Oberfläche her miteinander kommunizieren». Daher komme
der Begriff des Individuums, das außerhalb der Gesellschaft,
und der Begriff der Gesellschaft, die außerhalb des Individuums
existiere.
Das Bewusstsein der totalen Abkapselung des individuellen Ich im eigenen
Inneren, verbunden mit der Idee, das Innere berge repräsentativ das gesamte
All in sich, kann man letztlich eben nur durch den historischen Prozess
der narzißtischen Identifizierung mit Gott verstehen. Aus der drohenden
kompletten Hilflosigkeit und Verlorenheit hatte sich das Ich dadurch gerettet,
daß es sich durch einen unbewußten Gleichsetzungsprozeß illusionär
die göttliche Vollkommenheit und Allmacht selbst aneignete. So wurde jeder gewissermaßen sein eigener Gott. Die monotheistische
Glaubenstradition setzte sich in der Selbstvergottung des einzelnen Ich fort.
Es stand ja keine Göttergemeinschaft zur Verfügung, die sich in einem
entsprechenden Konzept kollektiver Beziehungen hätte abspiegeln können.
Die monotheistische Vorstellung ließ sich nur als individuelles Größen-Selbstbild
übernehmen. Der einzelne wurde zur in sich abgeschlossenen Monade. Seine
individuelle Identifizierung mit Gott machte ihn zu einem Ich, das allen anderen
Menschen und Dingen ohne inneren Bezug gegenüberstand, nicht als Glied
einer auf Kommunikation untereinander angewiesenen Gemeinschaft.
NORBERT ELIAS spricht hier von dem «homo clausus», von dem individuellen «Selbst im Gehäuse», als dem tragenden Konzept der seit der Renaissance entfalteten europäischen
Denktradition. Und er verweist auf die Weiterwirkung dieser Grundvorstellung
etwa in dem Begriff des Erkenntnissubjekts bei KANT, das nie ganz zu dem «Ding
an sich» vorzudringen vermöge, und schließlich auch auf die
individualistischen Züge der modernen Existenzphilosophie.
So gewagt es erscheint, Perspektiven der modernen psychoanalytischen Narzißmusforschung
mit diesen geistesgeschichtlichen Prozessen in Verbindung zu bringen, so regen
doch gewichtige Hinweise dazu an, auf die sozialpsychologischen Hintergründe
derartige Interpretationskategorien anzuwenden. Auf jeden Fall erscheint es
notwendig, die irrationalen emotionalen Komponenten besser zu verstehen, die
zu dem starren Egozentrismus geführt haben, der fortan das Selbstverständnis
der Europäer bestimmt und unaufhaltsam zur Entwicklung einer Rivalitätsgesellschaft
führt, die für die Lösung der kollidierenden Interessenkonflikte
nur offene oder strukturell verschleierte Gewalt übrigläßt.
Die infantile Idealisierung des einen einzigen göttlichen Wesens erscheint
als die begreifliche Wurzel der großartigen Überhöhung des individuellen
Ich, die sich als eine Art von Besessenheit fixiert hat. In der mittelalterlichen
Gemeinde war der einzelne doch nur Kind in einer Herde gewesen, primär
ausgerichtet auf Gott als allmächtige Elterngestalt. Die Gemeinschaft miteinander
war nicht zu einem eigentlich tragenden Konzept geworden. Auch die hierarchische
Organisationsform der Kirche hatte letztlich zur Fixierung der Vereinzelung
der Gemeindemitglieder beigetragen, wobei sich das Hierarchieprinzip ja durchgängig
bis in die Familien hinein fortsetzte. Die Normierung des Unterordnungsverhältnisses
der Frauen unter die Männer und der Kinder unter die Eltern hatte durch
Tabuisierung jede Chance einer sich in Gruppen vollziehenden Emanzipierung unmöglich
gemacht. Nicht die horizontale Eingliederung in eine Gruppe von Gleichgestellten,
sondern allein die Einordnung in ein Unten-Oben-Verhältnis prägte
das Selbstverständnis. Letztlich war jeder total ausgeliefert an das einzige
mit Willensfreiheit ausgestattete Wesen, dessen Bereitschaft zur Gnade oder
zur Bestrafung für die Erbsünde man nicht einmal vorhersehen, geschweige
denn durch eigenes Tun beeinflussen konnte. Es entspricht den psychoanalytischen
Regeln, daß die narzißtische Identifizierung genau das Entwicklungsniveau
festhält, von dem sie ausgegangen ist. Das heißt: Je weiter im ursprünglichen
Erleben des die Identifizierung vollziehenden Ich die eigene Kleinheit von der
Größe des idealisierten Elternbildes entfernt war, um so größer
muß sich nach Ablauf des Abwehrprozesses das Ich aufbauen. Denn es muss
sich zwangsläufig zur Kopie der Autorität machen, in die es sich durch
die Identifikation selbst verwandeln wollte. Es kann sich aus unbewußtem
Zwang eben nur in der Dimension verwirklichen, die es zuvor im Blick von unten
her wahrgenommen hatte. Das macht es plausibel, daß das Mittelalter nicht
ein zu echtem Gemeinschaftssinn befähigtes Menschengeschlecht in die Zukunft
ausschickte, sondern letztlich ein Gewimmel von insgeheim größenwahnsinnigen
Egozentrikern, die in den folgenden Jahrhunderten darauf angewiesen waren, das
zerstörerische Potential dieses Egozentrismus jeweils so zu kanalisieren
bzw. notdürftig zu bändigen, dass wenigstens die totale kollektive
Selbstzerstörung immer wieder aufgehalten wurde. Die zu diesem Zweck erfundenen
und benutzten Konzepte sollen im weiteren näher betrachtet werden.
Obwohl die Flucht aus der hilflosen Ohnmacht in die großartige Allmacht
ihrem Wesen nach einen radikalen Umschlag und nicht einen allmählichen
Entwicklungsprozess bedeutet, haben sich die entsprechenden geistesgeschichtlichen
Vorgänge doch nur schrittweise durchgesetzt. Der triumphierende Vorstoß des DESCARTES zur individuellen Selbstgewissheit als dem Maß aller
Dinge zeichnete zwar den weiteren Weg vor, aber es dauerte noch lange, ehe dieser
revolutionäre Schritt in der Breite nachvollzogen wurde. Und DESCARTES selbst wie seine philosophischen Nachfolger bemühten sich, wie schon angedeutet,
eifrig darum, die gedanklich vollendete göttliche Selbsterhöhung des
Individuums zu kaschieren. Obwohl der Gedanke, dass man sich vom individuellen
Selbstbewusstsein aus hinreichend in der Welt orientieren und sichern könne,
Gott eigentlich überflüssig machte, versicherte DESCARTES Gott immer
wieder in beschwichtigender Weise, daß man ihn auf Schritt und Tritt brauche.
Denn eigentlich sei es ja Gott — so suchte er diesen und die Kirche zu
versöhnen —, der die Selbstgewissheit des Ich begründe.
Auch alle übrigen Ideen, deren Evidenz derjenigen des Selbstbewusstseins
entsprächen, seien natürlich dem Menschen durch Gott eingeboren. Schließlich
nahm DESCARTES in seiner Theorie Gott sogar in Anspruch als Helfer für
jeden Übergang zwischen materieller und ideeller Wirklichkeit beim Erkennen
und Handeln. Wie sonst sollte es dem Menschen möglich sein, aus dem Geist
in die raumzeitliche Dimension und umgekehrt zu gelangen? Auch für
SPINOZA, der DESCARTES unmittelbar folgte, stand fest, daß sich in
jeglicher echten Erkenntnis Gott selbst offenbare.
Die intellektuelle Verselbständigung des Individuums beginnt also mit einer
Verleugnung eben dieser Verselbständigung. Zwar verweigert das Individuum
künftig Gott die absolute und unkontrollierte Verfügungsgewalt. Man
will alles selbst kontrollieren, was in der psychischen Innenwelt und in der
materiellen Außenwelt abläuft. Und zweifellos ist dadurch der erste
Schritt getan, diese Abläufe vom eigenen Ich her beherrschen zu wollen.
Man will Gott gewissermaßen die Naturgesetze aus der Hand nehmen, die
vorher dessen Alleinbesitz waren. Aber gleichzeitig suggeriert man sich, daß
man sich überhaupt nicht aus der göttlichen Bevormundung entferne,
sondern nur die Wahrheit Gottes zur vollen Entfaltung bringen wolle. Die mathematisch-naturwissenschaftliche
Welterkenntnis, zu der man aufbrach, erfolge einzig in Liebe zu Gott, lehrte SPINOZA. Und er pries sein geometrisch konstruiertes metaphysisches System als
indirekte Abbildung der Wahrheit Gottes. Indem das individuelle Ich sich zur
Eroberung der absoluten Souveränität auf machte, redete es sich noch
ein, Gottes Willen mehr denn je gehorsam zu folgen.
Aber auf die Dauer zeigte sich die Schwierigkeit, durch den fortschreitenden
narzißtischen Identifizierungsprozeß immer mehr göttliche Macht
zu beanspruchen und sich zugleich einzubilden, von Gott gehalten zu werden.
Erfindungen und Entdeckungen in vielen Bereichen kündeten von dem heftigen
Begehren, von dem Planeten Besitz zu ergreifen. Rapide wuchs das Selbstgefühl
durch die Kunde von immer neuen iiberseeischen Entdeckungen. Die Erfindungen
des Kompasses, des Schießpulvers und der Buchdruckerkunst vermittelten
ein völlig neues Bewusstsein von der Macht menschlicher Möglichkeiten.
Das Fernrohr erschloss die Geheimnisse des Himmels. Die Erkenntnis der
Welt sei nötig, so lehrte der britische Philosoph FRANCIS
BACON, um den Menschen die Herrschaft über die Welt zu verschaffen.
Wissen sei Macht, und es sei die einzige dauernde Macht. Die Natur müsse
endlich dem menschlichen Geiste unterworfen werden. Ihren Gehorsam zu erzwingen,
sei die Aufgabe der Wissenschaften. BACONS großes Werk «Erneuerung
der Wissenschaften» trägt auch den Titel «De regno hominis», von der Herrschaft des Menschen. Allerdings pries auch BACON noch zugleich eifrig
die Bedeutung der Religion. Aber was war das für eine Religion? Sie ließ
dem egoistischen Nützlichkeitsdenken bereits weiten Spielraum. Gott wird
zum Partner individuellen Erfolgs- und Glücksstrebens. Ein erhebliches
Stück weit ging der gelernte Advokat BACON mit
MACHIAVELLI einig in der betonten Zweckmäßigkeit eines begrenzt
unmoralischen Handelns. Verschwunden ist hier bereits das Konzept der vollkommenen
Welt. Die Welt ist ziemlich schlecht, und so kommt man nicht ohne krumme Wege
aus, wenn man erfolgreich sein will. In seinem Essay «Über das Glück»
formulierte BACON sein egoistisches Prinzip überaus deutlich. Glück
sei häufig das Resultat der Torheit anderer oder sogar des Todes anderer.
Dabei zitierte er das griechische Sprichwort: «Aus
keiner Schlange kann ein Drache werden, die nicht andere Schlangen auffrißt.»
Auch in der praktischen Philosophie seines Landsmannes THOMAS HOBBES trat dieses neue durch Egoismus
gekennzeichnete Menschenbild hervor. Der Naturzustand,
so lehrte HOBBES, sei ein Kampf
aller gegen alle. Diese These steckt in dem berühmten Satz im
«Leviathan»: «Daraus
ergibt sich klar, dass die Menschen während der Zeit, in der sie ohne
eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht leben, sich in einem Zustand
befinden, der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gegen
jeden. » Die vertragliche Gründung des Staates diene lediglich
zum Ausgleich der egoistischen Interessen der einzelnen. Ein ursprüngliches
Gemeinschaftsbedürfnis der Menschen existiere nicht. Dieses sei lediglich
sekundärer Art, gewissermaßen ein taktisches Arrangement, um die
miteinander konkurrierenden selbstsüchtigen Tendenzen der Individuen miteinander
auszugleichen. Der Staat wurde bei HOBBES zu einer nützlichen Erfindung,
um den Egoismus aller hinreichend zu befriedigen und zugleich zu disziplinieren.
Der Staat sei von der Wissenschaft her ähnlich zu begründen wie die
Konstruktion einer Maschine.
Entschieden trat HOBBES für individuelle Gedankenfreiheit in religiösen
Fragen und gegen politische Machtansprüche der Kirchen ein. Zur Bändigung
der Konkurrenz der individuellen Egoismen vertrat HOBBES ein Prinzip, das als
sozialpsychologischer Hintergrund in allen autoritären wie totalitären
Gesellschaftsformen wirksam werden konnte. In der absolutistischen Staatstheorie
von HOBBES sollte die Staatsgewalt in einer Persönlichkeit und der Wille
des Volkes in dem Einzelwillen des Herrschers vereinigt werden. Dies wurde zum
theoretischen Fundament des monarchischen Absolutismus. Sozialpsychologisch
geht es dabei darum, daß die Individuen einen Teil ihrer egoistischen
Ambitionen an das absolutistische Oberhaupt abtreten, aber sich für diesen
Verlust dadurch entschädigen, daß sie nach wie vor durch etwas, was
die Psychoanalyse projektive Identifizierung nennt, mit dem Herrscher verbunden
bleiben. Indem das Oberhaupt aber auch alle verbindlichen Normen setzt, übernimmt
es für die Untertanen zugleich die Funktion eines veräußerlichten
Über-Ichs. Alle werden jedenfalls für eine gewisse Beschränkung
im Ausleben ihres Narzißmus dadurch belohnt, daß sie an der tatsächlich
gottähnlichen Omnipotenz des absolutistischen Herrschers teilhaben. Aber
diese Omnipotenz kann sich nur durch äußere Ausdehnung der Herrschaft
manifestieren. Stets ist in diesem Modell die imperialistische Expansion vorprogrammiert.
Die Schlange, die zum großen Drachen werden will, muss immer wieder
neue Schlangen fressen. Die egoistische Omnipotenzbesessenheit als Triebkraft
dieses Gesellschaftsmodells kann sich auf allen Stufen nur immer wieder selbst
reproduzieren. So kann der Frieden innerhalb der HOBBESschen Staatskonstruktion
immer nur ein begrenzter sein. Niemals können die narzißtischen Größenerwartungen
der einzelnen allein innerhalb des Systems durch bloße Umverteilung zugunsten des Führers
aufgefangen werden. Dieser muss nach außen auf unbeschränkte
Machterweiterung hinstreben, um sein Gefolge zu beschwichtigen.
Die praktische Philosophie von HOBBES, die sich ganz auf das Prinzip des Egoismus
gründete, regte nicht nur seine Zeitgenossen auf, sondern erzielte noch
bis weit in das 18. Jahrhundert hinein eine bedeutende Ausstrahlung. Die Aufsaugung
der göttlichen Allmacht durch die egoistischen Größenideen des
Individuums warf in der Tat immer größere Probleme für das soziale
Zusammenleben auf. Wie war eine Verknüpfung des Ziels der allgemeinen Wohlfahrt
mit dem neuen Selbstkonzept des individuellen Egoismus denkbar?
SHAFTESBURY verwahrte sich gegen die pessimistische Ansicht von HOBBES, dass es von Natur aus nur ein Rivalisieren aller gegen alle geben müsse.
Er stellte die These auf, es gebe keinen natürlichen Widerspruch zwischen
Eigenwillen und Sittlichkeit. Unter Rückgriff auf antike Vorstellungen
verteidigte er die These, daß der Mensch, wenn er seine natürliche
Anlage voll entfalte, automatisch das Gemeinwohl fördere. Denn nur in den
niederen sozialen Schichten, die noch in ihrer Entwicklung rückständig
seien, gebe es einen echten Widerstreit zwischen selbstsüchtigen Wünschen
und Altruismus. Auf einer höheren Stufe der menschlichen Entwicklung komme
es zu einem Einklang egoistischer und altruistischer Strebungen. Denn auch der
Altruismus gehöre zu den ursprünglichen Merkmalen des menschlichen
Wesens. So sei der in seiner Natur voll entfaltete auch der sittliche Mensch
schlechthin. Das Individuum werde nicht dadurch moralisch, daß es seine
eigenen ursprünglichen Bedürfnisse irgendwelchen allgemeinen Normen
anpasse oder gar opfere, sondern dadurch, daß es die in ihm schlummernden
Tendenzen gänzlich auslebe. Man brauche also nur so zu sein, wie man eigentlich
sein wolle, um zur höchsten sittlichen Vervollkommnung zu gelangen.
Aber nicht zufällig scheidet diese Philosophie höher
und nieder entwickelte Menschen und lässt die virtuose Vereinigung
individueller Wunschbefriedigung und sittlicher Vollkommenheit als Privileg
einer exklusiven Gruppe erscheinen. Diese exklusive Gruppe wird durch den Typ
des «Virtuoso» charakterisiert. Der «Virtuoso» erinnert
an den uomo universale, den Universalmenschen der Renaissance. Es ist der umfassend
gebildete, wissenschaftliche, politische, ästhetische Mensch von edelstem
moralischem Charakter. Fiktiv formuliert SHAFTESBURY das Ziel, dass alle
dazu gelangen könnten, ihre natürlich angelegten Möglichkeiten
in dieser Weise auszuschöpfen. In Wirklichkeit verewigt er hiermit ein
spaltendes Elite-Ideal. Es ist das Selbstverständnis des optimistischen
Aristokraten, Spross einer führenden Familie des Landes, das diese
Philosophie prägt. Der «Optimismus» von SHAFTESBURY beruht
im Grunde auf der Verleugnung der Unerreichbarkeit dieses Grandiositäts-Ideals
für den durchschnittlichen Menschen. Und es ist bezeichnend, dass
er in seiner Staatsphilosophie letztlich dem Gemeinsinn der Masse der Bürger
wenig traut. Er ist ein Gegner der Volkssouveränität, weil das Volk
zu unberechenbar sei und seine Freiheit mißbrauchen würde. Es sei
Sache der Staatsmänner, das Volk in vernünftiger Weise zu überreden.
— Hier wird die Inkonsequenz der optimistischen Moralphilosophie sichtbar,
die sittliche Vollkommenheit mit der Natürlichkeit gleichsetzt. Warum muss
die Freiheit des Volkes derart eingeschränkt werden, wenn alle natürlicherweise
von einem ursprünglichen Gemeinschaftssinn beseelt wären?
Immerhin war SHAFTESBURY einer der wenigen Denker jener Zeit, die überhaupt
den Versuch machten, HOBBES darin zu widersprechen, dass die Gesellschaft
aus Individualisten bestehe, die von Natur aus alle nur miteinander rivalisieren
wollten. Aber SHAFTESBURY blieb ein Außenseiter mit seiner Feststellung,
dass der Mensch natürlicherweise ein Gemeinschaftswesen sei und sich
auf seine ihm eingeborenen Gemeinschaftsgefühle («social feeling»,
«common sense» also abweichend von der populären Bedeutung
von «common sense» verlassen solle.
In der weiteren Geschichte der Moralphilosophie verschwand mehr und mehr der
Glauben an solche natürlichen Gemeinschaftsgefühle. Es drang eindeutig
die Auffassung durch, dass ein sittliches Handeln nicht, wie es SHAFTESBURY gemeint hatte, auf den natürlichen Eigenwillen der einzelnen, sondern nur
auf dessen Unterordnung unter allgemeine Normen zu gründen sei. Auf die
Wirksamkeit eines altruistischen Grundtriebes schien man sich doch nicht verlassen
zu können. Plausibler wirkte die skeptische Anthropologie von HOBBES, die
eine rein egoistische Triebanlage des Menschen unterstellte. So kam es immer
wieder zur Formulierung der Frage: Wie ist es denkbar, dass die Individuen
auf ein unbeschränktes Ausleben ihrer natürlichen egoistischen Wünsche
verzichten, um das Wohl aller zu sichern? Anstelle eines taktischen Kompromisses,
den HOBBES vertreten hatte, suchte man schließlich ein absolutes Prinzip
als Richtschnur moralischen Verhaltens.
Das bekannteste Resultat dieser Suche ist das von KANT
aufgestellte Sittengesetz, der kategorische Imperativ:
«Handle
so, dass die Maxime Deines Willens jederzeit zugleich als
Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.»
Dieses Kernstück der KANTschen praktischen Philosophie gilt bekanntlich
vielen immer noch als ein unantastbares Heiligtum, als unumstrittener Leitsatz
moralischen Verhaltens schlechthin. Aber gerade deshalb erscheint es auch sinnvoll,
es im Zusammenhang mit den anderen erwähnten Zeugnissen der Geistesgeschichte
daraufhin anzuschauen, was in ihm für eine hintergründige Psychologie
steckt.
In vielfältigen Wiederholungen verwahrt sich KANT in der «Kritik
der praktischen Vernunft» gegen jede Möglichkeit moralischen Verhaltens
aus emotionalen Motiven. Es genüge nicht, daß eine aus Gefühlsgründen
hervorgehende Haltung dem Moralprinzip entspreche. Denn nicht eine pflichtgemäße,
sondern nur eine unmittelbar aus Pflicht geschehende, aus bloßer Achtung
vor dem Sittengesetz vorgebrachte Aktion verdiene als moralisch anerkannt zu
werden. Der Mensch habe sich ausschließlich auf seine praktische Vernunft,
nicht auf irgendwelche sonstigen Antriebe zu verlassen.«Pflicht
und Schuldigkeit sind die Benennungen, die wir allein unserem Verhältnisse
zum moralischen Gesetze geben müssen.»
Immer wieder schlägt bei KANT ein abgrundtiefes Misstrauen gegen die
natürlichen Gefühle und Strebungen durch. Die natürlichen Neigungen
beruhten auf physischen Ursachen und müßten stets zum Konflikt mit
der Pflicht führen. Die echte sittliche Gesinnung bedeute eine Befolgung
des moralischen Gesetzes rein aus Pflicht, «nicht aus freiwilliger Zuneigung
oder auch allenfalls unbefohlener, von selbst gern unternommener Bestrebung».
Selbst Handlungen, die mit großer Aufopferung geschähen, dürften
nur dann als edel und erhaben gepriesen werden, wenn sie aus reiner Achtung
für die Pflicht vollbracht würden und nicht etwa aus irgendeiner «Herzensaufwallung». «Tugend,
das ist moralische Gesinnung im Kampfe.» Zu jeglicher moralischen
Gesinnung gehöre Selbstzwang, «das ist innere
Nötigung zu dem, was man nicht ganz gern tut».
Nun fragt sich, woher denn überhaupt der Antrieb kommen soll, wenn Gefühle
und Neigungen keine Rolle spielen dürfen? Wer bewegt das moralische Handeln,
das sich ja angeblich polar von allen natürlichen Triebkräften absetzt? KANTS Antwort: Die
echte Triebfeder der praktischen Vernunft «ist keine andere
als das moralische Gesetz selbst . . .» Das abstrakte Prinzip als
Triebfeder kann man sich indessen schwer vorstellen. Der scharfsichtige SCHOPENHAUER war es dann, der KANTS Argumentation misstraute, wonach das Sittengesetz
sich gegen alle egoistischen Triebinteressen absetze. SCHOPENHAUER las genau
das Gegenteil heraus. Man solle doch einmal, was das — Sittengesetz zu
tun befehle, aus der Perspektive dessen betrachten, der dieses Tun empfange.
Dann könne man sich doch nichts Besseres wünschen, als nur Menschen
zu begegnen, die einem entsprechend dem kategorischen Imperativ wohltäten. SCHOPENHAUER zitiert, verkürzt, KANT aus dessen «Metaphysischen Anfangsgründen
der Tugendlehre», Paragraph 30: «Denn jeder wünscht, dass
ihm geholfen werde. Wenn er aber seine Maxime, anderen nicht helfen zu wollen,
laut werden ließe, so würde jeder befugt sein, ihm Beistand zu versagen.
Also widerstreitet die eigennützige Maxime sich selbst.» Der gleiche
Gedanke kommt in dem Satz zum Vorschein:«Dass ich ein allgemeines Gesetz,
zu lügen, nicht wollen könne, weil man mir dann nicht
wieder glauben oder mich mit gleicher Münze bezahlen würde.» Das Argument: «Was du nicht willst, dass man dir tu‘, das füg‘
auch keinem andren zu!» verweist in der Tat auf den Nutzen, den jeder
insgeheim aus dem Sittengesetz ziehen kann. Man kann es also aus dem Hintergedanken
heraus befolgen, dass man um des eigenen Egoismus willen anderen
das vormacht, wie sie mit einem selbst umgehen sollen. Sarkastisch merkt SCHOPENHAUER an:
«Die in KANTS oberster Regel enthaltene Anweisung zur Auffindung des eigentlichen
Moralprinzips beruht nämlich auf der stillschweigenden Voraussetzung, dass
ich nur das wollen kann, wobei ich mich am besten stehe. Da ich nun bei der
Feststellung einer allgemein zu befolgenden Maxime notwendig mich nicht bloß
als den allemal aktiven, sondern auch als den eventualiter und zuzeiten passiven
Teil betrachten muß, so entscheidet, von diesem Standpunkt aus, mein Egoismus
sich für Gerechtigkeit und Menschenliebe.»
Unwiderleglich lässt sich die KANTsche Ethik also als ein Konzept
im Dienste des individuellen Egoismus verstehen, wenn man sich den Profit vorstellt,
den der einzelne als Adressat der Handlungen erntet, die alle anderen aus Achtung
vor dem Gesetz an ihm vollbringen. Es wäre dann nur ein kompromisshaftes
Opfer aus selbstsüchtigem Interesse, das Moralprinzip ebenfalls zu befolgen.
Unter diesem Aspekt rückt die KANTsche Ethik, so sehr sie sich auch im
Gegensatz zu der praktischen Philosophie von HOBBES versteht, eher in deren
Nähe, nämlich wenn man sie als die Formulierung eines taktischen Kompromisses
zur Koordinierung selbstsüchtiger Individualinteressen auffasst. Aber freilich ist dieser taktische Kalkül aus KANTS Formulierungen nirgends
direkt herauszulesen. Im Gegenteil: Nichts liegt KANT ferner als die Idee irgendeiner
Aussöhnung zwischen Neigung und Pflicht. Bewusst ist ihm zweifellos
nur die Pflicht. Die Neigung ist total wegargumentiert. Sie soll keine Rolle
spielen. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Die moralische Handlung ist bei KANT durchgängig charakterisiert durch Begriffe wie: Pflicht, Gehorsam,
Opfer, Disziplin der Vernunft, Schuldigkeit, Selbstzwang, kategorischer Imperativ. Das sind die Kernbegriffe eines Grundtenors von zwanghaftem Asketismus. Es walten
Strenge, Pedanterie und höchste Skrupulösität. So scheint es
sich geradezu zu verbieten, irgendwelche emotionalen Bedürfnisse mit dem
kategorischen Imperativ überhaupt in Verbindung zu bringen. Aber nach den
psychoanalytischen Erkenntnissen über die Dynamik des Zwangs ist es gerade
umgekehrt. Die Überbetonung von Zwang, Disziplin, Schuldigkeit, Gehorsam verweist auf einen erheblichen abgewehrten Triebdruck. Die aggressive Färbung
der zahlreichen triebfeindlichen Äußerungen in der «Praktischen
Vernunft» zeigt, psychoanalytisch formuliert, die Notwendigkeit einer
Gegenbesetzung gegen das verdrängte Triebmoment. KANT zeichnet in seiner Ethik das Bild eines freudlosen Anankasmus [Zwangsvorstellung], wie er für eine zwangsneurotische Charakterstörung kennzeichnend ist.
Die zwanghafte Übertreibung der Triebunterdrückung führt eben
am Ende auch zu dem lebensfernen Formalismus des rein abstrakten Moralprinzips.
Wenn man KANTS Ethik als repräsentativ für die geistige Situation
einer historischen Periode ansehen will, so könnte man aus ihr schließen,
daß inzwischen eine anhaltende Expansion eines egozentrischen Lebensgefühls
stattgefunden hat, dessen bedrohliches Anschwellen eben zu dem Versuch führen
mußte, es durch eine komplette Verleugnung nach dem Muster einer zwangsneurotischen
Reaktionsbildung in Schach zu halten. Das hieße, KANTS Thesen als die
Abwehrform, als die Kehrseite des Durchbruchs zu jenem «Willen zur Macht» zu lesen, den schließlich NIETZSCHE rücksichtslos demaskierte.
Bei psychologischer Durchmusterung der Ethik KANTS stößt man indessen
darauf, dass darin nicht nur egozentrische Nützlichkeitsaspekte von
der Art versteckt sind, wie sie SCHOPENHAUER auf gewiesen hat. Es finden sich
auch direkte narzißtische Größenideen. Aber es ist nicht das Ich, das sich unmittelbar selbst vergöttert. Sondern
es ist das Sittengesetz, das sich wie eine
gottähnliche Person darstellt und in deutlich gefühlsbetonter
Verklärung angehimmelt wird. Das gelegentlich als heilig bezeichnete Gesetz erscheint wie das abstrakte Surrogat einer großartigen,
unfehlbaren Herrscherpersönlichkeit. Es heißt, dem Gesetz gebühre
die höchste Würde. KANT spricht von seiner «feierlichen
Majestät». Und indem er die psychische Beziehung des Individuums
zu dem geheiligten Prinzip charakterisiert, benutzt er dafür Kategorien,
wie sie zur Interpretation einer persönlichen Abhängigkeitsbeziehung
üblich sind. So etwa, wenn er ausdrücklich die dem Gesetz gegenüber
zu empfindende Achtung mit der Einstellung gegenüber einer «unnachahmlichen
Person» vergleicht.
Die anbetende Verklärung macht das Sittengesetz zu einer Repräsentanz
Gottes. Aber das Ich erhält neben allen erläuterten zwanghaften Verboten
und Mahnungen auch seinerseits narzißtische Bestätigung. Schließlich
entstehe der Zwang zur Befolgung des kategorischen Imperativs aus einer Gesetzgebung
der eigenen Vernunft. So wird die praktische Vernunft zur Vermittlerin einer
schmeichelnden Erhöhung des Ichs. Schließlich habe der Mensch die
Freiheit, sich nach diesem Gesetz selbst zu bestimmen. In der Achtung vor dem
Gesetz achte der Mensch sich selbst. Die Würde des Gesetzes zu respektieren
heiße zugleich, die Würde des Menschen zu ehren, sich selbst zu ehren.
Befolgung des höchsten moralischen Prinzips bedeutet also auch eine Erhebung,
eine indirekte narzißtische Befriedigung hohen Grades. Der Glanz und die
Herrlichkeit der abstrakten Obrigkeit des Moralprinzips strahlen auf denjenigen
zurück, der diesem folgt.
Aber eigentlich bleibt der Widerspruch in KANTS Ethik ungelöst.
Das rein formalistisch abstrakte Moralprinzip erscheint ungreifbar. Es thront
hoch über den emotionalen Wünschen, zu denen es im Gegensatz steht.
So bleibt das menschliche Innere in einem letztlich nicht zu bewältigenden
Konflikt befangen. Das Individuum will in sich Winzigkeit und Grandiosität,
Freiheit und Zwang, Macht und Ohnmacht vereinigen, aber kann es nicht. Die Spannung
zwischen strengster Fesselung durch Pflicht und Schuldigkeit einerseits und
der Idee größter Freiheit durch Autonomie andererseits kann nicht
innerhalb ein und desselben Individuums als lösbar begriffen werden. So
erscheint es nur konsequent, daß diese Gegensätzlichkeit in der Sozialstruktur
fortlebt. Pflicht und Neigung, Autonomie und Zwang spalten sich in verschiedene
Instanzen auf. Die autoritäre Ethik kann sich nur in einem autoritären
Gesellschaftsbild fortsetzen:
«Der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter anderen seiner Gattung lebt,
einen Herrn nötig hat. Denn er mißbraucht gewiss seine Freiheit
in Ansehung anderer seinesgleichen; und ob er gleich als vernünftiges Geschöpf
ein Gesetz wünscht, welches der Freiheit aller Schranken setze, so verleitet
ihn doch seine selbstsüchtige tierische Neigung, wo er darf, sich selbst
auszunehmen. Er bedarf also einen Herrn, der ihm den eigenen Willen breche und
ihn nötige, einem allgemein gültigen Willen, dabei jeder frei sein
kann, zu gehorchen.»
So hatte es jedenfalls der preußische Obrigkeitsstaat nicht
schwer, aus KANTS Moraltheorie ein Instrument zu autoritärer Machtausübung
zu formen. Die staatliche Obrigkeit setzte sich an die Stelle des Moralprinzips
und lehrte die Untertanen, KANTS Laudatio auf die Pflicht nachzubeten:
«Pflicht! Du
erhabener großer Name, der Du nichts Beliebtes, was Einschmeichlung bei
sich führt, in Dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst . . . »
Es ist nicht zu verwundern, dass bis in die Gegenwart hinein KANT der Kronzeuge
aller konservativen Fürsprecher des Law-and-Order-Staates geblieben ist,
die stets im Blick von oben nach unten mehr Pflicht und Schuldigkeit, mehr Disziplin,
Selbstbeherrschung und Autoritätsrespekt fordern.
Im Lichte der vorgetragenen sozialpsychologischen Erwägungen läßt
sich KANTS Position, die sich in gewisser Hinsicht bei
FICHTE und HEGEL fortsetzt, als ein neuer Schritt interpretieren, mit der
Bewältigung des Ohnmacht-Allmacht-Komplexes voranzukommen. In KANT steckt
die Bemühung, Gott im Ich nicht mehr primär als Inbegriff höchster
Stärke und Macht aufzurichten, sondern als geistiges Prinzip. Gott wird
zur Vernunft, zur Idee, welche die Natur hinter sich oder — genauer —
unter sich zurücklässt. Und das Individuum nimmt an diesem Vergeistigungsprozess
teil. Nicht in der Natur zu herrschen, sondern die Natur zu vergeistigen und
sich durch einen eigenen Vergeistigungsprozess zu göttlicher Höhe
aufzuschwingen, wird hierbei zur tragenden Phantasie. Eine neue Variante von
grandiosem Selbstbewusstsein tritt hervor, wenn FICHTE davon spricht, dass
das Ich sich selbst, zugleich aber auch das Nicht-Ich setze. Gemeint ist ein
geistiges Ich. Es gibt gar keine vom Bewusstsein unabhängige Welt. FICHTE beseitigt den Begriff vom «Ding an sich», der KANT noch so
viel Mühe bereitet hatte. Das Bewusstsein kann nur seine eigenen Inhalte
fassen. Philosophie ist Selbsterkenntnis der Vernunft. Und das Leben wird aus
den Bedingungen der Vernunft begriffen. Nach FICHTE gibt es eine stufenweise
Erhebung des Bewusstseins. Auf der höchsten Stufe erfasst sich
das Ich als die freie, nur durch sich selbst bestimmte Subjektivität, in
welcher alle Gegebenheit in Tätigkeit aufgelöst ist. Denken und Sein
werden eines. Und die intellektuelle Anschauung wird, wie es FICHTE ausdrücklich
erklärt, gleichzeitig zu einem Handeln, zu einem Handeln auf uns selbst:
Ich bin in dieser Handlung ebensowohl Subjekt wie Objekt; das Denkende und Gedachte
sind hier nicht zweierlei, sondern vollkommen eins. Bei HEGEL werden die Begriffe
des Geistes zu Kategorien der Wirklichkeit, zu den Gestalten des Weltlebens.
Statt Geist sagt HEGEL auch immer wieder Idee oder Gott. —
Die Identifizierung mit Gott vollzieht sich auf dieser Linie also als eine Verschmelzung
im Geist. Es ist eine Art von spiritualistischem narzißtischem Größenwahn.
Es ist das Konzept der Allmacht der Gedanken. Aber FICHTE und HEGEL waren keineswegs
autistische Sonderlinge. Insbesondere FICHTE drängte es danach, die Welt
nach seinen Ideen praktisch umzuformen. Bei diesem Zusammenprall mit der konkreten
sozialen Realität enthüllte sich jedoch noch sehr viel schärfer
als bei KANT, daß die Auflösung profaner egozentrischer Macht- und
Herrschaftsansprüche in dem durch und durch vergeistigten Weltbild nur
eine scheinbare war. So propagierte FICHTE in seiner Staatsphilosophie ein ziemlich
rigoroses Zwangssystem. Sein sogenannter sozialistischer Handelsstaat sollte
Produktion und Handel ganz in eigene Hand nehmen und von oben herab dirigistisch
die Pflichten der Bürger bestimmen und deren Erfüllung durchsetzen.
Der einzelne sollte sein «eigenes persönliches Wohlsein» aus
Vernunftgründen zurückstellen hinter das «Leben des Ganzen» und es diesem aufopfern.
FICHTE beließ es aber nicht bei der abstrakten Beschreibung
einer optimalen Gesellschaftsordnung im Sinne eines weitgehend totalitären
Obrigkeitsstaates. Er ging noch einen entscheidenden Schritt weiter und lieferte
die philosophische Grundlage für eine neue und in den politischen Konsequenzen
besonders verhängnisvolle Variante narzißtischen Größenwahns.
Er lehrte seine Zeitgenossen, ihren individuellen Egoismus in Form eines nationalistischen Egoismus auszuleben. Den Deutschen redete er ein, sie sollten sich daran machen,
die Herrschaft der Welt zu übernehmen. Freilich appellierte er dabei nicht
ausdrücklich an die narzißtischen Größenwünsche seiner
Mitbürger, sondern verklärte seine Forderung durch eine Argumentation,
durch die sich jeglicher nationalistische Imperialismus zu legitimieren versucht.
Das ist nämlich die Begründung, es sei so etwas wie eine höhere
Bestimmung der Nation, die anderen durch Beherrschung zu einem großen,
wertvollen Ziel zu führen. Bei FICHTE sah das konkret so aus, dass
die Deutschen «das völkische Element zu den im Christentum gefundenen
Prinzipien» seien. In den «Reden an die deutsche
Nation» finden sich Formulierungen wie die folgenden: «Übernimmt
nicht der Deutsche durch Wissenschaft die Regierung der Welt, so werden zum
Beschlusse von allerhand Plackereien außereuropäische Nationen, die
nordamerikanischen Stämme sie übernehmen und mit dem dermaligen Wesen
ein Ende machen . . . », «Charakter
haben und deutsch sein, ist ohne Zweifel gleichbedeutend.» «So muß
hierbei zugleich erhellen, daß nur der Deutsche — der ursprüngliche
und nicht in einer willkürlichen Satzung erstorbene Mensch — wahrhaft
ein Volk hat und auf eines zu rechnen befugt ist und daß nur er der eigentlichen
und vernunftgemäßen Liebe zu seiner Nation fähig ist.» — Nur durch die Deutschen sei der wahre Staat des Christentums möglich,
und diesen hervorzubringen, sei ihre Aufgabe in der Geschichte.
In diesem Konzept vom nationalistischen Imperialismus setzt sich die autoritäre
Staatsphilosophie fort. Die identifikatorische Aneignung der göttlichen
Potenz spiegelt sich also nunmehr außer im individualistischen Größenwahn
auch in den Konzepten des expansionistischen Nationalismus wider. Auch der Rassismus
ist bei FICHTE schon angelegt und wird sich dann bei NIETZSCHE noch deutlicher
artikulieren.
Jedenfalls gibt es hinter dem erhabenen Vernunftreich, das der deutsche Idealismus
verehrt, die verdrängte Kehrseite einer latent gewalttätigen Welt,
in der es um Herrschaft und Zwang geht. Diese Widersprüchlichkeit bleibt
im Idealismus unbearbeitet, ja sie wird geradezu fixiert durch den systematischen
Versuch, das Spannungsverhältnis logisch bzw. dialektisch wegzuargumentieren.
Und der KANTsche Pflichtmoralismus, der heute noch weithin als höchster
Ausdruck menschlichen Edelsinns gepriesen wird, nimmt sich unter psychoanalytischem
Aspekt, wie gesagt, eher als eine theoretisch verklärte zwangsneurotische
Reaktionsbildung aus, die über einen gänzlich unbewältigten archaischen
Egoismus gebreitet ist.
Man kann es wohl als das Hauptverdienst NIETZSCHES ansehen, dass
er eben diese Triebseite radikal entlarvt hat, über die der Idealismus
letztlich vergeblich hinwegphilosophiert hatte. Die identifikatorische Gottesentmachtung
wird nunmehr unverblümt eingestanden, ja gefeiert: Gott
ist tot, es lebe der Übermensch! NIETZSCHES Übermensch kennt kein Wesen mehr über sich selbst, weder einen persönlichen Gott
noch die heilige Majestät eines Sittengesetzes, noch eine metaphysische
Vernunft, noch einen Weltgeist. Der Übermensch beansprucht grenzenlose
Macht. Der Wille zur Macht sei der stärkste menschliche Instinkt, lehrt
NIETZSCHE. Ihn gelte es uneingeschränkt zu bejahen. «Bist
Du eine neue Kraft und ein neues Recht? Eine erste Bewegung? Ein aus sich rollendes
Rad? Kannst Du auch Sterne zwingen, dass sie um Dich sich drehen?» Die bisherige Wertordnung von gut und böse sei erledigt. Gut sei, was die
Macht stärke, schlecht, was sie schwäche. Nicht ob unsere Erkenntnisse
wahr seien, sei wichtig, sondern ob sie unsere Macht erhöhen. «Der
siegreiche Begriff <Kraft>, mit dem unsere Physiker Gott und die Welt
geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: Es muss ihm ein innerer
Wille zugesprochen werden, welchen ich bezeichne als <Willen zur Macht>,
das heißt ein unersättliches Verlangen nach Bezeugung der Macht oder
Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw.»
Der Übermensch genießt seine schrankenlose Willkür. Seine Macht
ist für ihn der absolute Wert. Weder logische noch ethische Gesetze oder
Prinzipien schränken die Machtvollkommenheit ein. Wenn von Moral überhaupt
die Rede sein kann, dann allenfalls von einer «Herrenmoral», vom
Recht und der Pflicht des Starken, die Schwachen zu beherrschen und die «Sklavenmoral»
abzuschaffen. «Herrenmoral» rührt aus einem «triumphierenden Ja-Sagen zu sich selbst».
Der Übermensch ist der «Sinn der Erde». Er ist der vollkommene
Typ der Menschengattung. Das Herdenvieh der «viel zu vielen» ist
lediglich dazu da, dass sich aus ihm der Übermensch erhebt als ein
einzigartiger Glücksfall. Dem Übermenschen in «Also sprach Zarathustra» widerfährt nichts mehr, was
er nicht will:
«Ich bin Zarathustra, der Gottlose; ich koche mir
noch jeden Zufall in meinem Topfe. Und erst, wenn er da gargekocht
ist, heiße ich ihn willkommen, als meine Speise. Und wahrlich, mancher
Zufall kam herrisch zu mir; aber herrischer noch sprach zu ihm mein Wille, — da lag er schon bittend auf den Knien. » Dies ist der anschaulichste
und prägnanteste Ausdruck für die Phantasie der absoluten Freiheit
und Selbstbestimmung.
Entsprechend liebt der Übermensch sich selbst. Nächstenliebe ist für NIETZSCHE-Zarathustra im Grunde nur das Produkt versagender Selbst-Liebe: «Der
eine geht zum Nächsten, weil er sich sucht, und der andere, weil er sich
verlieren möchte. Eure schlechte Liebe zu Euch selbst macht Euch aus der
Einsamkeit ein Gefängnis.» Der Übermensch braucht nicht
den «Nächsten». Denn er ist so
stark, dass er sich nirgends mehr anlehnen muss. Nur verächtliches
Bedauern überkommt ihn, wenn er sieht, dass Menschen durch Verschwenden
ihrer Fähigkeiten oder durch einen «Blödsinn von Zufälligkeit»
hinter dem zurückbleiben, was aus ihnen hätte werden können. «Dies ist meine Art <Mitleid>»,
sagt NIETZSCHE spöttisch, «ob es schon keinen
Leidenden gibt, mit dem ich da litte.»
Zur Erklärung der christlichen «Sklavenmoral» hat NIETZSCHE die Theorie des Ressentiments entwickelt, die MAX SCHELER später
weiter differenziert hat. Ausführlich in «Zur Genealogie der Moral»
und in «Jenseits von Gut und Böse» erläutert, ist diese
Theorie als Kurzformel in den nachgelassenen Schriften notiert: «Tendenz
der Moralentwicklung: Jeder wünscht, dass keine andere Lehre und Schätzung
der Dinge zur Geltung komme außer einer solchen, bei der er selbst gut
wegkommt. Grundtendenz folglich der Schwachen und Mittelmäßigen aller
Zeiten, die Stärkeren schwächer zu machen, herunterzuziehen: Hauptmittel
das moralische Urteil. Das Verhalten des Stärkeren gegenüber dem Schwächeren
wird gebrandmarkt; die höheren Zustände der Stärkeren bekommen
schlechte Beinamen.»
In unzähligen Varianten, meistens mit ätzendem Spott, wiederholt NIETZSCHE diese Interpretation. Etwa so: «Dass die Lämmer
den großen Raubvögeln gram sind, das befremdet nicht. Nur liegt darin
kein Grund, es den großen Raubvögeln zu verargen, daß sie sich
kleine Lämmer holen. Und wenn die Lämmer unter sich sagen: <Diese
Raubvögel sind böse, und wer so wenig als möglich ein Raubvogel
ist, vielmehr deren Gegenstück, ein Lamm — sollte der nicht gut sein?>
So ist an dieser Aufrichtung eines Ideals nichts auszusetzen, sei es auch, dass
die Raubvögel dazu ein wenig spöttisch blicken werden und vielleicht
sich sagen: <Wir sind ihnen gar nicht gram, diesen guten Lämmern, wir
lieben sie sogar: Nichts ist schmackhafter als ein zartes Lamm.> Von der
Stärke verlangen, daß sie sich nicht als Stärkere äußere,
daß sie nicht ein Überwältigen-Wollen, ein Niederwerfen-Wollen,
ein Herrwerden-Wollen, ein Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen
sei, ist gerade so widersinnig als von der Schwäche verlangen, dass
sie sich als Stärkere äußere.»
Eigentlich aber träumten die Schwachen von der Trunkenheit der süßen
Rache, meint NIETZSCHE, aber weil sie sich diese aus Schwäche nicht leisten
könnten, redeten sie sich und allen anderen ein, ihre Feinde zu lieben.
Ekelhaft und unerträglich sei diese Verlogenheit, widerwärtig der
Anblick der Mißratenen, der Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten
und Kranken, die sich an die christliche «Sklavenmoral» klammerten.
Man kann wohl sagen, dass NIETZSCHES Übermensch diejenige Vision darstellt,
in der sich der nachmittelalterliche Traum des Ich, sich göttliche Omnipotenz
anzueignen, am vollkommensten erfüllt hat. Kompromißlos, ohne Zwang
und Schuldgefühl, erhebt sich der Supermensch und genießt nur noch
narzißtisch die eigene unbegrenzte Stärke. Keine äußere
Macht schränkt ihn ein. Er ist, wie es an einer Stelle heißt, ein «aus sich selbst rollendes Rad». Nichts geschieht
ihm mehr. Was er ist, macht
er aus sich selbst. So wird der Zufall zu einer Speise, die er sich selbst
kocht, oder zu einem Sklaven, der bittend vor seinem Willen auf den Knien liegt.
Als Abkömmling der monotheistischen Religion, die der narzißtischen
Größenphantasie als Vorbild gedient hat, ist der Übermensch
eigentlich nur in der Einzahl denkbar. So heißt es auch, dass sich
Übermenschen nur als seltene Glücksfälle ergäben, die von
Jahrhundert zu Jahrhundert sich zuwinkten. Wenn es also schon mehrere gibt,
dann trennen sie Jahrhunderte. Keiner beeinträchtigt die Omnipotenz des
anderen.
NIETZSCHE bemüht sich mannigfach darum, den Übermenschen in einer
Art von romantischer Genialität erstrahlen zu lassen. Da zeichnet er ihn
poetisch als eine voll entfaltete Individualität, als erlösenden Glücksfall,
als den Menschen, der den Menschen rechtfertigt. Er beschreibt seine Vollkommenheit,
Schönheit und Vornehmheit. Aber diese Perspektive kann NIETZSCHE nicht
durchhalten. Immer wieder bricht aus ihm der Zynismus durch. Man spürt
geradezu seine Angst, seine Idealgestalt könnte irgendwo der Schwäche,
der Rücksichtnahme. der Weichheit verdächtigt werden. Das führt
zu dem Zwang, in stereotyper Wiederholung das Gegenteil zu übertreiben.
So tritt die göttliche Vornehmheit hinter der Fratze terroristischer Bestialität
zurück. Mit aller Krampfhaftigkeit verteidigt NIETZSCHE eine antisoziale
Gegenmoral und verrät dabei auf Schritt und Tritt, daß er —
nur mit umgekehrten Vorzeichen — genau dem Ressentiment verfallen ist,
das er den christlichen «Sklavenmenschen» vorwirft. Auch er ist
keineswegs eins mit der von ihm so laut proklamierten Wertordnung. Er klammert
sich an das Konzept gewalttätiger Supermännlichkeit, offensichtlich
in einer tiefen Angst vor dem Gegenteil, vor kläglicher Ohnmacht und Verlorenheit.
Wenn er das «frohlockende Ungeheuer preist»,
das in der «Unschuld des Raubtier-Gewissens» morde, niederbrenne, schände, foltere — und dann «mit Übermut und seelischem Gleichgewicht» davongehe,
so verrät die rasende Verherrlichung der nackten Barbarei die untergründige
Furcht dessen, der in sich radikal ausrotten möchte, was ihn übermächtigen
könnte. Es ist die alte Angst vor absoluter Abhängigkeit, die narzißtisch
überkompensiert werden soll. Zartheit, Mitgefühl, Passivität
müssen ein für allemal ausgetilgt werden. Nur in der Extremform kann
der expansionistische Egoismus vor einem Rückfall in Sanftheit und Schwäche
schützen. Man wäre Gott wieder in mittelalterlicher Kleinheit ausgeliefert,
wenn man in sich nicht alle Gefühle abtöten würde, die die Anfälligkeit
für diesen Zustand wiederherstellen könnten. Nur das extreme Kontrastideal
terroristischer Barbarei kann, so scheint es, vor der totalen Kapitulation schützen.
Man muß sich in die rücksichtslose aggressive Expansion flüchten.
Einzig durch die kompromisslose Pervertierung in das Gegenteil eines mörderischen
Terrorismus kann sich die untergründige Sensibilität und Verletzlichkeit
vor dem Durchbruch bewahren.
An der Psychologie NIETZSCHES zeigt sich repräsentativ, wie uralte komplexhaft
verleugnete Ohnmachts- und Abhängigkeitsgefühle, die nie verarbeitet,
geschweige denn überwunden worden sind, in eine vollendete identifikatorische
Anmaßung göttlicher Omnipotenz einmünden, deren Brüchigkeit
und Künstlichkeit indessen unverkennbar ist. Eine in Verzweiflung erlebte
Abhängigkeit, die sich zu der Phantasie des drohenden Kaputtgemacht- und
Vergewaltigtwerdens angestaut hat, ist verdrängt und schlägt aus der
Passivität in die Aktivität um. Sie bewirkt, dass man zur Bestie
werden muss. Allein als rasendes Raubtier kann man sich schließlich
frei von allem Zwang und allen Bedrohungen wähnen. Daher kommt am Ende
gerade nicht das Abbild des gefürchteten und beneideten Gottes heraus,
sondern das wilde, hassende, mordende Tier.
Wenn NIETZSCHE den christlichen «Sklavenmenschen» vorwirft, daß
sie ihre Schwäche aus Neid schönfärbend verklärten, dann
trifft für ihn zu, dass er seine Schwäche, die er ebensowenig
verträgt, überkompensierend verleugnet. Er verhöhnt diejenigen,
die ihre Kleinheit akzeptieren, wenn auch mit dem tröstenden Selbstbetrug
nach dem Muster der vermeintlich sauren, zu hoch hängenden Trauben. Er
geht über diese Selbsttäuschung weit hinaus, indem er sich seine Kleinheit
narzißtisch wegillusioniert. Er redet sich ein, so zu sein, wie er sein
möchte. Er verwechselt sich in einer regelrechten narzißtischen Wahnbildung
mit dem grandiosen Gegenbild dessen, was er insgeheim zu sein fürchtet
und eigentlich auch ist. Die mit Hilfe von Überkompensation verdrängte
Kehrseite enthüllt sich etwa in den letzten Strophen des melancholischen
Gedichtes «Vereinsamt»:
«Nun stehst Du bleich,
zur Winter-Wanderschaft verflucht,
dem Rauche gleich,
der stets nach kältern Himmeln sucht.
Flieg, Vogel, schnarr
Dein Lied im Wüstenvogel-Ton!
—Versteck, Du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!
Die Krähen schrei‘n
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
bald wird es schnei‘n,
—weh dem, der keine Heimat hat!»
Es ist dies der Klageschrei des trostlos vereinsamten Narzißten,
dessen «blutend Herz» sich zutiefst nach Heimat, nach Geborgenheit
sehnt. Aber er glaubt nicht mehr daran, daß für ihn noch eine Heimat
da ist, daß sein Hilfeschrei noch gehört wird. Weil er an seiner
Sehnsucht zu verbluten fürchtet, flüchtet er sich in die narzißtische
Panzerung. Durch Eis, Hohn und Ekel muß er sich fortan gegen die Gefühle
schützen, an denen er kaputtgehen zu müssen glaubt. Deshalb —
infolge dieser unbewußten überkompensatorischen Reaktionsbildung
— treibt es ihn, in tausendfachen Varianten das armselige Herdenvieh,
die Kleinen, Schwachen, Kranken zynisch zu verhöhnen. Ihm bleibt nur die
«Winter-Wanderschaft», der Flug in immer kältere Himmel. Dieses
Bild stellt genau die Eskalation dar, die sich aus der Flucht in die narzißtische
Größen- und Allmachtsillusion zwangsläufig ergibt:
Um sich gegen die verdrängten passiven Wünsche und Gefühle zu
wehren, bleibt nur der rastlose Drang nach vorn übrig und eine fortwährende
Erhöhung der Mauer des Widerwillens gegen das Verdrängte — und
letztlich tödliche, eisige, wüstenhafte Einsamkeit:
«Die Wüste wächst: weh dem,
der Wüsten birgt!
Stein knirscht an Stein, die Wüste schlingt und würgt.
Der ungeheure Tod blickt glühend braun
und kaut—, sein Leben ist sein Kaun ,»
NIETZSCHES monumentales Übermenschen-Porträt fällt
in die Zeit der sich entwickelnden industriellen Massengesellschaft. Im Bürgertum
ahnt man die schwindenden Chancen für die Realisierung eines großartigen
Individualitätsideals unter dem Druck der neuen Produktionsverhältnisse.
Aber gerade das drohende Versinken in dem von NIETZSCHE porträtierten Herdenmenschentum
machte NIETZSCHES «Zarathustra» zu einer Bestseller-Droge. Unzählige
klammerten sich an den «Übermenschen»,
um in ihm das Ideal festzuhalten, während dessen Realisierungschancen unwiderruflich
zu schwinden drohten. Der außergewöhnliche und kontinuierlich anhaltende
Publikumserfolg des Zarathustra und der NIETZSCHEschen Werke überhaupt
belegt, dass sich ganze Generationen des Bürgertums nicht nur in den
Gedanken des Philosophen wiedergefunden haben und noch wiederfinden, sondern
zweifellos auch in der dahintersteckenden Überkompensations-Dynamik. An NIETZSCHES Übermenschenvision teilzuhaben, bot wenigstens eine gewisse
phantasierte Entschädigung für den Bedeutungsschwund des Individuums
im heraufdämmernden Zeitalter der Vermassung, der Bürokratisierung,
der Verwertung des Menschen als Ware. Aber der Philosoph half nicht nur dem
einzelnen Tagträumer, das Gespenst des Herdenvieh-Status und der wachsenden
Impotenz durch eine Kontrastillusion zu verscheuchen, er wurde — wie unbeabsichtigt
auch immer — zum Wegbereiter einer der schlimmsten politischen Bewegungen
der Zukunft.
Nicht erst der romantisch verworrene und verschwommene Nazi-Philosoph
ROSENBERG, sondern bereits NIETZSCHE entwarf das Grundkonzept für den
faschistischen Rassismus. Aus seinen narzißtischen Größenideen
ging nicht nur die Gestalt des omnipotenten Individuums, des Übermenschen
hervor, sondern auch die Vision einer Herrscherrasse, deren Bestimmung es sein
sollte, die Menschheit vor Verderbnis und Dekadenz unter dem Einfluss von
Sklavenrassen zu schützen. «Auf dem Grunde aller vornehmen Rassen» erhebt sich die «blonde Bestie», die
sich seit der Antike «alles europäischen und nicht-europäischen
Sklaventums, aller vorarischen Bevölkerung in Sonderheit» zu erwehren
hat. Geradezu berauscht preist NIETZSCHE «die prachtvolle
nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie». Entzückt
ist er von den sonst als barbarisch verschrieenen «vornehmen» Rassenmerkmalen,
von der «Gleichgültigkeit und Verachtung gegen
Sicherheit, Leib, Leben, Behagen», von der «entsetzlichen
Heiterkeit und Tiefe der Lust in allem Zerstören, in allen Wollüsten
des Siegs und der Grausamkeit». — Die blonden, langschädeligen
Arier seien die eigentliche Eroberer- und Herrenrasse. Dagegen gewinne zur Zeit
offenbar die unterworfene vorarische Rasse der Kurzschädeligen und Dunkelhaarigen
die Oberhand. Und diese Vorarier seien vermutlich verantwortlich für die
Neigung zur modernen Demokratie und für den «<Hang
zur commune>, zur primitivsten Gesellschafts-Form, der allen Sozialisten
Europas jetzt gemeinsam ist. » Aber «alles,
was auf Erden gegen <die Vornehmen>, <die Gewaltigem, <die Herren>,
<die Machthaber> getan worden ist, ist nicht der Rede wert im Vergleich
mit dem, was die Juden gegen die aristokratische Wertgleichung (gut = vornehm
= mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflößenden
Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten
Hasses (des Hasses der Ohmnacht) festgehalten haben »
«Das tiefe, eisige Misstrauen, das der Deutsche
erregt, sobald er zur Macht kommt, auch jetzt wieder — ist immer noch
ein Nachschlag jenes unauslöschlichen Entsetzens, mit dem jahrhundertelang
Europa dem Wüten der blonden germanischen Bestie zugesehen hat (obwohl
zwischen alten Germanen und uns Deutschen kaum eine Begriffs-, geschweige eine
Blutsverwandtschaft besteht)». Man solle sich ruhig vor der blonden Bestie
fürchten, «aber wer möchte nicht hundertmal lieber sich fürchten,
wenn er zugleich bewundern darf, als sich nicht fürchten, aber dabei den
ekelhaften Anblick des Missratenen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten
nicht mehr loswerden können?»
Sicher hat NIETZSCHE nicht daran gedacht, dass sich dereinst eine Kleinbürgerclique,
um einen Dunkelhaarigen geschart, zur Befolgung des Appells berufen fühlen
würde, der sich mit einiger Mühe aus diesen Zitaten in «Zur
Genealogie der Moral» herauslesen ließ. Des Appells nämlich,
dass die Nachfahren der « blonden germanischen Bestie » unerschrocken
ihre Raubtier-Vornehmheit dadurch beweisen sollten, dass sie die angeblich
minderwertigen Völker, die Vorarier und die Nichtarier, niederwerfen würden,
um endlich wieder ein höheres Menschentum, ein Herrenmenschentum heranzüchten
zu können. Es mutet gespenstisch an, dass das wahnhafte Moment in NIETZSCHES Übermenschen-Philosophie nicht anders erwiesen werden konnte
als durch den groß angelegten Versuch des Faschismus, das Konzept praktisch
auszuprobieren. [...]
Die Widerlegung NIETZSCHES kann nur vollziehen, wer sich nicht mehr insgeheim
von der hilflosen infantilen Dürftigkeit betroffen fühlt, gegen welche
die narzißtischen Größenillusionen eine — obzwar fragwürdige
— Abschirmung bieten. Solidarische Sympathie kann sich hingegen leisten,
wer sich als vollständigen Menschen in einer Welt begreifen kann, in der er mit anderen gleichrangigen
Menschen zusammen lebt. Eine solche Selbst-Achtung tilgt die Angst, durch engagiertes
Mitfühlen das Gleichgewicht zu verlieren und in einen elenden, minderwertigen
Status hinabgezogen zu werden. Die mitfühlende
Gleichsetzung mit den anderen enthält für den, der sein Selbstverständnis
auf mittlerer Höhe zwischen kläglicher Insuffizienz und überkompensatorischer
narzifitischer Großartigkeit stabilisiert hat, nichts Bedrohliches mehr.
Er kann sich offen dem Bedürfnis nach sympathisierender Verbundenheit überlassen
und erfährt auf diese Weise innere Bereicherung durch die anderen, die
in gleicher Weise an ihm Anteil nehmen. So fördert das Sympathieprinzip
die Chancen einer gemeinsamen Emanzipation.
Fortsetzung
Aus: Horst-Eberhard Richter, Der Gotteskomplex . Die
Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen. Rowohlt Verlag
GmbH (S.21-60, 248, 249)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Autors:
Herrn Horst-Eberhard Richter