Horst-Eberhard Richter (1923 - )

Philosophisch versierter deutscher Psychoanalytiker; Professor für Psychosomatik und Psychotherapie in Gießen. Engagierter Familien- und Sozialtherapeut, der sich seit längerem verstärkt gesellschaftskritisch angelegten sozialpsychologischen und sozialphilosophischen Analysen widmet. Richters originelle und scharfsinnige Analyse der religions-philosophischen Entwicklung des Gottesverständnisses von Augustinus bis Nietzsche besticht durch ihre - von profundem Wissen getragene - nachvollziehbare psychologische Hintergründigkeit.

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Inhaltsverzeichnis

Der Ausbruch aus dem Mittelalter: Gott geht verloren, der Mensch will selbst Gott sein
Die Geschichte des Egozentrismus und seiner Verkleidungen von Leibniz bis Nietzsche

>>>Christus
Das Urbedürfnis der Sympathie wird von der Kirche zur Pflicht pervertiert

Der Ausbruch aus dem Mittelalter: Gott geht verloren, der Mensch will selbst Gott sein
[...] Lange Zeit hatten sich die mittelalterlichen Menschen in ihrer Gotteskindschaft sicher gefühlt. Sie hatten darauf verzichten können, die Welt genau zu erforschen und ihr Leben zu berechnen. Ausdruck dieser ergebenen Lebenseinstellung war die Prädestinationslehre des Kirchenvaters AUGUSTINUS gewesen. AUGUSTIN hatte erklärt, dass jedes menschliche Schicksal durch göttlichen Ratschluss vollständig vorherbestimmt sei. Es sei nicht Sache des Menschen, sich die göttliche Wahrheit durch Einsicht anzueignen, sondern diese Aneignung müsse durch den Glauben geschehen. Gott werde die Wahrheit nur denjenigen offenbaren, die sich durch sittliches Verhalten als dafür würdig erwiesen. Also kam es auf absoluten Gehorsam an. Zweifel und eigene Erkenntnis führten zu nichts.

Aber schon AUGUSTIN selbst hatte gewissermaßen die Schwachstelle bezeichnet, die den allmählich in den folgenden Jahrhunderten einsetzenden Vertrauensschwund begründete. Niemand dürfe gewiss sein, so lehrte er, ob er nach Gottes unerforschlichem Ratschluss zu denen zähle, die der Erlösung teilhaftig werden würden oder zu denen, die für die Erbsünde büßen müssten. Es war eine schwer erträgliche Forderung, absolute Abhängigkeit anzuerkennen, ohne sich der göttlichen Gnade sicher fühlen zu dürfen. Wie konnte man sich Gott blindlings anvertrauen, wenn man so wenig abschätzen konnte, ob man durch ihn Erlösung oder schreckliche Bestrafung finden würde? War es angesichts dieses Umstandes nicht gerechtfertigt, wenn sich der Mensch stärker auf die Hilfe seines Intellektes verließ, um seine Position aus eigenen Erkenntnissen heraus besser zu sichern?
AUGUSTIN spürte offenbar ein wachsendes Spannungsverhältnis zwischen einem Bedürfnis nach eigenständiger intellektueller Orientierung und der Bereitschaft, sich nach wie vor blindlings der Offenbarung zu unterwerfen. Und so warnte er vor dem Erkenntnistrieb:
«Denn außer dieser bösen Lust des Fleisches, die in aller Sinnenlust und aller Gier nach Freude wohnt, und die zugrunde richtet, wer ihr fern von Deinem Angesichte dient, lebt in der Seele eine andere Begierde, die . . . zwar nicht im Fleische sich ergötzen, aber wohl durch das Fleisch in eitlem Vorwitz Nichtiges erfahren will, was dann geschminkt wird mit dem Namen der Erkenntnis und der Wissenschaft.» Um der Neugier willen «geht man daran, all das Geheimnisvolle der Natur, das doch für unsere Sinne nicht geschaffen, auszuforschen, und sucht nach Dingen, die zu wissen uns nichts nützt, und doch ist‘s nur der eine Wunsch bei allen Menschen: zu erkennen».

Andererseits verlieh AUGUSTIN der Vernunfteinsicht und dem Prinzip der Willensfreiheit in seiner Abhandlung «Vom Gottesstaat» eine gewisse Bedeutung. Aber in den wichtigsten Fragen sollte eben doch der Glaube an die Offenbarung und an deren Walten in der kirchlichen Tradition der intellektuellen Erkenntnis vorangehen. Und die Willensfreiheit sei ja der Menschheit in Adam zuteil geworden. Nur habe dieser sie mißbraucht und damit für seine Nachfolger ausgelöscht.

Offensichtlich hat sich während des Mittelalters das Gefühl kindlichen Beschütztseins zunehmend vermindert, wie umgekehrt das Bedürfnis angewachsen ist, sich eigene Machtmittel anzueignen, um die Stimmung der Unheimlichkeit zu bannen. Das Misstrauen gegenüber Gott wuchs nicht allein aus Angst, von ihm nicht genügend gehalten zu werden, sondern auch aus Sorge vor dem bösen, dem strafenden Gott. Durch Aufkündigung des blinden Gehorsams in Form erhöhten Anspruches auf Wissen und Selbstbestimmung geriet man verstärkt in das Dilemma, sich um so mehr den göttlichen Zorn zuzuziehen, der unter anderem das Mißtrauen begründete. So entstand zwangsläufig eine sich verstärkende kreisförmige Eigendynamik: Anwachsende Geborgenheitsunsicherheit im Verhältnis zu Gott erzwang einen Ausgleich durch narzißtische Selbstsicherung. Jede Erweiterung eigener Macht musste indessen die Gefahr göttlicher Rache erhöhen, wodurch neue Ängste freigesetzt und wiederum zusätzlich überkompensatorische Abwehrmaßnahmen erforderlich wurden. Das heißt, der einmal eingeleitete Prozess der Ablösung aus der vollständigen Unmündigkeit und Passivität enthielt von vornherein die Tendenz zu einem rasanten Umschlag ins Gegenteil, in die Identifizierung mit der
göttlichen Allwissenheit und Allmacht. Und tatsächlich trägt die folgende Entwicklung viele Züge des von der Psychoanalyse beschriebenen Reaktionsmusters der Flucht aus narzißtischer Ohnmacht in die narzißtische Omnipotenz. Die Radikalität dieses Umschlags wird nur dadurch verschleiert, dass man alle Versuche, sich durch Identifizierung die göttliche Omnipotenz einzuverleiben, mit immer neuen rationalisierenden Theorien leugnete. Je mehr man Gott entmachtete, um so heftiger und kunstfertiger redete man sich ein, dass gerade dies nicht geschehe, dass man vielmehr Gottes in der Natur wirksamen Kräfte nur deshalb habhaft werden wolle, um seiner um so mehr inne zu werden.

Dass es von Anfang an aber in Wirklichkeit darum ging, Gottes unermessliche Größe und Kraft für sich selbst einzufangen, enthüllte bereits die frühe Suche der Alchimisten nach dem «Stein der Weisen», der alle Krankheiten heilen, alle Stoffe in Gold verwandeln, alle Geister in die Gewalt seines Besitzers bannen sollte. Allzu deutlich verriet sich darin der Anspruch, sämtliche göttlichen Wunderkräfte in Form eines Stoffes in Besitz nehmen zu können, den man selbst produzieren wollte. Die großen Ängste, die sich mit den ersten Ansätzen zu planvoller Naturforschung verknüpften, schlugen sich in der Durchmischung intellektueller Überlegung mit archaischem Aberglauben nieder.

Indem das Ich sich durch intellektuelle Distanzierung von der vergegenständlichten Natur eine neue Position des Analysierens und Kontrollierens verschaffen wollte, verstrickte es sich sogleich in vermehrte magische Befürchtungen. Die Natur belebte sich mit Scharen von Dämonen, die man durch Zauber entkräften zu können hoffte. Vorstellungen der Neuplatoniker und vor allem Elemente der jüdischen Kabbala flossen in dieses Denken ein, das sich intensiv mit Traum- und Zeichendeutung, mit Wahrsagekunst und Zahlenmystik beschäftigte. Es tauchte ein ganzer Komplex von geheimnisvollen Geisterkräften auf, die Einflu
ss auf das menschliche Leben haben sollten. Auch jede einfache Zahl, die zur mathematischen Naturerforschung verwendet wurde, entpuppte sich obendrein als Träger außersinnlicher Bezüge und Kräfte. AGRIPPA von NETTESHEIM, neben JOHANNES REUCHLIN der bekannteste theosophisch-magische Schriftsteller zu Beginn des 16. Jahrhunderts, widmete in seinen berühmten «Magischen Werken» allein etwa hundert Seiten der Analyse der okkulten Macht und Kraft der Zahlen: Es gab zu dieser Zeit eine umfassende Dämonenkunde und ausgedehnte Kataloge mit Rezepten für Zauberkünste, Weissagung, Wundertränke und sonstige magisch wirksame Stoffe und Zeremonielle. Kleine Handbücher orientierten über die Möglichkeiten der Geomantie (Punktierkunst, Weissagung aus Figuren, die aus Punktieren entstanden), der Pyromantie (Weissagung aus dem Feuer), der Hydromantie (Weissagung aus dem Wasser), der Nekromantie (Weissagung aus Leichen), der Ichthyomantie (Weissagung aus Fischen) und über viele andere magische Künste. Es war eine überaus aufgeregte Zeit. Die Ansätze zur kritischen Überprüfung des Bildes von der Welt, das vorher unbefragt aus der kirchlichen Lehre entnommen worden war, erbrachten neben kleinen Fortschritten an intellektueller Sicherheit viele neue Unsicherheiten und demzufolge den Zwang zur Vervielfältigung der Anstrengungen, die verlorene ergebene Gotteskindschaft durch grandiose Steigerung der Kräfte des eigenen Ich wettzumachen. Der «Stein der Weisen» mit seiner unbegrenzten Wundermacht drückte in zeittypischer Form den Wunsch des Menschen aus, selbst omnipotent werden zu müssen, wenn man Gott nicht mehr haben konnte.

Die Welt des mittelalterlichen Lebensgefühls kann als kreisförmig beschrieben werden. In dem geozentrischen Weltbild kreisten die Gestirne um die Erde. Aber der Mensch war unten, und Gottes Auge überwachte ihn von oben. Die Welt war in sich geschlossen wie auch der menschliche Lebenszyklus, der in Gott anfing und endete. Dieses kreisförmige System wurde in dem Augenblick aufgebrochen, als das misstrauische Ich über die Grenze der Offenbarungslehre hinaus fragte. Mit den ersten Ansätzen des naturwissenschaftlichen Kausaldenkens eröffnete sich die Perspektive einer linearen Unendlichkeit der Kausalkette. Die menschliche Position der Randständigkeit im grenzenlosen All bestätigte sich durch die Feststellungen von KOPERNIKUS. Aber schon lange vor diesem, nämlich im 13. Jahrhundert, hatte die Erfindung der mechanischen Uhr darauf hingewiesen, dass sich die europäischen Menschen anschickten, das Bewusstsein der Endlichkeit im geschlossenen Lebenskreis aufzugeben und sich auf eine ins Unendliche fortschreitende zeitliche Linie zu begeben. Tatsächlich kann man mit MUMFORD die mechanische Uhr als die Maschine ansehen, mit der der Mensch sein Verhältnis zur Ewigkeit entscheidend verändert hat. Immer wieder bedienten sich künftig Philosophen der Uhr zur gleichnishaften Definition aller Lebensprozesse (s. 2. Kap.). Die mechanische Uhr folgt nicht, wie die alte Sonnenuhr, dem Kreisprozess des Tages, der aus der Nacht kommt und wieder in die Nacht mündet. Sie tickt permanent gewissermaßen geradlinig weiter. Sie markiert mit ihrem Takt, dass die Zeit unendlich wie die Zahlenreihe voranschreitet und sowenig Anfang und Ende hat wie die naturwissenschaftliche Kausalkette bzw. das sich diesem Prinzip verschreibende menschliche Denken. Im Lebensgefühl des frommen mittelalterlichen Christen gab es die Ewigkeit des sich in Gott kreisförmig vollendenden Lebens. Der nachmittelalterliche Mensch gelangte mehr und mehr zu dem Bewusstsein, auf unendlicher Straße unterwegs zu sein.

Bemühungen um eine Klärung des Begriffs der Unendlichkeit waren erstmalig bei den spätscholastischen Naturphilosophen aufgetaucht. Aber die statische Position des mittelalterlichen Menschen in der Welt verhinderte damals bezeichnenderweise noch ein genaues physikalisches Verständnis der Bewegung. Man konnte Geschwindigkeit noch nicht als Quotienten von Weg durch Zeit fassen. Man war auch unfähig, wechselnde Geschwindigkeiten durch Definition der Momentan-Geschwindigkeit zu begreifen. Den Differentialquotienten, nämlich den Quotienten aus einer unendlich kleinen Strecke und einer unendlich kleinen Zeit, konnte man noch nicht denken. Nach dem Herausfallen — oder Heraustreten — aus der Endlichkeit des christlichen Lebenszyklus musste der Mensch nun einen Sinn darin suchen, sich auf einer nach vorn unabgegrenzten Linie zu bewegen. Diesen Sinn hat er schließlich darin zu finden gesucht, das bloße Weitergehen in der Zeit mit Fortschritt, mit permanenter Höherentwicklung gleichzusetzen. Das Mittel, diesen Glauben zu nähren, wurden die niemals mehr stillstehenden Entwicklungen der Naturforschung und der Technik. Da Rückschritte der Naturwissenschaft und Technik wie ein Widerspruch in sich selbst wirken, konnte sich bislang die Illusion halten, die Situation des Menschen im Prozess der Zeit werde immer großartiger und glücklicher. Dabei ist dieses Fortschrittsbewusstsein natürlich nichts weniger als ein kritisches Erfahrungsresultat, vielmehr der aus Verzweiflung geborene Strohhalm, an den man sich aus Angst vor der absoluten Ziellosigkeit klammert. Latent steckt hinter der Fortschrittsideologie immer noch der Traum vom «Stein der Weisen», der sich nur inzwischen dahin gewandelt hat, dass irgendeine Super-Medizintechnologie permanente Jugendlichkeit und eine Nahezu-Unsterblichkeit garantieren soll.

Es war dann im 17. Jahrhundert die Philosophie des DESCARTES, die am prägnantesten den wegweisenden Entschluss des Menschen ausdrückte, sich das absolute Wissen und die Kraft des Allmächtigen anzueignen; um nach dem Verlust des mittelalterlichen Gotteskindschaftsverhältnisses ein neues Gleichgewicht zu finden. Nach Wegfall des göttlichen Schutzes wird das Selbstbewußtsein des individuellen Ich zum Garanten eines modernen Sicherheitsgefühls. In psychoanalytischer Betrachtungsweise kann man von einer narzißtischen Identifizierung sprechen. Die grandiose Selbstgewissheit des Ich ist an die Stelle der Geborgenheit in der großen idealisierten Elternfigur getreten. Deren gewaltige Macht taucht nun als maßlose Überschätzung der eigenen Bedeutung und Möglichkeiten auf. Das individuelle Ich wird zum Abbild Gottes. Die höchste und zentrale Wahrheit steckt infolgedessen in dem berühmten Satz: Cogito ergo sum; ich denke, also bin ich. Was wie ein logischer Schluss aussieht, ist im Grunde eine intuitive Entscheidung. Das Ich setzt seine Selbstgewissheit obenan. Freilich kann man von Entscheidung hier nur in dem Sinne sprechen, dass das Ich letztlich auch für den unbewussten Abwehrvorgang verantwortlich ist, der zu diesem Resultat geführt hat. Dies folgt jedenfalls aus der Annahme, dass im Hintergrund eine ähnliche Dynamik wirksam war, wie sie an dem Beispiel des narzißtisch überkompensierenden Kindes erläutert worden ist.

Noch immer hat man freilich im 17. Jahrhundert mit der großen Angst zu kämpfen, die willkürliche Entmachtung Gottes als solche einzugestehen und dessen vernichtende Rache heraufzubeschwören Also musste sich DESCARTES mit allen Mitteln bemühen, die ungeheure Anmaßung des individuellen Ich nicht nur als gottgewollt, sondern geradezu als von Gott her bestimmt zu interpretieren. Er erfand eine scheinbare Begründung, die man im Sinne der Psychoanalyse als klassische Rationalisierung bezeichnen könnte. Die Idee, von der individuellen Selbstgewißheit alle weiteren Erkenntnisse ableiten zu können, führte er ursächlich auf Gott zurück: Die höchste Klarheit und Deutlichkeit, mit der das individuelle Ich seiner selbst bewußt sei, könne nur von Gott dem Menschen eingegeben worden sein. Und da Gott gut sei, müsse auch alles wahr sein, was an ähnlich klaren und deutlichen Vorstellungen im Ich vorhanden sei. Denn der gute Gott könne uns ja nicht täuschen wollen. — Auch der berühmte Gottesbeweis des DESCARTES bedeutete im Grunde nur eine rationalisierende Verleugnung der tatsächlichen Entmachtung Gottes: Die Idee eines vollkommenen Wesens müsse eine Ursache haben. Da der Mensch indessen unvollkommen sei, könne seine Vorstellung des vollkommenen Wesens nur von Gott als Ursache herkommen. Wie könnten wir ein vollkommenes Wesen denken, wenn dieses nicht real existierte und diese Idee nicht in uns hervorgebracht hätte? «Wir werden in dieser Idee (gemeint ist die Idee Gottes, der Verf.) eine solche Unermeßlichkeit finden, daß wir uns davon überzeugen, daß sie uns nur von einem Gegenstande eingeflößt sein kann, welcher wirklich alle Vollkommenheiten in sich vereinigt, das heißt nur von dem wirklich daseienden Gott. Denn es ist nach dem natürlichen Licht offenbar, daß aus Nichts nicht Etwas werden kann, und daß das Vollkommene nicht von einem Unvollkommeneren als wirkender und vollständiger Ursache hervorgebracht werden kann, und dass in uns keine Idee oder kein Bild einer Sache sein kann, von dem nicht irgendwo in uns selbst oder außer uns ein Urbild existiert, das alle seine Vollkommenheiten wirklich enthält.»

In Wirklichkeit vertraut dieser Beweis nicht auf Gott, sondern auf die Unfehlbarkeit des eigenen Intellekts: Würde der intellektuelle Schluss zu einem anderen Resultat führen, wäre Gott gewissermaßen widerlegt. Das logisch denkende Ich bestimmt, dass Gott ist — bzw. sein darf. Aber natürlich durfte seinerzeit niemand diese Anmaßung eingestehen, und von der Renaissance bis zur Aufklärung mühten sich Generationen von Philosophen mit immer neuen Argumenten darum, sich um das Bekenntnis herumzudrücken, daß man sich eben nicht mehr auf Gott, sondern darauf verließ, durch Identifizierung selbst göttlich und omnipotent sein zu wollen, um alle Gefahren selbständig vorausberechnen und abwenden zu können.

Jedenfalls stellt sich in der Philosophie des DESCARTES besonders deutlich der Umschlag aus passiver Ergebenheit in eine Haltung wachsamer Dominanz dar. Das individuelle Ich setzt sich an die Stelle Gottes. Gerade in dem Augenblick, als GALILEI endgültig das klassische Weltbild als Illusion entlarvt und damit der Verlorenheitsangst neue Nahrung gibt, vollzieht sich diese Flucht nach vorn in einen großartigen Allmachtsglauben. Das Ich erträgt auch nicht länger, in die Geister- und Dämonenwelt der mystisch-magischen Periode verwickelt zu sein. Es saugt gewissermaßen das ganze Potential an Magie in sich selbst auf, indem es alle Wirklichkeit leugnet, die es nicht selbst intellektuell in Besitz genommen hat. Die mit DESCARTES, GALILEI und LEIBNIZ einsetzende stürmische, auf die Mathematik gestützte Naturerforschung steht von Anfang an unter dem Druck der Angst, alle Ursachen erkennen zu müssen, um nicht doch am Ende von unbekannten Mächten überwältigt zu werden. Man muß die Umwelt restlos erkunden und sich ihrer bemächtigen, da kein elterlicher Beschützer mehr da ist, der Geborgenheit vermittelt. Die Furcht, von Gott verlassen zu werden, verwandelt sich in die Sorge vor dem Verlust der absoluten Selbstgewißheit und der intellektuellen Beherrschung der Umwelt. Die mit der Renaissance einsetzende und sich bis heute fortsetzende großartige Bewegung der naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Eroberungen entstammt jedenfalls psychologisch sehr ähnlichen Wurzeln wie die gehetzte, misstrauische Neugierhaltung und die tyrannische Herrschsucht jener unbeschützten Kinder, die nicht mehr schlafen und nicht mehr passiv sein können. Die nur noch einer Welt trauen, die sie selbst durch Berechnen und Machen in der Hand haben — oder zumindest in der Hand zu haben glauben.

Der lange Zeit als großartige Selbstbefreiung gepriesene Schritt des mittelalterlichen Menschen in die Neuzeit war im Grunde eine neurotische Flucht aus narzißtischer Ohnmacht in die Illusion narzißtischer Allmacht. Der psychische Hintergrund unserer so imposant scheinenden neueren Zivilisation ist nichts anderes als ein von tiefen unbewältigten Ängsten genährter infantiler Größenwahn. Wie das Kind, das sich gewaltsam und illusionär selbst in eine allmächtige Elternfigur verwandelt, um seinen unverläßlichen Eltern nicht länger wehrlos ausgeliefert zu sein, trägt unsere Zivilisation seit damals zahlreiche Merkmale einer krampfhaften Selbstüberforderung. Der verunsicherten Beziehung zu Gott, die einen langen Prozeß schmerzhafter Auseinandersetzung erfordert hätte, hat man sich durch Identifizierung entzogen. Aber das durch diese Gleichsetzung erzeugte großartige Selbstbewußtsein ist stets trügerisch geblieben, und das auf die technische Naturbeherrschung fundierte Machtgefühl verleugnet seit je die tatsächliche infantile Abhängigkeit von eben dieser Natur, ohne deren Ressourcen ein Überleben der Menschheit undenkbar ist. Dies ist eben der Pferdefuß der neurotischen Überkompensation: Da die Ohnmachtsangst nur durch unkritische Selbstüberschätzung, die passive Auslieferung nur durch gewaltsame Überaktivität in Schach gehalten wird, hat sich eine verhängnisvolle Unfähigkeit fixiert, noch diejenigen natürlichen Abhängigkeiten zu registrieren und zu akzeptieren, welche die menschliche Existenz begrenzen. Aber es liegt eben im Wesen dieses unbewußten Ohnmacht-Allmacht-Komplexes, dass die Brüchigkeit des größenwahnsinnigen Selbstbildes so schwer durchschaut werden kann. Nachdem die Gewissheit der Geborgenheit in Gott entfallen ist und das Ich nur noch in seiner Selbstgewißheit und in der egozentrischen Naturbeherrschung Halt sucht, bleibt ihm nichts anderes übrig, als das illusionäre Moment dieser Selbstvergötterung zu verleugnen. Die spektakulären Entdeckungen der naturwissenschaftlichen Ursachenforschung stützen von Anfang an das Verleugnungssystem, weil sie ja, anders als die Rezepte der mittelalterlichen Magie, tatsächlich viele unheimliche Naturprozesse durchschaubar machen. Begeistert von der Tragfähigkeit der mathematischen Methode vermag man sich — mit DESCARTES — fortan zu suggerieren, die intellektuelle Gewissheit mache eine Selbsttäuschung unmöglich. Die mathematische Logik trüge nie. Wenn man der «raison», der Vernunfterkenntnis folge, so erklärt MALEBRANCHE, einer der bedeutendsten französischen Philosophen in der unmittelbaren Nachfolge des DESCARTES, verfüge man über das unendliche und unabhängige Prinzip, an welches auch Gott gebunden sei:

«Car Dieu ne peut agir que selon cette raison, il dépend d‘elle dans un sens; il faut qu‘il la consulte et qu‘il la suive.» Die Verfügung über die «raison» garantiert dem Menschen, das ist die heimliche triumphale Folgerung, gottgleiche Unabhängigkeit und Macht.

Der seit dem Mittelalter versteckt erhalten gebliebene Aberglaube bedingt die Illusion, durch praktische Ausnutzung der mathematischen Naturgesetze die eigene Endlichkeit überwinden zu können. Damit hat sich die Überschätzung der kabbalistischen Zauber- und Beschwörungsformeln aus der Zeit des AGRIPPA VON NETTESHEIM nur auf die moderne Mathematik verschoben. Das kontinuierliche Vordringen der mathematischen Naturerkenntnis und die damit verbundene Erweiterung technischer Macht werden immerfort gleichgesetzt mit einer allmählichen Annäherung an das Ziel, der Unendlichkeit habhaft zu werden und die Grenzen der menschlichen Existenz definitiv aufzuheben. Das undurchschaute magische Moment dieser phantastischen Illusion wird gegenwärtig eklatant durch die Tatsache deutlich, daß nur die allerwenigsten vernünftig auf die Tatsache reagieren können, daß derzeit gerade die exakte naturwissenschaftliche Forschung die Zwangsläufigkeit eines kollektiven Selbstzerstörungsprozesses prognostiziert, die mit einer automatischen Fortsetzung der bisherigen expansionistischen Naturbeherrschungsstrategie verbunden wäre. Die Menschen sind unfähig zu akzeptieren, daß eben die Mittel, die bislang unumstritten zur unaufhörlichen Erweiterung unserer Selbstsicherheit tauglich sein sollten, nun auf einmal ganz anders bewertet werden müssen. Es ist eine mit der hintergründigen neurotischen Dynamik verbundene Paradoxie, daß den so lange idealisierten quantitativen Methoden in dem Augenblick nicht mehr vertraut werden kann, in dem diese beweisen, daß der Anspruch einer immer vollständigeren naturwissenschaftlich-technischen Inbesitznahme der Natur gleichbedeutend mit Selbstvernichtung ist. Die Angst, sich die seit dem Mittelalter nur verdrängte infantile Abhängigkeitsposition einzugestehen, ist fatalerweise momentan immer noch viel größer als die Angst, mit einem objektiv selbstmörderischen Größenwahn unterzugehen. Das ist der Fluch dieses kollektiven Komplexes, des Ohnmacht-Allmacht-Komplexes, den man auch zusammenfassend als «Gotteskomplex» bezeichnen kann.

Die Geschichte des Egozentrismus und seiner Verkleidungen von Leibniz bis Nietzsche
Ein wesentliches Merkmal, das den narzißtischen Ohnmacht-Allmacht-Komplex kennzeichnet und sich durch die neuere Zivilisation hindurchzieht, ist der radikale Egozentrismus. Wiederum sei an den Reaktionstypus des kleinen Kindes erinnert, das aus der Verlassenheitsangst in eine unumschränkte Dominanzhaltung flüchtet. Solche Kinder bleiben in aller Regel hartnäckige Egozentriker. Weil sie nichts mehr für vertrauenswürdig halten, was von außen kommt, können sie keinem anderen zugestehen, über sie zu bestimmen. Beziehungen zu Mitmenschen sind ihnen nur dann erträglich, wenn sie darin eine herrschende Rolle einnehmen. Es würde ihre ursprüngliche, unerträglich gewordene Abhängigkeitsangst reproduzieren, würden sie sich auch nur partiell von anderen lenken lassen. Ihr ganzes Trachten geht also dahin, ihre Umwelt so zu manipulieren, dass sie sich zumindest beständig einbilden können, ihr Leben vollständig aus dem eigenen Willen zu bestimmen.

In Analogie zu diesem Schema kann man die Fixierung jenes starren Egozentrismus begreifen, die als Folge mit der Identifizierung mit Gott verbunden war, die der Renaissance-Europäer vollzogen und die sich in unserer neueren Zivilisation fortgeerbt hat. Dieser Egozentrismus ist das Produkt der Einverleibung des einen großartigen Gottes, wie ihn die lange monotheistische Glaubenstradition geprägt hatte. Der Mensch verwandelt sich selbst in ein Abbild dieser Gestalt und sieht sich fortan als eine in sich und von allen anderen vollständig abgeschlossene Einheit.

Die Philosophie hat sich seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert um metaphysische Konstruktionen bemüht, die den einzelnen in dem Bewusstsein bestätigen, dass er quasi mit dem Universum identisch sei, dass er in der eigenen Person die Vollständigkeit des Weltalls enthalte. In der Naturphilosophie der Renaissance kam es zur Gleichsetzung des Wesens von Gott und Welt.
Man könne nur erkennen, lehrte VALENTIN WEIGEL, was man selbst sei. Der Mensch erfasse das All, weil er es selbst sei. WEIGEL und JAKOB BÖHME sahen im Menschen einerseits die leibliche Verdichtung aller materiellen Dinge. Daher sei ihm die gesamte materielle Welt einsichtig. Genauso nehme er an der geistigen Welt in ihrer Ganzheit teil und könne sich als «göttlicher Funke» als Ebenbild des göttlichen Wesens erfassen. GIORDANO BRUNO hat in einem Lehrgedicht den Begriff der Monade entwickelt. Jedes Einzelwesen, jede Monade sei eine individuelle Daseinsform des göttlichen Seins, eine endliche Existenzform der unendlichen Essenz. Hundert Jahre später nahm LEIBNIZ die Monadenlehre BRUNOS wieder auf und modifizierte sie. Auch er ging von der These aus, daß jedes Einzelwesen, jede Monade, das ganze Universum in sich repräsentiere. Aber jede Monade sei auch ein Individuum, das heißt etwas Besonderes, von allen anderen Monaden Verschiedenes. Den scheinbaren Widerspruch, daß die Verschiedenheit eine qualitative Unvollkommenheit der einzelnen Monaden voraussetze, löste er auf, indem er die Differenzen zwischen den Monaden lediglich auf den Grad der Deutlichkeit bezog, in dem jede Monade das Universum darstelle. Keine Monade sei also qualitativ anders als alle anderen. Jede bilde das Universum nur in einer jeweilig spezifischen Deutlichkeit oder Undeutlichkeit ab. Gott sei die Zentralmonade eines großen Monadensystems. Während jede Monade sich selbst auslebe, stimme sie wegen der Gleichheit ihres Inhaltes mit allen anderen überein. Zwischen sämtlichen
Monaden herrsche eine «prästabilierte Harmonie».

Im Unterschied zu anderen Lebewesen sei der Mensch nicht nur ein Abbild des Universums der Geschöpfe, sondern durch den Geist Abbild der Gottheit selbst, «fähig, das System des Universums zu erkennen und es durch architektonische Proben wenigstens in etwas nachzuahmen, da jeder Geist innerhalb seines Bereiches wie eine kleine Gottheit ist.

Zur Erläuterung der prästabilierten Harmonie bedienten sich die Philosophen jener Zeit des berühmten Uhrengleichnisses, das wohl ursprünglich auf GEULINCX zurückgeht; Alle psychischen und physischen Vorgänge im All seien absolut gleichgeschaltet wie Uhren, die vollkommen miteinander übereinstimmen. Der geheime Impuls, Gott zu entmachten, ist in diesem Uhrengleichnis deutlich zu erkennen. Deshalb löste das Uhrengleichnis auch manche Kontroversen aus. So hielt z. B. CLARKE LEIBNIZ in einem berühmt gewordenen Streit vor: «Wenn man sich die Welt als eine große Maschine vorstellt, die — wie eine Uhr ohne Hilfe des Uhrmachers, ohne den Eingriff Gottes weiter geht, so führt das . . . unter dem Vorwand, Gott zu einem überweltlichen Verstandeswesen zu machen, dahin, die göttliche Vorsehung und Leitung tatsächlich aus der Welt zu verbannen.» «Gegen alle die, die behaupten, daß in einer irdischen Regierung die Dinge ohne Einmischung des Königs vollkommen ihren Gang gehen könnten, ist der Verdacht gerechtfertigt, da
ss sie am liebsten den König ganz beiseite schieben möchten.» Man braucht Gott nicht mehr. Er hat durch die Schöpfung die Uhren einmal gestellt. Jetzt laufen alle Monaden, alle Lebewesen unabhängig von seinem Einfluss für sich weiter.

Aber das Uhrengleichnis ist noch in einer anderen Hinsicht belangvoll. Es stellt eine Welt dar, in der die Einzelwesen einander nicht berühren. Jede Monade ist für sich. Ihr Einklang mit dem Universum und untereinander setzt keine wechselseitigen Beziehungen voraus. Die Individuen geben sich gegenseitig nichts, und sie nehmen auch nichts voneinander. Jeder einzelne trägt die Vollständigkeit von vornherein latent in sich. Die Aufgabe der einzelnen Monade ist deshalb nach LEIBNIZ, ihre eigene zunächst nur beschränkt deutliche Abbildung des Universums durch Selbsterkenntnis weiter aufzuhellen. Das Individuum hat demnach also die Möglichkeit, sich aus dem eigenen Inneren heraus zu vervollkommnen. Es braucht dazu nicht die Mitwirkung der anderen.

Der Soziologe NORBERT ELIAS hat zu Recht festgestellt, dassin den europäischen Gesellschaften seit der Renaissance die Idee des Menschen von seiner Vereinzelung, von der Abschließung des eigenen Inneren gegenüber allem, was draußen ist, bestimmt worden ist. In der philosophisch-soziologischen Tradition gibt es, wie ELIAS darlegt, kaum einen Denkansatz, bei dem man grundsätzlich von einer Vielzahl aufeinander angewiesener Menschen ausgeht. «Im Mittelpunkt des menschlichen Universums, so erschien es von nun an, steht jeder einzelne Mensch für sich als ein von allen anderen letzten Endes völlig unabhängiges Individuum.» Die Gesellschaft stellt sich von diesem Ausgangspunkt aus als ein Haufen total vereinzelter Menschen dar, «deren eigentliches Wesen in ihrem Inneren verschlossen ist und die daher allenfalls äußerlich und von der Oberfläche her miteinander kommunizieren». Daher komme der Begriff des Individuums, das außerhalb der Gesellschaft, und der Begriff der Gesellschaft, die außerhalb des Individuums existiere.

Das Bewusstsein der totalen Abkapselung des individuellen Ich im eigenen Inneren, verbunden mit der Idee, das Innere berge repräsentativ das gesamte All in sich, kann man letztlich eben nur durch den historischen Prozess der narzißtischen Identifizierung mit Gott verstehen. Aus der drohenden kompletten Hilflosigkeit und Verlorenheit hatte sich das Ich dadurch gerettet, daß es sich durch einen unbewußten Gleichsetzungsprozeß illusionär die göttliche Vollkommenheit und Allmacht selbst aneignete. So wurde jeder gewissermaßen sein eigener Gott. Die monotheistische Glaubenstradition setzte sich in der Selbstvergottung des einzelnen Ich fort. Es stand ja keine Göttergemeinschaft zur Verfügung, die sich in einem entsprechenden Konzept kollektiver Beziehungen hätte abspiegeln können. Die monotheistische Vorstellung ließ sich nur als individuelles Größen-Selbstbild übernehmen. Der einzelne wurde zur in sich abgeschlossenen Monade. Seine individuelle Identifizierung mit Gott machte ihn zu einem Ich, das allen anderen Menschen und Dingen ohne inneren Bezug gegenüberstand, nicht als Glied einer auf Kommunikation untereinander angewiesenen Gemeinschaft.

NORBERT ELIAS spricht hier von dem «homo clausus», von dem individuellen «Selbst im Gehäuse», als dem tragenden Konzept der seit der Renaissance entfalteten europäischen Denktradition. Und er verweist auf die Weiterwirkung dieser Grundvorstellung etwa in dem Begriff des Erkenntnissubjekts bei KANT, das nie ganz zu dem «Ding an sich» vorzudringen vermöge, und schließlich auch auf die individualistischen Züge der modernen Existenzphilosophie.

So gewagt es erscheint, Perspektiven der modernen psychoanalytischen Narzißmusforschung mit diesen geistesgeschichtlichen Prozessen in Verbindung zu bringen, so regen doch gewichtige Hinweise dazu an, auf die sozialpsychologischen Hintergründe derartige Interpretationskategorien anzuwenden. Auf jeden Fall erscheint es notwendig, die irrationalen emotionalen Komponenten besser zu verstehen, die zu dem starren Egozentrismus geführt haben, der fortan das Selbstverständnis der Europäer bestimmt und unaufhaltsam zur Entwicklung einer Rivalitätsgesellschaft führt, die für die Lösung der kollidierenden Interessenkonflikte nur offene oder strukturell verschleierte Gewalt übrigläßt. Die infantile Idealisierung des einen einzigen göttlichen Wesens erscheint als die begreifliche Wurzel der großartigen Überhöhung des individuellen Ich, die sich als eine Art von Besessenheit fixiert hat. In der mittelalterlichen Gemeinde war der einzelne doch nur Kind in einer Herde gewesen, primär ausgerichtet auf Gott als allmächtige Elterngestalt. Die Gemeinschaft miteinander war nicht zu einem eigentlich tragenden Konzept geworden. Auch die hierarchische Organisationsform der Kirche hatte letztlich zur Fixierung der Vereinzelung der Gemeindemitglieder beigetragen, wobei sich das Hierarchieprinzip ja durchgängig bis in die Familien hinein fortsetzte. Die Normierung des Unterordnungsverhältnisses der Frauen unter die Männer und der Kinder unter die Eltern hatte durch Tabuisierung jede Chance einer sich in Gruppen vollziehenden Emanzipierung unmöglich gemacht. Nicht die horizontale Eingliederung in eine Gruppe von Gleichgestellten, sondern allein die Einordnung in ein Unten-Oben-Verhältnis prägte das Selbstverständnis. Letztlich war jeder total ausgeliefert an das einzige mit Willensfreiheit ausgestattete Wesen, dessen Bereitschaft zur Gnade oder zur Bestrafung für die Erbsünde man nicht einmal vorhersehen, geschweige denn durch eigenes Tun beeinflussen konnte. Es entspricht den psychoanalytischen Regeln, daß die narzißtische Identifizierung genau das Entwicklungsniveau festhält, von dem sie ausgegangen ist. Das heißt: Je weiter im ursprünglichen Erleben des die Identifizierung vollziehenden Ich die eigene Kleinheit von der Größe des idealisierten Elternbildes entfernt war, um so größer muß sich nach Ablauf des Abwehrprozesses das Ich aufbauen. Denn es muss sich zwangsläufig zur Kopie der Autorität machen, in die es sich durch die Identifikation selbst verwandeln wollte. Es kann sich aus unbewußtem Zwang eben nur in der Dimension verwirklichen, die es zuvor im Blick von unten her wahrgenommen hatte. Das macht es plausibel, daß das Mittelalter nicht ein zu echtem Gemeinschaftssinn befähigtes Menschengeschlecht in die Zukunft ausschickte, sondern letztlich ein Gewimmel von insgeheim größenwahnsinnigen Egozentrikern, die in den folgenden Jahrhunderten darauf angewiesen waren, das zerstörerische Potential dieses Egozentrismus jeweils so zu kanalisieren bzw. notdürftig zu bändigen, dass wenigstens die totale kollektive Selbstzerstörung immer wieder aufgehalten wurde. Die zu diesem Zweck erfundenen und benutzten Konzepte sollen im weiteren näher betrachtet werden.

Obwohl die Flucht aus der hilflosen Ohnmacht in die großartige Allmacht ihrem Wesen nach einen radikalen Umschlag und nicht einen allmählichen Entwicklungsprozess bedeutet, haben sich die entsprechenden geistesgeschichtlichen Vorgänge doch nur schrittweise durchgesetzt. Der triumphierende Vorstoß des DESCARTES zur individuellen Selbstgewissheit als dem Maß aller Dinge zeichnete zwar den weiteren Weg vor, aber es dauerte noch lange, ehe dieser revolutionäre Schritt in der Breite nachvollzogen wurde. Und DESCARTES selbst wie seine philosophischen Nachfolger bemühten sich, wie schon angedeutet, eifrig darum, die gedanklich vollendete göttliche Selbsterhöhung des Individuums zu kaschieren. Obwohl der Gedanke, dass man sich vom individuellen Selbstbewusstsein aus hinreichend in der Welt orientieren und sichern könne, Gott eigentlich überflüssig machte, versicherte DESCARTES Gott immer wieder in beschwichtigender Weise, daß man ihn auf Schritt und Tritt brauche. Denn eigentlich sei es ja Gott — so suchte er diesen und die Kirche zu versöhnen —, der die Selbstgewissheit des Ich begründe. Auch alle übrigen Ideen, deren Evidenz derjenigen des Selbstbewusstseins entsprächen, seien natürlich dem Menschen durch Gott eingeboren. Schließlich nahm DESCARTES in seiner Theorie Gott sogar in Anspruch als Helfer für jeden Übergang zwischen materieller und ideeller Wirklichkeit beim Erkennen und Handeln. Wie sonst sollte es dem Menschen möglich sein, aus dem Geist in die raumzeitliche Dimension und umgekehrt zu gelangen? Auch für SPINOZA, der DESCARTES unmittelbar folgte, stand fest, daß sich in jeglicher echten Erkenntnis Gott selbst offenbare.

Die intellektuelle Verselbständigung des Individuums beginnt also mit einer Verleugnung eben dieser Verselbständigung. Zwar verweigert das Individuum künftig Gott die absolute und unkontrollierte Verfügungsgewalt. Man will alles selbst kontrollieren, was in der psychischen Innenwelt und in der materiellen Außenwelt abläuft. Und zweifellos ist dadurch der erste Schritt getan, diese Abläufe vom eigenen Ich her beherrschen zu wollen. Man will Gott gewissermaßen die Naturgesetze aus der Hand nehmen, die vorher dessen Alleinbesitz waren. Aber gleichzeitig suggeriert man sich, daß man sich überhaupt nicht aus der göttlichen Bevormundung entferne, sondern nur die Wahrheit Gottes zur vollen Entfaltung bringen wolle. Die mathematisch-naturwissenschaftliche Welterkenntnis, zu der man aufbrach, erfolge einzig in Liebe zu Gott, lehrte
SPINOZA. Und er pries sein geometrisch konstruiertes metaphysisches System als indirekte Abbildung der Wahrheit Gottes. Indem das individuelle Ich sich zur Eroberung der absoluten Souveränität auf machte, redete es sich noch ein, Gottes Willen mehr denn je gehorsam zu folgen.

Aber auf die Dauer zeigte sich die Schwierigkeit, durch den fortschreitenden narzißtischen Identifizierungsprozeß immer mehr göttliche Macht zu beanspruchen und sich zugleich einzubilden, von Gott gehalten zu werden. Erfindungen und Entdeckungen in vielen Bereichen kündeten von dem heftigen Begehren, von dem Planeten Besitz zu ergreifen. Rapide wuchs das Selbstgefühl durch die Kunde von immer neuen iiberseeischen Entdeckungen. Die Erfindungen des Kompasses, des Schießpulvers und der Buchdruckerkunst vermittelten ein völlig neues Bewusstsein von der Macht menschlicher Möglichkeiten. Das Fernrohr erschloss die Geheimnisse des Himmels. Die Erkenntnis der Welt sei nötig, so lehrte der britische Philosoph FRANCIS BACON, um den Menschen die Herrschaft über die Welt zu verschaffen. Wissen sei Macht, und es sei die einzige dauernde Macht. Die Natur müsse endlich dem menschlichen Geiste unterworfen werden. Ihren Gehorsam zu erzwingen, sei die Aufgabe der Wissenschaften. BACONS großes Werk «Erneuerung der Wissenschaften» trägt auch den Titel «De regno hominis», von der Herrschaft des Menschen. Allerdings pries auch BACON noch zugleich eifrig die Bedeutung der Religion. Aber was war das für eine Religion? Sie ließ dem egoistischen Nützlichkeitsdenken bereits weiten Spielraum. Gott wird zum Partner individuellen Erfolgs- und Glücksstrebens. Ein erhebliches Stück weit ging der gelernte Advokat BACON mit MACHIAVELLI einig in der betonten Zweckmäßigkeit eines begrenzt unmoralischen Handelns. Verschwunden ist hier bereits das Konzept der vollkommenen Welt. Die Welt ist ziemlich schlecht, und so kommt man nicht ohne krumme Wege aus, wenn man erfolgreich sein will. In seinem Essay «Über das Glück» formulierte BACON sein egoistisches Prinzip überaus deutlich. Glück sei häufig das Resultat der Torheit anderer oder sogar des Todes anderer. Dabei zitierte er das griechische Sprichwort: «Aus keiner Schlange kann ein Drache werden, die nicht andere Schlangen auffrißt.»

Auch in der praktischen Philosophie seines Landsmannes THOMAS HOBBES trat dieses neue durch Egoismus gekennzeichnete Menschenbild hervor. Der Naturzustand, so lehrte HOBBES, sei ein Kampf aller gegen alle. Diese These steckt in dem berühmten Satz im «Leviathan»: «Daraus ergibt sich klar, da
ss die Menschen während der Zeit, in der sie ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht leben, sich in einem Zustand befinden, der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gegen jeden. » Die vertragliche Gründung des Staates diene lediglich zum Ausgleich der egoistischen Interessen der einzelnen. Ein ursprüngliches Gemeinschaftsbedürfnis der Menschen existiere nicht. Dieses sei lediglich sekundärer Art, gewissermaßen ein taktisches Arrangement, um die miteinander konkurrierenden selbstsüchtigen Tendenzen der Individuen miteinander auszugleichen. Der Staat wurde bei HOBBES zu einer nützlichen Erfindung, um den Egoismus aller hinreichend zu befriedigen und zugleich zu disziplinieren. Der Staat sei von der Wissenschaft her ähnlich zu begründen wie die Konstruktion einer Maschine.

Entschieden trat HOBBES für individuelle Gedankenfreiheit in religiösen Fragen und gegen politische Machtansprüche der Kirchen ein. Zur Bändigung der Konkurrenz der individuellen Egoismen vertrat HOBBES ein Prinzip, das als sozialpsychologischer Hintergrund in allen autoritären wie totalitären Gesellschaftsformen wirksam werden konnte. In der absolutistischen Staatstheorie von HOBBES sollte die Staatsgewalt in einer Persönlichkeit und der Wille des Volkes in dem Einzelwillen des Herrschers vereinigt werden. Dies wurde zum theoretischen Fundament des monarchischen Absolutismus. Sozialpsychologisch geht es dabei darum, daß die Individuen einen Teil ihrer egoistischen Ambitionen an das absolutistische Oberhaupt abtreten, aber sich für diesen Verlust dadurch entschädigen, daß sie nach wie vor durch etwas, was die Psychoanalyse projektive Identifizierung nennt, mit dem Herrscher verbunden bleiben. Indem das Oberhaupt aber auch alle verbindlichen Normen setzt, übernimmt es für die Untertanen zugleich die Funktion eines veräußerlichten Über-Ichs. Alle werden jedenfalls für eine gewisse Beschränkung im Ausleben ihres Narzißmus dadurch belohnt, daß sie an der tatsächlich gottähnlichen Omnipotenz des absolutistischen Herrschers teilhaben. Aber diese Omnipotenz kann sich nur durch äußere Ausdehnung der Herrschaft manifestieren. Stets ist in diesem Modell die imperialistische Expansion vorprogrammiert. Die Schlange, die zum großen Drachen werden will, muss immer wieder neue Schlangen fressen. Die egoistische Omnipotenzbesessenheit als Triebkraft dieses Gesellschaftsmodells kann sich auf allen Stufen nur immer wieder selbst reproduzieren. So kann der Frieden innerhalb der HOBBESschen Staatskonstruktion immer nur ein begrenzter sein. Niemals können die narzißtischen Größenerwartungen der einzelnen allein innerhalb des Systems durch bloße Umverteilung zugunsten des Führers aufgefangen werden. Dieser muss nach außen auf unbeschränkte Machterweiterung hinstreben, um sein Gefolge zu beschwichtigen.

Die praktische Philosophie von
HOBBES, die sich ganz auf das Prinzip des Egoismus gründete, regte nicht nur seine Zeitgenossen auf, sondern erzielte noch bis weit in das 18. Jahrhundert hinein eine bedeutende Ausstrahlung. Die Aufsaugung der göttlichen Allmacht durch die egoistischen Größenideen des Individuums warf in der Tat immer größere Probleme für das soziale Zusammenleben auf. Wie war eine Verknüpfung des Ziels der allgemeinen Wohlfahrt mit dem neuen Selbstkonzept des individuellen Egoismus denkbar?

SHAFTESBURY
verwahrte sich gegen die pessimistische Ansicht von HOBBES, dass es von Natur aus nur ein Rivalisieren aller gegen alle geben müsse. Er stellte die These auf, es gebe keinen natürlichen Widerspruch zwischen Eigenwillen und Sittlichkeit. Unter Rückgriff auf antike Vorstellungen verteidigte er die These, daß der Mensch, wenn er seine natürliche Anlage voll entfalte, automatisch das Gemeinwohl fördere. Denn nur in den niederen sozialen Schichten, die noch in ihrer Entwicklung rückständig seien, gebe es einen echten Widerstreit zwischen selbstsüchtigen Wünschen und Altruismus. Auf einer höheren Stufe der menschlichen Entwicklung komme es zu einem Einklang egoistischer und altruistischer Strebungen. Denn auch der Altruismus gehöre zu den ursprünglichen Merkmalen des menschlichen Wesens. So sei der in seiner Natur voll entfaltete auch der sittliche Mensch schlechthin. Das Individuum werde nicht dadurch moralisch, daß es seine eigenen ursprünglichen Bedürfnisse irgendwelchen allgemeinen Normen anpasse oder gar opfere, sondern dadurch, daß es die in ihm schlummernden Tendenzen gänzlich auslebe. Man brauche also nur so zu sein, wie man eigentlich sein wolle, um zur höchsten sittlichen Vervollkommnung zu gelangen.

Aber nicht zufällig scheidet diese Philosophie höher und nieder entwickelte Menschen und lässt die virtuose Vereinigung individueller Wunschbefriedigung und sittlicher Vollkommenheit als Privileg einer exklusiven Gruppe erscheinen. Diese exklusive Gruppe wird durch den Typ des «Virtuoso» charakterisiert. Der «Virtuoso» erinnert an den uomo universale, den Universalmenschen der Renaissance. Es ist der umfassend gebildete, wissenschaftliche, politische, ästhetische Mensch von edelstem moralischem Charakter. Fiktiv formuliert SHAFTESBURY das Ziel, dass alle dazu gelangen könnten, ihre natürlich angelegten Möglichkeiten in dieser Weise auszuschöpfen. In Wirklichkeit verewigt er hiermit ein spaltendes Elite-Ideal. Es ist das Selbstverständnis des optimistischen Aristokraten, Spross einer führenden Familie des Landes, das diese Philosophie prägt. Der «Optimismus» von SHAFTESBURY beruht im Grunde auf der Verleugnung der Unerreichbarkeit dieses Grandiositäts-Ideals für den durchschnittlichen Menschen. Und es ist bezeichnend, dass er in seiner Staatsphilosophie letztlich dem Gemeinsinn der Masse der Bürger wenig traut. Er ist ein Gegner der Volkssouveränität, weil das Volk zu unberechenbar sei und seine Freiheit mißbrauchen würde. Es sei Sache der Staatsmänner, das Volk in vernünftiger Weise zu überreden. — Hier wird die Inkonsequenz der optimistischen Moralphilosophie sichtbar, die sittliche Vollkommenheit mit der Natürlichkeit gleichsetzt. Warum muss die Freiheit des Volkes derart eingeschränkt werden, wenn alle natürlicherweise von einem ursprünglichen Gemeinschaftssinn beseelt wären?

Immerhin war SHAFTESBURY einer der wenigen Denker jener Zeit, die überhaupt den Versuch machten, HOBBES darin zu widersprechen, dass die Gesellschaft aus Individualisten bestehe, die von Natur aus alle nur miteinander rivalisieren wollten. Aber SHAFTESBURY blieb ein Außenseiter mit seiner Feststellung, dass der Mensch natürlicherweise ein Gemeinschaftswesen sei und sich auf seine ihm eingeborenen Gemeinschaftsgefühle («social feeling», «common sense» also abweichend von der populären Bedeutung von «common sense» verlassen solle.

In der weiteren Geschichte der Moralphilosophie verschwand mehr und mehr der Glauben an solche natürlichen Gemeinschaftsgefühle. Es drang eindeutig die Auffassung durch, dass ein sittliches Handeln nicht, wie es SHAFTESBURY gemeint hatte, auf den natürlichen Eigenwillen der einzelnen, sondern nur auf dessen Unterordnung unter allgemeine Normen zu gründen sei. Auf die Wirksamkeit eines altruistischen Grundtriebes schien man sich doch nicht verlassen zu können. Plausibler wirkte die skeptische Anthropologie von HOBBES, die eine rein egoistische Triebanlage des Menschen unterstellte. So kam es immer wieder zur Formulierung der Frage: Wie ist es denkbar, dass die Individuen auf ein unbeschränktes Ausleben ihrer natürlichen egoistischen Wünsche verzichten, um das Wohl aller zu sichern? Anstelle eines taktischen Kompromisses, den HOBBES vertreten hatte, suchte man schließlich ein absolutes Prinzip als Richtschnur moralischen Verhaltens.

Das bekannteste Resultat dieser Suche ist das von KANT aufgestellte Sittengesetz, der kategorische Imperativ:

«Handle so, dass die Maxime Deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.»

Dieses Kernstück der KANTschen praktischen Philosophie gilt bekanntlich vielen immer noch als ein unantastbares Heiligtum, als unumstrittener Leitsatz moralischen Verhaltens schlechthin. Aber gerade deshalb erscheint es auch sinnvoll, es im Zusammenhang mit den anderen erwähnten Zeugnissen der Geistesgeschichte daraufhin anzuschauen, was in ihm für eine hintergründige Psychologie steckt.

In vielfältigen Wiederholungen verwahrt sich
KANT in der «Kritik der praktischen Vernunft» gegen jede Möglichkeit moralischen Verhaltens aus emotionalen Motiven. Es genüge nicht, daß eine aus Gefühlsgründen hervorgehende Haltung dem Moralprinzip entspreche. Denn nicht eine pflichtgemäße, sondern nur eine unmittelbar aus Pflicht geschehende, aus bloßer Achtung vor dem Sittengesetz vorgebrachte Aktion verdiene als moralisch anerkannt zu werden. Der Mensch habe sich ausschließlich auf seine praktische Vernunft, nicht auf irgendwelche sonstigen Antriebe zu verlassen.«Pflicht und Schuldigkeit sind die Benennungen, die wir allein unserem Verhältnisse zum moralischen Gesetze geben müssen.»

Immer wieder schlägt bei KANT ein abgrundtiefes Misstrauen gegen die natürlichen Gefühle und Strebungen durch. Die natürlichen Neigungen beruhten auf physischen Ursachen und müßten stets zum Konflikt mit der Pflicht führen. Die echte sittliche Gesinnung bedeute eine Befolgung des moralischen Gesetzes rein aus Pflicht, «nicht aus freiwilliger Zuneigung oder auch allenfalls unbefohlener, von selbst gern unternommener Bestrebung». Selbst Handlungen, die mit großer Aufopferung geschähen, dürften nur dann als edel und erhaben gepriesen werden, wenn sie aus reiner Achtung für die Pflicht vollbracht würden und nicht etwa aus irgendeiner «Herzensaufwallung». «Tugend, das ist moralische Gesinnung im Kampfe.» Zu jeglicher moralischen Gesinnung gehöre Selbstzwang, «das ist innere Nötigung zu dem, was man nicht ganz gern tut».

Nun fragt sich, woher denn überhaupt der Antrieb kommen soll, wenn Gefühle und Neigungen keine Rolle spielen dürfen? Wer bewegt das moralische Handeln, das sich ja angeblich polar von allen natürlichen Triebkräften absetzt? KANTS Antwort: Die echte Triebfeder der praktischen Vernunft «ist keine andere als das moralische Gesetz selbst . . .» Das abstrakte Prinzip als Triebfeder kann man sich indessen schwer vorstellen. Der scharfsichtige SCHOPENHAUER war es dann, der KANTS Argumentation misstraute, wonach das Sittengesetz sich gegen alle egoistischen Triebinteressen absetze. SCHOPENHAUER las genau das Gegenteil heraus. Man solle doch einmal, was das — Sittengesetz zu tun befehle, aus der Perspektive dessen betrachten, der dieses Tun empfange. Dann könne man sich doch nichts Besseres wünschen, als nur Menschen zu begegnen, die einem entsprechend dem kategorischen Imperativ wohltäten. SCHOPENHAUER zitiert, verkürzt, KANT aus dessen «Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre», Paragraph 30: «Denn jeder wünscht, dass ihm geholfen werde. Wenn er aber seine Maxime, anderen nicht helfen zu wollen, laut werden ließe, so würde jeder befugt sein, ihm Beistand zu versagen. Also widerstreitet die eigennützige Maxime sich selbst.» Der gleiche Gedanke kommt in dem Satz zum Vorschein:«Dass ich ein allgemeines Gesetz, zu lügen, nicht wollen könne, weil man mir dann nicht wieder glauben oder mich mit gleicher Münze bezahlen würde.» Das Argument: «Was du nicht willst, dass man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andren zu!» verweist in der Tat auf den Nutzen, den jeder insgeheim aus dem Sittengesetz ziehen kann. Man kann es also aus dem Hintergedanken heraus befolgen, dass man um des eigenen Egoismus willen anderen das vormacht, wie sie mit einem selbst umgehen sollen. Sarkastisch merkt SCHOPENHAUER an:
«Die in KANTS oberster Regel enthaltene Anweisung zur Auffindung des eigentlichen Moralprinzips beruht nämlich auf der stillschweigenden Voraussetzung, dass ich nur das wollen kann, wobei ich mich am besten stehe. Da ich nun bei der Feststellung einer allgemein zu befolgenden Maxime notwendig mich nicht bloß als den allemal aktiven, sondern auch als den eventualiter und zuzeiten passiven Teil betrachten muß, so entscheidet, von diesem Standpunkt aus, mein Egoismus sich für Gerechtigkeit und Menschenliebe.»

Unwiderleglich lässt sich die KANTsche Ethik also als ein Konzept im Dienste des individuellen Egoismus verstehen, wenn man sich den Profit vorstellt, den der einzelne als Adressat der Handlungen erntet, die alle anderen aus Achtung vor dem Gesetz an ihm vollbringen. Es wäre dann nur ein kompromisshaftes Opfer aus selbstsüchtigem Interesse, das Moralprinzip ebenfalls zu befolgen. Unter diesem Aspekt rückt die KANTsche Ethik, so sehr sie sich auch im Gegensatz zu der praktischen Philosophie von HOBBES versteht, eher in deren Nähe, nämlich wenn man sie als die Formulierung eines taktischen Kompromisses zur Koordinierung selbstsüchtiger Individualinteressen auffasst. Aber freilich ist dieser taktische Kalkül aus KANTS Formulierungen nirgends direkt herauszulesen. Im Gegenteil: Nichts liegt KANT ferner als die Idee irgendeiner Aussöhnung zwischen Neigung und Pflicht. Bewusst ist ihm zweifellos nur die Pflicht. Die Neigung ist total wegargumentiert. Sie soll keine Rolle spielen. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Die moralische Handlung ist bei KANT durchgängig charakterisiert durch Begriffe wie: Pflicht, Gehorsam, Opfer, Disziplin der Vernunft, Schuldigkeit, Selbstzwang, kategorischer Imperativ. Das sind die Kernbegriffe eines Grundtenors von zwanghaftem Asketismus. Es walten Strenge, Pedanterie und höchste Skrupulösität. So scheint es sich geradezu zu verbieten, irgendwelche emotionalen Bedürfnisse mit dem kategorischen Imperativ überhaupt in Verbindung zu bringen. Aber nach den psychoanalytischen Erkenntnissen über die Dynamik des Zwangs ist es gerade umgekehrt. Die Überbetonung von Zwang, Disziplin, Schuldigkeit, Gehorsam verweist auf einen erheblichen abgewehrten Triebdruck. Die aggressive Färbung der zahlreichen triebfeindlichen Äußerungen in der «Praktischen Vernunft» zeigt, psychoanalytisch formuliert, die Notwendigkeit einer Gegenbesetzung gegen das verdrängte Triebmoment. KANT zeichnet in seiner Ethik das Bild eines freudlosen Anankasmus [Zwangsvorstellung], wie er für eine zwangsneurotische Charakterstörung kennzeichnend ist. Die zwanghafte Übertreibung der Triebunterdrückung führt eben am Ende auch zu dem lebensfernen Formalismus des rein abstrakten Moralprinzips.

Wenn man KANTS Ethik als repräsentativ für die geistige Situation einer historischen Periode ansehen will, so könnte man aus ihr schließen, daß inzwischen eine anhaltende Expansion eines egozentrischen Lebensgefühls stattgefunden hat, dessen bedrohliches Anschwellen eben zu dem Versuch führen mußte, es durch eine komplette Verleugnung nach dem Muster einer zwangsneurotischen Reaktionsbildung in Schach zu halten. Das hieße, KANTS Thesen als die Abwehrform, als die Kehrseite des Durchbruchs zu jenem «Willen zur Macht» zu lesen, den schließlich NIETZSCHE rücksichtslos demaskierte.

Bei psychologischer Durchmusterung der Ethik KANTS stößt man indessen darauf, dass darin nicht nur egozentrische Nützlichkeitsaspekte von der Art versteckt sind, wie sie
SCHOPENHAUER auf gewiesen hat. Es finden sich auch direkte narzißtische Größenideen. Aber es ist nicht das Ich, das sich unmittelbar selbst vergöttert. Sondern es ist das Sittengesetz, das sich wie eine gottähnliche Person darstellt und in deutlich gefühlsbetonter Verklärung angehimmelt wird. Das gelegentlich als heilig bezeichnete Gesetz erscheint wie das abstrakte Surrogat einer großartigen, unfehlbaren Herrscherpersönlichkeit. Es heißt, dem Gesetz gebühre die höchste Würde. KANT spricht von seiner «feierlichen Majestät». Und indem er die psychische Beziehung des Individuums zu dem geheiligten Prinzip charakterisiert, benutzt er dafür Kategorien, wie sie zur Interpretation einer persönlichen Abhängigkeitsbeziehung üblich sind. So etwa, wenn er ausdrücklich die dem Gesetz gegenüber zu empfindende Achtung mit der Einstellung gegenüber einer «unnachahmlichen Person» vergleicht.

Die anbetende Verklärung macht das Sittengesetz zu einer Repräsentanz Gottes. Aber das Ich erhält neben allen erläuterten zwanghaften Verboten und Mahnungen auch seinerseits narzißtische Bestätigung. Schließlich entstehe der Zwang zur Befolgung des kategorischen Imperativs aus einer Gesetzgebung der eigenen Vernunft. So wird die praktische Vernunft zur Vermittlerin einer schmeichelnden Erhöhung des Ichs. Schließlich habe der Mensch die Freiheit, sich nach diesem Gesetz selbst zu bestimmen. In der Achtung vor dem Gesetz achte der Mensch sich selbst. Die Würde des Gesetzes zu respektieren heiße zugleich, die Würde des Menschen zu ehren, sich selbst zu ehren. Befolgung des höchsten moralischen Prinzips bedeutet also auch eine Erhebung, eine indirekte narzißtische Befriedigung hohen Grades. Der Glanz und die Herrlichkeit der abstrakten Obrigkeit des Moralprinzips strahlen auf denjenigen zurück, der diesem folgt.

Aber eigentlich bleibt der Widerspruch in KANTS Ethik ungelöst. Das rein formalistisch abstrakte Moralprinzip erscheint ungreifbar. Es thront hoch über den emotionalen Wünschen, zu denen es im Gegensatz steht. So bleibt das menschliche Innere in einem letztlich nicht zu bewältigenden Konflikt befangen. Das Individuum will in sich Winzigkeit und Grandiosität, Freiheit und Zwang, Macht und Ohnmacht vereinigen, aber kann es nicht. Die Spannung zwischen strengster Fesselung durch Pflicht und Schuldigkeit einerseits und der Idee größter Freiheit durch Autonomie andererseits kann nicht innerhalb ein und desselben Individuums als lösbar begriffen werden. So erscheint es nur konsequent, daß diese Gegensätzlichkeit in der Sozialstruktur fortlebt. Pflicht und Neigung, Autonomie und Zwang spalten sich in verschiedene Instanzen auf. Die autoritäre Ethik kann sich nur in einem autoritären Gesellschaftsbild fortsetzen:
«Der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter anderen seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat. Denn er mißbraucht gewiss seine Freiheit in Ansehung anderer seinesgleichen; und ob er gleich als vernünftiges Geschöpf ein Gesetz wünscht, welches der Freiheit aller Schranken setze, so verleitet ihn doch seine selbstsüchtige tierische Neigung, wo er darf, sich selbst auszunehmen. Er bedarf also einen Herrn, der ihm den eigenen Willen breche und ihn nötige, einem allgemein gültigen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen.»

So hatte es jedenfalls der preußische Obrigkeitsstaat nicht schwer, aus KANTS Moraltheorie ein Instrument zu autoritärer Machtausübung zu formen. Die staatliche Obrigkeit setzte sich an die Stelle des Moralprinzips und lehrte die Untertanen, KANTS Laudatio auf die Pflicht nachzubeten: «Pflicht! Du erhabener großer Name, der Du nichts Beliebtes, was Einschmeichlung bei sich führt, in Dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst . . . »

Es ist nicht zu verwundern, dass bis in die Gegenwart hinein KANT der Kronzeuge aller konservativen Fürsprecher des Law-and-Order-Staates geblieben ist, die stets im Blick von oben nach unten mehr Pflicht und Schuldigkeit, mehr Disziplin, Selbstbeherrschung und Autoritätsrespekt fordern.

Im Lichte der vorgetragenen sozialpsychologischen Erwägungen läßt sich KANTS Position, die sich in gewisser Hinsicht bei FICHTE und HEGEL fortsetzt, als ein neuer Schritt interpretieren, mit der Bewältigung des Ohnmacht-Allmacht-Komplexes voranzukommen. In KANT steckt die Bemühung, Gott im Ich nicht mehr primär als Inbegriff höchster Stärke und Macht aufzurichten, sondern als geistiges Prinzip. Gott wird zur Vernunft, zur Idee, welche die Natur hinter sich oder — genauer — unter sich zurücklässt. Und das Individuum nimmt an diesem Vergeistigungsprozess teil. Nicht in der Natur zu herrschen, sondern die Natur zu vergeistigen und sich durch einen eigenen Vergeistigungsprozess zu göttlicher Höhe aufzuschwingen, wird hierbei zur tragenden Phantasie. Eine neue Variante von grandiosem Selbstbewusstsein tritt hervor, wenn FICHTE davon spricht, dass das Ich sich selbst, zugleich aber auch das Nicht-Ich setze. Gemeint ist ein geistiges Ich. Es gibt gar keine vom Bewusstsein unabhängige Welt. FICHTE beseitigt den Begriff vom «Ding an sich», der KANT noch so viel Mühe bereitet hatte. Das Bewusstsein kann nur seine eigenen Inhalte fassen. Philosophie ist Selbsterkenntnis der Vernunft. Und das Leben wird aus den Bedingungen der Vernunft begriffen. Nach FICHTE gibt es eine stufenweise Erhebung des Bewusstseins. Auf der höchsten Stufe erfasst sich das Ich als die freie, nur durch sich selbst bestimmte Subjektivität, in welcher alle Gegebenheit in Tätigkeit aufgelöst ist. Denken und Sein werden eines. Und die intellektuelle Anschauung wird, wie es FICHTE ausdrücklich erklärt, gleichzeitig zu einem Handeln, zu einem Handeln auf uns selbst: Ich bin in dieser Handlung ebensowohl Subjekt wie Objekt; das Denkende und Gedachte sind hier nicht zweierlei, sondern vollkommen eins. Bei HEGEL werden die Begriffe des Geistes zu Kategorien der Wirklichkeit, zu den Gestalten des Weltlebens. Statt Geist sagt HEGEL auch immer wieder Idee oder Gott. —

Die Identifizierung mit Gott vollzieht sich auf dieser Linie also als eine Verschmelzung im Geist. Es ist eine Art von spiritualistischem narzißtischem Größenwahn. Es ist das Konzept der Allmacht der Gedanken. Aber FICHTE und HEGEL waren keineswegs autistische Sonderlinge. Insbesondere FICHTE drängte es danach, die Welt nach seinen Ideen praktisch umzuformen. Bei diesem Zusammenprall mit der konkreten sozialen Realität enthüllte sich jedoch noch sehr viel schärfer als bei KANT, daß die Auflösung profaner egozentrischer Macht- und Herrschaftsansprüche in dem durch und durch vergeistigten Weltbild nur eine scheinbare war. So propagierte FICHTE in seiner Staatsphilosophie ein ziemlich rigoroses Zwangssystem. Sein sogenannter sozialistischer Handelsstaat sollte Produktion und Handel ganz in eigene Hand nehmen und von oben herab dirigistisch die Pflichten der Bürger bestimmen und deren Erfüllung durchsetzen. Der einzelne sollte sein «eigenes persönliches Wohlsein» aus Vernunftgründen zurückstellen hinter das «Leben des Ganzen» und es diesem aufopfern.

FICHTE beließ es aber nicht bei der abstrakten Beschreibung einer optimalen Gesellschaftsordnung im Sinne eines weitgehend totalitären Obrigkeitsstaates. Er ging noch einen entscheidenden Schritt weiter und lieferte die philosophische Grundlage für eine neue und in den politischen Konsequenzen besonders verhängnisvolle Variante narzißtischen Größenwahns. Er lehrte seine Zeitgenossen, ihren individuellen Egoismus in Form eines nationalistischen Egoismus auszuleben. Den Deutschen redete er ein, sie sollten sich daran machen, die Herrschaft der Welt zu übernehmen. Freilich appellierte er dabei nicht ausdrücklich an die narzißtischen Größenwünsche seiner Mitbürger, sondern verklärte seine Forderung durch eine Argumentation, durch die sich jeglicher nationalistische Imperialismus zu legitimieren versucht. Das ist nämlich die Begründung, es sei so etwas wie eine höhere Bestimmung der Nation, die anderen durch Beherrschung zu einem großen, wertvollen Ziel zu führen. Bei FICHTE sah das konkret so aus, dass die Deutschen «das völkische Element zu den im Christentum gefundenen Prinzipien» seien. In den «Reden an die deutsche Nation» finden sich Formulierungen wie die folgenden: «Übernimmt nicht der Deutsche durch Wissenschaft die Regierung der Welt, so werden zum Beschlusse von allerhand Plackereien außereuropäische Nationen, die nordamerikanischen Stämme sie übernehmen und mit dem dermaligen Wesen ein Ende machen . . . », «Charakter haben und deutsch sein, ist ohne Zweifel gleichbedeutend.» «So muß hierbei zugleich erhellen, daß nur der Deutsche — der ursprüngliche und nicht in einer willkürlichen Satzung erstorbene Mensch — wahrhaft ein Volk hat und auf eines zu rechnen befugt ist und daß nur er der eigentlichen und vernunftgemäßen Liebe zu seiner Nation fähig ist.» Nur durch die Deutschen sei der wahre Staat des Christentums möglich, und diesen hervorzubringen, sei ihre Aufgabe in der Geschichte.

In diesem Konzept vom nationalistischen Imperialismus setzt sich die autoritäre Staatsphilosophie fort. Die identifikatorische Aneignung der göttlichen Potenz spiegelt sich also nunmehr außer im individualistischen Größenwahn auch in den Konzepten des expansionistischen Nationalismus wider. Auch der Rassismus ist bei
FICHTE schon angelegt und wird sich dann bei NIETZSCHE noch deutlicher artikulieren.

Jedenfalls gibt es hinter dem erhabenen Vernunftreich, das der deutsche Idealismus verehrt, die verdrängte Kehrseite einer latent gewalttätigen Welt, in der es um Herrschaft und Zwang geht. Diese Widersprüchlichkeit bleibt im Idealismus unbearbeitet, ja sie wird geradezu fixiert durch den systematischen Versuch, das Spannungsverhältnis logisch bzw. dialektisch wegzuargumentieren. Und der KANTsche Pflichtmoralismus, der heute noch weithin als höchster Ausdruck menschlichen Edelsinns gepriesen wird, nimmt sich unter psychoanalytischem Aspekt, wie gesagt, eher als eine theoretisch verklärte zwangsneurotische Reaktionsbildung aus, die über einen gänzlich unbewältigten archaischen Egoismus gebreitet ist.

Man kann es wohl als das Hauptverdienst NIETZSCHES ansehen, dass er eben diese Triebseite radikal entlarvt hat, über die der Idealismus letztlich vergeblich hinwegphilosophiert hatte. Die identifikatorische Gottesentmachtung wird nunmehr unverblümt eingestanden, ja gefeiert: Gott ist tot, es lebe der Übermensch! NIETZSCHES Übermensch kennt kein Wesen mehr über sich selbst, weder einen persönlichen Gott noch die heilige Majestät eines Sittengesetzes, noch eine metaphysische Vernunft, noch einen Weltgeist. Der Übermensch beansprucht grenzenlose Macht. Der Wille zur Macht sei der stärkste menschliche Instinkt, lehrt NIETZSCHE. Ihn gelte es uneingeschränkt zu bejahen. «Bist Du eine neue Kraft und ein neues Recht? Eine erste Bewegung? Ein aus sich rollendes Rad? Kannst Du auch Sterne zwingen, dass sie um Dich sich drehen?» Die bisherige Wertordnung von gut und böse sei erledigt. Gut sei, was die Macht stärke, schlecht, was sie schwäche. Nicht ob unsere Erkenntnisse wahr seien, sei wichtig, sondern ob sie unsere Macht erhöhen. «Der siegreiche Begriff <Kraft>, mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: Es muss ihm ein innerer Wille zugesprochen werden, welchen ich bezeichne als <Willen zur Macht>, das heißt ein unersättliches Verlangen nach Bezeugung der Macht oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw.»

Der Übermensch genießt seine schrankenlose Willkür. Seine Macht ist für ihn der absolute Wert. Weder logische noch ethische Gesetze oder Prinzipien schränken die Machtvollkommenheit ein. Wenn von Moral überhaupt die Rede sein kann, dann allenfalls von einer «Herrenmoral», vom Recht und der Pflicht des Starken, die Schwachen zu beherrschen und die «Sklavenmoral» abzuschaffen. «Herrenmoral» rührt aus einem «triumphierenden Ja-Sagen zu sich selbst».

Der Übermensch ist der «Sinn der Erde». Er ist der vollkommene Typ der Menschengattung. Das Herdenvieh der «viel zu vielen» ist lediglich dazu da, dass sich aus ihm der Übermensch erhebt als ein einzigartiger Glücksfall. Dem Übermenschen in «Also sprach Zarathustra» widerfährt nichts mehr, was er nicht will:
«Ich bin Zarathustra, der Gottlose; ich koche mir noch jeden Zufall in meinem Topfe. Und erst, wenn er da gargekocht ist, heiße ich ihn willkommen, als meine Speise. Und wahrlich, mancher Zufall kam herrisch zu mir; aber herrischer noch sprach zu ihm mein Wille, — da lag er schon bittend auf den Knien. » Dies ist der anschaulichste und prägnanteste Ausdruck für die Phantasie der absoluten Freiheit und Selbstbestimmung.

Entsprechend liebt der Übermensch sich selbst. Nächstenliebe ist für NIETZSCHE-Zarathustra im Grunde nur das Produkt versagender Selbst-Liebe: «Der eine geht zum Nächsten, weil er sich sucht, und der andere, weil er sich verlieren möchte. Eure schlechte Liebe zu Euch selbst macht Euch aus der Einsamkeit ein Gefängnis.» Der Übermensch braucht nicht den «Nächsten». Denn er ist so stark, dass er sich nirgends mehr anlehnen muss. Nur verächtliches Bedauern überkommt ihn, wenn er sieht, dass Menschen durch Verschwenden ihrer Fähigkeiten oder durch einen «Blödsinn von Zufälligkeit» hinter dem zurückbleiben, was aus ihnen hätte werden können. «Dies ist meine Art <Mitleid>», sagt NIETZSCHE spöttisch, «ob es schon keinen Leidenden gibt, mit dem ich da litte.»

Zur Erklärung der christlichen
«Sklavenmoral» hat NIETZSCHE die Theorie des Ressentiments entwickelt, die MAX SCHELER später weiter differenziert hat. Ausführlich in «Zur Genealogie der Moral» und in «Jenseits von Gut und Böse» erläutert, ist diese Theorie als Kurzformel in den nachgelassenen Schriften notiert: «Tendenz der Moralentwicklung: Jeder wünscht, dass keine andere Lehre und Schätzung der Dinge zur Geltung komme außer einer solchen, bei der er selbst gut wegkommt. Grundtendenz folglich der Schwachen und Mittelmäßigen aller Zeiten, die Stärkeren schwächer zu machen, herunterzuziehen: Hauptmittel das moralische Urteil. Das Verhalten des Stärkeren gegenüber dem Schwächeren wird gebrandmarkt; die höheren Zustände der Stärkeren bekommen schlechte Beinamen.»

In unzähligen Varianten, meistens mit ätzendem Spott, wiederholt
NIETZSCHE diese Interpretation. Etwa so: «Dass die Lämmer den großen Raubvögeln gram sind, das befremdet nicht. Nur liegt darin kein Grund, es den großen Raubvögeln zu verargen, daß sie sich kleine Lämmer holen. Und wenn die Lämmer unter sich sagen: <Diese Raubvögel sind böse, und wer so wenig als möglich ein Raubvogel ist, vielmehr deren Gegenstück, ein Lamm — sollte der nicht gut sein?> So ist an dieser Aufrichtung eines Ideals nichts auszusetzen, sei es auch, dass die Raubvögel dazu ein wenig spöttisch blicken werden und vielleicht sich sagen: <Wir sind ihnen gar nicht gram, diesen guten Lämmern, wir lieben sie sogar: Nichts ist schmackhafter als ein zartes Lamm.> Von der Stärke verlangen, daß sie sich nicht als Stärkere äußere, daß sie nicht ein Überwältigen-Wollen, ein Niederwerfen-Wollen, ein Herrwerden-Wollen, ein Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen sei, ist gerade so widersinnig als von der Schwäche verlangen, dass sie sich als Stärkere äußere.»

Eigentlich aber träumten die Schwachen von der Trunkenheit der süßen Rache, meint NIETZSCHE, aber weil sie sich diese aus Schwäche nicht leisten könnten, redeten sie sich und allen anderen ein, ihre Feinde zu lieben. Ekelhaft und unerträglich sei diese Verlogenheit, widerwärtig der Anblick der Mißratenen, der Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten und Kranken, die sich an die christliche «Sklavenmoral» klammerten.

Man kann wohl sagen,
dass NIETZSCHES Übermensch diejenige Vision darstellt, in der sich der nachmittelalterliche Traum des Ich, sich göttliche Omnipotenz anzueignen, am vollkommensten erfüllt hat. Kompromißlos, ohne Zwang und Schuldgefühl, erhebt sich der Supermensch und genießt nur noch narzißtisch die eigene unbegrenzte Stärke. Keine äußere Macht schränkt ihn ein. Er ist, wie es an einer Stelle heißt, ein «aus sich selbst rollendes Rad». Nichts geschieht ihm mehr. Was er ist, macht er aus sich selbst. So wird der Zufall zu einer Speise, die er sich selbst kocht, oder zu einem Sklaven, der bittend vor seinem Willen auf den Knien liegt.

Als Abkömmling der monotheistischen Religion, die der narzißtischen Größenphantasie als Vorbild gedient hat, ist der Übermensch eigentlich nur in der Einzahl denkbar. So heißt es auch, dass sich Übermenschen nur als seltene Glücksfälle ergäben, die von Jahrhundert zu Jahrhundert sich zuwinkten. Wenn es also schon mehrere gibt, dann trennen sie Jahrhunderte. Keiner beeinträchtigt die Omnipotenz des anderen.

NIETZSCHE
bemüht sich mannigfach darum, den Übermenschen in einer Art von romantischer Genialität erstrahlen zu lassen. Da zeichnet er ihn poetisch als eine voll entfaltete Individualität, als erlösenden Glücksfall, als den Menschen, der den Menschen rechtfertigt. Er beschreibt seine Vollkommenheit, Schönheit und Vornehmheit. Aber diese Perspektive kann NIETZSCHE nicht durchhalten. Immer wieder bricht aus ihm der Zynismus durch. Man spürt geradezu seine Angst, seine Idealgestalt könnte irgendwo der Schwäche, der Rücksichtnahme. der Weichheit verdächtigt werden. Das führt zu dem Zwang, in stereotyper Wiederholung das Gegenteil zu übertreiben. So tritt die göttliche Vornehmheit hinter der Fratze terroristischer Bestialität zurück. Mit aller Krampfhaftigkeit verteidigt NIETZSCHE eine antisoziale Gegenmoral und verrät dabei auf Schritt und Tritt, daß er — nur mit umgekehrten Vorzeichen — genau dem Ressentiment verfallen ist, das er den christlichen «Sklavenmenschen» vorwirft. Auch er ist keineswegs eins mit der von ihm so laut proklamierten Wertordnung. Er klammert sich an das Konzept gewalttätiger Supermännlichkeit, offensichtlich in einer tiefen Angst vor dem Gegenteil, vor kläglicher Ohnmacht und Verlorenheit.

Wenn er das «frohlockende Ungeheuer preist», das in der «Unschuld des Raubtier-Gewissens» morde, niederbrenne, schände, foltere — und dann «mit Übermut und seelischem Gleichgewicht» davongehe, so verrät die rasende Verherrlichung der nackten Barbarei die untergründige Furcht dessen, der in sich radikal ausrotten möchte, was ihn übermächtigen könnte. Es ist die alte Angst vor absoluter Abhängigkeit, die narzißtisch überkompensiert werden soll. Zartheit, Mitgefühl, Passivität müssen ein für allemal ausgetilgt werden. Nur in der Extremform kann der expansionistische Egoismus vor einem Rückfall in Sanftheit und Schwäche schützen. Man wäre Gott wieder in mittelalterlicher Kleinheit ausgeliefert, wenn man in sich nicht alle Gefühle abtöten würde, die die Anfälligkeit für diesen Zustand wiederherstellen könnten. Nur das extreme Kontrastideal terroristischer Barbarei kann, so scheint es, vor der totalen Kapitulation schützen. Man muß sich in die rücksichtslose aggressive Expansion flüchten. Einzig durch die kompromisslose Pervertierung in das Gegenteil eines mörderischen Terrorismus kann sich die untergründige Sensibilität und Verletzlichkeit vor dem Durchbruch bewahren.

An der Psychologie
NIETZSCHES zeigt sich repräsentativ, wie uralte komplexhaft verleugnete Ohnmachts- und Abhängigkeitsgefühle, die nie verarbeitet, geschweige denn überwunden worden sind, in eine vollendete identifikatorische Anmaßung göttlicher Omnipotenz einmünden, deren Brüchigkeit und Künstlichkeit indessen unverkennbar ist. Eine in Verzweiflung erlebte Abhängigkeit, die sich zu der Phantasie des drohenden Kaputtgemacht- und Vergewaltigtwerdens angestaut hat, ist verdrängt und schlägt aus der Passivität in die Aktivität um. Sie bewirkt, dass man zur Bestie werden muss. Allein als rasendes Raubtier kann man sich schließlich frei von allem Zwang und allen Bedrohungen wähnen. Daher kommt am Ende gerade nicht das Abbild des gefürchteten und beneideten Gottes heraus, sondern das wilde, hassende, mordende Tier.

Wenn NIETZSCHE den christlichen «Sklavenmenschen» vorwirft, daß sie ihre Schwäche aus Neid schönfärbend verklärten, dann trifft für ihn zu, dass er seine Schwäche, die er ebensowenig verträgt, überkompensierend verleugnet. Er verhöhnt diejenigen, die ihre Kleinheit akzeptieren, wenn auch mit dem tröstenden Selbstbetrug nach dem Muster der vermeintlich sauren, zu hoch hängenden Trauben. Er geht über diese Selbsttäuschung weit hinaus, indem er sich seine Kleinheit narzißtisch wegillusioniert. Er redet sich ein, so zu sein, wie er sein möchte. Er verwechselt sich in einer regelrechten narzißtischen Wahnbildung mit dem grandiosen Gegenbild dessen, was er insgeheim zu sein fürchtet und eigentlich auch ist. Die mit Hilfe von Überkompensation verdrängte Kehrseite enthüllt sich etwa in den letzten Strophen des melancholischen Gedichtes «Vereinsamt»:

«Nun stehst Du bleich,
zur Winter-Wanderschaft verflucht,
dem Rauche gleich,
der stets nach kältern Himmeln sucht.

Flieg, Vogel, schnarr
Dein Lied im Wüstenvogel-Ton!
—Versteck, Du Narr,
Dein blutend Herz in Eis und Hohn!

Die Krähen schrei‘n
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
bald wird es schnei‘n,
—weh dem, der keine Heimat hat!»

Es ist dies der Klageschrei des trostlos vereinsamten Narzißten, dessen «blutend Herz» sich zutiefst nach Heimat, nach Geborgenheit sehnt. Aber er glaubt nicht mehr daran, daß für ihn noch eine Heimat da ist, daß sein Hilfeschrei noch gehört wird. Weil er an seiner Sehnsucht zu verbluten fürchtet, flüchtet er sich in die narzißtische Panzerung. Durch Eis, Hohn und Ekel muß er sich fortan gegen die Gefühle schützen, an denen er kaputtgehen zu müssen glaubt. Deshalb — infolge dieser unbewußten überkompensatorischen Reaktionsbildung — treibt es ihn, in tausendfachen Varianten das armselige Herdenvieh, die Kleinen, Schwachen, Kranken zynisch zu verhöhnen. Ihm bleibt nur die «Winter-Wanderschaft», der Flug in immer kältere Himmel. Dieses Bild stellt genau die Eskalation dar, die sich aus der Flucht in die narzißtische Größen- und Allmachtsillusion zwangsläufig ergibt:
Um sich gegen die verdrängten passiven Wünsche und Gefühle zu wehren, bleibt nur der rastlose Drang nach vorn übrig und eine fortwährende Erhöhung der Mauer des Widerwillens gegen das Verdrängte — und letztlich tödliche, eisige, wüstenhafte Einsamkeit:

«Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt!
Stein knirscht an Stein, die Wüste schlingt und würgt.
Der ungeheure Tod blickt glühend braun
und kaut—, sein Leben ist sein Kaun ,»

NIETZSCHES monumentales Übermenschen-Porträt fällt in die Zeit der sich entwickelnden industriellen Massengesellschaft. Im Bürgertum ahnt man die schwindenden Chancen für die Realisierung eines großartigen Individualitätsideals unter dem Druck der neuen Produktionsverhältnisse. Aber gerade das drohende Versinken in dem von NIETZSCHE porträtierten Herdenmenschentum machte NIETZSCHES «Zarathustra» zu einer Bestseller-Droge. Unzählige klammerten sich an den «Übermenschen», um in ihm das Ideal festzuhalten, während dessen Realisierungschancen unwiderruflich zu schwinden drohten. Der außergewöhnliche und kontinuierlich anhaltende Publikumserfolg des Zarathustra und der NIETZSCHEschen Werke überhaupt belegt, dass sich ganze Generationen des Bürgertums nicht nur in den Gedanken des Philosophen wiedergefunden haben und noch wiederfinden, sondern zweifellos auch in der dahintersteckenden Überkompensations-Dynamik. An NIETZSCHES Übermenschenvision teilzuhaben, bot wenigstens eine gewisse phantasierte Entschädigung für den Bedeutungsschwund des Individuums im heraufdämmernden Zeitalter der Vermassung, der Bürokratisierung, der Verwertung des Menschen als Ware. Aber der Philosoph half nicht nur dem einzelnen Tagträumer, das Gespenst des Herdenvieh-Status und der wachsenden Impotenz durch eine Kontrastillusion zu verscheuchen, er wurde — wie unbeabsichtigt auch immer — zum Wegbereiter einer der schlimmsten politischen Bewegungen der Zukunft.

Nicht erst der romantisch verworrene und verschwommene Nazi-Philosoph ROSENBERG, sondern bereits NIETZSCHE entwarf das Grundkonzept für den faschistischen Rassismus. Aus seinen narzißtischen Größenideen ging nicht nur die Gestalt des omnipotenten Individuums, des Übermenschen hervor, sondern auch die Vision einer Herrscherrasse, deren Bestimmung es sein sollte, die Menschheit vor Verderbnis und Dekadenz unter dem Einfluss von Sklavenrassen zu schützen. «Auf dem Grunde aller vornehmen Rassen» erhebt sich die «blonde Bestie», die sich seit der Antike «alles europäischen und nicht-europäischen Sklaventums, aller vorarischen Bevölkerung in Sonderheit» zu erwehren hat. Geradezu berauscht preist NIETZSCHE «die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie». Entzückt ist er von den sonst als barbarisch verschrieenen «vornehmen» Rassenmerkmalen, von der «Gleichgültigkeit und Verachtung gegen Sicherheit, Leib, Leben, Behagen», von der «entsetzlichen Heiterkeit und Tiefe der Lust in allem Zerstören, in allen Wollüsten des Siegs und der Grausamkeit». — Die blonden, langschädeligen Arier seien die eigentliche Eroberer- und Herrenrasse. Dagegen gewinne zur Zeit offenbar die unterworfene vorarische Rasse der Kurzschädeligen und Dunkelhaarigen die Oberhand. Und diese Vorarier seien vermutlich verantwortlich für die Neigung zur modernen Demokratie und für den «<Hang zur commune>, zur primitivsten Gesellschafts-Form, der allen Sozialisten Europas jetzt gemeinsam ist. » Aber «alles, was auf Erden gegen <die Vornehmen>, <die Gewaltigem, <die Herren>, <die Machthaber> getan worden ist, ist nicht der Rede wert im Vergleich mit dem, was die Juden gegen die aristokratische Wertgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflößenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses der Ohmnacht) festgehalten haben »

«Das tiefe, eisige Mi
sstrauen, das der Deutsche erregt, sobald er zur Macht kommt, auch jetzt wieder — ist immer noch ein Nachschlag jenes unauslöschlichen Entsetzens, mit dem jahrhundertelang Europa dem Wüten der blonden germanischen Bestie zugesehen hat (obwohl zwischen alten Germanen und uns Deutschen kaum eine Begriffs-, geschweige eine Blutsverwandtschaft besteht)». Man solle sich ruhig vor der blonden Bestie fürchten, «aber wer möchte nicht hundertmal lieber sich fürchten, wenn er zugleich bewundern darf, als sich nicht fürchten, aber dabei den ekelhaften Anblick des Missratenen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten nicht mehr loswerden können?»

Sicher hat NIETZSCHE nicht daran gedacht, dass sich dereinst eine Kleinbürgerclique, um einen Dunkelhaarigen geschart, zur Befolgung des Appells berufen fühlen würde, der sich mit einiger Mühe aus diesen Zitaten in «Zur Genealogie der Moral» herauslesen ließ. Des Appells nämlich, dass die Nachfahren der « blonden germanischen Bestie » unerschrocken ihre Raubtier-Vornehmheit dadurch beweisen sollten, dass sie die angeblich minderwertigen Völker, die Vorarier und die Nichtarier, niederwerfen würden, um endlich wieder ein höheres Menschentum, ein Herrenmenschentum heranzüchten zu können. Es mutet gespenstisch an, dass das wahnhafte Moment in NIETZSCHES Übermenschen-Philosophie nicht anders erwiesen werden konnte als durch den groß angelegten Versuch des Faschismus, das Konzept praktisch auszuprobieren. [...]

Die Widerlegung
NIETZSCHES kann nur vollziehen, wer sich nicht mehr insgeheim von der hilflosen infantilen Dürftigkeit betroffen fühlt, gegen welche die narzißtischen Größenillusionen eine — obzwar fragwürdige — Abschirmung bieten. Solidarische Sympathie kann sich hingegen leisten, wer sich als vollständigen Menschen in einer Welt begreifen kann, in der er mit anderen gleichrangigen Menschen zusammen lebt. Eine solche Selbst-Achtung tilgt die Angst, durch engagiertes Mitfühlen das Gleichgewicht zu verlieren und in einen elenden, minderwertigen Status hinabgezogen zu werden. Die mitfühlende Gleichsetzung mit den anderen enthält für den, der sein Selbstverständnis auf mittlerer Höhe zwischen kläglicher Insuffizienz und überkompensatorischer narzifitischer Großartigkeit stabilisiert hat, nichts Bedrohliches mehr. Er kann sich offen dem Bedürfnis nach sympathisierender Verbundenheit überlassen und erfährt auf diese Weise innere Bereicherung durch die anderen, die in gleicher Weise an ihm Anteil nehmen. So fördert das Sympathieprinzip die Chancen einer gemeinsamen Emanzipation. Fortsetzung

Aus: Horst-Eberhard Richter, Der Gotteskomplex . Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen. Rowohlt Verlag GmbH (S.21-60, 248, 249)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Autors: Herrn Horst-Eberhard Richter