Rainer (eigtl. René) Maria Rilke (1875-1926)

In Prag geborener deutscher Dichter, der traumatische Erfahrungen in der Militär-Unterrealschule in St. Pölten (1886—90) machte und Sprachprobleme durch seine Prager Herkunft hatte. Rilkes anfängliche geistige und künstlerische Isolation waren wohl die Ursache für seine außergewöhnliche künstlerische Anstrengungen und sein unstetes Wanderleben durch ganz Europa (oft als Gast von Adelshäusern). Von der sprachlich unausgereiften Stimmungslyrik der Frühzeit hat sich Rilke später distanziert. Seine Entwicklung erfolgte auf Grund wirksamer Begegnungen mit Lou Andreas-Salomé, mit der er 1899 und 1900 Russland (Begegnung mit Leo Tolstoj) bereiste, mit dem Künstlerkreis in Worpswede, wo er 1901 die Bildhauerin Clara Westhoff heiratete, und mit Auguste Rodin, dessen Privatsekretär er 1905/06 wurde. Die Erfahrung der Großstadt Paris verursachte in »Das Stunden-Buch« einen Bruch und eine Umkehr von dem Umkreisen Gottes zur Realität hin. Unter dem Einfluss Baudelaires, Cézannes und Rodins entstand eine bereits in der Monographie »Worpswede« vorbereitete Theorie des Anschauens und der Sachlichkeit, aus der die »Neuen Gedichte« (1907f.) als Ding-Gedichte hervorgingen. Gleichzeitig erzielte er mit den »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« (1910) einen Durchbruch des modernen deutschen Romans auf europäischem Niveau (Verarbeitung der Großstadterfahrung jenseits konventioneller Anschauungen). Die Auseinandersetzung mit sozialen Realität, die in frühen Erzählungen angebahnt und im Malte-Roman zu einem Höhepunkt geführt wurde, trat im Spätwerk in den Hintergrund zugunsten einer ästhetischen und ontologischen Daseinsbejahung. Nach Schaffenskrise und Reisen (1911 nach Ägypten) entstanden 1912 in Duino die ersten Elegien. Der Schock des 1. Weltkriegs lähmte seine Energie, führte zur Bekanntschaft mit Walter Rathenau und Kurt Eisner und zur Bejahung der Revolution, zugleich aber dazu, dass er Deutschland verließ, um in der Schweiz (in Muzot bei Siders) die Elegien abzuschließen. Die »Duineser Elegien« (1923) und die »Sonette an Orpheus« (1923) versuchen trotz der Katastrophe des Weltkriegs die innere Einheit aufrechtzuerhalten und die Bejahung der Wirklichkeit zu verkünden. Indem Rilke sein künstlerisches Weltbild vollendete und das Äußere und Innere gemäß seiner Idee des »Weltinnenraums« verband, erweiterte er die Möglichkeiten sprachlichen Nuancierung und chiffrenhafter Verdichtung zu lyrischen Summen bis an die Grenzen des Sagbaren. Schwere Krankheit (Leukämie) verhinderte die Entfaltung einer neuen Schaffensperiode, wie sie sich in Zyklen in französischer Sprache ankündigte. Die Auseinandersetzung mit der Krankheit in Gedichten wie »Idol« und »Gong« (1925) stellte eine Bewährungsprobe der verkündeten Daseinsbejahung dar und führte zu einer neuen harten Sprachform.

Siehe auch Wikipedia , Projekt Gutenberg und Kirchenlexikon


Inhaltsverzeichnis

Gebet
Über Gott
Das Märchen von den ungehorsamen Händen Gottes
Modernes Suchen
 

Das Stundenbuch
1. Buch: Vom mönchischen Leben (1899)
2 . Buch: Das Buch von der Pilgerschaft (1901)
3. Buch: Das Buch von der Armut und vom Tode (1903)

  Über Christus

Aus dem Worpsweder Tagebuch: 4. Oktober 1900
Gebet
Ich sprach von Dir als von dem sehr Verwandten,
zu dem mein Leben hundert Wege weiß,
ich nannte Dich: den alle Kinder kannten,
den alle Saiten überspannten,
für den ich dunkel bin und leis.

Ich nannte Dich den Nächsten meiner Nächte
und meiner Abende Verschwiegenheit, —
und Du bist der, den keiner sich erdächte,
wärst Du nicht ausgedacht seit Ewigkeit.
Und Du bist der, in dem ich nicht geirrt,
den ich betrat wie ein gewohntes Haus.
Jetzt geht Dein Wachsen über mich hinaus:
Du bist der Werdendste, der wird.

» Ich habe mich anfangs so oft gewundert, daß Sie den Namen Gott gebrauchen (auch Dr. Hauptmann nannte ihn oft) und daß Sie ihn so schön gebrauchen können. Mir war dieses Wort so sehr genommen. Freilich, ich habe seiner auch nie heftig bedurft. Manchmal, früher, glaubte ich: im Wind ist er, aber meistens empfand ich ihn nicht als einheitliche Persönlichkeit. Ich kannte nur Stücke von Gott. Und manch einer seiner Teile war schrecklich. Denn auch der Tod war nur seines Wesens ein Teil. Und er erschien mir sehr ungerecht. Er duldete Unsägliches, ließ Grausamkeit und Gram zu und war gleichgültig groß. Und daß es viele Wunder gibt und daß viele, gute und mächtige, an mir geschahen, änderte nichts daran. Auch fehlte mir die intellektuelle Fähigkeit, alle Wunder, die so verschieden im Wirken und weit voneinander entfernt sich vollzogen, zusammenzufassen in einem Willenspunkt, und ich hätte auch keinen Namen für diese Einheit gewußt, da >Gott< mir nichts bedeutete. Gleichwohl würde ich gern an eine Persönlichkeit glauben, um die alle Kreise sich ründen, einen Berg von Macht, vor dem alle Menschen und alle Länder aller Menschen offen liegen. . . « Und später: »Nein, mir ist dieses alles doch fremd, mir ist Gott überhaupt >sie<, die Natur. Die Bringende, die das Leben hat und schenkt. . . «

Ich aber sprach leise von ihm. Daß seine Mängel, seine Ungerechtigkeit und alles Unzulängliche seiner Macht in seiner Entwicklung läge. Daß er nicht vollendet sei. » Wann sollte er auch geworden sein? Der Mensch bedurfte seiner so dringend, daß er ihn gleich von Anfang als Seienden empfand und sah. Fertig brauchte ihn der Mensch, und er sagte: Gott ist. Jetzt muß er sein Werden nachholen. Und wir sind, die ihm dazu helfen. Mit uns wird er, mit unseren Freuden wächst er, und unsere Traurigkeiten begründen die Schatten in seinem Angesicht. Wir können nichts tun, was wir nicht an ihm tun, wenn wir uns erst gefunden haben. Und Sie dürfen ihn nicht über der Menge denken. Er hat nicht die Menge gemeint, er wollte von vielen Einzelnen getragen sein. In der Menge ist jeder so klein, daß er nicht Hand anlegen kann an den Bau Gottes. Der Einzelne aber, der ihm gegenübertritt, schaut in sein Angesicht und ragt sicher bis zu seiner Schulter auf. Und ist mächtig an ihm. Und ist wichtig für Gott. Und dieses ist mein bester Lebensmut: daß ich groß sein muß, um seiner Größe wohlzutun, daß ich einfach sein muß, um ihn nicht zu verwirren, und daß mein Ernst irgendwo zu seinem Ernstsein stößt ... Aber wie ich das alles ausspreche, fühle ich, dass ich nicht einfach auf ihn zulebe, eben weil ich von ihm rede. Die zu ihm beten, reden nicht von ihm. Vielleicht bin ich mehr als nur Beter. Vielleicht ist eine Art Priestertum mir aufgetragen, vielleicht ist es mir bestimmt, manchmal, den anderen entfremdet, auf einen Menschen zuzutreten, feierlich, wie aus goldenen Türen. Doch dann werden mich immer nur solche sehen, die bei goldenen Türen wohnen.«

»Für junge Menschen (sagte ich in anderem Zusammenhange) ist Christus eine große Gefahr, der Allzunahe, der Verdecker Gottes. Sie gewöhnen sich daran, mit den Maßen des Menschlichen Göttliches zu suchen. Sie verwöhnen sich am Menschlichen und erfrieren später in der herben Hochluft der Ewigkeit. Sie irren zwischen Christus, den Marien und den Heiligen umher: sie verlieren sich unter Gestalten und Stimmen. Sie enttäuschen sich an dem Halbverwandten, das sie nicht erstaunt, nicht erschreckt, nicht aus dem Alltag reißt. Sie bescheiden sich und müßten unbescheiden sein, um Gott zu haben.«

Einmal, unten an einem südlichen Meer, kam ein junger Philosoph zu mir, dessen auf sehr sicheren Wegen erreichbarer Gott inmitten stiller, spielender Systeme saß, und sprach mir von diesem erkannten Gotte mit vollem jungem Empfinden. Und fragte, da er wenig von anderen Dingen wußte: » Wie ist es in der modernen Kunst, glaubt die an Gott?« Ich erschrak. Wie sollte ich antworten? In großer Verwirrung blickte ich hinaus auf das schwere, dunkle Meer. Und fühlte sein Größe. Und empfand die große Schönheit meiner Florentiner Tage und alles Gütigsein der Landschaft, in welcher ich lebte. Und war umgeben von Güte. Und sagte tief ergriffen: Ja, man weiß, keiner kann etwas machen ohne ihn. Das sagte ich, — ehe ich ihn gefunden hatte: meine Stimme trug, seltsam festlich, dieses fremde Bekenntnis, das ich noch nicht begriff. Viel später erst wußte ich, daß jene Stunde am abendlichen Meer schon alles umfaßte, was ich seither lebe und mit jedem Tage besser zu leben verstehe. Wie eine ferne, vielleicht schon verstorbene Mutter meines Gefühls ist diese Stunde, von der ich genau weiß, wie sie aussah, daß sie schön war.

Aus: Rainer Maria Rilke, Tagebücher der Frühzeit, (S.294 – 297)
Herausgegeben von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber im Insel Verlag (1942
)

Über Gott
Wie ist es möglich zu leben, wenn doch die Elemente dieses Lebens uns völlig unfaßlich sind? Wenn wir immerfort im Lieben unzulänglich, im Entschließen unsicher und dem Tode gegenüber unfähig sind, wie ist es möglich, da zu sein? Ich bin nicht durchgekommen, in diesem unter der tiefsten inneren Verpflichtung geleisteten Buch, mein ganzes Staunen auszuschreiben, darüber, daß die Menschen seit Jahrtausenden mit Leben und Tod umgehen (von Gott gar nicht zu reden) und dabei diesen ersten unmittelbarsten, ja genau genommen, einzigen Aufgaben: (denn was haben wir anderes zu tun) noch heute (und wie lange noch?) so neulinghaft ratlos, so zwischen Schrecken und Ausrede, so armselig gegenüberstehen. Ist das nicht unbegreiflich? Meine Verwunderung über diese Tatsache drängt mich, sooft ich mich ihr überlasse, zunächst in die größte Bestürzung hinein und weiter in eine Art Grauen; aber auch hinter dem Grauen ist etwas Nächstes und Übernächstes, etwas so Intensives, daß ich mit dem Gefühl nicht zu entscheiden vermöchte, ob es glühend oder eisig sei. Ich habe schon einmal, vor Jahren über den Malte jemandem, den dieses Buch erschreckt hatte, zu schreiben versucht, daß ich es selbst manchmal wie eine hohle Form, wie ein Negativ empfände, dessen alle Mulden und Vertiefungen Schmerz sind, Trostlosigkeit und weheste Einsicht; der Ausguß davon aber, wenn es möglich wäre, einen herzustellen (wie bei einer Bronze die positive Figur, die man daraus gewönne), wäre vielleicht Glück, Zustimmung; — genaueste und sicherste Seligkeit. Wer weiß, ich frage mich, ob wir nicht immer sozusagen an der Rückseite der Götter heraustreten, von ihrem erhaben strahlenden Gesicht durch nichts als durch sie selber getrennt, dem Ausdruck, den wir ersehnen, ganz nah, nur eben hinter ihm stehen; aber was will das anders bedeuten, als daß unser Antlitz und das göttliche Gesicht in dieselbe Richtung hinausschauen, einig sind; und wie sollen wir demnach aus dem Raume, den der Gott vor sich hat, auf ihn zutreten?

Verwirrt es Sie, daß ich Gott sage und Götter und mit diesen Satzungen (genau wie mit dem Gespenst) um der Vollzähligkeit willen umgehe, meinend, es müsse sich dabei auch für Sie gleich etwas denken lassen? Aber nehmen Sie Übersinnliches an. Verständigen wir uns darüber, daß der Mensch, seit seinen frühesten Anfängen, Götter gebildet hat, in denen da und dort nur das Tote und Drohende und Vernichtende und Schreckliche, die Gewalt, der Zorn, die überpersönliche Benommenheit, enthalten waren, verknotet gleichsam zu einem dichten bösartigen Zusammengezogensein: das Fremde, wenn Sie wollen, aber in diesem Fremden schon gewissermaßen zugegeben, daß man es gewahrte, ertrug, ja anerkannte um einer gewissen, geheimnisvollen Verwandtschaft und Einbeziehung willen: man war auch dies, nur, daß man vor der Hand mit dieser Seite des eigenen Erlebens nichts anzufangen wußte; sie waren zu groß, zu gefährlich, zu vielseitig, sie wuchsen über einen hinaus zu einem Übermaß von Bedeutung an; es war unmöglich, neben den vielen Zumutungen des auf Gebrauch und Leistung eingerichteten Daseins, diese unhandlichen und unfaßlichen Umstände immer mitzunehmen, und so kam man überein, sie ab und zu hinauszustellen. — Da sie aber Überfluß waren, das Stärkste, ja eben zu Starke, das Gewaltige, ja Gewaltsame, das Unbegreifliche, oft Ungeheure —: wie sollen, sollten sie nicht, an einer Stelle zusammengetragen, Einfluß, Wirkung, Macht, Überlegenheit ausüben? Und zwar nun von außen. Könnte man die Geschichte Gottes nicht behandeln als einen gleichsam nie angetretenen Teil des menschlichen Gemütes, einen immer aufgehobenen, aufgesparten, schließlich versäumten, für den eine Zeit, Entschluß und Fassung da war und der dort, wohin man ihn verdrängt hatte, nach und nach zu einer Spannung anwuchs, gegen die der Antrieb des einzelnen, immer wieder zerstreuten und kleinlich verwendeten Herzens kaum noch in Frage kommt?

Sehen Sie, und so ging es nicht anders mit dem Tod. Erlebt und doch in seiner Wirklichkeit uns nicht erlebbar, uns immerfort überwachsend und doch von uns nicht recht zugegeben, den Sinn des Lebens kränkend und überholend von Anfang an, wurde auch er, damit er uns im Finden dieses Sinnes nicht beständig unterbräche, ausgewiesen, hinaus verdrängt, er, der uns wahrscheinlich so nahe ist, daß wir die Entfernung von ihm und der inneren Lebensmitte in uns gar nicht feststellen können, er wurde ein Äußeres, täglich fern Gehalteneres, das irgendwo im Leeren lauerte, um in bösartiger Auswahl den und jenen anzufallen —; mehr und mehr stand der Verdacht wider ihn, daß er der Widerspruch der Widersacher sei, der unsichtbare Gegensatz in der Luft, der, an dem unsere Freuden eingehen, das gefährliche Glas unseres Glücks, aus dem wir jeden Augenblick können vergossen werden.

Gott und Tod waren nun draußen, waren das Andere, und das Eine war unser Leben, das nun um den Preis dieser Ausscheidung menschlich zu werden schien, vertraulich, möglich, leistbar, in einem geschlossenen Sinn das unsrige. Da aber in diesem gewissermaßen für Anfänger eingerichteten Lebenskurs, in dieser Lebensvorklasse, der zu ordnenden und begreifenden Dinge immer noch unzählige waren und zwischen gelösten Aufgaben und nur eben vorläufig übersprungenen nie ganz strenge Unterschiede gemacht werden konnten, so ergab sich, selbst in dieser eingeschränkten Fassung kein gerader und zuverlässiger Fortgang, sondern man lebte, wie es kam, von wirklichen Erträgen und Fehler-Summen, und aus allem Ergebnis mußte endlich wiederum als Grundfehler eben diejenige Bedingung hervortreten, auf deren Voraussetzung dieser ganze Daseinsversuch aufgerichtet war; indem nämlich aus jeder in Gebrauch genommenen Bedeutung Gott und Tod abgezogen schienen (als ein nicht Hiesiges, sondern Späteres, Anderwärtiges und Anderes), beschleunigte sich der kleinere Kreislauf des nur Hiesigen immer mehr; der sogenannte Fortschritt wurde zum Ereignis einer in sich befangenen Welt, die vergaß, daß sie, wie sie sich auch anstellte, durch den Tod und durch Gott von vornherein übertroffen war. Nun hätte das noch eine Art Besinnung ergeben, wäre man imstande gewesen, Gott und Tod als bloße Ideen sich im Geistigen fernzuhalten —: aber die Natur wußte nichts von dieser uns irgendwie gelungenen Verdrängung - blüht ein Baum, so blüht so gut der Tod in ihm wie das Leben, und der Acker ist voller Tod, der aus seinem liegenden Gesicht einen reichen Ausdruck des Lebens treibt, und die Tiere gehen geduldig von einem ins andere - und überall um uns ist der Tod noch zu Haus, und aus den Ritzen der Dinge sieht er uns zu, und ein rostiger Nagel, der irgendwo aus einer Planke steht, tut Tag und Nacht nichts als sich freuen über ihn.
Und auch die Liebe, die zwischen den Menschen die Zahlen verwirrt, um ein Spiel von Nähen und Fernen einzuführen, in dem wir immer uns so weit erweisen, als wäre das Weltall voll und nirgends Raum als in uns; — — auch die Liebe nimmt nicht Rücksicht auf unsere Einteilungen, sondern reißt uns, zitternd wie wir sind, in ein endloses Bewußtsein des Ganzen hinein, — die Liebenden leben nicht aus dem abgetrennt Hiesigen; als ob nie eine Teilung vorgenommen worden wäre, greifen sie den ungeheueren Besitzstand ihrer Herzen an; von ihnen kann man sagen, daß ihnen Gott nahrhaft wird und daß der Tod ihnen nicht schadet: denn sie sind voller Tod, indem sie voller Leben sind.
Aber vom Erleben haben wir hier nicht zu reden, es ist ein Geheimnis, kein sich verschließendes, keines, das den Anspruch macht, versteckt zu werden, es ist das seiner selbst sichere Geheimnis, das wie ein Tempel offen steht, dessen Eingänge sich rühmen, Eingang zu sein, zwischen überlebensgroßen Säulen singend, daß sie die Pforte sind.

Aus: Rainer Maria Rilke, Über Gott . Zwei Briefe . Im Insel Verlag zu Leipzig
I Brief an L. H. vom 8. November 1915 (S. 13-21)


Das Märchen von den ungehorsamen Händen Gottes
. . . solange nur die Dinge gemacht waren, hatte der liebe Gott nicht notwendig, beständig auf die Erde herunterzuschauen. Es konnte sich ja nichts dort begeben. Der Wind ging allerdings schon über die Berge, welche den Wolken, die er schon seit lange kannte, so ähnlich waren, aber den Wipfeln der Bäume wich er noch mit einem gewissen Mißtrauen aus. Und das war dem lieben Gott sehr recht. Die Dinge hat er sozusagen im Schlafe gemacht; allein schon bei den Tieren fing die Arbeit an, ihm interessant zu werden; er neigte sich darüber und zog nur selten die breiten Brauen hoch, um einen Blick auf die Erde zu werfen. Er vergaß sie vollends, als er den Menschen formte. Ich weiß nicht, bei welchem komplizierten Teil des Körpers er gerade angelangt war, als es um ihn rauschte von Flügeln. Ein Engel eilte vorüber und sang: ,Der du alles siehst . . .’

Der liebe Gott erschrak. Er hatte den Engel in Sünde gebracht, denn eben hatte dieser eine Lüge gesungen. Rasch schaute Gottvater hinunter. Und freilich, da hatte sich schon irgend etwas ereignet, was kaum gutzumachen war. Ein kleiner Vogel irrte, als ob er Angst hätte, über die Erde hin und her, und der liebe Gott war nicht imstande, ihm heimzuhelfen, denn er hatte nicht gesehen, aus welchem Walde das arme Tier gekommen war. Er wurde ganz ärgerlich und sagte: ,Die Vögel haben sitzenzubleiben, wo ich sie hingesetzt habe.‘ Aber er erinnerte sich, daß er ihnen auf Fürbitte der Engel Flügel verliehen hatte, damit es auch auf Erden so etwas wie Engel gäbe, und dieser Umstand machte ihn nur noch verdrießlicher. Nun ist gegen solche Zustände des Gemütes nichts so heilsam wie Arbeit. Und mit dem Bau des Menschen beschäftigt, wurde Gott auch rasch wieder froh. Er hatte die Augen der Engel wie Spiegel vor sich, maß darin seine eigenen Züge und bildete langsam und vorsichtig an einer Kugel auf seinem Schoße das erste Gesicht. Die Stirne war ihm gelungen. Viel schwerer wurde es ihm, die beiden Nasenlöcher symmetrisch zu machen. Er bückte sich immer mehr darüber, bis es wieder wehte über ihm; er schaute auf. Derselbe Engel umkreiste ihn; man hörte diesmal keine Hymne, denn in seiner Lüge war dem Knaben die Stimme erloschen, aber an seinem Mund erkannte Gott, daß er immer noch sang: ,Der du alles siehst.‘ Zugleich trat der heilige Nikolaus, der bei Gott in besonderer Achtung steht, an ihn heran und sagte durch seinen großen Bart hindurch: ,Deine Löwen sitzen ruhig, sie sind recht hoehmütige Geschöpfe, das muß ich sagen! Aber ein kleiner Hund läuft ganz am Rande der Erde herum, ein Terrier, siehst du, er wird gleich hinunterfallen.‘ Und wirklich merkte der liebe Gott etwas Heiteres, Weißes, wie ein kleines Licht hin und her tanzen in der Gegend von Skandinavien, wo es schon so furchtbar rund ist. Und er wurde recht bös und warf dem heiligen Nikolaus vor, wenn ihm seine Löwen nicht recht seien, so solle er versuchen, auch welche zu machen. Worauf der heilige Nikolaus aus dem Himmel ging und die Türe zuschlug, daß ein Stern herunterfiel, gerade dem Terrier auf den Kopf. Jetzt war das Unglück vollständig, und der liebe Gott mußte sich eingestehen, daß er ganz allein an allem schuld sei, und beschloß, nicht mehr den Blick von der Erde zu rühren. Und so geschah‘s. Er überließ seinen Händen, welche ja auch weise sind, die Arbeit, und obwohl er recht neugierig war, zu erfahren, wie der Mensch wohl aussehen mochte, starrte er unablässig auf die Erde hinab, auf welcher sich jetzt, wie zum Trotz, nicht ein Blättchen regen wollte. Um doch wenigstens eine kleine Freude zu haben nach aller Plage, hatte er seinen Händen befohlen, ihm den Menschen erst zu zeigen, ehe sie ihn dem Leben ausliefern würden. Wiederholt fragte er, wie Kinder, wenn sie Verstecken spielen: ,Schon?‘ Aber er hörte als Antwort das Kneten seiner Hände und wartete. Es erschien ihm sehr lange. Da auf einmal sah er etwas durch den Raum fallen, dunkel und in der Richtung, als ob es aus seiner Nähe käme. Von einer bösen Ahnung erfüllt, rief er seine Hände. Sie erschienen ganz von Lehm befleckt, heiß und zitternd. ,Wo ist der Mensch?‘ schrie er sie an. Da fuhr die Rechte auf die Linke los: ,Du hast ihn losgelassen!‘ ,Bitte,‘ sagte die Linke gereizt, ,du wolltest ja alles allein machen, mich ließest du ja überhaupt gar nicht mitreden.‘ ,Du hättest ihn eben halten müssen!‘ Und die Rechte holte aus. Dann aber besann sie sich, und beide Hände sagten einander überholend: ,Er war so ungeduldig, der Mensch. Er wollte immer schon leben, Wir können beide nichts dafür, gewiß, wir sind beide unschuldig.

Der liebe Gott aber war ernstlich böse. Er drängte beide Hände fort; denn sie verstellten die Aussicht über die Erde: ,Ich kenne euch nicht mehr, macht, was ihr wollt.‘ Das versuchten die Hände auch seither, aber sie können nur beginnen, was sie auch tun. Ohne Gott gibt es keine Vollendung. Und da sind sie es endlich müde geworden. Jetzt knien sie den ganzen Tag und tun Buße, so erzählt man wenigstens. Uns aber erscheint es, als ob Gott ruhte, weil er auf seine Hände böse ist. Es ist immer noch siebenter Tag.“ [...]

Ich stellte mein Teeglas nieder, freute mich daran, wie goldig der Tee glänzte, vergaß diese Freude langsam wieder und fragte plötzlich: ,,Erinnern Sie sich noch an den lieben Gott?“ Der Fremde dachte nach. Seine Augen vertieften sich ins Dunkel, und mit den kleinen Lichtpunkten in den Pupillen glichen sie zwei langen Laubengängen in einem Parke, über welchem leuchtend und breit Sommer und Sonne liegt. Auch diese beginnen so, mit runder Dämmerung, dehnen sich in immer engerer Finsternis bis zu einem fernen, schimmernden Punkt: dem jenseitigen Ausgang in einen vielleicht noch viel helleren Tag. Während ich das erkannte, sagte er zögernd und als ob er sich nur ungern seiner Stimme bediente: ,,Ja, ich erinnere mich noch an Gott.“ ,,Gut,“ dankte ich ihm, ,,denn gerade von ihm handelt meine Geschichte. Doch zuerst sagen Sie mir noch: Sprechen Sie bisweilen mit Kindern?“ ,,Es kommt wohl vor, so im Vorübergehen, wenigstens —,,Vielleicht ist es Ihnen bekannt, daß Gott infolge eines häßlichen Ungehorsams seiner Hände nicht weiß, wie der fertige Mensch eigentlich aussieht?“ ,,Das habe ich einmal irgendwo gehört, ich weiß indessen nicht von wem“ — entgegnete mein Gast, und ich sah unbestimmte Erinnerungen über seine Stirn jagen.,, Gleichviel,“ störte ich ihn, ,,hören Sie weiter. Lange Zeit ertrug Gott diese Ungewißheit. Denn seine Geduld ist wie seine Stärke groß. Einmal aber, als dichte Wolken zwischen ihm und der Erde standen viele Tage lang, so daß er kaum mehr wußte, ob er alles: Welt und Menschen und Zeit nicht nur geträumt hatte, rief er seine rechte Hand, die so lange von seinem Angesicht verbannt und verborgen gewesen war in kleinen unwichtigen Werken. Sie eilte bereitwillig herbei; denn sie glaubte, Gott wolle ihr endlich verzeihen. Als Gott sie so vor sich sah in ihrer Schönheit, Jugend und Kraft, war er schon geneigt, ihr zu vergeben. Aber rechtzeitig besann er sich und gebot, ohne hinzusehen: ,Du gehst hinunter auf die Erde. Du nimmst die Gestalt an, die du bei den Menschen siehst, und stellst dich, nackt, auf einen Berg, so daß ich dich genau betrachten kann. Sobald du unten ankommst, geh zu einer jungen Frau und sag ihr, aber ganz leise: Ich möchte leben. Es wird zuerst ein kleines Dunkel um dich sein und dann ein großes Dunkel, welches Kindheit heißt, und dann wirst du ein Mann sein und auf den Berg steigen, wie ich es dir befohlen habe. Das alles dauert ja nur einen Augenblick. Leb wohl.‘

Die Rechte nahm von der Linken Abschied, gab ihr viele freundliche Namen, ja es wurde sogar behauptet, sie habe sich plötzlich vor ihr verneigt und gesagt: ,Du, heiliger Geist.‘ Aber schon trat der heilige Paulus herzu, hieb dem eben Gott die rechte Hand ab, und ein Erzengel fing sie auf und trug sie unter seinem weiten Gewand davon. Gott aber hielt sich mit der Linken die Wunde zu, damit sein Blut nicht über die Sterne ströme und von da in traurigen Tropfen herunterfiele auf die Erde. Eine kurze Zeit später bemerkte Gott, der aufmerksam alle Vorgänge unten betrachtete, daß die Menschen in den eisernen Kleidern sich um einen Berg mehr zu schaffen machten als um alle anderen Berge. Und er erwartete, dort seine Hand hinaufsteigen zu sehen. Aber es kam nur ein Mensch in einem, wie es schien, roten Mantel, welcher etwas schwarzes Schwankendes aufwärts schleppte. In demselben Augenblicke begann Gottes linke Hand, die vor seinem offenen Blute lag, unruhig zu werden, und mit einem Mal verließ sie, ehe Gott es verhindern konnte, ihren Platz und irrte wie wahnsinnig zwischen den Sternen umher und schrie: ’O, die arme rechte Hand, und ich kann ihr nicht helfen.‘ Dabei zerrte sie an Gottes linkem Arm, an dessen äußerstem Ende sie hing, und bemühte sich loszukommen. Die ganze Erde aber war rot vom Blute Gottes, und man konnte nicht erkennen, was darunter geschah. Damals wäre Gott fast gestorben. Mit letzter Anstrengung rief er seine Rechte zurück; sie kam blaß und bebend und legte sich an ihren Platz, wie ein krankes Tier. Aber auch die Linke, die doch schon manches wußte, da sie die rechte Hand Gottes damals unten auf der Erde erkannt hatte, als diese in einem roten Mantel den Berg erstieg, konnte von ihr nicht erfahren, was sich weiter auf diesem Berge begeben hat. Es muß etwas sehr Schreckliches gewesen sein. Denn Gottes Rechte hat sich noch nicht davon erholt, und sie leidet unter ihrer Erinnerung nicht weniger als unter dem alten Zorne Gottes, der ja seinen Händen immer noch nicht verziehen hat.“ Meine Stimme ruhte ein wenig aus. Der Fremde hatte sein Gesicht mit den Händen verhüllt. Lange blieb alles so. Dann sagte der fremde Mann mit einer Stimme, die ich längst kannte: ,,Und warum haben Sie mir diese Geschichte erzählt?“

,,Wer hätte mich sonst verstanden? Sie kommen zu mir ohne Rang, ohne Amt, ohne irgendeine zeitliche Würde, fast ohne Namen. Es war dunkel, als Sie eintraten, allein ich bemerkte in Ihren Zügen eine Ähnlichkeit —,,. Der fremde Mann blickte fragend auf. ,,Ja,“ erwiderte ich seinem stillen Blick, ,,ich denke oft, vielleicht ist Gottes Hand wieder unterwegs".

Insel, Rilke: Geschichten vom lieben Gott, S.13-17, 27-31

Modernes Suchen
I
ch
fing mit den Dingen an, die die eigentlichen Vertrauten meiner einsamen Kindheit gewesen sind, und es war schon viel, dass ich es, ohne fremde Hilfe, bis zu den Tieren gebracht habe. Dann aber tat sich mir Russland auf und schenkte mir die Brüderlichkeit und das Dunkel Gottes, in dem allein Gemeinschaft ist. So nannte ich ihn damals auch, den über mich hereingebrochenen Gott und lebte lange im Vorraum seines Namens auf den Knien... Jetzt würdest Du mich ihn kaum je nennen hören, es ist eine unbeschreibliche Diskretion zwischen uns, und wo einmal Nähe war und Durchdringung, da spannen sich neue Fernen, so wie im Atom, das die neue Wissenschaft auch als ein Weltall im Kleinen begreift. Das Fassliche entgeht, verwandelt sich, statt des Besitzes erlernt man den Bezug, und es entsteht eine Namenlosigkeit, die wieder bei Gott beginnen muss, um vollkommen und ohne Ausrede zu sein.

Das Gefühlserlebnis tritt zurück hinter einer unendlichen Lust zu allem Fühlbaren… die Eigenschaften werden Gott, dem nicht mehr Sagbaren, abgenommen, fallen zurück an die Schöpfung, an Liebe und Tod . . .: es ist vielleicht immer wieder nur das, was schon an gewissen Stellen im »Stundenbuch« sich vollzog, dieser Aufstieg Gottes aus dem atmenden Herzen, davon sich der Himmel bedeckt; und sein Niederfall als Regen. Aber jedes Bekenntnis dazu wäre schon zu viel. Mehr und mehr kommt das christliche Erlebnis außer Betracht; der uralte Gott überwiegt es unendlich. Die Anschauung, sündig zu sein und des Loskaufs zu bedürfen als Voraussetzung zu Gott, widersteht immer mehr einem Herzen, das die Erde begriffen hat.

Nicht die Sündhaftigkeit und der Irrtum im Irdischen, im Gegenteil, seine reine Natur wird zum wesentlichen Bewusstsein, die Sünde ist gewiss der wunderbarste Umweg zu Gott — aber warum sollten die auf Wanderschaft gehen, die ihn nie verlassen haben? Die starke innerlich bebende Brücke des Mittlers hat nur Sinn, wo der Abgrund zugegeben wird zwischen Gott und uns — aber eben dieser Abgrund ist voll vom Dunkel Gottes, und wo ihn einer erfährt, so steige er hinab und heule drin (das ist nötiger, als ihn überschreiten). Erst zu dem, dem auch der Abgrund ein Wohnort war, kehren die vorausgeschickten Himmel um, und alles tief und innig Hiesige, das die Kirche ans Jenseits veruntreut hat, kommt zurück; alle Engel entschließen sich, lobsingend zur Erde. S. 68f.
Aus: Jakob Studer, Für alle Tage, Ein christliches Lesebuch, Fretz & Wasmuth Verlag AG. Zürich

Das Stundenbuch (Auswahl)
1. Buch: Vom mönchischen Leben (1899)

  Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen
Ich habe viele Brüder in Sutanen
Du, Nachbar Gott

Ich glaube an Alles noch nie Gesagte
Ich bin auf der Welt zu allein
Daraus, daß Einer dich einmal gewollt hat
Was irren meine Hände

Ich bin, du Ängstlicher
Sieh, Gott, es kommt ein Neuer
Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz
Werkleute sind wir
Du bist so groß
So viele Engel suchen dich im Lichte
Das waren Tage Michelangelo's
Der Ast vom Baume Gottes
Mit einem Ast, der jenem niemals glich

Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?

Du bist der raunende Verrußte,
Gott, wie begreif ich deine Stunde
Alle, die ihre Hände regen
Der Name ist uns wie ein Licht
Dein allererstes Wort war: Licht:
Du kommst und gehst.
Du bist der Tiefste
Ich komme aus meinen Schwingen heim
Und Gott befiehlt mir, daß ich schriebe
Es tauchten tausend Theologen
Gott spricht zu jedem, eh er ihn macht
Du Williger, und deine Gnade kam
 

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang. S.11

Ich habe viele Brüder in Sutanen
im Süden, wo in Klöstern Lorbeer steht.
Ich weiß, wie menschlich sie Madonnen planen,
und träume oft von jungen Tizianen,
durch die der Gott in Gluten geht.

Doch wie ich mich auch in mich selber neige:
Mein Gott ist dunkel und wie ein Gewebe
von hundert Wurzeln, welche schweigsam trinken.
Nur, daß ich mich aus seiner Wärme hebe,
mehr weiß ich nicht, weil alle meine Zweige
tief unten ruhn und nur im Winde winken. S.11f.

Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manchesmal
in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, —
so ists, weil ich dich selten atmen höre
und weiß: Du bist allein im Saal.
Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da,
um deinem Tasten einen Trank zu reichen:
Ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen.
Ich bin ganz nah.

Nur eine schmale Wand ist zwischen uns,
durch Zufall; denn es könnte sein:
ein Rufen deines oder meines Munds —
und sie bricht ein
ganz ohne Lärm und Laut.

Aus deinen Bildern ist sie aufgebaut.

Und deine Bilder stehn vor dir wie Namen.
Und wenn einmal das Licht in mir entbrennt,
mit welchem meine Tiefe dich erkennt,
vergeudet sichs als Glanz auf ihren Rahmen.

Und meine Sinne, welche schnell erlahmen,
sind ohne Heimat und von dir getrennt. S.13

Ich glaube an Alles noch nie Gesagte.
Ich will meine frömmsten Gefühle befrein.
Was noch keiner zu wollen wagte,
wird mir einmal unwillkürlich sein.

Ist das vermessen, mein Gott, vergib.
Aber ich will dir damit nur sagen:
Meine beste Kraft soll sein wie ein Trieb,
so ohne Zürnen und ohne Zagen;
so haben dich ja die Kinder lieb.

Mit diesem Hinfluten, mit diesem Münden
in breiten Armen ins offene Meer,
mit dieser wachsenden Wiederkehr
will ich dich bekennen, will ich dich verkünden
wie keiner vorher.

Und ist das Hoffahrt, so laß mich hoffährtig sein
für mein Gebet,
so ernst und allein
vor deiner wolkigen Stirne steht. S.16f.

Ich bin auf der Welt zu allein und doch nicht allein genug,
um jede Stunde zu weihn.
Ich bin auf der Welt zu gering und doch nicht klein genug,
um vor dir zu sein wie ein Ding,
dunkel und klug.
Ich will meinen Willen und will meinen Willen begleiten
die Wege zur Tat;
und will in stillen, irgendwie zögernden Zeiten,
wenn etwas naht, unter den Wissenden sein
oder allein.

Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt,
und will niemals blind sein oder zu alt
um dein schweres schwankendes Bild zu halten.
Ich will mich entfalten.
Nirgends will ich gebogen bleiben,
denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin.
Und ich will meinen Sinn
wahr vor dir. Ich will mich beschreiben
wie ein Bild das ich sah,
lange und nah,
wie ein Wort, das ich begriff,
wie meinen täglichen Krug,
wie meiner Mutter Gesicht,
wie ein Schiff,
das mich trug
durch den tödlichen Sturm. S.17f.

Daraus, daß Einer dich einmal gewollt hat,
weiß ich, daß wir dich wollen dürfen.
Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen:
wenn ein Gebirge Gold hat
und keiner mehr es ergraben mag,
trägt es einmal der Fluß zutag,
der in die Stille der Steine greift,
der vollen.

Auch wenn wir nicht wollen:
Gott reift. S.19

Was irren meine Hände in den Pinseln?
Wenn ich dich male, Gott, du merkst es kaum.

Ich fühle dich. An meiner Sinne Saum
beginnst du zögernd, wie mit vielen Inseln,
und deinen Augen, welche niemals blinseln,
bin ich der Raum.

Du bist nichtmehr inmitten deines Glanzes,
wo alle Liniemi des Engeltanzes
die Fernen dir verbrauchen wie Musik, —
du wohnst in deinem allerletzten Haus.
Dein ganzer Himmel horcht in mich hinaus,
weil ich mich sinnend dir verschwieg. S.20

Ich bin, du Ängstlicher. Hörst du mich nicht
mit allen meinen Sinnen an dir branden?
Meine Gefühle, welche Flügel fanden,
umkreisen weiß dein Angesicht.
Siehst du nicht meine Seele, wie sie dicht
vor dir in einem Kleid aus Stille steht?
Reift nicht mein mailiches Gebet
an deinem Blicke wie an einem Baum?

Wenn du der Träumer bist, bin ich dein Traum.
Doch wenn du wachen willst, bin ich dein Wille
und werde mächtig aller Herrlichkeit
und ründe mich wie eine Sternenstille
über der wunderlichen Stadt der Zeit. S.20f.

Sieh, Gott, es kommt ein Neuer an dir bauen,
der gestern noch ein Knabe war; von Frauen
sind seine Hände noch zusammgefügt
zu einem Falten, welches halb schon lügt.
Denn seine Rechte will schon von der Linken,
um sich zu wehren oder um zu winken
und um am Arm allein zu sein.

Noch gestern war die Stirne wie ein Stein
im Bach, geründet von den Tagen,
die nichts bedeuten als ein Wellenschlagen
und nichts verlangen, als ein Bild zu tragen
von Himmeln, die der Zufall drüber hängt;
heut drängt
auf ihr sich eine Weltgeschichte
vor einem unerbittlichen Gerichte,
und sie versinkt in seinem Urteilsspruch.

Raum wird auf einem neuen Angesichte.
Es war kein Licht vor diesem Lichte,
und, wie noch nie, beginnt dein Buch. S.23f.

Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz,
an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen;
du großes Heimweh, das wir nicht bezwangen,
du Wald, aus dein wir nie hinausgegangen,
du Lied, das wir mit jedem Schweigen sangen,
du dunkles Netz,
darin sich flüchtend die Gefühle fangen.

Du hast dich so unendlich groß begonnen
an jenem Tage, da du uns begannst, —
und wir sind so gereift in deinen Sonnen,
so breit geworden und so tief gepflanzt,
daß du in Menschen, Engeln und Madonnen
dich ruhend jetzt vollenden kannst.

Laß deine Hand am Hang der Himmel ruhn
und dulde stumm, was wir dir dunkel tun. S.23f.

Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister,
und bauen dich, du hohes Mittelschiff.
Und manchmal kommt ein ernster Hergereister,
geht wie ein Glanz durch unsre hundert Geister
und zeigt uns zitternd einen neuen Griff.

Wir steigen in die wiegenden Gerüste,
in unsern Händen hängt der Hammer schwer,
bis eine Stunde uns die Stirnen küßte,
die strahlend und als ob sie Alles wüßte
von dir kommt, wie der Wind vom Meer.

Dann ist ein Hallen von dem vielen Hämmern
und durch die Berge geht es Stoß um Stoß.
Erst wenn es dunkelt lassen wir dich los:
Und deine kommenden Konturen dämmern.

Gott, du bist groß. S.24f.

Du bist so groß, daß ich schon nicht mehr bin,
wenn ich mich nur in deine Nähe stelle.
Du bist so dunkel; meine kleine Helle
an deinem Saum hat keinen Sinn.
Dein Wille geht wie eine Welle
und jeder Tag ertrinkt darin.

Nur meine Sehnsucht ragt dir bis ans Kinn
und steht vor dir wie aller Engel größter:
ein fremder, bleicher und noch unerlöster,
und hält dir seine Flügel hin.


Er will nicht mehr den uferlosen Flug,
an dem die Monde blaß vorüberschwammen,
und von den Welten weiß er längst genug.
Mit seinen Flügeln will er wie mit Flammen
vor deinem schattigen Gesichte stehn
und will bei ihrem weißen Scheine sehn,
ob deine grauen Brauen ihn verdammen.
S.25f.

So viele Engel suchen dich im Lichte
und stoßen mit den Stirnen nach den Sternen
und wollen dich aus jedem Glanze lernen.
Mir aber ist, sooft ich von dir dichte,
daß sie mit abgewendetem Gesichte
von deines Mantels Falten sich entfernen.

Denn du warst selber nur ein Gast des Golds.
Nur einer Zeit zuliebe, die dich flehte
in ihre klaren marmornen Gebete,
erschienst du wie der König der Komete,
auf deiner Stirne Strahlenströme stolz.

Du kehrtest heim, da jene Zeit zerschmolz.

Ganz dunkel ist dein Mund, von dem ich wehte,
und deine Hände sind von Ebenholz. S.26

Das waren Tage Michelangelo‘s,
von denen ich in fremden Büchern las.
Das war der Mann, der über einem Maß,
gigantengroß,
die Unermeßlichkeit vergaß.

Das war der Mann, der immer wiederkehrt,
wenn eine Zeit noch einmal ihren Wert,
da sie sich enden will, zusammenfaßt.
Da hebt noch einer ihre ganze Last
und wirft sie in den Abgrund seiner Brust.

Die vor ihm hatten Leid und Lust;
er aber fühlt nur noch des Lebens Masse
und daß er Alles wie ein Ding umfasse, —
nur Gott bleibt über seinem Willen weit:
da liebt er ihn mit seinem hohen Hasse
für diese Unerreichbarkeit. S.26f.


Der Ast vom Baume Gott, der über Italien reicht,
hat schon geblüht.
Er hätte vielleicht
sich schon gerne, mit Früchten gefüllt, verfrüht,
doch er wurde mitten im Blühen müd,
und er wird keine Früchte haben.

Nur der Frühling Gottes war dort,
nur sein Sohn, das Wort,
vollendete sich.
Es wendete sich
die Kraft zu dem strahlenden Knaben.
Alle kamen mit Gaben
zu ihm;
alle sangen wie Cherubim
seinen Preis.

Und er duftete leis
als Rose der Rosen.
Er war ein Kreis
um die Heimatlosen.
Er ging in Mänteln und Metamorphosen
durch alle steigenden Stimmen der Zeit. S.27f.

M
it einem Ast, der jenem niemals glich,
wird Gott, der Baum, auch einmal sommerlich
verkündend werden und aus Reife rauschen;
in einem Lande, wo die Menschen lauschen,
wo jeder ähnlich einsam ist wie ich.

Denn nur dem Einsamen wird offenbart
und vielen Einsamen der gleichen Art

wird mehr gegeben als dem schmalen Einen.
Denn jedem wird ein andrer Gott erscheinen,
bis sie erkennen, nah am Weinen,
daß durch ihr meilenweites Meinen,
durch ihr Vernehmen und Verneinen,
verschieden nur in hundert Seinen
ein Gott wie eine Welle geht.

Das ist das endlichste Gebet,
das dann die Sehenden sich sagen:
Die Wurzel Gott hat Frucht getragen,
geht hin, die Glocken zu zerschlagen;
wir kommen zu den stillem Tagen,
in denen reif die Stunde steht.
Die Wurzel Gott hat Frucht getragen.
Seid ernst und seht.
S.29f.

Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?
Ich bin dein Krug (wenn ich zerscherbe?)
Ich bin dein Trank (wenn ich verderbe?)
Bin dein Gewand und dein Gewerbe,
mit mir verlierst du deinen Sinn.

Nach mir hast du kein Haus, darin
dich Worte, nah und warm, begrüßen.
Es fällt von deinen müden Füßen
die Samtsandale, die ich bin.

Dein großer Mantel läßt dich los.
Dein Blick, den ich mit meiner Wange
warm, wie mit einem Pfühl, empfange,
wird kommen, wird mich suchen, lange —
und legt beim Sonnenuntergange
sich fremden Steinen in den Schooß.

Was wirst du tun, Gott? Ich bin bange. S.31

Du bist der raunende Verrußte,
auf allen Öfen schläfst du breit
Das Wissen ist nur in der Zeit.
Du bist der dunkle Unbewußte
von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Du bist der Bittende und Bange,
der aller Dinge Sinn beschwert.
Du bist die Silbe im Gesange,
die immer zitternder im Zwange
der starken Stimmen wiederkehrt.

Du hast dich anders nie gelehrt:

Denn du bist nicht der Schönumscharte,
um welchen sich der Reichtum reiht.
Du bist der Schlichte, welcher sparte.
Du bist der Bauer mit dem Barte
von Ewigkeit zu Ewigkeit. S.31f.

Gott, wie begreif ich deine Stunde,
als du, daß sie im Raum sich runde,
die Stimme vor dich hingestellt;
dir war das Nichts wie eine Wunde,
da kühltest du sie mit der Wel
t.

Jetzt heilt es leise unter uns.

Denn die Vergangenheiten tranken
die vielen Fieber aus dem Kranken,
wir fühlen schon in sanftem Schwanken
den ruhigen Puls des Hintergrunds.

Wir liegen lindernd auf dem Nichts
und wir verhüllen alle Risse;
du aber wächst ins Ungewisse
im Schatten deines Angesichts. S.34f.

Alle, die ihre Hände regen
nicht in der Zeit, der armen Stadt,
alle die sie an Leises legen,
an eine Stelle, fern den Wegen,
die kaum noch einen Namen hat, —
sprechen dich aus, du Alltagssegen,
und sagen sanft auf einem Blatt:

Es gibt im Grunde nur Gebete,
so sind die Hände uns geweiht,
daß sie nichts schufen, was nicht flechte;
ob einer malte oder mähte,
schon aus dem Ringen der Geräte
entfaltete sich Frömmigkeit.

Die Zeit ist eine vielgestalte.
Wir hören manchmal von der Zeit,
und tun das Ewige und Alte;
wir wissen, daß uns Gott umwallte
groß wie ein Bart und wie ein Kleid.
Wir sind wie Adern im Basalte
in Gottes harter Herrlichkeit.
S.35

Der Name ist uns wie ein Licht
hart an die Stirn gestellt.
Da senkte sich mein Angesicht
vor diesem zeitigen Gericht
und sah (von dem es seither spricht)
dich, großes dunkelndes Gewicht
an mir und an der Welt.

Du bogst mich langsam aus der Zeit,
in die ich schwankend stieg;
ich neigte mich nach leisem Streit:
jetzt dauert deine Dunkelheit
um deinen sanften Sieg.

Jetzt hast du mich und weißt nicht wen,
denn deine breiten Sinne sehn
nur, daß ich dunkel ward.
Du hältst mich seltsam zart
und horchst, wie meine Hände gehn
durch deinen alten Bart. S.36

Dein allererstes Wort war: Licht:
da ward die Zeit. Dann schwiegst du lange.
Dein zweites Wort ward Mensch und bange
(wir dunkeln noch in seinem Klange)
und wieder sinnt dein Angesicht.

Ich aber will dein drittes nicht.

Ich bete nachts oft: Sei der Stumme,
der wachsend in Gebärden bleibt
und den der Geist im Traume treibt,
daß er des Schweigens schwere Summe
in Stirnen und Gebirge schreibt.

Sei du die Zuflucht vor dem Zorne,
der das Unsagbare verstieß.
Es wurde Nacht im Paradies:
sei du der Hüter mit dem Horne,
und man erzählt nur, daß er blies. S. 36f.

Du kommst und gehst. Die Türen fallen
viel sanfter zu, fast ohne Wehn.
Du bist der Leiseste von Allen,
die durch die leisen Häuser gehn.

Man kann sich so an dich gewöhnen,
daß man nicht aus dem Buche schaut,
wenn seine Bilder sich verschönen,
von deinem Schatten überblaut;
weil dich die Dinge immer tönen,
nur einmal leis und einmal laut.

Oft wenn ich dich in Sinnen sehe,
verteilt sich deine Allgestalt:
du gehst wie lauter lichte Rehe
und ich bin dunkel und bin Wald.

Du bist ein Rad, an dem ich stehe:
von deinen vielen dunklen Achsen
wird immer wieder eine schwer
und dreht sich näher zu mir her,
und meine willigen Werke wachsen
von Wiederkehr zu Wiederkehr. S.37f.

Du bist der Tiefste, welcher ragte,
der Taucher und der Türme Neid.
Du bist der Sanfte, der sich sagte,
und doch: wenn dich ein Feiger fragte,
so schwelgtest du in Schweigsamkeit.

Du bist der Wald der Widersprüche.
Ich darf dich wiegen wie ein Kind,
und doch vollziehn sich deine Flüche,
die über Völkern furchtbar sind.

Dir ward das erste Buch geschrieben,
das erste Bild versuchte dich,
du warst im Leiden und im Lieben,
dein Ernst war wie aus Erz getrieben
auf jeder Stirn, die mit den sieben
erfüllten Tagen dich verglich.

Du gingst in Tausenden verloren,
und alle Opfer wurden kalt;
bis du in hohen Kirchenchoren
dich rührtest hinter goldnen Toren;
und eine Bangnis, die geboren,
umgürtete dich mit Gestalt. S.38

Ich komme aus meinen Schwingen heim,
mit denen ich mich verlor.
Ich war Gesang, und Gott, der Reim,
rauscht noch in meinem Ohr.

Ich werde wieder still und schlicht,
und meine Stimme steht;
es senkte sich mein Angesicht
zu besserem Gebet.
Den andern war ich wie ein Wind,
da ich sie rüttelnd rief.
Weit war ich, wo die Engel sind,
hoch, wo das Licht in Nichts zerrinnt —
Gott aber dunkel tief

Die Engel sind das letzte Wehn
an seines Wipfels Saum;
daß sie aus seinen Ästen gehn,
ist ihnen wie ein Traum.
Sie glauben dort dem Lichte mehr
als Gottes schwarzer Kraft,
es flüchtete sich Lucifer
in ihre Nachbarschaft.

Er ist der Fürst im Land des Lichts,
und seine Stirne steht
so steil am großen Glanz des Nichts,
daß er, versengten Angesichts,
nach Finsternissen fleht.
Er ist der helle Gott der Zeit,
zu dem sie laut erwacht,
und weil er oft in Schmerzen schreit
und oft in Schmerzen lacht,
glaubt sie an seine Seligkeit
und hangt an seiner Macht.

Die Zeit ist wie ein welker Rand
an einem Buchenblatt.
Sie ist das glänzende Gewand,
das Gott verworfen hat,
als Er, der immer Tiefe war,
ermüdete des Flugs
und sich verbarg vor jedem Jahr,
bis ihm sein wurzelhaftes Haar
durch alle Dinge wuchs.
S.41f.

Und Gott befiehlt mir, daß ich schriebe:

Den Königen sei Grausamkeit.
Sie ist der Engel vor der Liebe,
und ohne diesen Bogen bliebe
mir keine Brücke in die Zeit.

Und Gott befiehlt mir, daß ich male:

Die Zeit ist mir mein tiefstes Weh,
so legte ich in ihre Schale:
das wache Weib, die Wundenmale,
den reichen Tod (daß er sie zahle),
der Städte bange Bacchanale,
den Wahnsinn und die Könige.

Und Gott befiehlt mir, daß ich baue:

Denn König bin ich von der Zeit.
Dir aber bin ich nur der graue
Mitwisser deiner Einsamkeit.
Und bin das Auge mit der Braue ...

Das über meine Schulter schaue
von Ewigkeit zu Ewigkeit. S43f.

Es tauchten tausend Theologen
in deines Namens alte Nacht.
Jungfrauen sind zu dir erwacht,
und Jünglinge in Silber zogen
und schimmerten in dir, du Schlacht.

In deinen langen Bogengängen
begegneten die Dichter sich
und waren Könige von Klängen
und mild und tief und meisterlich.

Du bist die sanfte Abendstunde,
die alle Dichter ähnlich macht;
du drängst dich dunkel in die Munde,
und im Gefühl von einem Funde
umgibt ein jeder dich mit Pracht.

Dich heben hunderttausend Harfen
wie Schwingen aus der Schweigsamkeit.
Und deine alten Winde warfen
zu allen Dingen und Bedarfen
den Hauch von deiner Herrlichkeit. S.44f.

Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht,
dann geht er schweigend mit ihm aus der Nacht.
Aber die Worte, eh jeder beginnt,
diese wolkigen Worte, sind:

Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gib mir Gewand.

Hinter den Dingen wachse als Brand,
daß ihre Schatten, ausgespannt,
immer mich ganz bedecken.

Laß dir Alles geschehn: Schönheit und Schrecken.
Man muß nur gehn: Kein Gefühl ist das fernste.
Laß dich von mir nicht trennen.
Nah ist das Land,
das sie das Leben nennen.

Du wirst es erkennen
an seinem Ernste

Gib mir die Hand. S.48

Du Williger, und deine Gnade kam
immer in alle ältesten Gebärden.
Wenn einer die Hände zusammenflicht,
so daß sie zahm
und um ein kleines Dunkel sind -:
auf einmal fühlt er dich in ihnen werden,
und wie im Winde
senkt sich sein Gesicht
in Scham.

Und da versucht er, auf dem Stein zu liegen
und aufzustehn, wie er bei andern sieht,
und seine Mühe ist, dich einzuwiegen,
aus Angst, daß er dein Wachsein schon verriet.

Denn wer dich fühlt, kann sich mit dir nicht brüsten;
er ist erschrocken, bang um dich und flieht
vor allen Fremden, die dich merken müßten:

Du bist das Wunder in den Wüsten,
das Ausgewanderten geschieht. S.52

2 . Buch:
Das Buch von der Pilgerschaft (1901)

Ich bete wieder, du Erlauchter
Ich bin derselbe noch, der kniete
Du Ewiger, du hast dich mir gezeigt
Dir ist mein Beten keine Blasphemie
Und seine Sorgfalt ist uns wie ein Alb
  Und doch, obwohl ein jeder von sich strebt
Du bist die Zukunft, das große Morgenrot
Du Gott, ich möchte viele Pilger sein
Bei Tag bist du das Hörensagen
Du mußt nicht bangen Gott
 

Ich bete wieder, du Erlauchter,
du hörst mich wieder durch den Wind,
weil meine Tiefen niegebrauchter
rauschender Worte mächtig sind.

Ich war zerstreut; an Widersacher
in Stücken war verteilt mein Ich.
O Gott, mich lachten alle Lacher
und alle Trinker tranken mich.

In Höfen hab ich mich gesammelt
aus Abfall und aus altem Glas,
mit halbem Mund dich angestammelt,
dich, Ewiger aus Ebenmaß.
Wie hob ich meine halben Hände
zu dir in namenlosem Flehn,
daß ich die Augen wiederfände,
mit denen ich dich angesehn.

Ich war ein Haus nach einem Brand,
darin nur Mörder manchmal schlafen,
eh ihre hungerigen Strafen
sie weiterjagen in das Land;
ich war wie eine Stadt am Meer,
wenn eine Seuche sie bedrängte,
die sich wie eine Leiche schwer
den Kindern an die Hände hängte.

Ich war mir fremd wie irgendwer,
und wußte nur von ihm, daß er
einst meine junge Mutter kränkte
als sie mich trug,
und daß ihr Herz, das eingeengte,
sehr schmerzhaft an mein Keimen schlug.

Jetzt bin ich wieder aufgebaut
aus allen Stücken meiner Schande,
und sehne mich nach einem Bande,
nach einem einigen Verstande,
der mich wie ein Ding überschaut, —
nach deines Herzens großen Händen —
(o kämen sie doch auf mich zu).
Ich zähle mich, mein Gott, und du,
du hast das Recht, mich zu verschwenden. S.58f.

Ich bin derselbe noch, der kniete
vor dir in mönchischem Gewand:
Der tiefe, dienende Levite,
den du erfüllt, der dich erfand.
Die Stimme einer stillen Zelle,
an der die Welt vorüberweht, —
u
nd du bist immer noch die Welle,
die über alle Dinge geht.

Es ist nichts andres. Nur ein Meer,
aus dem die Länder manchmal steigen.
Es ist nichts andres denn ein Schweigen
von schönen Engeln und von Geigen,
und der Verschwiegene ist der,

zu dem sich alle Dinge neigen,
von seiner Stärke Strahlen schwer.

Bist du denn Alles, — ich der Eine,
der sich ergibt und sich empört?
Bin ich denn nicht das Allgemeine,
bin ich nicht Alles, wenn ich weine,
und du der Eine, der es hört?

Hörst du denn etwas neben mir?
Sind da noch Stimmen außer meiner?
Ist da ein Sturm? Auch ich bin einer,
und meine Wälder winken dir.

Ist da ein Lied, ein krankes, kleines,
das dich am Micherhören stört, —
auch ich bin eines, höre meines,
das einsam ist und unerhört.

Ich bin derselbe noch, der bange
dich manchmal fragte, wer du seist.
Nach jedem Sonnenuntergange
bin ich verwundet und verwaist,
ein blasser Allem Abgelöster
und ein Verschmähter jeder Schar,
und alle Dinge stehn wie Klöster,
in denen ich gefangen war.
Dann brauch ich dich, du Eingeweihter,
du sanfter Nachbar jeder Not,
du meines Leidens leiser Zweiter,
du Gott, dann brauch ich dich wie Brot.
Du weißt vielleicht nicht, wie die Nächte
für Menschen, die nicht schlafen, sind:
da sind sie alle Ungerechte,
der Greis, die Jungfrau und das Kind.
Sie fahren auf wie totgesagt,
von schwarzen Dingen nah umgeben,
und ihre weißen Hände beben,
verwoben in ein wildes Leben
wie Hunde in ein Bild der Jagd.
Vergangenes steht noch bevor,
und in der Zukunft liegen Leichen,
ein Mann im Mantel pocht am Tor,
und mit dem Auge und dem Ohr
ist noch kein erstes Morgenzeichen,
kein Hahnruf ist noch zu erreichen.
Die Nacht ist wie ein großes Haus.
Und mit der Angst der wunden Hände
reißen sie Türen in die Wände, —
dann kommen Gänge ohne Ende,
und nirgends ist ein Tor hinaus.

Und so, mein Gott, ist jede Nacht;
immer sind welche aufgewacht,
die gehn und gehn und dich nicht finden.
Hörst du sie mit dem Schritt von Blinden
das Dunkel treten?
Auf Treppen, die sich niederwinden,
hörst du sie beten?
Hörst du sie fallen auf den schwarzen Steinen?
Du mußt sie weinen hören; denn sie weinen.

Ich suche dich, weil sie vorübergehn
in meiner Tür. Ich kann sie beinah sehn.

Wen soll ich rufen, wenn nicht den,
der dunkel ist und nächtiger als Nacht.
Den Einzigen, der ohne Lampe wacht
und doch nicht bangt; den Tiefen, den das Licht
noch nicht verwöhnt hat und von dem ich weiß,
weil er mit Bäumen aus der Erde bricht
und weil er leis
als Duft in mein gesenktes Angesicht
aus Erde steigt. S.58-62

D
u Ewiger, du hast dich mir gezeigt.
Ich liebe dich wie einen lieben Sohn,
der mich einmal verlassen hat als Kind,
weil ihn das Schicksal rief auf einen Thron,
vor dem die Länder alle Täler sind.
Ich bin zurückgeblieben wie ein Greis,
der seinen großen Sohn nicht mehr versteht
und wenig von den neuen Dingen weiß,
zu welchen seines Samens Wille geht.
Ich bebe manchmal für dein tiefes Glück,
das auf so vielen fremden Schiffen fährt,
ich wünsche manchmal dich in mich zurück,
in dieses Dunkel, das dich großgenährt.
Ich bange manchmal, daß du nichtmehr bist,
wenn ich mich sehr verliere an die Zeit.
Dann les ich von dir: der Evangelist
schreibt überall von deiner Ewigkeit.

Ich bin der Vater; doch der Sohn ist mehr,
ist alles, was der Vater war, und der,
der er nicht wurde, wird in jenem groß;
er ist die Zukunft und die Wiederkehr,
er ist der Schooß, er ist das Meer... S.62f.

Dir ist mein Beten keine Blasphemie:
als schlüge ich in alten Büchern nach,
daß ich dir sehr verwandt bin — tausendfach.

Ich will dir Liebe geben. Die und die...

Liebt man denn einen Vater? Geht man nicht,
wie du von mir gingst, Härte im Gesicht,
v
on seinen hilflos leeren Händen fort?
Legt man nicht leise sein verwelktes Wort
in alte Bücher, die man selten liest?
Fließt man nicht wie von einer Wasserscheide

von seinem Herzen ab zu Lust und Leide?
Ist uns der Vater denn nicht das, was war;
vergangne Jahre, welche fremd gedacht,
veraltete Gebärde, tote Tracht,
verblühte Hände und verblichnes Haar?
Und war er selbst für seine Zeit ein Held,
ist das Blatt, das, wenn wir wachsen, fällt. S.63

Und seine Sorgfalt ist uns wie ein Alb,
und seine Stimme ist uns wie ein Stein, —
wir möchten seiner Rede hörig sein,
aber wir hören seine Worte halb.
Das große Drama zwischen ihm und uns
lärmt viel zu laut, einander zu verstehn,
wir sehen nur die Formen seines Munds,

aus denen Silben fallen, die vergehn.
So sind wir noch viel ferner ihm als fern,
wenn auch die Liebe uns noch weit verwebt,
erst wenn er sterben muß auf diesem Stern,
sehn wir, daß er auf diesem Stern gelebt.

Das ist der Vater uns. Und ich — ich soll
dich Vater nennen?
Das hieße tausendmal mich von dir trennen.
Du bist mein Sohn. Ich werde dich erkennen,
wie man sein einzigliebes Kind erkennt, auch dann,
wenn es ein Mann geworden ist, ein alter Mann. S.63f.

Und doch, obwohl ein jeder von sich strebt
wie aus dem Kerker, der ihn haßt und hält, —
es ist ein großes Wunder in der Welt:
ich fühle: alles Leben wird gelebt.


Wer lebt es denn? Sind das die Dinge, die
wie eine ungespielte Melodie
im Abend wie in einer Harfe stehn?
Sind das die Winde, die von Wassern wehn,
sind das die Zweige, die sich Zeichen geben,
sind das die Blumen, die die Düfte weben,
sind das die langen alternden Alleen?
Sind das die warmen Tiere, welche gehn,
sind das die Vögel, die sich fremd erheben?

Wer lebt es denn? Lebst du es, Gott, — das Leben? S.68

Du bist die Zukunft, großes Morgenrot
über den Ebenen der Ewigkeit.
Du bist der Hahnschrei nach der Nacht der Zeit,
der Tau, die Morgenmette und die Maid,
der fremde Mann, die Mutter und der Tod.

Du bist die sich verwandelnde Gestalt,
Die immer einsam aus dem Schicksal ragt,
die unbejubelt bleibt und unbeklagt
und unbeschrieben wie ein wilder Wald.

Du bist der Dinge tiefer Inbegriff,
der seines Wesens letztes Wort verschweigt
und sich den Andern immer anders zeigt:
dem Schiff als Küste und dem Land als Schiff.
S.76f.

Du Gott, ich möchte viele Pilger sein,
um so ein langer Zug. zu dir zu gehn,
und um ein großes Stück von dir zu sein:
Garten mit den lebenden Alleen.
ich so gehe wie ich bin, allein, —
wer merkt es denn? Wer sieht mich zu dir gehn?
Wen reißt es hin? Wen regt es auf, und wen bekehrt es dir?

Als wäre nichts geschehn,
— lachen sie weiter. Und da bin ich froh,
daß ich so gehe wie ich bin; denn so
kann keiner von den Lachenden mich sehn.
S.81

Bei Tag bist du das Hörensagen,
das flüsternd um die Vielen fließt;
die Stille nach dem Stundenschlagen,
welche sich langsam wieder schließt.

Jemehr der Tag mit immer schwächern
Gebärden sich nach Abend neigt,
jemehr bist du, mein Gott. Es steigt
dein Reich wie Rauch aus allen Dächern. S.82

Du mußt nicht bangen, Gott. Sie sagen: mein
zu allen Dingen, die geduldig sind.
Sie sind wie Wind, der an die Zweige streift
und sagt: mein Baum.

Sie merken kaum,
wie alles glüht, was ihre Hand ergreift, —
so daß sie‘s auch an seinem letzten Saum
nicht halten könnten ohne zu verbrennen.

Sie sagen mein, wie manchmal einer gern
den Fürsten Freund nennt im Gespräch mit Bauern,
wenn dieser Fürst sehr groß ist und — sehr fern.
Sie sagen mein von ihren fremden Mauern
und kennen gar nicht ihres Hauses Herrn.
Sie sagen mein und nennen das Besitz,
wenn jedes Ding sich schließt, dem sie sich nahn,
so wie ein abgeschmackter Charlatan
vielleicht die Sonne sein nennt und den Blitz.
So sagen sie: mein Leben, meine Frau,
mein Hund, mein Kind, und wissen doch genau,
daß alles: Leben, Frau und Hund und Kind
fremde Gebilde sind, daran sie blind
mit ihren ausgestreckten Händen stoßen.
Gewißheit freilich ist das nur den Großen,
die sich nach Augen sehnen. Denn die Andern
wollens
nicht hören, daß ihr armes Wandern
mit keinem Dinge rings zusammenhängt,
daß sie, von ihrer Habe fortgedrängt,
nicht anerkannt von ihrem Eigentume,
das Weib so wenig haben wie die Blume,
die eines fremden Lebens ist für alle.

Falle nicht, Gott, aus deinem Gleichgewicht.
Auch der dich liebt und der dein Angesicht
erkennt im Dunkel, wenn er wie ein Licht
in deinem Atem schwankt, — besitzt dich nicht.
Und wenn dich einer in der Nacht erfaßt,
so daß du kommen mußt in sein Gebet:
Du bist der Gast,
der wieder weiter geht.


Wer kann dich halten, Gott? Denn du bist dein,
von keines Eigentümers Hand gestört,
so wie der noch nicht ausgereifte Wein,
der immer süßer wird, sich selbst gehört.
S.86f.

3. Buch: Das Buch von der Armut und vom Tode
(1903)

O Herr, gib jedem seinen eigenen Tod
Denn wir sind nur die Schale und das Blatt
  Herr: Wir sind ärmer als die armen Tiere
Das letzte Zeichen laß an uns geschehen
 

O Herr, gib jedem seinen eignen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not. S.94

Denn wir sind nur die Schale und das Blatt.
Der große Tod, den jeder in sich hat,
das ist die Frucht, um die sich alles dreht.

Um ihretwillen heben Mädchen an
und kommen wie ein Baum aus einer Laute,
und Knaben sehnen sich um sie zum Mann:
und Frauen sind den Wachsenden Vertraute
für Ängste, die sonst niemand nehmen kann.
Um ihretwillen bleibt das Angeschaute
wie Ewiges, auch wenn es lang verrann, —
und jeder, welcher bildete und baute,
ward Welt um diese Frucht, und fror und taute
und windete ihr zu und schien sie an.
In sie ist eingegangen alle Wärme
der Herzen und der Hirne weißes Glühn —:
Doch deine Engel ziehn wie Vogelschwärme,
und sie erfanden alle Früchte grün. S.94f.

Herr: Wir sind ärmer denn die armen Tiere,
die ihres Todes enden, wenn auch blind,
weil wir noch alle ungestorben sind.
Den gib uns, der die Wissenschaft gewinnt,
das Leben aufzubinden in Spaliere,
um welche zeitiger der Mai beginnt.

Denn dieses macht das Sterben fremd und schwer,
daß es nicht unser Tod ist; einer der
ins endlich nimmt, nur weil wir keinen reifen.
Drum geht ein Sturm, uns alle abzustreifen.

Wir stehn in deinem Garten Jahr und Jahr
und sind die Bäume, süßen Tod zu tragen;
aber wir altern in den Erntetagen,
und so wie Frauen, welche du geschlagen,
sind wir verschlossen, schlecht und unfruchtbar.

Oder ist meine Hoffahrt ungerecht:
sind Bäume besser? Sind wir nur Geschlecht
und Schooß von Frauen, welche viel gewähren? —
Wir haben mit der Ewigkeit gehurt,
und wenn das Kreißbett da ist, so gebären
wir unsres Todes tote Fehlgeburt;
den krummen, kummervollen Embryo,
der sich (als ob ihn Schreckliches erschreckte)
die Augenkeime mit den Händen deckte
und dem schon auf der ausgebauten Stirne
die Angst von allem steht, was er nicht litt, —
und alle schließen so wie eine Dirne
in Kindbettkrämpfen und am Kaiserschnitt. S.95f.

Das letzte Zeichen laß an uns geschehen,
erscheine in der Krone deiner Kraft,
und gib uns jetzt (nach aller Weiber Wehen)
des Menschen ernste Mutterschaft.
Erfülle, du gewaltiger Gewährer,
nicht jenen Traum der Gottgebärerin. —
richt auf den Wichtigen: den Tod-Gebärer,
und führ uns mitten durch die Hände derer,
die ihn verfolgen werden, zu ihm hin.
Denn sieh, ich sehe seine Widersacher,
und sie sind mehr als Lügen in der Zeit, —
und er wird aufstehn in dem Land der Lacher

und wird ein Träumer heißen: denn ein Wacher
ist immer Träumer unter Trunkenheit.

Du aber gründe ihn in deine Gnade,
in deinem alten Glanze pflanz ihn ein;
und mich laß Tänzer dieser Bundeslade,
laß mich den Mund der neuen Messiade,
den Tönenden, den Täufer sein.
S.97f.
Aus:Rainer Maria Rilke; Das Stundenbuch, insel taschenbuch 2, Insel Verlag