John Mackinnon Robertson (1856 - 1933)

Englischer Schriftsteller, der die Ursprünge des Christentums untersucht hat und dabei zu der Auffassung kam, dass sich es bei der Gestalt Jesu um einen von den verschiedensten Schreibern umgestalteten Mythus, ein »gekreuzigtes Phantom« handelt, dem keine echte historische Realität zugesprochen werden kann. »Wie der Mensch seine Götter schuf, so hat er sich auch seine Christusse geschaffen«.

Siehe auch Wikipedia

Das Urchristentum
Kapitel 1: Die Anfänge

§ 1. Die Urkunden, § 2. Die frühesten christlichen Sekten, § 3. Die Persönlichkeit des nominellen Stifters, § 4. Der Mythus von den zwölf Aposteln,
§ 5. Die ursprünglichen Formen des Kultus, § 6. Entstehung des Heidenchristentums, § 7. Die Entstehung des Christus-Mythus

§ 1. Die Urkunden
In der Urgeschichte der Religionen wie der Völker trägt der erste Bericht, den man über ihre Entstehung findet, fast immer mythischen Charakter. Nach einem göttlichen und anbetungswürdigen Urheber nicht bloß für den Kultus und die Einrichtungen, für den Volksstamm und die Verfassung, sondern auch für die Lebensformen und das Weltall selbst sucht die Einbildungskraft des primitiven Menschen, und von einer Geschichte und einem Wissen kann präzise gesprochen erst dann die Rede sein, wenn jenes Suchen nach dem Urgrund aller Dinge durch den später erwachenden Trieb exakter Beobachtung diskreditiert und in seine Schranken gewiesen wird. Solche Hemmungen und Einschränkungen werden gewöhnlich durch kluge feindliche Kräfte, die sich Geltung verschaffen, hervorgerufen. Dies beweist die Religion Mohammeds, dessen Lehre von Anfang an mit anderen rivalisierenden Bildungselementen im Kampf lag und von diesen auch ihrerseits befehdet wurde und dessen eigenhändig und bestimmt dargelegte Doktrin seine Vergöttlichung verbot.

Einige urchristliche Sekten, die zur Bildung unabhängiger Kulte fortschritten, lernten infolge des Druckes, den die Kritik der christlichen Hauptmasse auf sie ausübte, ihre Anfänge ganz ähnlich zu begrenzen. Aber ehe nicht die Weltanschauung des Christentums, das ja in das Erbe des literarischen und politischen, in der griechisch-römischen Zivilisation verkörperten Systems trat, eine feste geschichtliche Form annimmt, ist es kaum möglich, irgendeinem Bericht über etwaige kultische Anfänge Glauben zu schenken, und man kann dies selbst da nicht, wo versichert wird, dass dieser Bericht nicht von einem übernatürlichen Lehrer herstammt. So ungezügelt ist der mythenbildende Trieb, wenn eine ständige Kritik nicht vorhanden ist. Buddha, Zoroaster und Moses sind augenscheinlich nur etwas weniger mythische Gestalten als Krischna, Herkules und Osiris. Vom christlichen Kult kann höchstens behauptet werden, dass sein Ursprung an der Grenze des Geschichtlichen und Ungeschichtlichen liegt, da jede verständige Verteidigung heutzutage zugibt, dass die Geschichte seiner Anfänge zum mindesten einige rein mythische Elemente enthält.

Die ältesten Dokumente des Christentums sind augenscheinlich die Briefe des Apostels Paulus, und bei diesen gibt es Schwierigkeiten bezüglich ihrer Entstehung, da einige mehr oder weniger unecht sind — d.h. sehr verschieden und ihrer ganzen Eigenart nach später als die Hauptmasse, während alle übrigen Spuren von Interpolationen
[Umgestaltungen, Veränderungen] an sich tragen. Nehmen wir sie jedoch wie sie sind, dann offenbaren sie eine merkwürdige Unkenntnis mit dem größten Teil der Evangelien-Erzählungen und dem gesamten Komplex der Lehren, die dort Jesus in den Mund gelegt werden. Nur an drei Punkten stützen die Paulinischen Schriften die später von der christlichen Kirche akzeptierten Erzählungen: Sie sprechen gewöhnlich von Jesus als dem Gekreuzigten und vom Tode Erstandenen; sie enthalten einen Bericht über die Einsetzung des Abendmahls, der mit dem der Evangelien übereinstimmt; und sie erwähnen einmal »die Zwölf«. Aber die beiden zuletzt genannten Anspielungen begegnen uns an Stellen (1. Kor. 11 u. 15), die alle Kennzeichen der Interpolation an sich tragen. Und wenn man sie weglässt, so berichten die Paulinischen Briefe nur von einem Kult jüdischen Ursprungs, in dem ein gekreuzigter Jesus, der der Messias oder Christus oder der Gesalbte genannt wird, als ein Erlösungsopfer vorkommt, aber sonst weder als Lehrer noch gar als Wundermann eine Rolle spielt. In seinem Namen feiert man eine Eucharistie oder ein religiöses Mahl, aber nirgends wird ein Wort erwähnt, das der Stifter gesprochen hätte. Und nichts in den Episteln hält uns ab, sie sogar unabhängig von den Erzählungen der Evangelien anzusetzen, die zu stützen sie seltsamerweise verabsäumen. Deshalb verhält es sich mit dem Neuen Testament ganz ähnlich wie mit dem Alten Testament. Wie das Buch der Richter eine Etappe aus dem Leben der Juden enthüllt, die ganz unvereinbar mit der im Pentateuch, die doch vorhergehen soll, beschriebenen ist, so zeigen uns die Briefe des Paulus eine Etappe der christlichen Propaganda, die sich mit einer Entwicklung, wie sie in den Evangelien dargestellt wird, nicht verträgt. Die Schlussfolgerung ist in beiden Fällen die gleiche, nämlich die, dass die Dokumente, die die früheren Entwicklungen darstellen, bezüglich ihrer Komposition nicht nur späteren Datums, sondern überhaupt erdichtet sind, und dies auch in solchen Fällen, wo sie uns nichts von übernatürlichen Ereignissen erzählen.

In beiden Fällen bedarf nur die Art und Weise, in der die späteren Erzählungen kompiliert wurden, einer Erklärung. Kaum ein Jahrhundert nach dem gewöhnlich für die Kreuzigung angesetzten Datum finden wir bei den Heiden Spuren einer Jesus- oder Christus-Bewegung, die sich aus dem Heidentum herleitet und die im Besitz sowohl eines Evangeliums resp. einer Erinnerungsschrift als auch einiger Paulinischer und anderer Episteln ist, die teils untergeschoben, teils echt sind. Aber das damals geltende Evangelium enthielt augenscheinlich manche Stücke, die in den vier kanonischen nicht enthalten sind, und besaß andrerseits vieles nicht, was jene brachten. Die frühesten Spuren davon finden sich in einem Brief des Clemens, der Bischof von Rom geheißen wird (etwa 100 n. Chr). Dieser Brief ist entschieden alt, sei er nun echt oder unecht, und gleicht in seiner älteren Gestalt dem dem Märtyrer Ignatius zugeschriebenen Briefe (etwa 115 n. Chr.?), von dem man dasselbe sagen kann. Um die Mitte des 2. Jahrhunderts berichten die Schriften des Märtyrers Justin von einem christlichen Gedenkbuch, weisen jedoch keine Bekanntschaft mit den Paulinischen Briefen auf. Sie alle erzählen von einem an Ausdehnung gewinnenden Kultus, der eine noch nicht zusammenhängende dogmatische Theologie hatte und sich hauptsächlich auf einen gekreuzigten Jesus bezog, der den Menschen das Heil gab, wenn sie an ihn glaubten.

Wie die Briefe des Paulus, so berichten auch die Briefe, welche man dem Clemens und Ignatius zuschreibt, von Spaltungen in der Kirche: Das ist das ständige Merkmal in der Geschichte der Christenheit. Bezüglich der Riten findet sich nur eine dürftige Erwähnung des Abendmahls und der Taufe. Die Geschichte der Herkunft des Stifters ist noch unbekannt, und von seinen Wundern weiß man fast ebensowenig wie von den meisten seiner Lehren. Weder in den Clementinischen, noch in den älteren Ignatianischen Briefen, weder in dem dem Polykarp (etwa 150 n. Chr.) zugeschriebenen, noch in dem Brief des Barnabas (um dieselbe Zeit) finden wir eine Spur, die eine Bekanntschaft mit den bereits vorhandenen Evangelien des Lukas und Johannes verriete; die einzige Parallele zu Lukas ist eher ein Beweis dafür, dass die an Lukas anklingende Stelle einem früheren Dokument entnommen ist. Und das Evangelium, das tatsächlich ebenso spät wie Justin zitiert wird, ist ganz gewiss weder mit Markus noch mit Matthäus identisch. Selbst aus Paulus findet man kaum ein Zitat; und Clemens, der seine Epistel den Korinthern widmet, resp. vorgibt es zu tun, schreibt einen langen Passus zum Lob der Liebe, in dem kein Zitat aus des Apostels berühmtem Kapitel über dieses Thema vorkommt, obgleich dies für seinen Zweck wie geschaffen schien. Aus der freien Art ihrer Zitierung des Alten Testaments können wir folgern, dass die alten Väter oder Fälscher wenige Manuskripte besaßen; und es ist deutlich, dass sie keinen solchen Wert auf die christlichen Dokumente legten wie auf die jüdischen. Aber die Tatsache bleibt bestehen, dass sie selbst d i e Paulinischen Briefe, die gewöhnlich als unbestreitbar gelten, nicht oft als Zeugen anrufen. Zuweilen, z. B. bei dem paulinischen Gebrauch des Wortes ektroma (1. Kor. 15, 8), das in derselben Bedeutung in einem der Ignatianischen Briefe vorkommt, darf man schließen, dass das »apostolische« Schreiben nach dem Vorbilde des »nachapostolischen« interpoliert ist.

Daraus folgt zwar nicht, dass zu jener Zeit Urkunden oder Kapitel, die die Väter nicht zitiert, resp. nicht benutzt haben, überhaupt nicht existierten. Die Briefe des Paulus z. B. würden, auch wenn man ihre Echtheit annimmt, jedenfalls nur ganz allmählich Gemeingut geworden sein. Alle Gründe sprechen dafür, dass die ersten Christen sich größtenteils aus den ungebildeten Kreisen rekrutierten. Die Zeit reichlicherer Manuskripte kam erst, als sich die Gebildeten dem Christentum zuwandten. Aber was unbegreiflich bleibt, ist der Umstand, dass ein Mann von der Stellung des Paulus nicht ein einziges Mal sich auf die Lehren des Stifters hätte berufen sollen, wenn diese Lehren zu seiner Zeit irgendwie im Umlauf waren; und was weiter außerordentlich unwahrscheinlich ist, ist, dies, dass ein Mann von der Stellung des Clemens, resp. einer, der in seinem Namen fälschte und interpolierte, den ersten Brief Pauli an die Korinther, so wie er jetzt lautet, besessen haben und ihn doch in einem Brief an dieselbe Gemeinde, in einem Brief, der sich fast mit den gleichen Problemen befasste, nicht erwähnt haben sollte. Im ersteren Fall sind wir genötigt, anzunehmen, dass die Evangelien-Erzählungen bis auf die beiden Interpolationen, welche eine in Aufnahme gekommene Tradition dartun, für den oder die Schreiber der Paulinischen Briefe nicht existierten, und dass die Paulinischen Briefe selbst durchaus nicht absolut sicher echt sind. Dieser unabwendbare Zweifel ist die Nemesis dafür, dass die Urchristen zu fälschen und zu dichten gewöhnt waren.

Es bleibt jedoch die Tatsache übrig, dass Paulus im 2. Jahrhundert für eine geschichtliche und wirkliche Persönlichkeit galt, in deren Namen zu fälschen der Mühe wert war; ebenso wie für die Periode des Paulus Jesus eine historische Persönlichkeit war, die, wenn auch mit der übernatürlichen Auferstehung begabt, doch nicht übernatürlich erzeugt angenommen wurde. Mit einem Wort: Die Entstehungszeit eines christlichen Schriftstucks bestimmt sich nach der Dürftigkeit des Erzählungsstoffes, dem Mangel an biographischem Sagenstoff, dem Fehlen von Beziehungen zu den vorhandenen Evangelien. So ist z. B. die Prioritätsfrage zwischen der kürzeren und längeren Gestalt der Ignatianischen Briefe mit einem Schlage durch die häufigen Zitate aus den Evangelien und Paulus bei den letzteren und das Fehlen derselben bei den ersteren erledigt. Aber alle Schriftstücke weisen auf eine Bewegung unter den Juden hin, die lange vor der Zerstörung des jerusalemischen Tempels durch Titus im Jahre 70 ihren Anfang nahm und lange nachher im Judentum sich forterhielt; und da die jüdische Umgebung vielen Einflüssen, die einen Wechsel herbeiführen konnten, nicht ausgesetzt war, Einflüssen, die wir aber im Heidentum finden, so müssen wir nunmehr zuerst auf die jüdische Kultform unser Augenmerk richten, wenn wir das Wachsen jener Bewegung schildern wollen.

§ 2. Die frühesten christlichen Sekten
Die ersten wirklich historischen, weil von den »biblischen« verschiedenen Nachrichten über die Kirche in Jerusalem erzählen von einer halbchristlichen Sekte, die dort als Ebioniten oder Ebionim (ein hebräisches Wort, das einfach »die Armen« bedeutet) bekannt war. Vom Standpunkt der Heidenchristen gegen Ende des 2. Jahrhunderts waren sie Häretiker, weil sie eine Ausgabe des Matthäusevangeliums benutzten, in der die beiden ersten Kapitel fehlten, weil sie die Gottheit Christi leugneten und von dem Apostolat des Paulus nichts wissen wollten. Da sie ebenso die jüdischen Propheten verwarfen und nur den Pentateuch gelten ließen, so hat man einigen Grund zu der Annahme, dass sie entweder samaritanischer Herkunft oder Nachkommen eines alten jüdischen Bevölkerungsteils waren, der von Esras Zeiten her, wie die Samariter, die späteren biblischen Schriften verworfen hatte. Aus beiden Ansichten würde sich ergeben, dass die Jesusbewegung von Anfang an in einer niederen Bevölkerungsschicht wurzelte, die dem orthodoxen und pharisäischen Judentum ebenso feindlich gegenüberstand, wie die Sadduzäer unter den höheren Schichten. Die Samaritaner hatten eine ganz besondere Hochschätzung für Josua (= Jesus), da sie ein Buch besaßen, das diesen Namen trug. Wir werden später sehen, dass der Name Josua = Jesus für manche syrische Völkerschaften von alters her ein göttlicher Name war.

Spätere Nachrichten erweisen die Existenz einer kleineren Sekte, die von den Griechen Nazoraioi, Nazariten oder Nazoräer genannt wurde, ein Terminus, der in der Apostelgeschichte (XXIV, 5) den ersten Jesusanhängern beigelegt wurde und sowohl in dieser Schrift als auch in den Evangelien des öfteren Jesus selbst beigelegt wird. Nach dem einen Bericht erhob diese Sekte dagegen Einspruch, dass man sie Christen nannte, und doch scheint es infolge der Annahme ihrer Herkunft von den ersten Christen geschehen zu sein, dass man sie nicht eher zu Häretikern stempelte. Aus beiden genannten Sekten kann man einen Einblick in die wahrscheinliche Entwicklung des ursprünglichen Jesusglaubens gewinnen.

Es kann nicht vom Ortsnamen Nazareth herrühren, dass eine Jesussekte zuerst die der Nazaräer hieß, ein Terminus, der entweder für das sehr verschieden gelesene Nazir (Nazarit und genau Nazirit) des Alten Testaments oder für eine Komposition des Wortes nezer (= Zweig) stand, das in der Stelle bei Jesaia (XI, 1) gebraucht wird, die, wie man annimmt, im ersten Evangelium (II, 23) zitiert ist. Selbst die Form »Nazarene«, die in den Evangelien bisweilen für die andere gebraucht wird, kann, um das gleich zu sagen, begreiflicherweise niemals der Name für eine Sekte gewesen sein, die von einem Mann gegründet wurde, der, wie der Jesus der Evangelien, nur in einem Dorf namens Nazareth resp. Nazara erzogen sein soll, ohne dort gelehrt zu haben. Jesus wird indessen in keinem einzigen der Paulinischen oder sonstigen kanonischen Briefe jemals Nazorit oder Nazarener oder »aus Nazareth« genannt, und das Evangelium der Ebioniten, das die Nazareth-Erzählung nicht kennt, weiß auch nichts von einer solchen Benennung. Die Sekte der Ebioniten scheint demnach die erste Form des Kultus vertreten und die erste Form des Evangeliums herausgearbeitet zu haben, während die spätere Sekte der Nazaräer entweder ein nachpaulinisches, aber jüdisches Gewächs aus ebionitischen Wurzeln oder ein nachpaulinisches Pfropfreis einer anderen Bewegung auf den Jesuskult der Ebioniten gewesen zu sein scheint.

Fangen wir mit dem Ebionitismus an, so ist er, sei er nun alt und halbsamaritanisch oder das Produkt einer Neuerung in der unmittelbar vorrömischen Periode — ich sage, er ist als die Etikette einer Bewegung zu verstehen, die bei den Worten, die sich in der sogenannten Wüsten- und Bergpredigt finden, »Selig seid ihr Armen«, resp. »ihr Geistigarmen« (Luk. VI, 20; Matth. V, 3) stehen blieb. In dem mit Armut geschlagenen Judentum, das eine prophetische und Spruchliteratur besaß, in der, wie allgemein im Orient, die Armen mit Sympathie behandelt wurden, wurde eine solche Devise leicht populär, wie wir es ja auch in Indien bei den Bettelmönchen sehen. Da sie jedoch mit dem Kult eines getöteten und messianischen Jesus in Verbindung tritt, lässt sie die Frage entstehen, ob nicht gerade dieser Kult der Keim der ganzen Bewegung war, und es gibt in der Tat einige Gründe für die Annahme, dass die Sekte sich um einen Jesus, den Sohn des Pandira, gebildet haben kann, von dem im Talmud erwähnt wird, dass er am Abend eines Passahfestes unter der Regierung des Alexanders Jannäus in Lydda an einen Baum gehängt und zu Tode gesteinigt wurde. Es war Sitte, wichtige Verbrecher gerade um diese Jahreszeit hinzurichten, und da das Passahfest überhaupt eine versöhnende Bedeutung hatte, so konnte ein Lehrer, der bei diesem Fest getötet wurde, leicht als ein Versöhnungsopfer angesehen werden.

Aber es gibt im Alten Testament auch Spuren einer messianischen Bewegung, die mit dem Jesusnamen in einer allerdings nicht sicher bestimmbaren Periode vor der christlichen Ära verknüpft wurde. Im Buch des Sacharia, dessen sechs erste Kapitel viel später als die übrigen anzusetzen sind, wird ein Jesus (hebräisch Josua) ein Hoherpriester genannt, der im messianischen Sinne als der »Zweig« figuriert und als Priester und König zweimal gekrönt wird. Bei dem Dunkel, das auf dem größten Teil der prophetischen Literatur liegt, lässt sich schwer sagen, welche historischen Taten dieses symbolische Stück abbilden soll; aber irgend etwas muss es doch bezeichnet haben. Auf alle Fälle folgt daraus, dass viel Gewicht auf das Symbol des »Zweiges« (resp. »Sprößlings«) gelegt wurde, im vorliegenden Text des Sacharia mit tsemach, aber bei Jesaia mit nazar resp. nezer wiedergegeben.

Bei den Heiden gehörte dieses Symbol zur Verehrung verschiedener Götter und Göttinnen, z. B. des Mithras, des Attis, des Apollo und des Demeter, und scheint das Lebensprinzip unter dem Typus des Pflanzenlebens bedeutet zu haben; bei den Juden war es bestimmt mit dem damals allgemein verbreiteten Glauben an das Kommen des Messias, der die jüdische Unabhängigkeit wiederherstellen sollte, ver¬knüpft. Es ist daher nicht unmöglich, dass aus diesem Grunde eine messianische Partei »Nezeriten«, resp. »Nazaräer«, genannt wurde. Eine solche Sekte konnte nach jüdischem Brauch allerlei Andeutungen in dem Namen des Hohenpriesters finden, da Jesus (= Josua) Retter bedeutet und der alte und mythische Josua ein typischer Erretter war. Die mosaische Verheißung (Deut. XVIII, 15) eines späteren Propheten und Führers, die in der Apostelgeschichte auf den gekreuzigten Jesus angewandt wird, wurde in früheren Zeiten von den Juden auf Josua bezogen, der dem Moses nachfolgte; und man darf in diesem Fall mutmaßen, dass ein älterer Mythus oder Kult, der sich um diesen Namen drehte, zu jener historischen Fiktion der hebräischen Bücher Anlass gab. In vielen sehr alten Manuskripten steht im 5. Vers des Judasbriefes »Jesus«, während unsere Version »der Herr« lautet, ein Umstand, der noch einen anderen Josuamythus vermuten lässt. Aber die Sache muss dunkel bleiben. Es gibt sogar einige unsichere Zeugnisse von der späteren Existenz einer Sekte der »Jessener«, die vielleicht von der historischen Sekte der »Essener« zu unterscheiden ist und ihre Entstehung aus Jesaias »Zweig aus der Wurzel Jesses« herleitet.

Daher ergeben sich nun folgende historische Möglichkeiten: Eine arme Sekte oder Kaste der Ebionim, die sich vom orthodoxen Judentum abhob und der Bevölkerung Samariens freundschaftlich nahe stand, hat in der nachexilischen Periode bestanden und hat entweder einen alten Jesuskult mit einem bestimmten Sakrament beibehalten oder eine Bewegung unter den Samaritanern, die später war, in sich aufgenommen. Daraus könnte sich die »Nazarener«-Sekte der christlichen Geschichte entwickelt haben. Andrerseits kann eine Sekte der »Nazarener« , die den messianischen Jesusnamen festhielt, in der vorrömischen Periode existiert haben, aber dann, als die frühere und politische Form der Messiashoffnung dahinwelkte, dazu gekommen sein, sich ganz besonders als Ebionim oder »Arme« zu geben. Ihr Name kann auch Veranlassung gewesen sein, dass sie mit den »Naziriten« des Judentums vermengt oder verbunden wurden, mit jenen Naziriten, die eine zahlreiche aber fluktuierende Gemeinschaft mit für bestimmte Zeiten geltenden Enthaltsamkeitsgelübden bildete.

Aber diese Gemeinschaft wiederum kann sich überhaupt zu einer messianischen weiterentwickelt und dann das messianische »Wurzelreis« in der dem Judentum so geläufigen Art, alles buchstäblich zu nehmen, adoptiert haben, obgleich sie trotzdem fortfuhr, sich selbst im alten Sinn Nazariten zu nennen. Es ist ja in der Tat auch in der Schrift gesagt, dass einige Juden Gelübde ablegten, »Nazariten« zu werden, »wenn der Sohn Davids kommen sollte«. Solchen stand es frei, am Sabbath Wein zu trinken, während es ihnen an Wochentagen verboten war. Solche Nazariten können die ersten Abendmahlsversammlungen der Christgläubigen gebildet haben. Und da das hebräische Nazir (Septuaginta = griechisch Nazoraios) die Bedeutung von geweiht und dem Herrn geheiligt hatte, so können die ersten Heidenchristen es sehr wohl in ihre eigene Sprache übersetzt haben, statt es nur in ihr Alphabet zu übertragen. Unter diesem Gesichtspunkt können die Hagioi oder »Heiligen« der Apostelgeschichte, der Briefe und Apokalypse durchaus für die »Naziriten«, die »devoti« gestanden haben.

Wenn wir indessen sehen, dass die späteren Nazarener, wie berichtet wird, die (deutlich späten) beiden ersten Kapitel des Matthäus annahmen, während die Ebioniten sie verwarfen, und wenn wir weiter sehen, dass diese Kapitel, die die Geschichte von der Flucht nach Ägypten enthalten, Jesus zugleich zu einem Juden- und Heidenchristen machen, so geht daraus hervor, dass die heidnische Bewegung damals eine Rückwirkung auf die jüdische ausgeübt hat, und dass die ultrajüdischen Jesusgläubigen den Namen Nazaräer jetzt den weniger Strengen überlassen hatten, die in diesem Stadium wahrscheinlich ein griechisches Evangelium gebrauchten. Da schließlich der ursprüngliche Sinn von »Nazirit« entweder ein jüdisches Gelübde, das den Heidenchristen und wahrscheinlich auch vielen Judenchristen ärgerlich war, in sich schloss oder dem Stifter eine spezifisch jüdische Eigenart beilegte, und da das Wort »netzer« (vorausgesetzt, dass es mit dem Sektennamen zusammenhing) einen politischen, antirömischen Beigeschmack hatte, — antirömisch war, so fing man an, für den Ausdruck eine andere Bedeutung zu suchen. Diese wurde zweifellos auf Anstiften der Heiden, die gewohnt waren zu hören, dass jüdische Sektierer »Galiläer« genannt wurden, in der Fiktion gefunden, dass der Stifter in dem galiläischen Dorf Nazareth oder Nazara erzogen worden sei, obgleich man vorkündigte, dass er als Messias in Bethlehem geboren war.

Jener Bericht ist also nicht, wie es selbst von vielen nur nach den Prinzipien des gesunden Menschenverstandes verfahrenden Geschichteschreibern angenommen wird, eine geschichtliche Tatsache. Er ist vielmehr in Wirklichkeit ein geschickter Mythus, der dem Bethlehemitischen aufgesetzt ist. Die Textanalyse zeigt, dass der Name Nazareth, wo er auch in den Evangelien und der Apostelgeschichte vorkommen mag, in diese Schriftwerke eingeschmuggelt ist.

Hieraus jedoch entstand die griechische Form »Nazarenos«, die schließlich den kanonischen Evangelien gewissermaßen angehängt wurde. Dies gilt besonders vom Markusevangelium, das im Interesse der kirchlichen Ordnung von römischen Gesichtspunkten aus redigiert zu sein scheint. Natürlich adoptierte die lateinische Vulgata denselben Terminus für die Evangelien und die Apostelgeschichte; nur nicht in der schwierigen Stelle Matth. II, 23. Sonst lauten die Texte fast alle zugunsten der Form Nazoraios, d. h. Nazaräer oder Nazirit.


§ 3. Die Persönlichkeit des nominellen Stifters
Selbst Gemüter, die gewohnt sind, Erlöser der Menschen wie Apollo und Osiris, Krischna und Mithras, die lange verehrt wurden, als mythisch anzusehen, müssen zuerst erschrecken, wenn sie dem Gedanken begegnen, dass auch eine Gestalt wie die des Jesus der Evangelien, eine Gestalt, die so lange von der Hälfte der Menschheit hebend verehrt wurde, keine historische Realität besitzen soll. Es war das Resultat von Forschungen, die sich über Menschenalter erstreckten, dass der Rationalismus begann, auch die Wirklichkeit jenes Lehrers zu bezweifeln, die er bis dahin bei dem Halbgott der evangelischen Berichte ohne Bedenken angenommen hatte. Die ersten freilich, die erkannten, dass Jesus eine rein mythische Gestalt ist, waren die Forscher, die besonders auf die in der Geschichte sich wirksam erwiesenen Mythen Acht gegeben hatten. Die Rückkehr zur Lehre Jesu selbst bedeutete die Wiederentdeckung der einst vernommenen wirklichen Stimme. Der Forscher muss erst eine weitere Analyse, eine gewissenhafte Prüfung der Texte vornehmen, ehe er einen Begriff davon bekommt, wie trügerisch jener Eindruck in Wirklichkeit ist.

Wir behaupten nicht, dass schon allein die späte Entstehung der Evangelien ihnen die Autorität als Beweisurkunden nimmt (denn sie entstanden auf Grund früherer Dokumente), wohl aber, dass sie nachweisbar durchweg das Produkt einer sich durch verschiedene Generationen hinziehenden Entwicklung sind, und dass die frühesten Abschnitte erst lange nach der Periode, mit der sie sich befassen, zusammengestellt wurden. Die älteren Teile der Paulinischen Briefe zeigen nicht die geringste Bekanntschaft mit einer Lehre Jesu — ein Umstand, der die Vermutung nahe legt, dass der Jesus des Paulus der Zeit des Paulus weit ferner liegt, als es die Berichte zugeben wollen.

Später findet man, dass die christlichen Schreiber eine Reihe von Erzählungen besitzen, die augenscheinlich in jeder Generation mehr erweitert wurden, bis gegen Ende des 2. Jahrhunderts die vier kanonischen Evangelien vorhanden waren, von denen jedoch auch dann noch nicht bekannt ist, dass sie vollständig waren. Celsus sagt in seiner antichristlichen Abhandlung, die, wie man vermutet, zwischen 170 und 180 geschrieben wurde, von den Evangelien, dass mit ihnen endlose Abänderungen vorgenommen worden sind. Selbst nach der Zeit des Origenes, der dem Celsus nur entgegnen konnte, dass die Änderungen das Werk von Häretikern wären, waren noch Zusätze möglich. Neben den vier Evangelien war eine Menge apokryphischer Evangelien entstanden, von denen einige lange Zeit ebenso populär wie die kanonischen waren, obgleich sie schließlich sämtlich durch die Konzilien der Kirche verdammt wurden. Der Grundsatz, von dem man sich bei ihrer Ausschließung leiten ließ, entsprach im wesentlichen den Prinzipien der prüfenden Kritik moderner Zeiten, — es war das kritische Empfinden für die Inferiorität bloßer Wundergeschichten, gegenüber solchen Erzählungen, die außer Wundern auch Elemente moralischer Unterweisung enthielten.

Im natürlichen Verlauf der Dinge verwirft die Kritik zuerst immer die Wunderepisoden, dann schließt sie solche Lehren aus, die von einem Gottmenschen stammen sollen, und endlich sucht sie aus den Lehren, welche dann noch übrig bleiben, auf eine Persönlichkeit zu schließen.
Aber weil beides ganz disparate Dinge sind und sogar einander ausschließen, so endet der Prozess gewöhnlich mit einer Auswahl, von der man selbst zugeben muss, dass sie willkürlich ist, und jeder solchen Auswahl wird ein genaues Studium der Texte verhängnisvoll. Stellt man, wie einige tun, das 4. Evangelium beiseite und nimmt dann seine Position bei den Synoptikern ein, so bedeutet das nur ein künstliches Aufhalten des kritischen Prozesses, der bei konsequentem Verfahren zu der Überzeugung führt, dass die Synoptiker ein Produkt der gleichen Triebkräfte sind und unter dem Walten einer ähnlichen ungezügelten Erfindungsgabe und Interpolationskunst zustande kamen, wie wir es bei den ganz offenbaren Fiktionen im Evangelium des Johannes finden. Wir werden mit unentrinnbarer Notwendigkeit zu dem Schluss gedrängt, dass kein einziger Lehrsatz jenem schattenhaften Stifter zugeschrieben werden kann, der auch für Paulus nur ein gekreuzigtes Phantom war. Seine humanistischen Lehren sind nicht ursprünglicher und ebenso interpolationsbedürftig wie die mystischen und orakelhaften. Einige seiner besten Aussprüche gehören zu den spätesten. Einige der engherzigsten müssen der frühesten Tradition zugeschrieben werden. Nehmen wir sie alle zusammen, so lassen sie auf hundert Bearbeiter schließen.

Angenommen, der nominelle Stifter des paulinischen Jesuskults sei möglicherweise der getötete Jesus Pandira des Talmuds 100 Jahre vor Christus gewesen, so fragen wir zunächst, ob nicht die Vermutung nahe liegt, dass ein solcher Stifter irgend etwas gelehrt hat, damit die Menschen auf ihn als einen Messias hinblickten und seinen Namen nicht vergaßen? Die Antwort darauf lautet, dass schon der Name allein ein gut Teil der Qualifikation eines jüdischen Messias ausmachte, dass der Zufall seiner Hinrichtung an einem Passahabend ihm in den Augen vieler Juden einen mystischen Nimbus verschaffte, und dass die Geschichte seiner Auferstehung, eine Geschichte, die sich bei einem Hexenmeister, wie der talmudische Jesus gewesen sein muss, leicht bildete, alle die Bedingungen in sich schloss, die für das Aufkommen eines Mythus und eines Kultus nötig waren, wenn wir nämlich bedenken, dass die jüdische Tradition die Ankunft des Messias am Passahtage um Mitternacht erwartete.

Zweifellos kann der Hexenmeister, von dem wir hier sprechen, ein Lehrer gewesen sein, der Neuerungen aufbrachte, und sehr leicht ist es auch möglich, dass er als ein Träger des entscheidenden Namens messianische Ansprüche erhoben hat; die Todesform, die man über ihn verhängt haben soll, zwingt uns an eine ganz entschiedene Feindschaft von Seiten des Priestertums aus politischen Gründen zu denken. Von seinen Aussprüchen jedoch hat die Geschichte uns nichts aufbewahrt; selbst im Talmud hat die Erzählung von ihm einen legendarischen Anstrich bekommen. Darum ist es nicht einmal sicher, dass der ursprüngliche Jesuskult sich aus dem Andenken an eine wirkliche Persönlichkeit herausbildete. Der mythische Josua (Jesus) des Alten Testaments scheint wie Samson aller Wahrscheinlichkeit nach ein alter semitischer, jedoch ein nichtjüdischer Sonnengott gewesen zu sein. Sein Name, »der Heiland«, war ein gebräuchliches, göttliches Beiwort; und da er in der arabischen Tradition der Sohn der mythischen Miriam (Maria) ist, so ist es leicht möglich, dass die Wurzeln des geschichtlichen christlichen Kults bis in ein unvordenkliches Altertum bei den Semiten, wo bereits der Name Jesus göttlich verehrt wurde, zurückweisen. Im Schatten dieses Namens bergen sich die Anfänge dieses Kultes.

Deutlich ist nur das eine, dass das Kernstück der Biographie Jesu in den Evangelien, die Erzählung von der Feier des letzten Abendmahls und die Geschichte seines Leidens, des Verrats, Verhörs und der Kreuzigung weder auf dem Bericht eines Zeitgenossen, noch auf einer geschichtlichen Tradition basiert, sondern lediglich die Nachahmung eines Mysteriendramas ist. Den Beweis dafür ergibt die ganze Struktur der betreffenden Kapitel. Jeder aufmerksame Leser des Berichts über das letzte Mahl, den Verrat, das Leiden, das Verhör und die Kreuzigung im ersten Evangelium muss sehen, dass es eine Reihe dicht aufeinander folgender Szenen bringt, die auch nicht eine solcher Betrachtungen enthalten, wie sie sich einem Erzähler wirklicher Ereignisse ganz von selbst aufdrängen. Auch finden wir keine Spur, dass der Verfasser eine Empfindung für die außerordentliche Unwahrscheinlichkeit der lose hingeworfenen Reihenfolge dieser Szenen hat. Nun ist aber selbst bei großen Meistern wie Shakespeare und Ibsen eine mehr oder weniger unnatürliche Zusammendrängung der Ereignisse das spezifische Kennzeichen des Dramas.

Und auch das alte Mysterienspiel hat, wie man es auch gar nicht anders erwarten kann, eine außerordentlich gedrängte Folge der Szenen. Man wollte es der anerkannten griechischen Regel konform gestalten, nach der die Handlung eines Dramas sich innerhalb 24 Stunden abspielen musste. So lässt der Verfasser unseres Evangeliums Jesus nach Einbruch der Dunkelheit das Abendmahl feiern, dann lässt er ihn ohne sichtbaren Grund mit seinen Jüngern, die schlafen, während er betet, in die Nacht hinaus gehen; dann wird er in der Dunkelheit durch eine »Menge« gefangen genommen und schließlich direkt zum Hohenpriester geführt, »wo die Schriftgelehrten und Ältesten des Volks versammelt sind«. Diese gehen nun, immer wieder in der Nacht, dazu über, »falsche Zeugen zu suchen«, und »viele falsche Zeugen« treten umsonst auf, bis »nachher« zwei andere erscheinen und die Worte Jesu vom Abbrechen des Tempels bezeugen. Darauf wird er verurteilt und mit Fäusten geschlagen, und diese nächtliche Geschichte endet mit der Verleugnung des Petrus. Es wird uns nicht der geringste Ausweis gegeben über das, was Jesus auf dem Wege vom Abendmahl bis nach Golgatha und in der Zeit, die zwischen den beiden Verurteilungen durch die Juden und Römer liegt, gesagt, getan und empfunden hat.

Eine solche Erzählung kann von Haus aus gar nicht für das Auge eines Lesers komponiert worden sein. Ein Schriftsteller, mochte er nun dichten oder nach Hörensagen erzählen, müsste doch wenigstens den Versuch einer Erklärung des so sonderbarerweise in die Länge gezogenen mitternächtlichen Verfahrens der Hohenpriester und Schriftgelehrten und Volksältesten machen; er müsste an die Ausfüllung der zwischen den Ereignissen liegenden Zeit gedacht haben; er müsste endlich auch an den Herrn in seinem Kerker gedacht haben. Die uns vorliegende Erzählung berichtet genau, was szenisch dargestellt werden konnte; aber nicht mehr. Und während auf der Bühne die aufeinander folgenden Szenen die Frage nach der Zeit, die alles trennt, gar nicht aufkommen lassen, — büßt eine nicht reflektierende Erzählung jegliche Wahrscheinlichkeit ein, wenn sie alles in ununterbrochener Folge sich abspielen lässt, und wenn sie den Meister Gebeteworte äußern lässt, die abgesehen vom Hörer im Drama sonst niemand vernehmen konnte.

Im Spiel konnte man leicht ohne Zeitverlust nach den »falschen Zeugen« senden und sie auftreten lassen, und die Handlung hätte bei einer den breiten Schichten angehörigen Zuhörerschaft nie Verwunderung erregt, — aber die Erzählung verliert auch den letzten Schimmer von Wahrscheinlichkeit, wenn man eine dramatische Handlung in einen historischen Vorgang verkehrt. Nach der leeren, einfältigen Pause bis »als es Morgen geworden war« wird die Handlung vor Pilatus mit derselben dramatischen Eile wieder aufgenommen und die Exekution erfolgt, was ganz unmöglich ist, unmittelbar nach dem Verhör. Wir lesen hier die nackte Übertragung eines Mysteriendramas, eine Übertragung, die so offenkundig ist, dass in der Leidensszene die Rede, die mit den Worten beginnt: »Schlafet jetzt«, und die andere, die anhebt: »Auf, lasst uns gehen«, so aneinandergefügt sind, als handle es sich um eine einzige Äußerung. Das dazwischen nötige Abtreten und Wiederauftreten wird nicht erwähnt.

Eine solche ganz offenkundig dramatische Komposition kann nur als eine nach der Weise der heidnischen Mysteriendramen aus einem uralten Ritus, bei dem Menschenopfer üblich waren, vor sich gegangenen Entwicklung angesehen werden. Wir wissen ja, dass solche Menschenopfer lange Zeit nicht bloß bei den Juden, sondern auch bei anderen semitischen Völkern gebräuchlich waren. Bei jenem alten Ritus spielte wahrscheinlich auch der Jesusname, allerdings nur der Name als solcher, eine Rolle, und das in den Evangelien vorliegende Dokument ist vermutlich eine nach dem Fall von Jerusalem aus einem einfachen und älteren jüdischen Ritualdrama vorgenommene Zustutzung, daher haben wir es hier nicht mit einer historischen Darstellung, sondern nur mit einem Mythus zu tun, — mit einem Jesus, der nicht einem Mohammed, sondern nur einem Dionysos und Osiris gleichkommt.

Ein Dokument wie die Geschichte vom letzten Abendmahl und ihren Folgen in den Evangelien ist schon an und für sich ein Beweis dafür, dass dem geistlichen Schauspiel in einer gewissen einfachen Gestalt die Priorität vor der Erzählung in den Evangelien gebührt. Nach dem gegenwärtigen Umfang der Erzählung muss das Spiel einem Stadium der Bewegung angehören, in dem sie bereits einen heidnischen Anlauf genommen hatte. Und wenn man sich später damit begnügte, es lediglich für die Lektüre schriftlich zu fixieren, so wird das wohl zu einer Zeit geschehen sein, als die Christen durch die Verfolgungen daran verhindert waren, ihre heiligen Gebräuche zu verrichten und Feste zu feiern; noch wahrscheinlicher ist es aber, dass es zu einer Zeit vor sich ging, wo die Hierarchie aus Gründen der Klugheit und Disziplin beschloss, die regelmäßigen Zusammenkünfte beim dramatischen Schauspiel aufzugeben. Selbstverständlich folgt daraus nicht, dass auch von den didaktischen Teilen des Evangeliums vor der Abschrift des Spiels noch nichts schriftlich vorhanden gewesen wäre; aber die Tatsache, dass auch nicht eine einzige der Paulinischen Episteln eine der Jesuslehren zitiert und dass der erste Clementinische Brief nur ein- oder zweimal darauf anspielt, begründet hinreichend die Annahme, dass sie nur sehr allmählich in die Erscheinung traten.

Die Entwicklung der Dramatik lag naturgemäß zum größten Teil oder ganz in heidnischen Händen. Es ist jedoch nicht sicher, dass die späteren Juden dem Drama, das ihnen zum Teil von den Herodianern aufgezwungen war, einmütig abgeneigt blieben; und der Versuch, die Entstehung der Apokalypse dramatisch zu erklären, ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen; aber wir müssen doch dabei beachten, dass die meisten deutlich dramatischen Teile in den Evangelien gerade diejenigen sind, welche nach heidnischem Muster die Schuld der Kreuzigung den Juden zuschieben.

Als die Kirche daranging, eine Übersicht über ihre Geschichte zu geben, gelang es ihr nicht, das Jahr der Geburt ihres angeblichen Stifters genügend zu fixieren, und man ließ die christliche Ära einige — zwei, drei, vier, fünf oder acht Jahre später beginnen, als nachher die Chronologisten, um ein Einverständnis mit ihrer genausten Urkunde herzustellen, anzusetzen gezwungen waren. Ihre Angaben haben jedoch nicht mehr Wert, als irgendeine andere beliebige Vermutung.

So wenig auch nur von dem Schein eines historischen Zeugnisses besitzen die Evangelien, dass es einfach unmöglich ist, auf ihrer Grundlage irgendeine Behauptung bezüglich der Dauer der Wirksamkeit des Gottmenschen aufzustellen; die früheste Kirche hielt im allgemeinen an der Überlieferung fest, dass diese genau ein Jahr währte, eine Meinung, die wiederum direkt auf mythische Voraussetzungen hinweist, da es sich bei ihr wiederum um eine dogmatische Annahme, die zu ihrer Grundlage die Formel von dem »angenehmen Jahr des Herrn« hatte, oder um eine Zurückverweisung auf die Geschichte des Sonnengottes handelt. Aus dem Leben des angenommenen Stifters besitzen wir für das 12. bis 30. Lebensjahr — und das ist wiederum eine mythische Perlode — nicht ein einziges Datum, weder mythischer noch nichtmythischer Natur, obgleich er bei seinem Tode als der Mittelpunkt eines großen, ihn verehrenden Anhangs dargestellt wird.

Seine Geburt endlich wurde zur Wintersonnenwende angesetzt, dem Geburtstag des Sonnengottes in den beliebtesten Kulten; und weil die Kreuzigung als etwas alljährlich wiederkehrendes dargestellt wird, so musste ihr Datum von Jahr zu Jahr wechseln, damit es sich dem astronomischen Grundsatz, nach dem die Juden, den Sonnenverehrern folgend, ihr Passah fixiert hatten, einfügte. Alles, was zwischen diesen ganz legendarischen Zeitabschnitten liegt und von den Evangelien als historische Tatsache ausgegeben wird, ist lediglich zufällige und absichtliche Erfindung, die für die wissenschaftliche Analyse, welche nach der Art objektiver Geschichtsforschung verfährt, nicht einmal ein wenig Schaum übrig lässt. Ehe jedoch ein mitempfindender Forscher sich ein solches Urteil aneignet, greift er lieber zu dem alten Argument, dass sich eine solche Gestalt, wie die des Jesus in den Evangelien, weder durch zufällige Fabeln noch ab
sichtliche Erdichtung schaffen ließ, dass seine moralische Gestalt weit über all den Männern steht, die wir in der Periode, in der die Evangelien entstanden, aufweisen können, und dass die geistige Geschlossenheit Jesu die Theorie einer literarischen Mosaik ausschließt. Darauf muss zuerst geantwortet werden, dass diese Behauptungen etwas Unerwiesenes als erwiesen voraussetzen und die Tatsachen einfach fälschen.

Dass die Gestalt Jesu in den Evangelien in Wirklichkeit der moralischen Geschlossenheit entbehrt, geht aus den vielen Versuchen, eine Einheit herzustellen, hervor, die allesamt vieles aus den Berichten weglassen. Und der Anspruch auf moralische Überlegenheit fällt dahin, selbst abgesehen von der ganz deutlichen Tatsache, dass die Texte nur Niederschläge sind, sobald wir sie mit der gleichzeitigen und vorangehenden ethischen Literatur der Juden, Griechen, Römer und Hindus vergleichen. Es gibt nicht eine einzige Lehre in den Evangelien, für die sich nicht dort eine Parallele fände. Und die Stellen, die für höchst charakteristisch ausgegeben werden, z. B. die Bergpredigt, sind nur Kompilationen früherer jüdischer Aussprüche. Daher ist die Einheit, die man den Berichten beimisst, und die Persönlichkeit, die man dem Stifter zuschreibt, nur eine Schöpfung derselben sich immer gleich bleibenden Phantasie der Menschen, die um die Gestalten eines Dionysos und Buddha Gewebe der Dichtkunst und des Pathos spann und für den Kultus des Krischna ihr eindrucksvollstes Dokument schuf, als dieser Kultus bereits uralt war und jenseits jeglicher Berechnung lag. Wie der Mensch seine Götter schuf, so hat er sich auch seine Christusse geschaffen. Es wäre in der Tat sonderbar, wenn dasselbe Vermögen, das das eine zustande brachte, nicht auch das andere hätte schaffen können.

§ 4. Der Mythus von den zwölf Aposteln

In einem der Paulinischen Briefe, von denen man gewöhnlich meint, dass sie der Zeit angehören, die unmittelbar der des Stifters folgte, werden wohl drei Hauptapostel, mit denen Paulus Disputationen hatte, aber keine gleichzeitige Gruppe von zwölf Aposteln erwähnt; die einzige geschichtliche Anspielung auf diese letztere Zahl findet sich in einer der Interpolationen zum 1. Korintherbrief, wo sie ein Lappen auf einem andern Lappen zu sein scheint. In der Apostelgeschichte, die, wenn auch eine betrügerische, so doch uralte Kompilation ist, gibt es eine Vorgeschichte über die Wahl eines Apostels, der den Platz des toten und in Ungnade gefallenen Judas ausfüllen soll; aber es findet sich dort niemals wieder die Absicht, später diese Ergänzungswahl noch einmal zu wiederholen, ja, die Majorität der Zwölf verschwindet sogar überaus eilig vom Schauplatz der Geschichte.

Wir haben es hier noch einmal mit einem Mythus zu tun. In der Offenbarung St. Johannes wiederum hat sich der christliche Interpolator, nachdem die jüdische Original-Urkunde ein neues Jerusalem mit 12 Pforten und 12 nach den 12 Stämmen genannten Engeln gezeichnet hat, durch die plumpe Erfindung der 12 Grundschichten, die nach den 12 Aposteln des Lammes genannt werden, verraten, während ein christlicher Autor den Aposteln doch in erster Linie die Bewachung der Eingangstüren übergeben haben würde, wenn wirklich eine Liste von 12 Jesus-Aposteln existiert hätte. Im Himmel ist das Lamm nicht von 12 Jüngern, sondern von den 24 Presbytern umgeben, die aus einem alten, wahrscheinlich babylonischen Kultus, der 24 »Berater-Götter« hatte, stammen. In den Evangelien ist der Mangel einer historischen Grundlage nicht weniger bedeutungsvoll. Umständliche, aber miteinander unvereinbare, offenkundig mythische Berichte werden über die Wahl von 4 oder 5 Aposteln gegeben, während hinterher die Erzählung ohne ein Wort der Vorbereitung zu der plötzlichen Konstituierung einer Gruppe von Zwölfen übergeht, wobei sich nur in einem Falle das mythologische Detail findet, dass sie von dem Meister auf einem Berg berufen wurden. Daher sind die Zwölf in den Berichten nicht gerade ein frühes Datum; sie sind vielmehr in Urkunden eingeschoben, die keine derartigen Angaben enthielten, sondern ursprünglich nur Gruppen von fünf, vier und drei Jüngern hatten.

Die Lösung des Problems, das uns der Ursprung dieser Fiktion aufgibt, steht jetzt geschichtlich einigermaßen sicher. Es ist nämlich registriert, dass der jüdische Hohepriester aus der letzten Zeit des Tempels und nach ihm der Patriarch von Tiberias bestimmte »Apostel« als Abgabensammler und Kontrolleure der vielen in den benachbarten Königreichen verstreuten gläubigen Juden benutzten. Nach gewöhnlichem jüdischem Brauch waren dies zwölf. Da sich nach dem Fall des Tempels die zerstreute jüdische Masse weit verstreute, so ist es wahrscheinlich, dass neben dem höheren Grad der Zwölf eine Körperschaft von 72 Sammlern geschaffen wurde, die der traditionellen Zahl der »Nationen« in der jüdischen Lehre entsprachen. Eine solche Körperschaft ist wahrscheinlich die Basis für die, wie jeder zugibt, mythischen 70 resp. 72 Jünger im 3. Evangelium. In diesem Stadium scheinen die Zwölf hauptsächlich lehrende und ordnende Funktionen ausgeübt zu haben; denn es ist klar, dass das halbchristliche Schriftstück: die Lehre der zwölf Apostel, das 1873 entdeckt und 1883 veröffentlicht wurde, ursprünglich ein rein jüdisches Handbuch mit moralischen Ermahnungen war und als solches seinen noch heute vorhandenen Titel trug. Zu den 6 oder 7 rein jüdischen und der Jesuslehre nicht angehörigen Kapiteln, aus denen das Original bestanden zu haben scheint und die Stellen enthalten, welche in der sogenannten Bergpredigt später kopiert wurden, wurden allmählich andere hinzugefügt, die die Riten der Taufe und des Abendmahls, den Jesusnamen, die Lehre von der Trinität und verschiedene Vorschriften für ein haushälterisches Verhalten enthielten.

So wurde ganz allmählich ein Kult, in dem Jesus der Diener Gottes genannt wurde, auf eine ursprüngliche jüdische Morallehre gepflanzt, wobei der Nimbus der jüdischen 12 Apostel die ganze Zeit hindurch sich forterhielt. Man gab dieser Schrift einen christlichen Ursprung, als man den Mythus der Evangelien von den 12 Aposteln ersann. Nach der Zeit des Athanasius geriet die erweiterte Urkunde, die immer noch sehr viel Jüdisches an sich trug und auch sonst für die Zwecke der organisierten Kirche ungeeignet war, allmählich außer Gebrauch; aber der Mythus blieb.

Bezüglich der drei »Haupt«apostel, die in einem der Paulinischen Briefe genannt werden, besteht die wohlbegründete Annahme, dass sie entweder Hauptverbreiter des Jesuskultes waren, wie er zur Zeit jenes Schreibens bestand, oder wenigstens in der späteren Tradition dafür gehalten wurden; aber die Annahme, dass sie Gefährten und Schüler des Stifters gewesen wären, muss mit dem ganzen Rest der Evangelien-Tradition aufgegeben werden. Sie wurden notwendigerweise von den späteren Kompilatoren in die Evangelienerzählungen verwoben. Aber die Epistel an die Galater ist überhaupt verdächtig, dass sie interpoliert, wenn nicht ganz und gar gefälscht ist; und schon ihre bloße Namhaftmachung der jüdischen Apostel gibt ebensoviel Veranlassung zu Fragen, wie sie eine Tatsache ist, die eine Deutung verlangt. Es ist ferner wahrscheinlich, dass der Titel »Brüder des Herrn« ursprünglich ein Gruppenname war, und dass seine buchstäbliche Deutung ein Missverständnis der späteren Interpolatoren der Briefe und Evangelien ist.

Der Name des Petrus endlich wurde der Kern vieler Mythen, und die beiden Episteln, die seinen Namen tragen, haben so wenig Beziehung zu der in den Evangelien geschilderten Persönlichkeit, dass beide weiten Kreisen als Fälschung verdächtig sind. Der zweite Brief ist in der Tat schon in der Zeit des Eusebius so angesehen worden. Der Simon Petrus (Kephas) der Evangelien ist schon an sich eine rein literarische Schöpfung, an der das einzige Gute die Tatsache ist, dass sich um die fraglichen Namen, die beide mythologisch sind, eine Tradition bildete: Petrus (der Fels) ist der Name eines ägyptischen Gottes und der populären östlichen Gottheit Mithras, und Simon ist der Name eines nicht weniger populären Gottes. In seiner schließlichen Stellung als Haupt der Zwölf, als der Träger der Kirche und als Verwalter der himmlischen Schlüssel vereinigt Petrus sowohl die Attribute des Mithras und des Janos, die beide offizielle Gottheiten der römischen Militärklasse waren, als auch des ägyptischen Petra, der der Wächter des Himmels, Erden- und Unterwelttores ist.

Der Brief des Jakobus, mag er geschrieben sein von wem er wolle, ist in keiner Hinsicht ein christliches Dokument; er enthält nicht eine einzige Jesus- oder Christuslehre, mit Ausnahme vielleicht der beigefügten Schmährede gegen die Reichen, die ebionitisch klingt.
Von seinen beiden Anführungen Jesu ist die eine deutlich eine Interpolation und die andere ist es wahrscheinlich. Es bleibt nur eine moralische Ermahnung an die Juden, die sich in den Synagogen zusammenfinden, übrig, eine Lehre, die sich genau mit der originellen und vorchristlichen Lehre der zwölf Apostel vergleichen lässt, obgleich die Epistel keinen der übrigen Apostel sonst noch erwähnt. Dieses Schreiben berichtet von einer Propaganda, die von der den Christen sonst eigentümlichen wesentlich verschieden war; und dass man sie aufbewahrte, ist ein Zeugnis für ihre Priorität. Dagegen gehören die dem Johannes zugeschriebenen Briefe einer beträchtlich späteren Periode an. Sie berichten von einer schwärmerischen Bewegung, die beim Namen Jesu Christi, als eines der starb, um die Sünde zu tilgen, schwört, aber auch voll von Besorgnissen in Bezug auf seine Ankunft und des Wirkens vieler Antichriste ist.

Judas,
der in keinem der Briefe erwähnt wird, und dessen sagenhafter Verrat weder in dem kürzlich entdeckten »Petrusevangelium«, noch in der pseudopaulinischen Bezugnahme auf die »Zwölf« vorkommt, ist eine späte Schöpfung. Wahrscheinlich hat er zuerst als ein einfacher Joudaios, als ein Jude, in einem frühchristlichen Mysterienspiel von der Kreuzigung und Auferstehung Gestalt gewonnen. In mythologischer Hinsicht kann die Idee, die dieser Person zugrunde liegt, von dem Diabolos - »Gegner« der persischen Lehre herstammen, da Judas in den Evangelien »ein Teufel« genannt wird; und die Überlieferung, die ihm rotes Haar gibt, assimilierte ihn mit Tyfon, dem Mörder des ägyptischen Erlösergottes Osiris. Andererseits kann der Name eine mythologische Beziehung zu dem Verrat des Joseph durch seine elf Brüder, unter denen Judas der Hervorragendste war, haben. Die Verratsgeschichte in den Evangelien ist jedenfalls erdichtet, und ihre Existenz lässt sich am besten durch die Beobachtung erklären, dass solch ein Mysterium, das unter den Heiden entstand, ebenso einen Juden als Verräter des Herrn darstellte, wie die Zwölf als Männer galten, die ihren Meister verließen. Der Beutel zur Aufbewahrung des Blutgeldes wurde eine dramatische Zutat und gab zu der Meinung Anlass, dass Judas der Schatzmeister der Apostelgemeinschaft war.


§ 5. Die ursprünglichen Formen des Kultus
In seiner ersten nachweisbaren, geschichtlichen Gestalt war das Christentum einfach eine Phase des Judentums, da es die Religion einer kleinen Anzahl von Juden und jüdischen Proselyten war, die des Glaubens lebten, dass der lang erwartete Messias in der Person des einen Jesus erschienen sei, der nur zur Errichtung eines Sühn¬opfers getötet war. Solche Gläubige waren gewohnt, einander bei einfachen religiösen Mahlzeiten zu begegnen, wie sie in der griechisch-römischen Welt üblich waren, wo man in halb zeremonieller Weise aß und trank. Ein Opfermahl dieser Art war einer der universellsten Züge der alten Religionen, da es ursprünglich die typische Zeremonie des Stammes war. Obgleich diese Zeremonie bei den Juden in ziemlichem Umfang durch Opfer verdrängt war, an die sich keine Mahlzeiten anschlossen, so war der Brauch bei ihnen doch ebenso allgemein wie bei den Heiden. War sie auch in ihrem Leben selten geworden so war doch der Gedanke daran in ihren heiligen Schriften häufig vertreten. Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass in der vorchristlichen Ära solche Mahlzeiten mit dem semitischen Gottesnamen Jesus oder Josua verbunden waren; sonst müssten wir annehmen, dass ein Teil der Jesusgläubigen, der von dem bloßen Glauben an den Opfertod ausging, willkürlich einen Ritus in Aufnahme brachte, der mit den rohen Kulten der umwohnenden Heiden identisch war, und dass diese Jesusgläubigen auch den Brauch der heidnischen Sonnenverehrer annahmen, sich bei Nacht zu versammeln. Von den bekehrten Korinthern des Paulus wird erzählt, dass sie gleichmäßig am Tisch Jesu (des Herrn) und dem der »Dämonen«, d. h. der heidnischen Götter oder Halbgötter, teilnahmen. Da die weniger orthodoxen Juden lange Zeit hindurch ähnliche »Mysterien« betrieben hatten, so ist es sehr wahrscheinlich, dass private »heilige Abendmahle« selbst in der Judenschaft bei einigen Gruppen längst vor der christlichen Periode in Übung waren, — sei es nun in Verbindung mit dem Namen Jesu, des »Retters« oder auch nicht.

Die Phrase in den Evangelien: »Blut des Bundes« weist auf einen stehenden Gebrauch hin, dessen ursprüngliche Form wahrscheinlich in dem gegenseitigen Zutrinken wirklichen Menschenblutes bei feierlichen Gelübden durch die Parteien bestand. Nach hebräischer Lehre glaubte man, dass ein solcher Bund zwischen der Gottheit und ihren Verehrern auf der einen und unter den letzteren selbst auf der andren Seite errichtet wäre, wenn man am Opfer teilgenommen hätte. Aber es ist auch wahrscheinlich, dass der Gedanke einer mystischen Teilnahme an einem sühnenden und mit Gottes Geist erfüllenden »Leib und Blut« in derselben Art der Verbindung alten Datums war. Solche Übungen machten bestimmt einen Teil der großen asiatischen Kulte des Dionysos und Mithras aus; und da der alte Gedanke einer Opfermahlzeit zu Ehren eines Gottes gewöhnlich der war, dass in gewissem Sinne die verehrte göttliche Macht genossen wurde oder als Teilnehmer zugegen war, so ist mehr denn wahrscheinlich, dass Mahlzeiten, die mit den syrischen Gottesberichten des Adonis und Mamas (beide Namen bedeuten soviel als »der Herr«) in Verbindung standen, die gleiche Bedeutung hatten. Nach alt-christlicher Übung sprach der Ministrant beim Abendmahl im Namen der Person des Stifters und bediente sich dabei der in den Evangelien zitierten Formeln; und da der Priester beim Attiskult gleichfalls die Person der Gottheit darstellte, so liegt eine starke Wahrscheinlichkeit vor, dass dasselbe in vorchristlicher Zeit auch im Judentum geschah, indem man einen noch älteren Brauch, bei dem ein vergöttlichtes Opfertier wirklich getötet und gegessen wurde, modifizierte.

Für solch eine alte Jesus-Eucharistie (die vielleicht ebenso wieder aufgelebt war, wie es mit alten Mysterien in Zeiten nationalen Unglücks nicht bloß bei den Juden, sondern auch bei den übrigen Völkern der Fall zu sein pflegt) konnte eine neue Bedeutung in der Erzählung von einem wirklich getöteten Mann namens Jesus gefunden werden, dessen Tod, da er sich zufällig zur Zeit des Versöhnungsfestes ereignete, ein opferartiges Aussehen erhielt. In der ältesten Lehre ist Jesus sicherlich kein Gott. Er ist nur des Judengottes heiliger Knecht. Das Essen seines symbolischen Leibes und Blutes indessen stand auf gleicher Stufe mit den Riten, in denen Heiden auf mystische Weise Anteil an ihren Göttern bekamen, und es lag darum in der Natur der Eucharistie, dass Jesus göttliches Ansehen bekam, wenn er es auch ursprünglich nicht hatte.

Der Ausdruck »Sohn Gottes«, einst ganz allgemein angewandt, bekam in diesem Falle ein besonderes Gewicht, da es sich hier um den Sprachgebrauch der alten semitischen Doktrin, dass der große Gott Kronos oder Saturn oder El seinen »eingeborenen Sohn« geopfert hatte, handelte. Abraham unternimmt in der Legende der Genesis dasselbe; und Abraham und Isaak waren wahrscheinlich alte Gottheiten. Andrerseits ist die Entwicklung eines fabelhaften Helden aus einem Menschen zum Halbgott und von da zu einer Stellung unter den höchsten Göttern eine in den alten Religionen häufig vorkommende Erscheinung — Herkules und Dionysos sind typische Fälle —, und unter den anerkannten syrischen Kulten gab es einen, der dem Theandrios, dem Gottmenschen, gewidmet war. Gerade für die Juden war der Name Jehovas auf den Messias anwendbar. Es lag ja auch in der Natur des religiösen Instinktes, dass der menschengleiche und die Menschen liebende Gott allmählich in einem Kult, in dem er zuerst untergeordnet war, den obersten Platz einnahm, wie es ja auch in den Kulten des Dionys, Mithras und Krischna geschah. Eine ähnliche Tendenz findet sich bei der Verehrung von Halbgöttern unter den alten Hebräern (Deut. XXXIII, 17, Heb.).

Es ist nicht nötig anzunehmen, dass der christliche Kult sich allein aus einem mystischen Sakrament entwickelte; es kann auch aus einer Vermischung des Brauches der Gedächtnismahle, der einfacheren Agapen oder Liebesmahle des Altertums, mit einem besonderen »Mysterium« geschehen sein. Bezüglich der letzteren kann es viele Spielarten gegeben haben, wie es ja auch später bei den Liturgien der Fall war. Die bescheidenen korinthischen Mahlzeiten scheinen das, was den Agapen und Eucharistien zugrunde lag, kombiniert zu haben. In ersterer Hinsicht scheinen sie nichts weniger als feierlich gewesen zu sein; einige von den Mitgliedern schliefen, andere tranken zuviel — ein rührendes Bild blasser Sehnsucht nach Gemeinschaft bei einer schwerbedrückten Menschenklasse. Aber der ganze Charakter der Eucharistien, die Behauptung, dass man einen unsterblichen »Leib und Blut« darreiche, damit jeder, der davon nähme, durch Essen und Trinken die Wiedergeburt fände, brachte ein Heiligkeitsstreben mit sich; und sobald von einer Christengemeinschaft einer als ein ordentlicher Ministrant bestellt war, strebte er danach, ein Priester der christlichen Mysterien zu werden und seinem Amt einen größeren Nimbus zu verleihen.

Die Hauptsache beim jüdischen Passahfest war das Essen eines Lammes »vor dem Herrn«. Dieser Brauch wurde in jüdischen Kreisen dem Brot- und Wein-Sakrament, »Ceres und Bacchus«, das vielleicht bei den Heiden am gebräuchlichsten war, vorgezogen oder wenigstens damit verbunden. In der Legende des Abraham und Melchisedek, des Priesters der phönizischen Gottheit El Eljon, spielt eine sakramentale Mahlzeit mit Brot und Wein eine Rolle (Gen. XIV, 18); und in dem nicht kanonischen Buch des Predigers Salomonis gibt es eine Stelle (Kapitel 1, 15), die an den Gebrauch von Wein als Symbol für Blut erinnert. Auch die »Schaubrote« scheinen irgendeine sakramentale Bedeutung besessen zu haben. Aber während ein solcher Ritus nur ganz im Hintergrund des Judentums geblüht zu haben scheint, blieb das Passah einer der großen Bräuche der jüdischen Welt; und die ersten Jesusanhänger hielten offenbar daran fest. Es ist tatsächlich eine hierologische Wahrscheinlichkeit, dass das Passahlamm von altersher Jeschu oder Jesus hieß; das war das Sprungzeitsymbol eines Sonnengottes, der so hieß; denn in dem Buch der Offenbarung, das ganz auffallend jüdisch ist, wird das »Lamm« als das bekannte Symbol oder als mystischer Name eines Gottessohnes, »der getötet ist bei Grundlegung der Welt«, gebraucht, und mit einem mystischen Jesus, der mit Jehova eins ist, identifiziert, — dies alles längst, ehe der christliche Kult überhaupt zu einer solchen Lehre gelangte.

Es ist aus mythologischen Gründen wahrscheinlich, dass diese Ausdrucksweise zu der von den späteren jüdischen Schriftstellern mit besonderem Nach¬druck betonten Tatsache in Beziehung stand, dass das Datum des Passahfestes mit dem Eintritt der Sonne in das Sternbild des Widders im Tierkreis zusammenfiel; und die Regel, dass das Passahlamm geröstet und nicht gesotten werden musste, legt gleichfalls die Annahme eines Mythus nahe. Andrerseits ist das Lamm wieder zuletzt das Tier, das in dem Mythus von Abraham und Isaak an die Stelle des geopferten eingeborenen Sohnes Isaak tritt, dessen Name im Hebräischen (Yischak) der für den Namen Jesus (Yeschu) gebräuchlichen Form nahe kommt, und der sich vom mythologischen Standpunkt aus mit einem Gottessohn identifizieren lässt. Auf alle Fälle lässt die apokalyptische Phrase »das Lamm, das für uns geschlachtet ist,« auf ein anerkanntes Sakrament, bei dem ein Lamm gegessen wurde, schließen, ganz wie das Lammessen beim Passahfest, bei dem in früherer Zeit die Opferung erstgeborener Söhne stattfand (Ex. XXII, 29), und das selbst im priesterlichen Mythus als eine Erinnerung an die Verschonung der Erstgeburt Israels erklärt wird, als Gott die ägyptische Erstgeburt vernichtete. An einen solchen nationalen Vorgang anzu¬knüpfen, war das Streben der hebräischen Jesusgläubigen, das sie bei der Praxis der Beschneidung beseelte.

Aber lediglich Armut auf der einen Seite und auf der andern der damals weit verbreitete asketische Trieb, der in manchen Fällen Wasser an die Stelle von Wein setzte, sprach bei den Heiden gegen das Essen wirklichen Fleisches selbst in solchen Fällen, wo man vorgab, Fleisch zu essen und Blut zu trinken. Demgemäß nahm in manchen Gemeinschaften der ersten Christenheit die Opferspeise die Gestalt eines Lammbildes aus Brot an, eine Art Notbehelf, zu dem die heidnische Verehrung mit einer besonderen Form des Tieropfers oft ihre Zuflucht nahm, während andere wirklich ein Lamm aßen und dessen Blut tranken, wie einige Anhänger des Mithras und einige ägyptische Anhänger des Ammon taten. Die paulinische Phrase: »Unser Passah ist auch geopfert, nämlich ,Christus« — sei sie nun interpoliert oder nicht — würde zu beiden Übungen passen; aber dass Juden, die das Passahlamm hochzuschätzen gewohnt waren und glaubten, dass Jesus jenes Lamm darstelle, plötzlich zu einem heiligen Mahl mit einfachem Brot, Wasser und Wein hätten übergehen sollen, ist unwahrscheinlich.

Die Evangelien selbst deuten an, dass bei dem Abendmahl der Tradition ein Gericht andrer Art der Brot- und Wein-Zeremonie voranging.
Auf den ursprünglichen Charakter des Jesus-Ritus fällt Licht durch die Passahstreitigkeiten, in die wir gegen Ende des zweiten Jahrhunderts die östliche und westliche Kirche verwickelt finden. Es handelt sich dabei nominell um die bei den Synoptikern und im vierten Evangelium verschiedenen Berichte über die Kreuzigung. Während die Synoptiker nämlich Jesus das Passahmahl mit seinen Jüngern zur gewohnten Stunde einnehmen und dann am ersten Tage der Woche (der jüdische Tag wurde vom Abend zum Morgen gerechnet) am Kreuz sterben lassen, lässt ihn das vierte Evangelium, was etwas ganz Ungewöhnliches war, das Abendmahl mit seinen Jüngern am Tage vor dem Passahfest einnehmen und gerade zur Stunde des Passahmahles sterben.

Die Idee, die dem zugrunde liegt, ist in der bereits zitierten paulinischen Phrase angedeutet, dass nämlich Jesus von nun ab an die Stelle des Lammes tritt. Und tatsächlich findet man auch, dass die Christen im Osten im zweiten Jahrhundert ihr Osterfasten am Passahtage brechen, während die im Westen es erst am Sonntag der Auferstehung tun. Augenscheinlich hatten die Christen im Osten während der ganzen Zeit einen uralten Brauch, die Eucharistie am Passahfest zu feiern, aufbewahrt. Sie taten dies nicht als orthodoxe Juden; denn sie nannten ihr Mahl ein Mahl der Errettung in christlichem Sinn, und ihre Gegner warfen ihnen auch nicht vor, dass sie jüdischen Neigungen huldigten; aber sie folgerten, dass sie die Eucharistie zur selben Zeit feiern müssten, wo es Jesus mit seinen Jüngern getan hatte, während die Christen im Westen den Standpunkt vertraten, dass die Zeit der Freude und der Erinnerung der Tag der Auferstehung wäre. Die Erklärung liegt darin, dass die Erzählung vom Essen Jesu mit seinen Jüngern ein Mythus ist, wie sie überall gedichtet werden, wenn man einen alten rituellen Brauch rechtfertigen will; dass weiter die jüdischen Verhältnisse ganz naturgemäß der Erzählung eine Gestalt geben, wonach Jesus einem jüdischen Brauch gehorchte; und dass endlich die Christen im Westen, die eben erst in den Kult eingetreten waren, entweder davor zurückschreckten, an dem gleichen Abend, wo Jesus verraten wurde, ein Mahl zu feiern, oder dass sie einem adonisianischen oder attisianischen Brauch folgten, bei dem das ursprüngliche Opfermahl, wenn es auch nicht ganz beiseite geschoben war, doch durch das »Liebesmahl« verdunkelt wurde, das auf der Botschaft beruhte: der Herr ist auferstanden.

Der Natur der Sache nach ließ sich die Kontroverse durch Beweisgründe nicht erledigen. Die Christen im Osten hatten das heilige Mahl immer zur Zeit des Passahs gefeiert, und sie besaßen die Evangelien-Erzählung, die ihnen gebot, es »zum Gedächtnis« an den Herrn, der es am Passahfest eingesetzt hatte, zu wiederholen. Die Christen im Westen beriefen sich auf das vierte Evangelium, das ihnen als Zeugnis diente, dass Jesus in der Tat zur Passahzeit gestorben war und damit für das jüdische Opfer einen universellen Ersatz gebracht hatte. Und da wir in diesem Evangelium sonst nicht den Gebrauch von Brot und Wein finden, sondern nur die nicht einmal näher beschriebene Mahlzeit, die dem bei den Synoptikern gefeierten rituellen Mahl vorangeht und nur den einen symbolischen Akt, die Darreichung eines Bissens an den Verräter, enthält, so war es den Christen überlassen, die traditionelle Eucharistie in der ihren Gefühlen oder ihren vorchristlichen Bräuchen angemessensten Weise zu feiern.

Alle Theorie verblasste schließlich in der Kirche, wie sie geschichtliche Gestalt annahm, mit ihrer täglichen Feier der Messe, bei der das jährliche Opfer in ein wöchentliches und tägliches umgestaltet wurde. Aus der ganzen Diskussion leuchtet jedoch die Tatsache hervor, dass das Opfer das älteste Element im Kultus ist, älter auch als dessen biographische Mythen. Und wie das symbolische Essen von Brot und Wein als »Leib und Blut« in den heidnischen Kulten die spätere Verfeinerung einer gröberen primitiven Opferpraxis ist, so ist sie es auch bei den Christen. Wie die Hostie im katholischen Ritual das magere Symbol für das Brot beim mystischen Abendmahl ist, so war dieses Brot umgekehrt wieder ein mageres Symbol für ein früheres Objekt.

Als das Christentum in aggressive Konkurrenz geriet, wurde einer der gewöhnlichsten Vorwürfe seiner römischen Feinde, dass die Christen bei ihren Mysterien gewohnt wären, den Leib eines wirklichen Kindes zu essen. Es gibt keinen hinreichenden Grund zu der Annahme, dass ein solcher Gräuel jemals unter den Christen vorgekommen wäre, obgleich die Ritualsprache einen vorgeschichtlichen Brauch des Menschenopfers und einen rituellen Kannibalismus kennt, wie er ja tatsächlich auch bei den Ursemiten und den vorchristlichen Mexikanern existierte und zu Anfang der christlichen Ära bei den Druiden in Übung gewesen sein soll. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass bei einigen christlichen Gruppen der Brauch bestand, das gebackene Bild eines Kindes zu essen, wie es bei den dionysischen Mysterien geschehen war.

Die Erzählung der Abraham- und Isaak-Legende macht es, wenn man andere im Pentateuch und sonst berichtete Tatsachen hinzunimmt, wahrscheinlich, dass bei den Urhebräern wie bei den Phöniziern Kindesopfer in Übung gewesen sind, und dass das Opfer eines Lammes oder einer Ziege das Äquivalent dafür wurde, wie es vielleicht das Urbild dafür war. Wenn es erlaubt war, an die Stelle eines wirklichen Lammes ein Bild aus Teig zu setzen, so konnte dem mystischen Grundsatz weiter auch durch das Teigbild eines Kindes, welches das Lamm selbst darstellte, Rechnung getragen werden. Unter dem Schleier des Geheimnisses, das bei den Urchristen ebenso selbstverständlich war wie bei den heidnischen Eingeweihten der eleusinischen und anderen Mysterien, waren solche Schwankungen im Kultus in unbegrenzter Ausdehnung möglich. Erst als eine kirchliche Organisation im Geist und nach der Art des römischen Reiches selbst entstand, und als die kompilierten Evangelien ein anerkannter Kodex für die Kirche überhaupt wurden, erst dann wurde das Muster des heidnischen Brot- und Wein-Sakramentes definitiv angenommen.

Für den einzigen anderen ursprünglich christlichen Ritus, den der Taufe, geht selbst aus den Evangelien hervor, dass er bereits vorchristlich war; und der anti-jüdische Johannes der Täufer kann bei den Juden immerhin eine geschichtliche Figur gewesen sein, obgleich seine Verbindung mit Christus ein Mythus ist, den man in den Evangelien in den verschiedenen Stadien seiner Entwicklung schauen kann. Wahrscheinlich ist, dass er in dem Stadium gebildet wurde, als die jüdischen Christgläubigen, verblüfft durch die paulinische Opposition gegen die Beschneidung, die bisher bei den Jesusgläubigen als bindend angesehen worden war, sich entschlossen, dafür die Taufe einzuschieben, die bereits einen jüdischen Namen hatte, um damit. ein jüdisches Primat aufrecht zu erhalten. Aber auch die Taufe war ein allgemein heidnischer Brauch, wie der Gebrauch heiligen Wassers, das später von der christlichen Kirche angenommen wurde.
Mit diesen christlichen Riten war, wie deutlich auf der Hand liegt, ursprünglich der feste Glaube an das schnell nahende Ende der Welt verbunden, eine Vorstellung, die ohne Ausnahme sich in jedem Buch des Neuen Testamentes wieder findet.

Daher wurden die Riten ganz wie die ähnlichen Mysterien der Heiden als das Mittel zum Eintritt in das zukünftige Leben angesehen, ganz gleich, ob dies als die Erscheinung eines neuen Jerusalems auf Erden oder als eine Fortexistenz im unverwandelten Dasein in einem materiellen Himmel in den Wolken aufgefasst wurde. In der paulinischen Periode war die nahende Katastrophe augenscheinlich der oberste Glaubensartikel, und an die Furcht davor appellierte die gesamte urchristliche Propaganda. Indessen liegt kein Grund vor zu dem Glauben, dass die Christen in Jerusalem jemals »alle Dinge gemeinsam hatten«, wie in der Apostelgeschichte versichert wird, wo dann aber andere Stellen diese Behauptung widerlegen. Solche Gütergemeinschaften hatte es in der Tat im Altertum häufig gegeben, und es gab auch eine ähnliche Überlieferung, nämlich, dass Pythagoras Jahrhunderte vorher in Italien durch einen Vortrag eine Menge Hörer dazu bekehrte, dass sie sich nun zu einem kommunistischen Leben entschlossen.

Aber die Erzählung der Apostelgeschichte scheint besonders auch für das Märchen von Ananias und Sapphira im Interesse einiger kommunistischer Gruppen erdichtet zu sein, die sich erst lange nach der in Frage kommenden Periode bildeten, und deren Stimmführer zugleich für ihr Ideal einen apostolischen Präzedenzfall brauchten, gleichzeitig aber auch eine Drohung gegen die, welche sich nicht dafür oder dagegen entscheiden wollten. In den Paulinischen Briefen sind die bekehrten Heiden so weit davon entfernt, eine Gütergemeinschaft zu kultivieren, dass sie sogar bei heidnischen Richtern gegeneinander Prozesse führten.

Es ist wahrscheinlich, dass der Gebrauch des Kreuzeszeichens als ein Merkmal der Mitgliedschaft und Symbol der Errettung den frühesten Stadien des Kultes angehört. Zum mindesten kommt das in Frage stehende Zeichen als Merkmal einer Anzahl religiöser Enthusiasten bei den Juden bereits im Buche des Hesekiel vor (IX, 4; Heb.); und in der Apokalypse (VII, 2, 3) scheint das »Siegel des lebendigen Gottes« in demselben Sinn wie das vom Propheten vorgeschriebene Zeichen verstanden zu sein. Vom hebräischen Buchstaben tau, der dort steht, ist bekannt, dass er zu den verschiedenen Zeiten verschiedene Formen des Kreuzes dargestellt hat; und die älteste davon soll die der crux ansata der Ägypter gewesen sein, welche ein Hieroglyphe für die Unsterblichkeit war. Darum ist die geschichtliche Gestalt des Kruzifixes auch nicht durch den tatsächlichen Vorgang bei einer gewöhnlichen Kreuzigung (denn dabei wurden die Arme über das Haupt gezogen und nicht ausgebreitet), sondern durch einen Symbolismus, der viel älter war, bestimmt. Im ägyptischen Ritual des Osiris bedeutete das Ausbreiten der Arme am Kreuz im grauen Altertum eine Art mystischer Wiedergeburt; und auf einigen Amuletten findet man den stauros, Kreuzesstamm, des Osiris mit menschlichen Armen dargestellt.

§ 6. Entstehung des Heidenchristentums
Die Trennung zwischen den Juden- und Heidenchristen war die notwendige Bedingung einer weiteren Verbreitung des Kultes. Obgleich es vor allem der Erfolg des jüdischen Bekehrungseifers war, der der Propaganda des Christentums den Weg bahnte, so würde sich doch nur eine Minorität von Heiden der jüdischen Prätension, alle Quellen des Heils allein zu besitzen, bereitwillig gefügt haben. Dass Paulus, der ein griechischer Jude gewesen sein soll, damit begann, den Kult, trotz der Opposition in Jerusalem, kosmopolitisch zu gestalten, hat alle Wahrscheinlichkeit für sich, und die fortgesetzte Opposition, die er fand, vertiefte nur den Bruch. Die jüdischen Ansprüche bargen ein finanzielles Interesse in sich, und da lokale ökonomische Interessen auch ein Faktor bei der Entwicklung jeder einzelnen heiden-christlichen Gemeinschaft waren, so musste ein theologisches Argument für die Unabhängigkeit der Heiden angeführt werden. In dem gleichen Maße, wie die Komposition des christlichen Mythus ihren Fortgang nahm, wurden auch Episoden erdichtet, die die mythischen zwölf Jünger in Misskredit zu bringen geeignet waren: »Einer der Zwölf« figuriert als Verräter. Petrus verleugnet ganz offenkundig seinen Meister, und die andern verlassen ihn insgesamt in der Stunde der Gefahr, wobei ihre Unfähigkeit, den Herrn im Leben zu verstehen, oft genug betont wird. Johannes den Täufer und Jesus selbst hinwieder lässt man ausdrücklich lehren, dass das Reich Gottes den Juden genommen werden wird, obgleich Jesus gleichzeitig den Zwölfen verspricht, dass sie auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme richten würden. Und endlich: bei den Erzählungen, die die Frage der Schuld für die Hinrichtung Jesu behandeln, wird so verfahren, dass schließlich diese Schuld weder bei dem römischen Statthalter, noch bei dem römischen Vizekönig, sondern bei den jüdischen Priestern und dem jüdischen Volk liegt. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind die meisten dieser Stücke zuerst in einem heidnischen Passionsspiel fixiert gewesen. Von hier kamen sie in den Strom der geläufigen Tradition; die Rolle jedoch, die Pilatus spielt, ist wahrscheinlich zuerst von jüdischer Seite aufgebracht worden, da Pilatus ein ganz besonderer Gegenstand jüdischen Abscheus war.

In solchen Dingen verlieh den Heiden, mit ihren vielen Erlösergottheiten, ihre literarische und mythenbildende Geschicklichkeit einen Vorteil vor den Juden; aber der Kampf der beiderseitigen Interessen war lang und bitter. Er lodert im jüdischen Buch der Offenbarung auf, wenn dort auf die angespielt wird, welche »sagen, sie wären Apostel und sind es nicht«, und wir müssen sehen, wie Paulus lange nach der Zeit, für die er gewöhnlich angesetzt wird, noch immer in gewissen judaisierenden Schriften, den sogenannten Clementinischen Rekognitionen und Homilien, unter der Figur des Simon Magus karikiert wird, der eine ganz unhistorische Persönlichkeit, die allerdings auch in der Apostelgeschichte auftritt, war. Simon Magus ist tatsächlich eine mythische Gestalt, die von Semo Megas oder dem großen Sem (= Sem-on, wie Samson Samos-on ist), einem alten semitischen Sonnengott, den die Polytheisten in Samaria verehrten, hergeleitet ist, und mit dessen Kult augenscheinlich eine heidenchristliche Bewegung gnostischen oder mythischen Charakters in Verbindung stand, die ihren Christus übermenschlich auffasste. Eine solche Bewegung, die mit der des jüdischen Jesus, »Simon«, dem eine bedeutsame gnostische Abhandlung zugeschrieben wurde, in Konkurrenz trat, wurde das Vorbild aller anti-jüdischen Häresien. Daher rührt auch in der Apostelgeschichte die spätchristliche Erzählung von Elymas (= großer El), der wiederum nur ein mythisches Duplikat für Simon ist.

Viele Anzeichen sprechen dafür, dass schon verhältnismäßig früh samaritanische Elemente in die christliche Bewegung sich mischten. Schon das vierte Evangelium schildert, wie der Stifter in Samarien als Messias anerkannt wurde; und je heidnischer der Kult gestaltet wurde, um so mehr ließen sich die Samaritaner, selbst wenn die Ebioniten nicht als eine alte lokale und gleichsam samaritanische Gründung angesehen werden dürfen, bereit finden, ihm beizutreten, da sie dadurch nicht wenig die exklusiven Juden entmutigten. Aber auch die Samaritaner hatten ihren Christns-Mythus; und auch die Anschauung vom heiligen Geist kam von ihnen zu den Christen. Da endlich die Männer, welche die spätere Bewegung schilderten, sich dabei auch auf das Alte Testament zu berufen suchten, so waren sie genötigt, ihre samaritanischen Vorgänger durch Mythen hinwegzuerklären, in denen diese der Häresie beschuldigt wurden.

Die Apostelgeschichte in ihrer Gesamtheit allerdings versucht das Streben der Kirche zu rechtfertigen, deren Interessen im zweiten Jahrhundert den Nachweis forderten, dass es unter den ersten Aposteln keine Entzweiungen gegeben hätte, dass selbst Petrus ein Verkündiger des Heidenchristentums gewesen sei, zu dem er durch eine Vision bekehrt wurde, und dass umgekehrt Paulus dem Judaismus Konzessionen gemacht hätte. Als die Möglichkeit einer gefährlichen Suprematie des rein jüdischen Kirchentums mehr und mehr schwand, konnten die in der Organisation begriffenen heidenchristlichen Kirchen dazu übergehen, wenigstens eine theoretische Verbindung zwischen dem Christentum und Judentum, der neuen und der alten Offenbarung herzustellen; auf diese Weise wahrte man dem neuen Glauben das Prestige des Alten Testaments, mit dem sich, da es bereits als ein Korpus heiliger Bücher anerkannt war, das Neue Testament selbst nach dem Urteil seiner Anhänger auf lange Zeiten hinaus an Ansehen nicht messen konnte. Zur selben Zeit wurden die Apostel, die lange als die Begründer der Kirche gegolten hatten, mit Emphase als Wundertäter verherrlicht, indem ihnen Wunder zugeschrieben wurden, die mit denen ihres Christus selbst rivalisieren konnten. Petrus erweckt sogar eine »Tabitha« von den Toten wie Jesus die »Talitha«, ein Mägdlein, in den Evangelien — ein Mythus, der das Duplikat eines traditionellen heidnischen Mirakels war, das später dem Apollonius von Tyana zugeschrieben wurde.

Neben dem systematisierenden und zentripetalen ging jedoch auch ein zentrifugaler Prozess her. Es war dies das Vorgehen einer neuerungssüchtigen heidnischen Häresie. Schon in den Episteln des Paulus lesen wir von einem »anderen Jesus«, den der Apostel »nicht verkündigt« hat; und im zweiten Jahrhundert war ein Dutzend »gnostischer« Häresien in die christliche Bewegung eingedrungen. Ihre Basis oder Inspiration lag in ihrer Berufung auf das innere mystische Licht, die »Gnosis« oder das Wissen, das Paulus in seinem Satz von der »fälschlich sogenannten Weisheit (oder Wissen)« verächtlich gemacht hat. Die gnostische Häresie bestand beinahe in allen Fällen aus einer Kombination der in den Theoophien Asiens und Ägyptens landläufigen Ideen mit den Gottesnamen der jüdischen und christlichen Kulte. So mächtig war damals wie in späteren Perioden politischen Wechsels der Trieb nach Unabhängigkeit, dass der Geist des Gnostizismus seinen Weg in einer judaistischen Gestalt selbst in die sich immer mehr verbreitenden Evangelien fand, in denen Jesus zuweilen als im Besitz eines mystischen Wissens erscheint, das er der Einsicht der Menge vorenthält, aber seinen Jüngern enthüllt, die jedoch an anderen Stellen wieder auf das populäre Niveau geistiger Stumpfheit zurückgeschraubt werden. Es kann jedoch nicht bezweifelt werden, dass die auf diese Weise hervorgerufene Bewegung, welche die Theoretiker unter den Christen als Häresie brandmarkten, zuerst, wenigstens dem Namen nach, zur Ausbreitung des Kultur beitrug, da alle Christen ohne Ausnahme danach trachteten, an der Eucharistie und den Versammlungen, die sich in der Kirche herauszubilden begannen, teilzunehmen.

Zuerst mögen wohl die Judenchristen den bei ihren Landsleuten üblichen Abscheu vor der römischen Tyrannei geteilt haben, und Nero mag ihnen als der »Antichrist« erschienen sein, als der er in der Apokalypse gekennzeichnet wird; es liegt jedoch kein hinreichender Grund zu der Annahme vor, dass zu Neros Zeit die Christen in Rom in beträchtlicher Anzahl vorhanden waren. Das Produzieren von Märtyrern wurde später eine kirchliche Industrie, und die darauf bezügliche Stelle bei Tacitus, die von der Tortur und Tötung einer »gewaltigen Menge« von Christen durch Neros Hand spricht, ist in der christlichen Literatur erst nach der Drucklegung der Annalen, die unter verdächtigen Umständen geschah, zitiert. In der Apostelgeschichte steht auch nicht der leiseste Hinweis auf eine solche Katastrophe. Eine Angabe, die mit der des Tacitus gleich lautet, findet sich erst in der Chronik des Sulpicius Severus im fünften Jahrhundert, wo sie inmitten eines sonst außerordentlich kurzen Auszugs einen ausgedehnten Raum in Anspruch nimmt. Eine ähnliche verdächtige Stelle über dieselbe Sache bei Sueton wird noch dadurch um so verworrener, dass derselbe Verfasser behauptet: die Juden in Rom hätten sich unter der Regierung des Claudius in beständigem Aufruhr befunden, »weil Christus sie aufstachelte« — eine Stelle, in der doch nur soviel angedeutet ist, dass damals in Rom eine Bewegung unter den Juden mit messianischen Ansprüchen, wie sie häufig vorkamen, im Gange war, nur dass in ihr der Christ einfach als Erlöser erwartet wurde, ohne dass dabei von einem Spezialkult wie dem der Christen die Rede ist. Ein solcher passt auch nicht, wie aus den Paulinischen Briefen hervorgeht, für solche Bewegungen. Sicherlich wurden nach dem Fall von Jerusalem die Hoffnungen der Jesusgläubigen auf die religiöse Sphäre beschränkt, und zudem war das Heidenchristentum dem römischen Imperium, von dem es eines Tages auch ein Glied werden sollte, durch Gewalt unterworfen.

Man kann auch gerade im Hinblick auf die Paulinischen Briefe das Hineinragen neuer griechischer Ausdrücke und Begriffe in das Vokabularium der jüdischen Theologie beobachten: Wir meinen damit metaphysische und religiöse Termini wie Unsterblichkeit, Gewissen, Vorsehung, natürlich, verweslich, unsterblich, — und in der Sprache der Evangelien und in der Apostelgeschichte wird der gräcisierende Einfluss mehr und mehr bemerkbar. In der Apostelgeschichte und im dritten Evangelium ist er im Anwachsen begriffen, im vierten Evangelium herrscht er bereits vor. Der wirkliche Begriff des religiösen Heils, das vom zeitlichen unterschieden werden muss, ist weit mehr hellenistisch oder persisch als judaistisch; und der Titel Heiland, der das besondere Beiwort Christi wird, ist ebensosehr durch heidnischen Gebrauch als durch die eigentliche Bedeutung des Namens Jesu bestimmt. Weit mehr heidnisch ferner als jüdisch, obgleich den vorjudaistischen Semiten unter den Götzenanbetern unter den Hebräern geläufig, war auch der Gedanke, der in den Paulinischen Briefen zum Ausdruck kommt, dass der Christgläubige, welcher am mystischen Ritus des Abendmahls teilnimmt, mit dem getöteten Halbgott leidet und darum mit ihm eins wird, weil er »mit Christus gekreuzigt ist«.

Dieser Begriff wiegt überhaupt in allen Kulten rituellen Trauerns vor, besonders aber in dem des Attis, wo sich die Verehrer selbst verwundeten und sich die Hände oder den Nacken zerstachen, — ja, einige von den Priestern sich sogar verstümmelten, wie ja auch die Gottheit selbst im Attismythus verstümmelt dargestellt wird. Der paulinische Ausdruck muss im Lichte der Stelle verstanden werden, in der über die Galater, »denen Christus der Gekreuzigte deutlich vor die Augen gemalt wurde« (vgl. 1. Kor. XI, 26), ein bitteres Urteil ergeht, weil sie ein falsches Christentum angenommen haben. In manchen, jedoch nicht in allen Manuskripten sind die Worte »unter euch« hinzugefügt, Worte, die entweder von späteren Abschreibern, die sich daran stießen, oder von einem, der den schon an sich emphatischen Ausdruck des Originals noch besonders betonen wollte, hinzugesetzt wurden.

Wenn wir hiermit die andere, gewöhnlich ohne jegliche Untersuchung rein metaphorisch genommene Stelle, in der Paulus sagt, »er trage an seinem Leibe die Wahrzeichen Christi«, verknüpfen, dann finden wir Grund zu folgender Mutmaßung: Wie der Ministrant im dionysischen Kollegium nach dem Namen des Gottes Bacchus hieß, wie der Osiris-Verehrer sich ans Kreuz heften ließ und mit Osiris eins wurde, und wie der Priester des Attis den Attis selbst in seinen Mysterien darstellte, — so stellte auch Paulus und jeder andere Jesus bei den Mysterien seiner Sekte dar. Was also so lange für eine Wortmetapher galt, ist ursprünglich ein Vorgang, der etwas Wirkliches symbolisiert. Die Theorie der Mysterien war die, dass jeder, der den gekreuzigten Halbgott darstellte, ihm ganz besonders ähnlich wurde. Die paulinische Sprechweise deckt sich in diesem Punkte genau mit dem, was allgemein und von Anfang die Theorie beim gottmenschlichen Opfer war: »Ich bin mit Christus gekreuzigt, und ich lebe hinfort nicht mir selbst, sondern Christus lebt in mir«. Solche Ausdrücke sind dunkel und tragen etwas Gequältes an sich, wenn man sie als reine Metapher versteht, liest man sie aber als Beschreibungen symbolischer Riten, dann stehen sie auf einer Stufe mit vielen alten religiösen Glaubensvorstellungen.

Auf alle Fälle scheint die zuerst zitierte Stelle auf eine dramatische und künstlerische Darstellung des gekreuzigten Christus beim Abendmahl hinzuweisen, ein Vorgehen, das sich wahrscheinlich niemals der Gunst der Juden, die jegliche Kunst hassten, erfreuen konnte, das aber wahrscheinlich die Quelle für viele Evangelienerzählungen geworden ist, als diese Darstellung bei den Heiden nach dem Vorbild der Griechen, die das Drama liebten, allmählich eine immer volkommenere Gestalt gefunden hatte. Es gehörte mit zu der Idee aller solcher Mysterien, dass ihre Details Uneingeweihten niemals verraten wurden; darum sind Anspielungen darauf selbst in Briefen an die Gläubigen so außerordentlich selten. Der christliche Kult nahm die Termini der heidnischen Praxis vollständig an. Seine Eingeweihten hießen genau wie bei den übrigen rivalisierenden Religionen mystae.

Das Studium der urchristlichen Gräber zeigt, wie überall, wo das Christentum Bekehrungen aufzuweisen hatte, mehr oder weniger Kompromisse entstanden. Der reizende Psyche-Mythus hatte bei den Heiden die Bedeutung einer Unsterblichkeitslehre bekommen, und in diesem Sinne meißelte man ohne Arg die Gestalt der kindlichen Gottheit auf die urchristlichen Grabdenkmäler. Dasselbe geschah mit der Figur des Hermes Kriophorus, des Widderträgers, der in der Kunst und im Denken der Christen das treue Original für ihren Begriff des guten Hirten bildet, wenn auch ein Apollobild, das den gleichen Charakter hatte, das Medium für die Übertragung abgegeben haben mag. In der gleichen Weise eignete man sich den Orpheus an; und als man später die Kunst den Bedürfnissen des neuen Kultus dienstbar zu machen begann, wurde Jesus ganz ähnlich wie die populären Götter der Heiden als ein bartloser Jüngling dargestellt.

Das letzte, aber nicht bedeutungsloseste heidnische Element, das zur Ausbreitung des Christentums beitrug, war der doppelte Sinn, welcher der griechischen Form des messianischen Namens anhaftete. In der ganz unwahrscheinlichen oben aus Sueton zitierten Stelle wird dieser augenscheinlich nach dem griechischen Wort Chréstos (= gut, ausgezeichnet, huldreich) Chrestos gelesen. Dieses Wort kommt im Neuen Testament häufig vor. Es war die besondere Bezeichnung für die infernalischen oder unterweltlichen der samothrazischen Mysterien, auch des Hermes, Osiris und der Isis. Beide Worte wurden gleich ausgesprochen, und die Übereinstimmung ist oft eine solche, wie sie auch sonst bei den alten Denkern, die gewohnt waren, großes Gewicht auf Worte zu legen, häufig vorkommt. In der aus den Evangelien frei übersetzten Stelle: »Mein Joch ist sanft« lautet das griechische Adjektivum: chrestos; ebenso in der Stelle, die in der Übersetzung heißt: »Er ist gegen die Undankbaren und Bösen freundlich« (Luk. VI, 35), und in der Phrase: »Der Herr ist gütig« (1. Petr. II, 3).

Auch in den Episteln ist chréstotes das Wort, das in der Stelle »die Güte Gottes« gebraucht wird; und in dem bekannten paulinischen Zitat aus Menander heißt »gute Sitten« im Griechischen chrésta ethé. Bei den Heiden hingegen findet sich dieses Beiwort ständig auf einer Art von Grabdenkmälern, die heróon hießen. Sie wurden zu Ehren hervorragender Persönlichkeiten errichtet, die dadurch die Stellung von niederen Gottheiten und Halbgöttern erhielten, und die in späterer Zeit lediglich infolge dieser Inschriftenformel zu dem Rang christlicher Märtyrer emporstiegen und darum bei Festen gefeiert wurden, die nichts anderes als eine Fortsetzung der ihnen zu Ehren veranstalteten heidnischen Feste waren. Die Christen selbst andrerseits schrieben im zweiten und dritten Jahrhundert auf ihren Grabdenkmälern den Namen ihres Stifters gewöhnlich Chréstos oder Chreistos. Auf diese Weise assimilierten sie ihn der heidnischen Inschriftenformel chréste chaire.

Der Terminus christlich folgte häufig der gleichen Schreibart. In der Tat treiben einige Kirchenväter mit dieser doppelten Schreibart Spiel. Sie behaupten, dass beide Termini für sie die gleiche Bedeutung haben. So fest stand der doppelte Gebrauch, dass die Orthographie des französischen Wortes chrétien bis auf den heutigen Tag die Spuren davon aufweist. Wir sehen daraus, dass hier auf christlicher Seite ein Ruf an die Heiden vorlag und zwar auf Grund eines Namens oder Zeichens, das bereits mit der heidnischen Religion eng verknüpft war und auf die Heiden in einer Richtung Anziehungskraft ausübte, in der der Name »Christ« unter der Bedeutung »ein Gesalbter« nicht lag.

Wie lange diese Anziehungskraft ihre Wirkung ausübte, kann zum Teil aus einem Schriftstück wie der apologetische Traktat des Theophilus von Antiochia, der mutmaßlich um 180 geschrieben ist, geschlossen werden: In ihm findet man auch nicht eine einzige Erwähnung Jesu als des Mannes, auf dem der christliche Glaube ruht, während die Namen »Christos« und »christlich« wiederholt mit »chréstos« gleichbedeutend gebraucht werden. Der Verfasser zeigt sich weniger als ein paulinischer Christ als ein heidnischer Proselyt
[Neubekehrter], der in den heiligen Büchern der Hebräer lebte und an einen unpersönlichen Christus glaubte, der beides, »gut« und »mit Gottes Geist begabt« war. Ähnlich erscheint in der Apologie des Athenagoras, die der gleichen Zeit angehört, der Stifter lediglich als der göttliche Logos; er wird nicht einmal als eine Persönlichkeit, die eine Geschichte hat, erwähnt, obgleich der Verfasser den Logos aus einem apokryphischen Evangelium zitiert. Bei einer solchen Propaganda fielen die mit dem Beiwort Chréstos verknüpften griechischen Ideenassoziationen weit mehr ins Gewicht als die, welche sich vom jüdischen Standpunkt aus ergaben.

Aber höher als alle anderen in dieser Beziehung erzielten Errungenschaften müssen wir die, welche man in Ägypten zu verzeichnen hatte, anschlagen. her war der Kultus des Kreuzes in gleicher Weise wie in der uralten Osiris-Religion in der neueren des Serapis in Gebrauch. Osiris war nicht nur der vor allen anderen chréstos, gütige Gott, sondern die Hieroglyphe, die »Güte« bedeutete und ihm wie anderen beigelegt wurde, hatte sogar die Form eines auf einem Hügel stehenden Kreuzes, während das Kreuzsymbol in einer anderen Gestalt das Zeichen für Unsterblichkeit war.

Bei der bereits erwähnten Verehrung des Serapis, welche in der Hauptsache mit der des Osiris, wie es ja auch nicht anders möglich war, übereinstimmte, war das Kreuz gleichzeitig ein göttliches und mystisches Emblem. Hieraus wird verständlich, dass einige Anbeter des Serapis, wie aus dem wohlbekannten Brief des Kaisers Hadrian hervorgeht, als Bischöfe Christi figurieren konnten, und dass Serapis-Verehrer als Christen gelten konnten, da ihr Gott, wie Osiris, »Chréstos« war. Die Zusammenstellung der auf so mannigfache Weise gesammelten Elemente zu einem einzigen, allerdings nur lose zusammenhängenden Gefüge war das Werk der sich allmählich bildenden hierarchischen Organisation. Dieser Prozess brachte aber die Zurückstellung einiger besonderer Kennzeichen der verschiedenen in Frage kommenden Religionen mit sich.

Dass es außer direkten Bekehrungen noch andere Veranlassungen gab, um derentwillen die Menschen der urchristlichen Kirche beitraten, geht aus der unter dem Namen des »Hirten« des Hermas bekannten allegorischen Schrift hervor, von der wir wissen, dass sie in der ganzen christlichen Literatur des zweiten Jahrhunderts eins der populärsten Bücher gewesen ist. Dieses augenscheinlich in Italien geschriebene Werk erwähnt auch nicht ein einziges Mal den Namen Jesu oder Christi, in ihm findet; sich weder auf die Kreuzigung noch auf die Eucharistie eine Anspielung und nirgends ein Zitat aus einem der Bücher des Alten und Neuen Testaments. Dagegen spricht es von dem einen Gott, von einem heiligen Geist und einem Sohn Gottes, der Mühsale und Leiden auf sich nahm; es ist in ihm von einer »Kirche« die Rede, die die Gemeinschaft aller guten Menschen bedeutet, und endlich auch von Bischöfen, Aposteln und Presbytern. Es ist lediglich als ein Stück vorchristlicher, zum Judentum nur in ganz loser Beziehung stehender Propaganda zu betrachten. Mag es auch ein apokryphisches jüdisches Werk zitieren, eine jüdische Lehre findet sich in ihm nicht ausgesprochen. Der einzige genau verzeichnete Ritus ist die Taufe. Seine Morallehre besteht lediglich in der Anerkennung der Idee des stellvertretenden Opfers. Ein solches Werk hatte sein Publikum, ehe die eigentlich christliche Bewegung eine sektiererische und dogmatische Gestalt annahm; und seine Popularität in der urchristlichen Kirche rührte von der früheren Gefolgschaft her, die sich an dies Buch gehängt hatte. Als die Kirche eine definitive Organisation erhielt, und eine bestimmte dogmatische Theorie ausbildete, wurde dies Buch selbstverständlich abgetan. Man begründete dies damit, dass es keine einzige der einem christlichen Schriftwerk spezifischen Qualitäten besäße.

Eine »Kirche« von der Art, wie sie im Hirten dunkel angedeutet wird, kann sehr leicht durch eine der bereits erwähnten Bewegungen des samaritanischen Christentums ins Leben gerufen worden sein; es ist auch möglich, dass es die Bewegung war, die sich an den Namen des Juden Elxai knüpfte; von diesem wird berichtet, dass er über den »Christ« schrieb, ohne dass es deutlich wird, ob er damit den Jesus der Evangelien meinte. Wie bei den Elkesaiten, so wird Jesus auch im Hirten des Hermas als ein Mann von gigantischer Gestalt aufgefasst. Mag nun das Buch weder ein christliches, noch ein antichristliches, sondern ganz einfach ein vorchristliches Erzeugnis sein, auf alle Fälle bekräftigt es die Vermutung, dass eine ganze Anzahl sogenannter Häresien der Urkirche in Wahrheit nichts anderes als Überbleibsel aus früheren Bewegungen waren, welche die Kirche vielleicht in Verfolgungszeiten absorbiert hat. Die »Häresie«« des Simon Magus war sicherlich ein solcher vorchristlicher Kult. Mit der Häresie des Dositheus scheint es sich ebenso zu verhalten; und die Gedanken im Hirten des Hermas passen jedenfalls zu keiner kanonischen Version des christlichen Glaubens.

§ 7. Die Entstehung des Christus-Mythus

Der christliche Kult gewann Boden, nicht weil sein Dogma und seine Verheißung irgendwelche neuen Momente enthielt, sondern im Gegenteil gerade deshalb, weil beides bei vielen heidnischen Kulten die genauesten Parallelen aufzuweisen hatte. Seine Entwicklung wurde tatsächlich dadurch gefördert, dass er sich aus diesen immer neue Details aneignete. Man kann es Schritt für Schritt verfolgen, wie er die Mysterien, die Wunder und die Mythen der populären heidnischen Religionen adoptierte. Die Auferstehung Jesu geschieht wie die des Mithras aus einem Felsengrab. Und bei der heiligen Mahlzeit der Zwölf, wie sie im letzten Abendmahl dargestellt ist, wird im vierten Evangelium eine Episode erzählt, die den im Heidentum häufigen Brauch heiliger Mahlzeiten von sieben Teilnehmern verkörpert. Durch ein Wunder lässt man Christus Wasser in Wein verwandeln, wie es seit undenklichen Zeiten bereits von Dionysos geglaubt worden war.

Jesus geht auf dem Wasser wie Poseidon; wie Osiris und Phöbus Apollo schwingt er die Geißel. Wie der Sonnen-Dionysos reitet er auf zwei Eseln und speist er die Massen in der Wüste. Wie Äskulap erweckt er Menschen vom Tode, gibt den Blinden das Augenlicht wieder und heilt die Kranken. Und wie Attis und Adonis wird er von Frauen betrauert und bei seiner Auferstehung von ihnen mit Freuden begrüßt. Wo die Parallele nicht vollständig ist, finden wir trotzdem noch heidnische Mythen, die Anlass zu christlichen wurden; denn das Märchen von der Versuchung Jesu ist nur eine neue Auflage eines oft kopierten altbabylonischen astronomischen Symbols, bei dem der Ziegengott (das Zeichen des Steinbocks) neben dem Sonnengott steht, — eine Szene, die von den Griechen in die Mythen von Pan, der den Jupiter auf den Gipfel eines Berges führt, von Pan und Marsyas, die mit Apollo konkurrieren, und von Silen, der den Dionysos unterweist, verwandelt worden sind. Zu alledem kommt, dass Christus in derselben Weise wie das von Ewigkeit geliebte göttliche Kind der alten Welt geboren wird. Er muss eine Jungfrau zur Mutter haben, und er muss in Windeln in der Krippe gezeichnet werden, ein Zug, der aus dem grauesten Altertum im Mythus des Jon und im Kultus des Dionysos aufbewahrt ist, bei dem das Bild des göttlichen Kindes in Prozession einhergetragen wurde. Wie Horos müsste er in einem Stall geboren werden, dem Tempel der heiligen Kuh, die das Symbol der jungfräulichen Göttin Isis, der Himmelsgöttin, war.

Die apokryphischen Evangelien vervollständigten die heidnische Parallele dadurch, dass sie aus dem Stall eine Höhle machten, die die Geburtsstätte des Zeus, des Mithras, des Dionysos, des Adonis, des Hermes und des Horos ist. Aus Klugheit ließ man dieses letztere Detail aus den kanonischen Evangelien fort; aber es wurde ein Stück des populären Glaubens. Und der Geburtstag Christi war von dem gemeinen Volk schon längst ganz naiv auf den 25. Dezember, den Tag der Wintersonnenwende, den Geburtstag des Sonnengottes gelegt worden, ehe es die Kirche wagte, diesen Brauch sich anzueignen.

Indessen blieben auch jüdische Manipulationen nicht aus. Ist Jesus von einer Jungfrau geboren, so doch nach der Art jüdischer Theosophie; denn der »Geist Gottes« beschattete genau so die Maria, wie er in der Genesis über der Tiefe schwebte, die alles gebar. War Jesus ferner ein jüdischer Messias, ehe er ein heidnischer und samaritanischer Christus wurde, so musste er möglichst vielen messianischen Erfordernissen genügen. Er musste vom Stamme Davids sein und in Bethlehem geboren werden; insofern aber die jüdische Tradition sowohl einen Messias, der ein Sohn Davids, als auch einen Messias, der ein Sohn Josephs sein sollte, erwartete, — das letztere war wahrscheinlich ein samaritanisches Erfordernis —, so wurde Jesus durch seine königliche Herkunft zum Sohne Davids und durch seinen vermeintlichen Vater zum Sohne Josephs gemacht.

Da es nun aber andrerseits Messiasgläubige gab, die meinten, es sei nicht nötig, dass der »erwählte Eine« von David abstamme, so wurde in die Evangelien eine Geschichte eingefügt, nach der Jesus diese Herkunft abweist. Auf diese Weise fanden beide Theorien, die einander ausschlossen, im Evangelienkodex Aufnahme, ohne dass man sich daran störte und ohne dass man glaubte, eine Erklärung dafür nötig zu haben. Auf dieselbe Art ließen die Asketen der christlichen Bewegung den Menschensohn arm und heimatlos erscheinen, während ihre Gegner aus ihm einen Weintrinker machten, der allezeit bereit ist, mit den Zöllnern und Sündern zu Tische zu sitzen. Den Juden gegenüber war es nötig, dass er, ganz wie Elias und Elisa im Alten Testament, den Sohn der Witwe von den Toten erweckte.

Das war eine hebräische Variante des heidnischen Mythus von der Erweckung des Attis und Adonis und des Kindes Horos und Dionysos, die dann noch einmal bei der Auferstehung Christi zum Vorschein kommt. Wie bei dem Mythus des Moses und den arabischen Mythen von der Geburt des Abraham und Daniel, so musste auch bei seiner Geburt eine Hinrichtung unschuldiger Kinder stattfinden. Und wiedertun, wie der geopferte, »eingeborene« Sohn des semitischen Gottes El und der geopferte Gottmensch des babylonischen Festes der Sacaea, so musste auch er bei seiner Kreuzigung die Insignien der Königswürde tragen. Es ist auch möglich, dass Barnabas, der »Sohn des Vaters«, als ein Rest derselben Vorstellungswelt und desselben rituellen Brauches zurückgeblieben ist; sein Name wurde in ganz ähnlicher Weise einer Erzählung einverleibt, die auch nicht ein einziges historisches Stück enthält.

Und wie es sich mit den Tatsachen verhielt, so auch mit der Theorie. Im Osten hatte lange das mystische Dogma gegolten, dass der oberste Gott, der über alles Wissen und Verstehen hinausreicht, in einer Gottheit sich inkarniert hätte oder eine Gottheit, nämlich den Logos, oder das Wort im Sinn von Sendung oder geoffenbarter Vernunft, geschaffen hätte, die seine letzten Absichten bezüglich der Menschen kundtäte. Im mazdaistischen System, dem wahrscheinlich die Idee entstammt, war es Mithras, der Mittler; in der Theosophie der Ägypter war es Thoth; im Pantheon der Griechen Hermes, der Sohn der Maya und der Bote der Götter; und auch die Juden hatten sich seit langem den Gedanken angeeignet, teils dadurch, dass sie die Gottheit als den Logos in menschlicher oder Engelsgestalt erscheinen ließen (z. B. Gen. XV), teils in der Gestalt einer Personifizierung der Sophia, der Weisheit, wie in den Büchern des Predigers und der Sprüche Salomonis und in den alttestamentlichen Apokryphen, teils in der späteren Form einer theoretischen Lehre vom Logos, wie sie uns auf platonischer Basis in den Schriften des alexandrinischen Juden Philo zu Beginn der christlichen Ära entgegentritt. Im vierten Evangelium ist diese Lehre in einer entwickelteren Form summarisch dem christlichen Kult eingefügt worden, obgleich die drei synoptischen Evangelien keine Spur da¬von haben. Der neue Mythus wurde, wie alle andern, willkommen geheißen. Sie trugen sämtlich in gleicher Weise dazu bei, dass eine Gottheit entstand, die den Vergleich und die Konkurrenz mit den Gottheiten der übrigen damaligen Kulte aushielt.

Die Doktrin folgte dem gleichen Gesetz der Assimilation. Die Lehre Christi musste notwendigerweise alle Phasen des religiösen Denkens jener Zeit, wie widerspruchsvoll sie auch waren, widerspiegeln. Zuerst hatte Jesus die jüdische Hoffnung von einem Himmelreich zu verkündigen und dabei die Forderungen der Armen zu betonen; er musste das baldige Kommen des jüdischen Gerichtstags und sein eigenes Amt bei der großen Katastrophe hervorheben; andrerseits aber wiederum musste er das Himmelreich als eine geistige Wandlung des Menschen darstellen, und schließlich musste er die Weisheit des Denkers verkündigen, der alle Täuschungen des Volkes durchschaut und erkannt hat:

»Das Himmelreich ist mitten unter euch«
— oder es ist nirgends.

In dem einen Evangelium schließt er die Samaritaner von seiner Sendung aus; in einem anderen stellt er einen Samaritaner als Vorbild der Nächstenliebe hin; in einem dritten geht er persönlich unter die Samaritaner. Er wird in seiner Lehre so vielseitig wie Apollo und Dionysos in ihren Funktionen. Sogar wenn man ihn gegenüber jüdischem Aberglauben den gesunden Grundsatz aufstellen lässt, dass Menschen, welche öffentlichen Unglücksfällen zum Opfer fallen, darum noch nicht schlimmere Sünder sind als andere Menschen, so fügt eine spätere Hand ein Anhängsel hinzu, das seinerseits wiederum trotzdem den bekämpften reinen Aberglauben von neuem bestätigt. Jede innerhalb der Grenzen der damaligen jüdischen und heidnischen Ideale mögliche Spielart ethischer Anschauung wird ihm abwechselnd beigelegt. Ein um das andere Mal ist er Partikularist und Universalist, ein bigotter Jude und ein Kosmopolit, ein Freund des Volkes und ein Verächter seiner Unwissenheit, ein Verkündiger der Feindesliebe und ein strenger Ankläger seiner Gegner. In einem Atemzuge verlangt er unbegrenztes Verzeihen und härteste Strafe gegen störrische Brüder, äußerste Erfüllung der Vorschriften des mosaischen Gesetzes und dessen Aufhebung. Abwechselnd verspricht und verneint er irdische Segnungen, bekennt er und verschweigt er den Glauben an sein Messiastum, bald befiehlt er seinen Hörern die Stille, bald die Öffentlichkeit, bald seinen Schülern blinden Glauben, bald schlichte Werke der Liebe, — er ist ein heterogenes Produkt, das hundert verschiedene betrügerische Hände geschaffen haben, ein Gemisch von Stimmen, wie es in einer Persönlichkeit niemals vorhanden war und vorhanden sein konnte. Durch seine übernatürlichen Werke sprechen zu uns die kämpfenden Sekten und Ideale von drei Jahrhunderten:

Weisheit und Sinnenwahn, Milde und Härte reden abwechselnd in seinem Namen. Genau wie viele Geschlechter jüdischer Lehrer alle ihre wechselnden Ratschläge mit einem: »So spricht der Herr« eingeleitet hatten, genau so suchten ihre christlichen Nachfolger ihre Lieblingsdogmen, ihre strengen Vorurteile und ihre besseren Eingebungen mit dem Bilde und der Aufschrift des neuen Logos, des immer größer wachsenden Gottes einer sich wandelnden Welt zu decken. Das spätere Produkt ist daher ebenso unwirklich als das frühere.
Es sind lediglich Vorurteile, die Folge eines Mythenglaubens, wenn ein solches Wachstum unwahrscheinlich oder unmöglich erscheint, oder wenn man glaubt, dass nur etwas über die Moralität Hinausgehendes die reiche Entfaltung des christlichen Systems erklären könnte. Dem, der den Strom der Geschichte nur in der weiten und bevölkerten Ebene schaut, wird es schwer zu verstehen, dass seine Quellen in winzigen Rinnsalen und zufälligen Wässerchen fern liegender Bergländer liegen. Aber trotzdem ist es Tatsache, dass es sich mit dem Ursprung der großen Ströme so verhält.
S. 14-66
Aus: Geschichte des Christentums. Von John M. Robertson.
Frankfurt a.M. 1910. Neuer Frankfurter Verlag G. m. b. H.