Franz Rosenzweig (1886 – 1929)

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Die Strahlen oder der ewige Weg

Das Band der Brüderlichkeit
Dies Band, das so die Menschen nimmt, wie es sie findet, und sie dennoch über die Unterschiede der Geschlechter, Alter, Klassen, Rassen hinweg verbindet, ist das Band der Brüderlichkeit. Die Brüderlichkeit verknüpft in allen gegebenen Verhältnissen, die ruhig weiter bestehen bleiben, die Menschen unabhängig von diesen Verhältnissen als gleiche, als Brüder, ,,im Herrn“. Der gemeinsame Glaube an den gemeinsamen Weg ist der Inhalt, auf den hin sie aus Menschen zu Brüdern werden. Christus ist in diesem Bruderbunde der Christenheit sowohl Anfang und Ende des Wegs, und deswegen Inhalt und Ziel, Stifter und Herr des Bundes, als auch Mitte des Wegs, und deswegen überall gewärtig, wo zwei in seinem Namen beisammen sind. Wo zwei in seinem Namen beisammen sind, da ist Mitte des Wegs, da ist der ganze Weg überschaubar, Anfang und Ende gleich nah, weil der, der Anfang und Ende ist, hier mitten unter den Versammelten weilt. So auf der Mitte des Wegs ist Christus nicht Stifter noch Herr seiner Kirche, sondern Glied, er selber Bruder seines Bundes. Als solcher kann er auch bei dem Einzelnen sein; in der Brüderlichkeit mit Christus weiß sich sogar der Einzelne — nicht erst zweie, die beisammen sind — schon als Christ und, obwohl anscheinend mit sich allein, dennoch, weil dies Alleinsein Beisammensein mit Christus ist, als Glied der Kirche.

Diesem Einzelnen ist Christus nahe in der Gestalt, auf die sich am leichtesten seine brüderlichen Gefühle richten können; denn der Einzelne soll ja bleiben, was er ist, der Mann Mann, das Weib Weib, das Kind Kind; so ist Christus dem Mann Freund, dem Weib Seelenbräutigam, dem Kind das Christkindlein. Und wo Christus durch die Bindung an die geschichtliche Person Jesu diesem Eingehen in die vertraute Gestalt des Nächsten und brüderlich zu Liebenden sich versagt, da treten, wenigstens in der Kirche, die ihre Gläubigen am innigsten auf dem Wege festhält und sie des Anfangs und des Endes weniger gedenken lässt, in der Liebeskirche Petri, für Christus selber seine Heiligen ein, und es wird dem Manne vergönnt, in Maria die reine Magd, dein Weibe, in ihr die göttliche Schwester, und jedem aus seinem Stande und seinem Volke heraus den Heiligen seines Standes und Volkes, ja jedem aus seinem engsten in den Eigennamen eingeschlossenen Ich heraus seinen Namensheiligen brüderlich zu lieben. Und selbst vor den
gestorbenen Gott am Kreuz, von dem der Weg anhebt, schiebt sich in dieser Kirche der Liebe, die noch eigentlicher als die andern Kirche des Wegs ist, die Gestalt des lebendig auf Erden Wandelnden, der hier mehr als in den Schwesterkirchen Vorbild wird, dem man nachfolgt als einem vorbildlichen Menschenbruder; wie andrerseits vor den Richter des jüngsten Gerichts, bei dem der Weg mündet, hier sich die ganze Schar der für ihre in Schwachheit befangenen Brüder und Schwestern fürbittenden Heiligen drängt.

Die Brüderlichkeit schlingt so ihr Band zwischen den Menschen, die keiner dem andern gleichen; sie ist gar nicht Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, sondern Einmütigkeit gerade von Menschen verschiedensten Antlitzes. Nur allerdings dies eine ist von nöten: daß die Menschen überhaupt ein Antlitz haben, — dass sie sich sehen. Die Kirche ist die Gemeinschaft aller derer, die einander sehen. Sie verbindet die Menschen als Zeitgenossen, als Gleichzeiter an getrennten Orten des weiten Raums. Gleichzeitigkeit ist etwas, was es in der Zeitlichkeit gar nicht gibt.

Auf der Mitte der Zeit zwischen Ewigkeit und Ewigkeit
In der Zeitlichkeit gibt es nur Vorher und Hernach; der Augenblick, wo einer sich selbst erblickt, kann dem Augenblick, wo er einen andern erblickt, nur voraufgehen oder folgen; gleichzeitiges Erblicken seiner selbst und des andern im gleichen Augenblick ist unmöglich. Das ist der tiefste Grund, weshalb es in der heidnischen Welt, die ja eben die Zeitlichkeit ist, unmöglich war, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst. Aber in der Ewigkeit gibt es Gleichzeitigkeit. Daß von ihrem Ufer aus alle Zeit gleichzeitig ist, bedarf keiner Worte. Aber auch die Zeit, die als ewiger Weg von Ewigkeit zu Ewigkeit führt, läßt Gleichzeitigkeit zu. Denn nur insofern sie Mitte ist zwischen Ewigkeit und Ewigkeit, ist es möglich, daß sich Menschen in ihr begegnen. Wer sich also auf dem Weg erblickt, der ist im gleichen Punkte, nämlich im genauen Mittelpunkte, der Zeit. Die Brüderlichkeit ist es, die die Menschen in diesen Mittelpunkt versetzt. Die Zeit wird ihr schon überwunden vor die Füße gelegt; nur noch den trennenden Raum hat die Liebe zu überfliegen. Und so überfliegt sie die Feindschaft der Völker wie die Grausamkeit des Geschlechts, den Neid der Stände wie die Schranke des Alters; so läßt sie alle die Verfeindeten, Grausamen, Neidischen, Beschränkten sich einander als Brüder erblicken in dem einen gleichen mittleren Augenblick der Zeit.

In der Mitte der Zeit erblicken sich die Gleichzeitigen. So trafen sich an den Grenzen der Zeit die, denen die Unterschiede des Raums keine erst zu überwindende Trennung bedeuteten; denn diese Unterschiede waren dort in der angeborenen Gemeinschaft des Volks schon von vornherein überwunden; die Arbeit der Liebe, sowohl der göttlichen an den Menschen als der menschlichen untereinander, musste da einzig gerichtet sein auf die Erhaltung dieser Gemeinschaft hin durch die Zeit, auf die Herstellung der Gleichzeitigkeit der in der Zeitlichkeit getrennten Abfolgen der Geschlechter. Das ist das Bündnis zwischen Enkel und Ahn; durch dieses Bündnis wird das Volk zum ewigen Volk; denn indem sich Enkel und Ahn erblicken, erblicken sie im gleichen Augenblick ineinander den spätesten Enkel und den ersten Ahn. So sind der Enkel und der Ahn, beide einander, und beide zusammen für den, der zwischen ihnen steht, die wahre Verkörperung des ewigen Volks; wie der zum Bruder gewordene Mitmensch dem Christen die Kirche verkörpert. An Greisen und an Kindern erleben wir unmittelbar unser Judentum. Der Christ erlebt sein Christentum im Gefühl des Augenblicks, der ihm den Bruder zuführt mitten auf der Höhe des ewigen Wegs; dort drängt sich ihm die ganze Christenheit zusammen; sie steht wo er, er wo sie, — auf der Mitte der Zeit zwischen Ewigkeit und Ewigkeit. Anders zeigt uns der Augenblick die Ewigkeit: nicht im Bruder, der uns zunächst steht, sondern in denen, die uns zufernst stehen in Zeit, im Ältesten und im Jüngsten, im Greis der mahnt, im Knaben der fragt, im Ahn der segnet und im Enkel der den Segen empfängt. So spannt sich uns die Brücke der Ewigkeit — vom Sternenhimmel der Verheißung, der sich über dem Berg der Offenbarung wölbt von wo der Strom unseres ewigen Lebens entsprang, bis hin zum unzählbaren Sand der Verheißung, an den das Meer spült darein jener Strom mündet, das Meer, aus dem einst der Stern der Erlösung aufsteigen wird, wenn seinen Fluten gleich die Erde überschäumt von Erkenntnis des Herrn.


Zuletzt drängt so jene Spannung von Anfang und Ende doch wieder gewaltig hin zum Ende; obwohl sie als Spannung nur aus beiden entsteht, sammelt sie sich schließlich doch an einem Punkt, eben am Ende. Das Kind mit seinen Fragen ist zuletzt doch noch ein gewaltigerer Mahner als der Greis; der Greis wird zur Erinnerung, und mögen wir uns auch immerfort nähren aus dem unversieglichen Schatze seines begeisterten Lebens und uns halten und stärken an der Väter Verdienst: das Kind allein zwingt. Nur ,,aus dem Munde der Kinder und Säuglinge“ gründet Gott sein Reich. Und wie jene Spannung zuletzt sich doch ganz ins Ende zusammenballt, auf den spätesten Sproß zuletzt, den Messias, den wir erwarten, so bleibt auch die christliche Sammlung im Mittelpunkt schließlich doch nicht dort haften. Wohl mag der Christ Christus im Bruder erblicken, zuletzt treibt es ihn doch über den Bruder hinaus unmittelbar zu ihm selbst. Obwohl die Mitte nur Mitte ist zwischen Anfang und Ende, schiebt sich ihr Schwergewicht dennoch hinüber auf den Anfang. Der Mensch tritt unmittelbar unter das Kreuz; er mag sich nicht genügen lassen, daß er von der Mitte des Weges das Kreuz wie das Gericht in ewiger Nähe erblickt; er ruht nicht, bis ihm das Bild des Gekreuzigten alle Welt verdeckt. Indem er sich so dem Kreuz allein zuwendet, mag er das Gericht vergessen, — auf dem Wege bleibt er doch. Denn das Kreuz ist ja, obwohl noch zum ewigen Anfang des Wegs gehörig, doch schon nicht mehr der erste Anfang, es ist selber schon auf dem Wege, und so steht, wer unter es getreten ist, in der Mitte und im Anfang zugleich. So drängt sich das christliche Bewußtsein, ganz versenkt in Glauben, hin zum Anfang des Wegs, zum ersten Christen, zum Gekreuzigten, wie das jüdische, ganz versammelt in Hoffnung, hin zum Manne der Endzeit, zu Davids königlichem Sproß. Der Glaube kann ewig sich an seinem Anfang erneuern, gleich wie die Arme des Kreuzes sich ins Unendliche ausziehen lassen; die Hoffnung vereint sich aus aller Vielfältigkeit der Zeit heraus ewig in dem einen fern und nahen Augenpunkt des Endes, gleich wie der Stern auf Davids Schild die Strahlen alle in den Feuerkern versammelt. Verwurzelung ins tiefste Selbst, das war das Geheimnis der Ewigkeit des Volkes gewesen. Ausbreitung durch alles Außen hin — das ist das Geheimnis der Ewigkeit des Wegs.
Aus: Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, (S.382-386), Bibliothek Suhrkamp