Franz Rosenzweig (1886 - 1929)

Jüdischer Philosoph, Theologe und Übersetzer, der mit Martin Buber u. a. 1920 in Frankfurt am Main das »Freie Jüdische Lehrhaus« gründete und mit diesem eine neue Übersetzung der hebräischen Bibel begann. Sein bekanntestes Werk ist der »Stern der Erlösung«.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis
Das Feuer oder das ewige Leben

>>>Christus
Die Strahlen oder der ewige Weg
Das Band der Brüderlichkeit
Auf der Mitte der Zeit zwischen Ewigkeit und Ewigkeit


Das Feuer oder das ewige Leben

Was bedeutet es, daß hier ein Einzelnes, ein Volk, Gewähr seines Bestehens in nichts Äußerem sucht und grade darin, grade in seiner Beziehungslosigkeit, Ewiges sein will? Es bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den Anspruch, als Einzelnes dennoch Alles zu sein. Denn das Einzelne an sich ist deswegen nicht ewig, weil es das Ganze außer sich hat und sich in seiner Einzelheit nur behaupten kann, indem es sich dem Ganzen irgendwie als Teil einfügt. Ein Einzelnes also, das gleichwohl ewig sein wollte, müßte das All ganz in sich haben. Und so hieße das, daß das jüdische Volk in seinem eigenen Innern die Elemente Gott Welt Mensch, aus denen ja das All besteht, versammelt. Der Gott, der Mensch, die Welt eines Volkes sind eines Volkes Gott, Mensch, Welt nur dadurch, daß sie sich von andern Göttern, Menschen, Welten genau so unter- und abscheiden wie das Volk selbst. Eben in diesem Sichabscheiden des einzelnen Volks von andern einzelnen Völkern hängt es mit ihnen zusammen. Alle Grenze hat zwei Seiten, Indem etwas sich abgrenzt, grenzt es sich an etwas andres an. Indem ein Volk einzelnes Volk ist, ist es Volk unter Völkern. Sein Sichabschließen bedeutet dann ebensosehr Sichanschließen. Nicht so, wenn das Volk es verweigert, einzelnes Volk zu sein, und ,,das eine Volk“ sein will. Dann darf es sich nicht in Grenzen einschließen, sondern es muß die Grenzen, die es ja durch ihre Zweiseitigkeit zum einzelnen Volk unter den andern Völkern machen würden, in sich einschließen. Und genau so seinen Gott, seinen Menschen, seine Welt. Auch die darf es nicht gegen andre unterscheiden, sondern es muß ihren Unterschied in seine eigenen Grenzen mithineinziehen. Gott, Mensch, Welt müssen den Unterschied, durch den sie zu Gott, Mensch, Welt des einen Volkes werden, da dieses eine Volk ein einziges Volk sein soll, in sich selber haben. Sie müssen in sich selber polhafte Gegensätzlichkeit bergen, um einzeln, bestimmt, etwas Besonderes, ein Gott, ein Mensch, eine Welt, und doch zugleich Alles, Gott, der Mensch, alle Welt, sein zu können.

Gott scheidet sich in sich selber in den Schöpfer und den Offenbarer, den Gott der allmächtigen Gerechtigkeit und den der erbarmenden Liebe. Der Mensch scheidet sich in die gottgeliebte Seele und den Liebenden der Liebe des Nächsten. Die Welt scheidet sich in das Dasein der nach Gottes Schöpfung verlangenden Kreatur und das eigne Wachstum des Lebens hinein ins Reich. Alle diese Scheidungen waren uns bisher nicht als Scheidungen erschienen, sondern als einander folgende Einsätze der Stimmen der großen Fuge des Gottestags. Nicht die Scheidung, sondern vielmehr die Vereinigung, ihr Zusammenklingen in die eine Harmonie, war uns bisher das Wesentliche. Jetzt zum ersten Mal, wo wir uns anschicken, die Ewigkeit nicht als den zwölften Glockenschlag der Weltuhr, sondern als das stündlich Gegenwärtige zu schauen, werden uns jene Einsätze zu Gegensätzen. Denn in der reinen, stündlich wiederkehrenden Gegenwart haben sie nicht mehr die Möglichkeit, sich in kontrapunktierter Bewegung aneinander vorbei und ineinander zu schieben, sondern liegen hart auf hart einander gegenüber.

Gott der Herr gilt seinem Volk zugleich als der Gott der Vergeltung und der Gott der Liebe, er wird in einem Atemzug angerufen als ,,unser Gott“ und als ,,König der Welt“ oder — im noch engeren Kreis der gleiche Gegensatz — als ,,unser Vater“ und ,,unser König“. Er will, dass man ihm diene ,,mit Zittern“, und freut sich, wenn seine Kinder die Angst vor seinen Wunderzeichen überwanden. Wo die Schrift von seiner ,,Erhabenheit“ redet, da redet sie alsbald im nächstfolgenden Verse schon von seiner »Demut«. Er verlangt die sichtbaren Zeichen der seinem Namen dargebrachten Opfer und Gebete und der vor ihm geschehenden Kasteiung; und im gleichen Atemzug fast verschmäht er beides und will nur geehrt werden durch die namenlosen Werke der Nächstenliebe und Gerechtigkeit, denen niemand ansieht. daß sie um seinetwillen geschehen, und durch das heimliche Glühen des Herzens. Er hat sein Volk erwählt, aber um an ihm zu strafen alle seine Sünden. Er will, daß jegliches Knie sich ihm beuge, und thront doch auf den Lobgesängen Israels. Für die Sünde der Völker tritt Israel vor ihm ein, und wird mit Krankheit geschlagen, auf daß jene Heilung finden, — vor Gott stehen sie beide, Israel sein Knecht und die Könige der Völker, und unentwirrbar für menschliche Hände schlingt sich der Knoten von Leiden und Schuld, von Liebe und Gericht, von Sünde und Versöhnung.

Der Mensch, der in Gottes Ebenbild geschaffene, auch er ist, wie er als jüdischer Mensch vor seinen Gott tritt, eine Herberge von Widersprüchen. Als Gottes Liebling, als Israel, weiß er sich von Gott erwählt und mag wohl vergessen, daß er nicht allein mit Gott ist, daß Gott noch andre kennt, mag nun er selber sie kennen oder nicht, und daß Gott auch zu Ägypten und Assur spricht: «mein Volk». Er weiß sich geliebt — was kümmert ihn die Welt. Er mag in seliger Zweieinsamkeit mit Gott sich dem Menschen überhaupt gleichsetzen und verwundert um sich schauen, wenn ihn die Welt daran zu erinnern sucht, daß nicht in allen das gleiche Gefühl der unmittelbaren Gotteskindschaft lebt wie in ihm. Und dennoch, niemand wiederum weiß genauer als er, daß Gottes Liebling zu sein nur einen Anfang bedeutet und daß der Mensch noch unerlöst bleibt, solang bloß dieser Anfang verwirklicht ist. Gegen Israel, den ewig Gottgeliebten, ewig Treuen, ewig Vollendeten, steht der ewig Kommende und ewig Wartende, ewig Wandernde, ewig Wachsende, steht Messias. Gegen den Menschen des Anfangs, Adams des Menschen Sohn, steht der Mensch des Endes, der Sohn Davids des Königs, gegen den aus dem Stoff der Erde und dem Hauch des göttlichen Mundes Geschaffnen das Reis aus gesalbtem Königsstamm, gegen den Erzvater der späteste Sproß, gegen den Ersten, der sich einhüllt in den Mantel der göttlichen Liebe, der Letzte, von dem das Heil geht zu den Enden der Erde, gegen die ersten Wunder die letzten, davon es heißt, sie würden größer sein als jene.

Aus: Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung (S.339-341), Bibliothek Suhrkamp