Johann Andreas
Rüdiger [Ridiger] (1673 – 1731)
Deutscher
Philosoph und Mediziner, der
sich erstmals an deutschen Universitäten mit Locke auseinandersetzt. Rüdiger entwickelte eine
nach streng logisch-beweisender Methode entworfene Philosophie, die vor allem das empirische Fundament aller Erkenntnis heraus stellt. Er ist ein Gegner der Wolffschen Philosophie. Nach seiner Auffassung kann die mathematische Methode auf die Philosophie nicht
angewendet werden, weil die Mathematik es nur mit dem Möglichen zu tun
hat, die Philosophie hingegen auch zeigt (durch Wahrscheinlichkeitsgründe),
wie etwas Mögliches wirklich sein kann. Über
Crusius - der von seinen Ideen angetan war - wirkte Rüdiger auch indirekt auf Kant.
Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon
Metaphysische
Wahrheit und logische Wahrheit
Im eigentlichen Sinn erkennt nur
Gott die Wesenheiten oder
Substanzen der Dinge vollkommen und unmittelbar, der Mensch
aber nicht; doch statt dessen erlaubte Gott ihm
bloß die Erkenntnis gewisser Akzidentien,
aus denen er die Existenz der Wesenheiten oder Substanzen
sicher erschließen und mit deren Hilfe er die genannten Wesenheiten voneinander
unterscheiden und Zugang zu ihren Vermögen bekommen kann. Gott
hätte uns diese
Erkenntnis auch vermittelst ganz anderer Akzidentien gewähren können,
sogar vermittelst solcher, die den jetzigen entgegengesetzt sind. Während
wir z. B. mit den einfachen Leuten Schnee und Ruß dadurch unterscheiden,
dass jener weiß, Ruß aber schwarz ist; und dass jener
schon bei leichter Wärme schmilzt, aber dieser nicht: so hätte Gott doch unser Auge auch so einrichten können, dass derselbe Schnee uns
schwarz erschiene, Ruß aber weiß. ...
Gott wollte uns die Wesenheiten oder Substanzen
der Dinge nur durch Zeichen offenbaren; weil aber
Zeichen willkürlich sind, so konnte Gott auch
andere verwenden, und zwar derart, dass uns nichtsdestoweniger
dieselbe reale Erkenntnis blieb. Deswegen täuscht er uns nicht,
wenn er diese verwendet, und täuschte uns auch nicht, wenn er lieber andere
verwendete; unterdessen bleibt wahr, was er uns durch jene Zeichen enthüllt (obgleich die Zeichen nicht die Sachen selber sind), solange sie nur beständig sind.
Aus dem Gesagten geht hervor, was von der gewöhnlichen Definition der Wahrheit
zu halten ist, in der es heißt, Wahrheit sei
die Übereinstimmung eines Gegenstandes mit dem Verstand; wenn
du sie aber klar auslegen willst, dann hat sie diesen Sinn: Wahrheit ist die Übereinstimmung der Substanzen mit der Empfindung und
den Ideen des Verstandes. Wie sollte jedoch eine natürliche Übereinstimmung
zwischen Zeichen und Bezeichnetem aussehen, da doch jedes Zeichen mit seinem
Bezeichneten übereinkommt, selbst ein entgegengesetztes, falls der, der
das Zeichen einsetzt, es so will? Die genannte Definition ist zwar unter allen
Philosophen, die ich kenne, üblich; aber weil sie sich etwas Falsches zu
eigen macht, nämlich, dass wir die Substanzen
der Dinge erkennen können, und zwar direkt und unmittelbar, wobei gemeint
ist: ohne die Sinne, deshalb ist auch sie selber falsch. ...
Übrigens kann man in Hinsicht auf Zeichen und Bezeichnetes vier
Fragen stellen:
1. ob
das Zeichen die Sache selber ist? (die skeptische Frage);
2. ob das Zeichen dieses Bezeichneten nicht etwa das eines
anderen ist? (die cartesianische Frage);
3. ob es sich mit dem Zeichen wirklich so verhält, wie
es sich darstellt? (die metaphysische Frage);
4. ob dieses oder jenes mit einem Zeichen zusammenhängt
oder nicht? (die logische Frage und deshalb die Frage, um die es hier eigentlich
geht.)
Dadurch wird klar, was metaphysische Wahrheit wirklich
ist und wie sie sich von logischer unterscheidet.
Denn metaphysische Wahrheit ist die Übereinstimmung
eben der Empfindung mit jenem Akzidens, das empfunden wird. Das
bedeutet, dass immer dann, wenn man z. B. Wärme oder Kälte empfindet,
wirklich etwas da ist, das warm oder kalt ist.
Mit einem Wort, wenn wir fragen, ob uns die Sinne
täuschen oder nicht, dann betrifft diese
Frage recht eigentlich die metaphysische Wahrheit.
Logische Wahrheit aber ... ist
die Übereinstimmung unserer Gedanken mit einer Empfindung, von
der schon angenommen wird, daß sie metaphysisch wahr ist und uns nicht
täuscht. Wenn mithin unsere Gedanken bei einem Beweise so verfahren,
dass aus der Empfindung die Idee hervorgeht, aus der Idee die Definition, aus der Definition die
Einteilung, aus Definition und Einteilung zusammen Bejahung und Verneinung,
aus diesen der Schluss, im Fall der Wahrscheinlichkeit aber
aus mehreren Empfindungen die Hypothese: dann ist die
logische Wahrheit so verknüpft, daß bei der Wahrscheinlichkeit die
Hypothese mit mehreren Empfindungen übereinkommt; dagegen beim Beweis der
Schluß mit Bejahung oder Verneinung, Bejahung und Verneinung mit Definition
und Einteilung, Definition und Einteilung mit der Idee und die Idee mit der
Empfindung. Daher geht aus dem bislang Gesagten hervor, dass die metaphysische Wahrheit die Grundlage der logischen Wahrheit ist; denn wäre die Empfindung nicht wahr, dann
wäre notwendigerweise auch das, was aus der Empfindung abgeleitet ist,
nicht wahr. S.134ff.
Aus: Die Philosophie der deutschen Aufklärung, Texte und Darstellung von
Raffaele Ciafardone, Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinke und Rainer Specht
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8667, © 1990 Philipp Reclam jun., Stuttgart