Jan van Ruysbroeck (1293 – 1381)

  Flämischer Mystiker und Meister der mittelniederländischen Prosa. Er besuchte die Brüsseler Kapitelschule und wurde 1318 Weltpriester und Vikar von St. Gudula in Brüssel. Ruysbroeck wandte sich gegen häretische Bewegungen, »besonders gegen die Schwärmerin Bloemardinne«. Mit sechzig Jahren gründetet er die Einsiedelei Groenendal, die später in ein Augustinerchorherren-Kloster umgewandelt wurde. Von da aus trat Ruysbroeck in nähere Verbindung mit Tauler und den Kirchenreformern, nach 1379 auch mit Groote, und sein Einfluss auf diese war nicht gering. Besonders Tauler hat viele von seinen Formulierungen wörtlich übernommen, daran jedoch immer eigene Gedanken angeknüpft und ausgebaut, so wie eben ein weit gereister Prediger und selbständiger Denker gern an den Anregungen seines Freundes weiterspinnt, zumal wenn der ein stiller Klausner ist, vielleicht ein Kauz, jedenfalls aber ein tiefer Denker. Die mystische innere Erfahrung göttlicher Gegenwart war übrigens bei beiden die gleiche. Zusammen — und auch mit Seuse — bekämpften sie die »Brüder und Schwestern vom Freien Geiste«, bei denen die gefährliche Saat des missverstandenen Ekkehart aufgegangen war. Ruysbroecks Lehren wurden später von Gerrit Groote weitergetragen.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis
Aus dem »Buch der zwölf Beghinen« ,
Aus den » Sieben Stufen der geistlichen Liebestreppe«


Aus dem »Buch der zwölf Beghinen«

Von den vier Graden der Liebeshingabe
14, 1. Versteh mich recht. Der erste Grad der Liebe besteht darin, Gott über alle Dinge zu fürchten und zu lieben und Ihm und der christlichen Kirche nach christlichem Glauben Gehorsam zu bezeigen, mit Tugenden, und mit allen guten Werken. Dies sind die Freunde Gottes, an denen Er Wohlgefallen hat, in jenem niedersten Grad von Liebe, bei dem wir in Gott wohnen, im Geiste und in der Wahrheit. Dies geschieht, sobald sich der fromme Mensch mehr im Denken und Lieben an Gott hingibt als Ihm äußerlich mit guten Werken zu dienen. Er wird vom Geiste Unseres Herrn zu immer größerem Liebesverlangen gedrängt und je größer sein Liebesverlangen, desto mehr fordert ihn Gott auf. Er tritt dann in eine selige, grenzenlose Einfühlung, die in einer Liebe über allem Ausdruck und Gestaltung besteht.

Alsbald beginnt der zweite Grad der Liebe — denn das Heischen der Liebe im Herzen erfüllt bisweilen die Seele, wie ein zehrendes, brennendes Feuer, und treibt den Leib in Unrast bis zur Selbstverwüstung, und durchdringt den Geist mit einer hungernden, brünstigen Gier. Diese Gier der Liebe verschlingt den Inhalt der Seele zu einem lauteren Leersein ihrer selbst. Es beginnt ein erkennendes Starren und ein seliges Hinübergleiten in eine süße selige Lust: alsbald ist die grenzenlose Liebe vollbracht.

Hierauf erst folgt der dritte Grad der Liebe, die erhöht und verklärt ist vom göttlichen Licht. Auf dieser Stufe sind die Seelen nackend und hüllenlos und allem Irdischen entrückt in ein letztes Verstehen und Lieben. Sie wirken nicht mehr selber, sondern sie werden vom Geist Unseres Herrn bearbeitet und heimgesucht und werden jetzt selber zu Gnade und Liebe.

Aber so wahr Eisen nicht Feuer und Feuer nicht Eisen ist, so wird auch das Feuer nicht zu Eisen und das Eisen nicht zu Feuer; sondern jedes behält seinen Stoff und seine Natur. Gleicherweise wird auch der Menschen Geist nicht zum Gotte; sondern er wird gottförmig und er fühlt sich als Breite, Länge, Höhe und Tiefe. Und so wahr Gott Gott ist, so wahr ist die liebende Seele geeinigt mit Gott in ihrer Liebeshingabe.

14, 2. Darauffolgend besteht der vierte Grad der Liebe in einem Zustand der Leerheit, in welchem man mit Gott vereint ist durch Hingabe, los und ledig aller liebenden Betätigungen und jenseits aller frommen Werke: der Mensch vergißt seiner selbst und denkt an nichts mehr, weder an sich, noch an Gott, noch an irgendwelch Lebendes außer allein an die Liebe, die er schmeckt und fühlt und von der er in lauterer Leerheit besessen ist. Er fühlt sich liebend als eine Breite, die ohne Grenzen ist, und die alle Dinge in sich begreift und die als solche unbegreiflich bleibt.

Er sieht sich eins mit der ewigen Länge, die unbeweglich ist und ohne Anfang und ohne Ende, und die durch alle Kreatur vorangeht und aus der alle Kreatur nachfolgt.

Er sieht sich entrückt in eine Höhe mit Gott, welcher über Himmel und Welt und alle Kreatur waltet.

Er sieht sich als die Tiefe und ist versenkt in sein Überwesen, das Gottes Wesen ist. Hier findet er sich mit Gott und mit allen Heiligen in einer unerforschlichen Seligkeit zusammen: und diese Seligkeit ist für Gott wesentlich, für uns aber unwesentlich.

In dem selben Maße, da wir wissen und erkennen, sind wir selig und sind mit Gott vereinigt durch Hingabe; und in dem Maße, da wir nicht wissen, sind wir ein seliges Ausruhen in Gott, jenseits unserer geschaffenen Leiblichkeit.

Aus den » Sieben Stufen der geistlichen Liebestreppe«
(6. Von den drei Weisen, Gott zu verehren, die erste Weise).
Verstehet zunächst, was es heißt, Gott anzubeten. Es heißt, voll christlichen Glaubens und voll großer Unterwürfigkeit unmittelbar im Geiste und jenseits der Vernunft Den zu erschauen, Der die Allmacht ist und der Schöpfer des Himmels und der Erden und aller Lebewesen. Hierauf gilt es, Gott zu ehren. Das bedeutet dass wir uns selber aufgeben und die ganze kreatürliche Welt vergessen sollen; daß wir Gott ohne Unterlaß nachfolgen sollen, ohne Rückfall und mit ewiger Würdigkeit. Erst dann können wir — drittens — dahin gelangen, daß wir Gott gänzlich zu eigen haben, um Ihn zu lieben und zu umfangen, nicht um unseres Vorteils, nicht um unserer Ehre willen, auch nicht wegen unseres Heils oder sonst einer uns zugedachten Gabe, sonder lediglich um Seiner Selbst willen und zum Ruhme Gottes sollen wir Ihn lieben. Dies ist die vollkommene und reine Liebesinbrunst; dadurch sind wir mit Gott vereinigt und wohnen in Ihm und Er wohnt in uns.

Enthalten in: Christliche Geisteswelt, Band II, Die Welt der Mystik . Herausgegeben von Walter Tritsch (S.176f.) Holle Verlag , Darmstadt