Ferdinand Canning Scott Schiller (1864 – 1937)

 

Deutsch-englischer Philosoph, der in Ottensen (Buxtehude) geboren wurde und in Los Angeles starb, wo er seit 1930 eine Professur inne hatte. In den Jahren 1897 – 1926 lehrte er in Oxford (England). Schiller war einer der Hauptvertreter des Pragmatismus, jener philosophischen Lehre amerikanischen Ursprungs, die das Wesen des Menschen in erster Linie in sein Handeln hineinlegt und den Wert/Unwert des Denkens danach bemisst.

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Inhaltsverzeichnis
Glaube, Vernunft, Religion
Die ethische Bedeutung der Unsterblichkeit


Glaube, Vernunft, Religion.

1. Das Wesen der Religion und das Maß, in dem das, was in unbestimmter und mehrdeutiger Weise »Glaube« genannt wird, und das, was (ebenso unbestimmt und mehrdeutig) »Vernunft« heißt, an ihr beteiligt sind, nimmt unter den Problemen von dauerndem menschlichem Interesse einen hohen Rang ein, wohl teilweise deshalb, weil es unmöglich scheint, zu irgendeiner Lösung zu gelangen, welche für alle Menschen zwingend und befriedigend erscheint. Seit kurzer Zeit aber sind die alten Streitfragen wieder zu lebhaftester Glut entfacht worden, und zwar infolge zweier rein philosophischer Entwicklungen.

Einerseits hat sich der Absolutismus trotz seines langen Kokettierens mit der Theologie als der Volksreligion durchaus feindlich erwiesen. Durch Werke wie Bradleys »Appearance and Reality« und noch ärger, weil durchsichtiger und einfacher, in Mc Taggarts »Some Dogmas of Religion« ist der christliche Theismus in eine groteske und absurde Lage geraten, und kann er einer einschneidenden Kritik nicht entrinnen, solange er die rationalistischen Kriterien und Auffassungen der Wahrheit und des Beweises, mit welchem diese Kritik arbeitet, nicht ablehnt.

Anderseits sind eben diese Kriterien und Begriffe durch die pragmatistische Bewegung in der Philosophie bekämpft und großenteils verworfen worden. Sie droht daher erstens, den Rationalismus* seiner Lieblingswehr zu berauben, gerade als sie im Begriffe war, ausschlaggebend zu wirken. Sie verspricht zweitens, zu einer gerechteren und sympathischeren, weil mehr psychologischen, Würdigung der Postulate des religiösen Bewußtseins zu führen und eine unvoreingenommene Berücksichtigung des nicht ,,rationalen“ und nicht rationalistischen Tatbestands zu ermöglichen, auf welche die Religion sich von jeher gestützt hat. Es haben daher die rationalistischen Philosophen sofort ihre Bestürzung verraten.
*Ich gebrauche diesen Ausdruck als »Glauben an die Allgenügsamkeit der Vernunft«, nicht im populären Sinne als »Kritik der Religion«. Ein Rationalist im strengen Sinne des Wortes kann natürlich religiös sein und umgekehrt kann ein Voluntarist oder Sensualist ein Rationalist im popularen Sinne sein.

Obgleich nun diese Bewegung unmittelbar nur die Erkenntnislehre zu berühren scheint, wurde sie doch allgemein als ein Versuch zu einer revolutionären Umkehrung des zwischen Glauben und Vernunft obwaltenden Verhältnisses angesehen. Man beschuldigte die neue Philosophie sofort, sie strebe nach der Unterdrückung, ja Ausmerzung der Vernunft, sie wolle den Pfad zum gemeinsten Obskurantismus und gröbsten Aberglauben mit den Trümmern des Wahrheitsgebäudes pflastern, welches ihr Skeptizismus gesprengt hatte, kurz sie wolle die Religion im Treibsande des Irrationalen verankern. Aber, betonte man, die gefährlichen Mittel, welche zur Verwendung gelangen, prallen auf ihre Urheber zurück. Die Berufung auf den Willen zum Glauben endige mit der Erlaubnis zur willkürlichen Annahme jedes beliebigen Glaubens und zerstöre so alle Objektivität religiöser Systeme; das religiöse Gefühl werde von der drückenden Herrschaft eines strengen Rationalismus nur befreit, um sich den gemeinen Exzessen einer subjektiven Willkür zu überlassen.

Was nun zunächst gegen solche Klagen spricht, ist ihre übereilte Heftigkeit. Die Gegner des neuen Humanismus hätten ihn auf dem logischen und noch mehr auf dem psychologischen Boden, von dem aus der Angriff ausging, bekämpfen müssen, bevor sie sich beeilten, aus ihn religiöser Anwendungen zu ziehen, welche von den Humanisten gewiß nicht gemacht worden und vielleicht nicht einmal beabsichtigt waren und für deren Gutheißung seitens der Wortführer der religiösen Organisationen, wenigstens bei uns, kaum Anzeichen vorhanden sind. Bevor die Oberen der Kirchen an den Streitigkeiten der Philosophen im allgemeinen und in diesem besonderen Falle entschiedener Anteil nehmen, ist es voreilig von dieser Seite aus, die im voraus verschrieene Revolution zu erwarten. Die Theologen aber haben zu oft das Zetergeschrei von Philosophen, welche sich bemühten, gegen ihre Widersacher zwingendere Argumente als die der bloßen Vernunft ins Treffen zu führen, mit angehört, sie haben zu oft erfahren, wie unzuverlässig die plausibeln Versprechungen philosophischer Unterstützung waren, sie sind selber zu sehr in historische und kritische Untersuchungen und Schwierigkeiten ihres eigenen Gebietes versenkt, um solchem Geschrei leichtfertig Gehör zu schenken.

Die Kontroverse ist also noch nicht aus der Studierstube herausgedrungen, und es ist noch Zeit, die wahre Bedeutung des Humanismus für das religiöse Problem zu würdigen und den Wirkungskreis festzustellen, welchen er der Vernunft und dem Glauben tatsächlich zuweist. Es läßt sich mit Fug vorwegnehmen, daß die Ergebnisse der Untersuchung weder die Hoffnungen jener, welche eine ausdrückliche Anerkennung irgendeiner besonderen Religionsform, noch die Befürchtungen jener, welche eine völlige Demolierung der Vernunft besorgen, rechtfertigen werden.

2. Vielleicht wird ein kurzer historischer Rückblick uns am besten die Streitpunkte vorführen. Einsichtsvolle Theologen haben stets bemerkt — was ihre rationalistischen Kritiker in ihrer Blindheit übersahen —, daß sich religiöse Wahrheiten nicht wie die mathematischen unmittelbar und allgemein allen Geistern, aufdrängen. Sie haben nämlich eingesehen, daß man, um das Wesen des religiösen Geistes richtig zu werten, den sogenannten »Glauben« mit in Betracht ziehen muß. Dieser »Glaube« wurde ferner als ein stark persönlicher Akt, als Gefühlsreaktion des ganzen Wesens eines Menschen erkannt. Es war folglich seitens der Rationalisten unvernünftig, diesen spezifischen Charakter religiöser Wahrheiten zu ignorieren oder ihn als irrational zu behandeln. Und gerade diese Einsicht war es, welche einen Pascal veranlaßte, die »Gründe des Herzens« gegen die (abstrakten) Gründe des »Kopfes« auszuspielen, einen N e w m a n , seine »Grammar of Assent« zu verfassen, und einen Ritschl, die Pseudobeweise der (Hegelischen) Philosophie abzulehnen und dem religiösen Gefühl in der erhabenen Sphäre der »Werturteile« eine uneinnehmbare Zitadelle zu errichten.

Als daher der große Erforscher der menschlichen Seele, William James, uns das Recht zusprach, bei dem fein abgewogenen Gleichgewicht intellektueller Argumentation dadurch den Ausschlag zu geben, daß man einen Willen zum Glauben in die Wagschale legte, und so dasjenige bevorzugte, was unter verschiedenen Möglichkeiten unserem Gemüt am besten zusagte, da konnte es allerdings den Anschein haben, als ob er nur ein bekanntes theologisches Auskunftsmittel erneuert und wieder zum Ausdruck gebracht hätte, welches die Philosophie schon lange als die letzte verzweifelte Zuflucht eines absterbenden religiösen Triebes verurteilt hatte.

Aber es zeigte sich, daß in der so wiederbelebten Lehre doch eine wichtige Neuerung steckte. Sie trat nämlich nunmehr als eine philosophische Doktrin auf, auf psychologischen und erkenntnistheoretischen Erwägungen beruhend und an sich von ihren religiösen Anwendungen ganz unabhängig, und rückte in die Schlacht, völlig bereit, auf rein philosophischem Boden einen energischen Kampf gegen die intellektualistischen Vorurteile des herkömmlichen Rationalismus auszufechten. Mit anderen Worten: indem die Funktionen des »Glaubens« als Beispiel für ein allgemeines Prinzip dienten, wurden die religiösen Anwendungen, durch welche das Prinzip zuerst bemerkt und erprobt wurde, zu abgeleiteten Erläuterungen einer philosophischen Anschauung von großer Tragweite. Es war daher nicht mehr nötig, die Gründe des Herzens zu denen des Kopfes in Gegensatz zu bringen; es konnte behauptet werden, daß kein anämisches Gehirn, dem nicht das Herz die Lebenskraft verlieh, irgendwelche »Gründe« ausdenken könne, es konnte geleugnet werden, daß die Leistungen des »Gefühlsschlusses« und die Sphäre der Werturteile auf religiöse Wahrheiten beschränkt seien. Die neue Philosophie hatte ferner aus den skeptischen Ergebnissen der älteren Abstraktionen gelernt, daß die Erkenntnis sich nicht entpersonalisieren läßt und daß die volle Konkretheit der persönlichen Teilnahme für die Erreichung der Wahrheit unentbehrlich ist. So wurde denn die theologische Betonung des persönlichen Charakters des »Glaubens«, welche den älteren Annahmen zufolge als logische Absurdität erschien, völlig gerechtfertigt. Und so vermehrten sich die Anzeichen eines Gefühlseinflusses und die Beweise der Unausrottbarkeit des persönlichen Faktors im ganzen Bereich der Wahrheit, bis vielmehr das scheinbar gefühllose Verfahren der Mathematik* aufhörte, typisch zu sein und paradox wurde.
*Natürlich ist der abweichende Charakter der mathematischen Wahrheiten als »selbstgewiß« und »unabhängig« von unserer Entscheidung nur ein scheinbarer. Er erklärt sich hauptsächlich aus der Leichtigkeit, mit der die fundamentalen Postulate der Mathematik aufgestellt und vertraut gemacht werden, aus der allgemeinen Übereinstimmung betreffs ihrer Anwendung, aus dem vollständigen Erfolg ihrer praktischen Leistung und aus dem offenbaren Zusammenhange dieser Wahrheiten, welche sich in ganzen Systemen besser bewähren lassen als einzeln.

So wurde mitten in der gewöhnlichen Reihe dessen, was die Menschheit als »Wahrheit« schätzt, die Funktion des Wollens und der Auswahl sowie der Einfluß der Werte bei aller Wahrheits- und Wirklichkeitserstellung zu klar, als daß sie noch weiter ignoriert werden konnten, und daraus ergab sich das Merkwürdige, daß eben dadurch, daß man die Ansprüche des Glaubens streng logisch durchführte, dieser aufgehört hat, ein Gegner und Ersatz der »Vernunft« zu sein und zu einem wesentlichen Bestandteil und Voraussetzung derselben geworden ist. Die Vernunft ist also nicht mehr in der Lage, die Gültigkeit des Glaubens durchaus zu bestreiten, weil ja der Glaube sich für ihre eigene Gültigkeit als wesentlich erwiesen hat.

3. Die Tragweite dieser Veränderung wurde zuerst dadurch verdunkelt, daß die neue Philosophie zunächst in einer für theologische Leser verfaßten Schrift zur Anwendung gelangte und als ,,Wille zum Glauben“ verkündigt wurde, ohne genügende Betonung der entsprechenden Haltung eines Willens zum Unglauben oder zum Spiel mit dem Glauben oder zum Einstellen des Glaubens oder zum Weiterglauben an das, was bereits als äußere »Tatsache« akzeptiert worden war. So war es der besondere Charakter der ersten Anwendung, was die weniger Einsichtigen verführte, den allgemeinen Charakter des Prinzips und die universale Abzweckung der Methode zu übersehen. An sich aber ist die neue Lehre vollkommen allgemein und auf alle Erkenntnisgebilde in gleicher Weise anwendbar. Sie geht wesentlich von der einfachen Beobachtung aus, daß einerseits die reine Erkenntnis kein wirklicher Vorgang in irgendeinem menschlichen Bewußtsein, sondern höchstens eine Fiktion zu theoretischen Zwecken (bedenklichster Art) ist, während anderseits alle geistigen Operationen völlig persönlich und durchaus von Zwecken, Bestrebungen, Gefühlen, Gemütsbewegungen, Entscheidungen und Wahlakten durchsetzt sind, auch in jenen Fällen, wo von diesen Zügen scheinbar abstrahiert wird.

Im Grunde ist also der neue Humanismus nur ein Versuch, aus der Psychologie Fiktionen zu entfernen, welche eine Brut logischer Ungeheuer erzeugen durften, die ihrerseits das menschliche Leben tyrannisierten und dadurch den gesunden menschlichen Trieb zum Experimentieren und zur dadurch vermittelten Erkenntnis von dem abschreckten, was sie verderblicherweise als verbotenes Gebiet bezeichneten. Da nun aber diese fundamentale Stellungnahme niemals direkt bestritten worden ist, so ergibt sich leicht der unvermeidliche Schluß, daß die Haltung der Leugner, Zweifler und Gläubigen sich nicht durch die »Reinheit« des Denkens, durch den Beweis der Gegenwart oder des Fehlens des Gefühls unterscheiden läßt. Ist kein Denken jemals »rein«, ist es weder »selbstgewiß« noch richtig, daß, je »reiner« es ist, es besser für alle Zwecke sei, werden alle Erkenntnis-Operationen von Gefühl, Wille, Interesse und Neigung begleitet, ist es da nicht verkehrt, die konkrete Natur des Geistes, die persönlichen Interessen, welche der Erkenntnis den Impuls und dem Leben eine Würze verleihen, als bloße Hindernisse für das Suchen der Wahrheit zu betrachten? Welche Affekte usw. zu unterdrücken sind, in welchem Ausmaße und zu welchen Zwecken, das hängt völlig von der Beschaffenheit der speziellen Untersuchung und des besondern Forschers ab. So wird der Zorn, der den einen sprachlos macht, den Worten des andern Beredsamkeit und Kraft verleihen, und der Wunsch, eine Folgerung zu beweisen, der das Urteil des einen schwächt, wird den andern zu den sinnreichsten Experimenten und zu den eifrigsten Bemühungen anspornen. Es ist daher unsinnig, über die Erkenntniswirkung dieser psychologischen Einflüsse leichtfertig allgemeine Behauptungen aufzustellen. Sie müssen prinzipiell anerkannt und im einzelnen bewertet werden. Denn es muß sicherlich vergeblich sein, gegen das normale Funktionieren des Geistes zu protestieren, es muß vernünftig sein, Einflüsse anzuerkennen, welchen wir unterliegen, ob wir sie billigen oder nicht. Denn wie können sie bewertet und vernunftgemäß behandelt werden, wenn wir nicht vorerst bereit sind, ihre Macht anzuerkennen? Ist es also nicht notwendig, sorgsam und genau zu untersuchen, wie diese Kräfte tatsächlich wirken, wie, wann und in welchem Maße ihr Einfluß günstig oder widrig sein kann, wie sie sich verstärken, leiten, hemmen, kontrollieren, disziplinieren lassen? Und ist es nicht eine sonderbare Ironie, was einen kurzsichtigen Rationalismus antreibt, ein so vernünftiges Unternehmen als irrational zu verurteilen?

4. Lassen wir also solche Proteste beiseite und schreiten wir in unserer Untersuchung fort. Wie die meisten Ausdrücke, wenn sie näher geprüft werden, haben die Worte »Vernunft« und »Glaube« für unsere wissenschaftlichen Zwecke keine genügende Bestimmtheit, und es ist schwer zu sagen, welches von beiden in flagranterer Weise mißbraucht worden ist. Für den Rationalisten ist die Vernunft zu einer Art Wortfetisch geworden, umhegt mit Gefühls-Tabus, welche sie aller vernünftigen Kritik entziehen. Es werden ihr überweltliche Kräfte apriorischer Erkenntnis zugeschrieben, sie selbst ist sakrosankt, und wenn ihre schützende Aegis auf Irrtümer oder Absurditäten geworfen wird, dann ist es Blasphemie und »Skepsis«, nach ihren Kreditiven zu fragen. Nur mit größtem Zagen dürfen wir uns daher an die Frage wagen: Was bedeutet denn schließlich die Vernunft für das wirkliche Leben? Wenn wir aber so fragen und die Antwort erwägen, so werden wir bald gewahr, daß zunächst Vernunft mit Denken nicht identisch ist. Ein solches kann natürlich in den Vernunftakt eingehen, ist aber keineswegs unerläßlich und bildet, auch wenn es stattfindet, nur einen kleinen Teil des Gesamtprozesses. In der Regel erklären sich die meisten unserer »Vernunftakte« aus Instinkten, Trieben und Gewohnheiten. Anderseits ist es nicht vernünftig, drei Stunden im Tag darüber »nachzudenken«, welches Kleid man anziehen soll; das Nachdenken der Opfer einer solchen »Abulie« [Unentschlossenheit] gilt, weit entfernt, als Zeichen eines höheren Geistes zu erscheinen, nur als Symptom einer Vernunfteinbuße.

Ferner ist die »Vernunft« kein »Vermögen«. Sie bedeutet vielmehr eine Gruppe von Gewohnheiten. welche die Menschen (und in gewissem Maße auch einige Tiere) erworben haben und die für eine erfolgreiche Lebensführung äußerst nützlich, ja notwendig sind. Unter diesen Gewohnheiten ist erstens die der Hemmung einer Reaktion auf Reize zu erwähnen, d. h. die Gewohnheit, unsere natürlichen und instinktiven Reaktionstendenzen so lange zu hemmen, bis wir überlegt haben, was dasjenige, mit dem wir es zu tun haben, eigentlich ist. Zu diesem Behufe hat sich ferner in uns die Gewohnheit der Analyse entwickelt, d. h. der Zergliederung des verworrenen Vorstellungshaufens in »Dinge« und deren »Eigenschaften«, welche auf frühere ähnliche Erfahrungen bezogen bzw. mit ihnen identifiziert und in Urteilen über das, was »tatsächlich vorliegt«, formuliert werden. Dies befähigt uns schließlich zur Neuordnung der vorgestellten Eigenschaftsverbindungen, und der ganze Denkprozeß mündet naturgemäß in eine verbesserte Handlung, welche die ursprüngliche Reaktionsgewohnheit modifiziert und in günstiger Weise abändert.

5. Mit anderen Worten, Denken oder Urteilen ist eine der Gewohnheiten, welche die menschliche »Vernunft« konstituieren, und zwar ist Denken oder Urteilen ein sehr künstliches und willkürliches Verarbeiten der Erfahrung. Die »vernünftige« Verknüpfung der Ereignisse und die ,,vernünftige“ Deutung von Erfahrungen entfernen sich beträchtlich vom unmittelbar Gegebenen und werden erst durch komplizierte Denkprozesse erreicht. Das Denken nun schließt wesentlich den Gebrauch von Begriffen ein und ist schließlich von einer Reihe von Grundsätzen (Identität, Widerspruch usw.) abhängig, welche lange als fundamentale ,,Axiome“ galten, sich aber einer voluntaristischen Erkenntnistheorie, die sie zu verstehen sucht, als Postulate zeigen. *
*Der Identitätssatz z. B. besagt nur, daß zwei Begriffe (resp. Worte), welche an sich und in abstracto verschieden sind, für den jeweiligen Erkenntniszweck in eins gesetzt werden sollen. Ob die so geschaffene Identität wirklich besteht, d. h. sich bewährt, muß immer erst der Erfolg lehren. Aber ohne diese Beziehung zur Anwendung (resp. Benutzung) hat der Satz überhaupt keinen Sinn.

Ein Postulat nun ist nicht eine selbstevidente »notwendige« Wahrheit — es hört auf, notwendig zu sein, sobald der Zweck, der es zeitigt, nicht mehr in Frage kommt. Es ist auch kein passiver Abdruck der Erfahrung, sondern eine Annahme, welche zweifellos die Erfahrung in einem aktiv forschenden Geist ausgelöst hat, die aber nicht eher erhärtet ist und sein kann, als nachdem sie gemacht worden ist, und die oft gemacht wird, weil wir es allen scheinbaren »Tatsachen« zum Trotz so wünschen. Sie ist demnach ein Produkt unserer Willenstätigkeit und ihre Gültigkeit ist anfangs unsicher; sie wird erst nachher, durch die Erfahrung ihres praktischen Erfolges, festgestellt. Mit anderen Worten, sie wird ebenso erprobt, wie die anderen Gewohnheiten, welche unsere »Vernunft« ausmachen. Insofern also das Denken auf Postulaten beruht und Postulate ursprünglich unerwiesen und bestreitbar sind, schließt unsere Stellungnahme zu ihnen einen »Glauben« ein, d. h. den Glauben an eine erst zukünftige »Bewahrheitung«. Müssen wir dann nicht sagen, daß wir gerade an der Wurzel der »Vernunft« ein Element des »Glaubens« anerkennen müssen? Ebenso würde es sich zeigen, daß die Grundwahrheiten der Wissenschaften, da sie auf dieselbe Weise erlangt werden, insgesamt einen Glauben voraussetzen, und zwar in zweifacher Weise: erstens, sofern sie vom Schließen Gebrauch machen; zweitens, sofern sie auf den besonderen Postulaten jeder Disziplin basieren.

6. Daß das Glaubensprinzip in der Regel sehr verschieden und recht vag gedacht wird, haben wir bereits zugegeben, obwohl dessen Kritiker ungehörigerweise zur Definition des Schulkindes neigen, wonach »man etwas glaubt, wenn man weiß, daß es nicht wahr ist«. Auch diese Definition wäre nicht gänzlich unhaltbar, wenn es nur hieße »glauben, wenn man weiß, daß es nicht wahr ist« und wenn dadurch genügend betont würde, daß eine Glaubensüberzeugung, um völlig »wahr« zu werden, doch noch der Bewährung bedarf. Im ganzen aber wäre es besser, den Glauben als jenes seelische Verhalten zu definieren, welches um praktischer Zwecke willen bereit ist, wertvollen und wünschenswerten Überzeugungen zu vertrauen, bevor sie sich als »wahr« erwiesen haben, aber in der Hoffnung, dieses Verhalten werde deren Verifikation befördern. Bei dieser Definition ist zu beachten, daß sie
erstens den Glauben vorzugsweise zu einer Stellungnahme des Willens, zu einer Angelegenheit der ganzen Persönlichkeit, nicht des (abstrakten) Intellekts macht; daß er
zweitens
ausdrücklich auf Werte gerichtet ist und daß das Wertlose und Unbedeutende nicht geeignet ist, unseren Glauben zu erwecken; daß er
drittens ein Risiko, wirkliche Einsätze und ernstliche Gefahren einschließt und entschieden kein Spiel ist, das man so nebenbei und mit halbem Herzen spielen kann; daß
viertens die Beziehung auf eine Bewährung zu seinem Wesen gehört und daß er sich daher mit der Erkenntnis ebensowenig identifizieren als von ihr abtrennen läßt. Die Bewährung nun muß durch die Ergebnisse seiner praktischen Leistung erfolgen, durch Voraussetzung der »Wahrheit« unseres Glaubens und durch Handeln auf Grund seiner Postulate; daraus ergibt sich, daß die Theologen recht hatten, welche behaupteten, ein wahrer Glaube müsse sich durch Werke rechtfertigen. Anderseits können wir schon jetzt sagen, daß unechte Glaubensformen in diesen Punkten mehr oder weniger versagen, und können so die Verwirrung erklären, in welche die ganze Frage geraten ist.

7. Ist dies also die Natur des Glaubens, von dem wir sagten, er hülle die Vernunft ein und stütze sie und erzeuge Erkenntnis, kann man ihn dann beschuldigen, er stelle das Prinzip eines zügellosen Individualismus dar, welcher alle Unterschiede zwischen subjektiver Einbildung und objektiver Realität aufhebt? Wahrlich, nichts kann sich von der Wahrheit mehr entfernen. Es sieht freilich zunächst so aus, als ob die Anerkennung der psychologischen Notwendigkeit und der logischen Bedeutung des Willens zum Glauben einer zahllosen Menge individueller Postulate Tür und Tor öffnen würde. Aber die Freiheit, das zu glauben, was wir wollen, wird doch durch das mit unserer Wahl verknüpfte Bewußtsein der Verantwortlichkeit und des Wagnisses so sehr beschränkt, daß dieser Teil der Lehre nicht viel mehr ist als ein Kunstgriff, jeder in Betracht kommenden Möglichkeit freien Raum und gehörige Erprobung zu gewähren. Ferner müssen sich alle diese subjektiven Entscheidungen einer strengen Prüfung unterwerfen, weil es notwendig ist, daß unsere Postulate sich durch ihre praktischen Leistungen bewähren, bevor ihr Anspruch auf Wahrheit anerkannt werden kann. Welcher Art auch unser Glaube ist, er muß sich durch Werke rechtfertigen und sich so als objektiv gültig erweisen.

Ob daher die pragmatische Prüfung der Erkenntnis oder dem Glauben gilt, in beiden Fällen ist sie streng. Sie gewährt freilich dem Versuch die größte Freiheit, beurteilt aber unerbittlich solche Versuche nach dem Werte ihrer tatsächlichen Ergebnisse und versagt unaufrichtiger Phrasenmacherei, unbrauchbaren Begriffen, Wortspielen und toten Formeln streng ihre Zustimmung. In der ganzen Gedankenwelt hat die Pedanterie der Vergangenheit so viel Schutt aufgehäuft, daß sich der Verdacht nicht leicht unterdrücken läßt, daß ein großer Teil des philosophischen Lärmens über die Konsequenzen unserer Prüfungsweise mehr oder weniger unbewußt einer uneingestandenen Furcht entspringt, sie könne darauf bestehen, einige der verbrauchten Veteranen unter den philosophischen Traditionen zu pensionieren.

In der Tat ist der pragmatische Wert von vielem, was als Philosophie gilt, keineswegs leicht festzustellen. Metaphysische Systeme z. B. besitzen fast niemals mehr als individuellen Wert. Sie befriedigen ihre Erfinder und gewähren auch ihren Kritikern eine angenehme Beschäftigung. Aber sie haben sich bisher nicht fähig erwiesen, eine allgemeinere Geltung zu erlangen oder die praktische Lebensführung erfolgreich zu beeinflussen. Es ist ferner die pragmatistische Frage nach dem Unterschied, welchen ihre Wahrheit oder Unrichtigkeit bewirken soll, bei vielen metaphysischen Lehrsätzen unvermeidlich, so bei dem Satze, daß das Universum eine »Einheit« und »vollkommen« oder daß die Wahrheit »ewig« oder die »Substanz« unveränderlich ist — Sätze, die, sofern sie nicht bloß verbaler Art sind (wie das denn auch gegenüber der Kritik meistens behauptet wird), mit dem Leben nur sehr locker und fraglich zusammenhängen. Ihr Nimbus ist daher ernstlich gefährdet.

Ähnliche Dogmen sind nun in der Religion im Überfluß vorhanden und fehlen auch den Wissenschaften nicht ganz. Sie werden aber durch Behauptungen überwogen, welche in unmittelbarster und lebendigster Weise praktische Konsequenzen haben.

Daher ist die pragmatische Wichtigkeit und der Wert von Wissenschaft und Religion nicht zu bestreiten. Durch ihre materiellen Resultate einerseits, durch ihre geistigen anderseits erprobt, leisten beide unbestreitbare Arbeit. Wir müssen daher unweigerlich annehmen, daß sie auf Begriffen beruhen, welche im ganzen »richtig« sind oder doch jedenfalls so lange »richtig«, bis sie durch etwas Richtigeres ersetzt werden. Sie haben demnach von unserer kritischen Methode nichts zu befürchten; ja, es ist zu erwarten, daß diese ihre Stellung befestigen und sie von der Last unwirksamer Überflüssigkeiten befreien wird, die ihr ein aufdringlicher Formalismus aufgebürdet hat.

Die Auswahl der wertvollen unter einer Mehrheit von Alternativen ist somit für das Leben und den Fortschritt der religiösen wie der profanen Wahrheit wesentlich. Wahrheit ist nicht bloß, »was jeder glaubt«, sondern (in ihrer Fülle) auch das, was die Probe bestanden und unser Vertrauen gerechtfertigt hat.

8. Die Erfahrung aber würde wohl zeigen, daß (wenigstens solange der Prozeß der Sichtung noch fortläuft) die Resultate dieser Erprobung nicht genügend bestimmt sind, um alle Mitbewerber bis auf einen auszuschalten. Betreffs einer ganzen Reihe von Dingen sind verschiedene Ansichten möglich und mit Erfolg verfochten worden. Das kann uns aber nicht wundernehmen. Denn mit welchem Rechte erwarten wir endgültige Resultate von einem unvollständigen Prozesse? Ja, welches Recht haben wir zur Annahme, daß selbst die endgültige »Wahrheit« für alle die gleiche sein muß? Die Annahme ist gewiß zweckmäßig und sie leistet auch im ganzen und großen ihren Dienst; wird sie aber auch der Mannigfaltigkeit der Menschen und Dinge gerecht? Ist die angenommene »Einerleiheit« jemals mehr als eine Übereinstimmung zu praktischen Zwecken und verlangen wir jemals mehr? Und so lange wir diese erreichen, warum sollte sich nicht auch die »Wahrheit« als schmiegsamer erweisen, sich den Differenzen individueller Erfahrung anpassen und etwa zu einem Übereinkommen führen, unsere Abweichungen gegenseitig anzuerkennen und auf unsere mannigfachen Eigenarten Rücksicht zu nehmen? Es ist schwer zu ersehen, warum ein Phänomen, welches in den Wissenschaften häufig vorkommt und in der Philosophie etwas Normales ist und dort keinerlei Entrüstung zur Folge hat, auf dem Gebiete der Religion nicht zugelassen werden sollte. Es ist ein normaler Zug der wissenschaftlichen Entwicklung, daß deren »Tatsachen« durch eine Reihe von Deutungen festgestellt werden, von denen in der Regel keine fähig ist, sich vollständig mit ihnen zu treffen, und keine so offenkundig »falsch«, um unbedingt abgelehnt werden zu können. Warum sollte uns dann die Tatsache beunruhigen, daß die Entwicklung der religiösen Wahrheit einen ähnlichen Reichtum aufweist? Ob uns nun die Gewohnheit der Menschen, an verschiedenen Überzeugungen festzuhalten, zusagt oder nicht, jedenfalls ist die Vielheit der für »richtig« gehaltenen Meinungen eine bedeutsame Tatsache, und sie stellt eines jener Daten dar, welches keine angemessene Erkenntnistheorie übersehen darf.

9. Umsonst verschließt man daher seine Augen dem Umstand, daß der Glaube eine wesentlich persönliche Angelegenheit ist, sozusagen ein Abenteuer, welches in individueller Wahl und in der Auslese dessen wurzelt, woran die Menschen ihr Herz hängen und ihr Leben setzen. Verlaufen diese Annahmen günstig, so daß wir durch unsern Glauben leben, dann kann es sich herausstellen, daß der Glaube auch zur Erkenntnis geführt hat. Denn es ist die Grundlage des Erkennens sowohl in der Wissenschaft wie in der Religion, daß wir von Annahmen ausgehen müssen, welche wir nicht bewiesen haben und auch nicht beweisen konnten, die auch nur »bewahrheitet« werden können, nachdem wir uns ihnen anvertraut und uns gelobt haben, die Dinge mit Augen zu betrachten, in denen unsere Überzeugungen ein günstiges Vorurteil geschaffen haben. Das einfachste Beispiel für dieses Verfahren ist wohl der Glaube an eine kausale Verknüpfung der Ereignisse, ein Glaube, den alle Naturwissenschaften voraussetzen und verarbeiten. Denn keine Belege können ihn auch nur im geringsten Maße erhärten, wenn er nicht zuvor kühn akzeptiert worden ist. Es ist ferner, wie wir gesehen haben, tatsächlich unmöglich, von der personalen Seite des Erkennens abzusehen. Auch die wohlverstandene Wissenschaft entpersonalisiert sich nicht. Auch sie übernimmt Gefahren und läßt sich auf Postulate, Hypothesen und Analogien ein, welche als unbändig erscheinen, bevor sie zu unserem Dienst gezähmt und in ihrem Gehorsam befestigt sind. Auch sie muß schließlich sagen: Credo ut intelligam. Und sie tut es, weil sie muß. Denn aller Wert und Sinn ruht, wie Dewey es trefflich dargetan hat, auf Überzeugungen, und »wir können nicht den Sinn bewahren und zugleich den persönlichen Geisteszustand, in dem er steckt und wirksam ist, ablehnen«. Und daß es der intellektualistischen Philosophie nicht gelingt, die Wissenschaft zu legitimieren und zu begreifen, »wie Erkenntnis möglich ist«, ist, wie wir sahen, nur die unfreiwillige Konsequenz ihrer unberechtigten Weigerung, die Wirklichkeit und Notwendigkeit des Glaubens anzuerkennen.

Ich kann daher schwer begreifen, warum eine religiöse Annahme, wie z. B. die Existenz eines »Gottes«, einen andersartigen und strengeren Beweis erfordern soll, oder warum dem Theologen ein Verfahren verwehrt sein soll, welches in der Wissenschaft überall in Achtung steht und zuweilen für heroisch gilt.

Stets also gehen wir von den Postulaten des Glaubens aus und verwandeln sie allmählich in Axiome der Vernunft. Die Voraussetzungen der wissenschaftlichen Erkenntnis und des religiösen Glaubens sind dieselben, so auch die Art und Weise der Verifikation durch die Erfahrung. Die Annahmen, welche ihre Arbeit verrichten, d. h. sich durch Förderung menschlicher Interessen, Zwecke und Willensziele bewähren, werden »verifiziert« und als »wahr« akzeptiert. So weit besteht hier kein Unterschied. Aber nun kommen wir zum schwierigsten Teil unserer Untersuchung, nämlich zur Anwendung unserer allgemeinen Theorie auf das Gebiet der Religion und zur Erklärung der verschiedenen Struktur der Wissenschaft und der Religion. Denn, daß hier ein ausgesprochener Unterschied besteht, ist nicht zu leugnen, und ebenso nicht, daß er (wenn überhaupt etwas) den herkömmlichen Gegensatz von Glauben und Vernunft erklären wird. Mit anderen Worten, es muß ein Unterschied in der Handhabung derselben Prinzipien sein, was die Verschiedenheit der Resultate bewirkt.

10. Es ist nun sehr leicht zu sehen, daß gewisse Unterschiede der Handhabung notwendig durch Verschiedenheiten in den Gegenständen bedingt sind, an welchen die Verifikation unserer Postulate erfolgt. Im praktischen Leben haben wir es unmittelbar mit einer sinnlich wahrnehmbaren »Außenwelt« zu tun, in der Wissenschaft etwas weniger direkt; in beiden Fällen aber beziehen sich unsere Hypothesen auf offenbare, sichtbare und greifbare Tatsachen, durch deren Beobachtung sie entsprechend bewahrheitet werden. Die Inhalte des religiösen Bewußtseins aber sind vorwiegend Erfahrungen von mehr innerlicher, geistiger, persönlicher Art, und es ist klar, daß sie nicht auf dieselbe Weise verifizierbar sind. Die religiösen Postulate lassen sich wohl kaum durch eine direkte Berufung auf die Sinneswahrnehmung bewahrheiten; auch wenn es Theophanien gäbe, würden sie heutzutage nicht als Beweise für das Dasein Gottes genügen.
Dieser Unterschied aber zeitigt zugleich eine Schwierigkeit. Die große Mehrzahl der Menschen ist einer Introspektion noch so instinktiv abgeneigt, daß sie noch nicht gewillt ist, die psychischen Tatsachen der inneren Erfahrung als ebenso berechtigte und reale Tatsachen wie die Inhalte der Sinneswahrnehmung aufzufassen. Sie erkennt nicht die Realität und Wirksamkeit von Glaubensinhalten an, sie sieht nicht, daß »Glaubensinhalte selbst ohne Abzug real sind«, »so metaphysisch real, als nur etwas sein kann«, und daß »der Glaube, der reine, unmittelbare, ungemilderte, persönliche Glaube«, die Wirklichkeit ,,durch Modifizierung und Gestaltung der Wirklichkeit anderer realer Dinge“ beeinflussen kann (Dewey). Und da sie die Realität von Glaubensinhalten als integrierenden Bestandteilen der Welt menschlicher Erfahrung und deren Kraft als Beweggründe, welche sie umgestalten, nicht verstand, hat sie sich selbst des wirklichen Verständnisses unserer Welt beraubt.

Sie hat sich aber auch noch ernstlicher des Verständnisses der Dynamik des religiösen Bewußtseins beraubt. Sie lehnt einen großen und wesentlichen Teil der Gewißheit, auf den sich das religiöse Bewußtsein überall instinktiv gestützt hat, als irrelevant ab. Sie scheut sich, das historische Zeugnis für die »Wahrheit« einer religiösen Synthese anzuerkennen, welches der Erfahrung von dessen Wirksamkeit durch Jahrhunderte entstammt, wenn sie es auch nicht, wie der ältere Rationalismus, als nicht berücksichtigenswert gänzlich ablehnt. Sie verdächtigt oder weist manche Verifikation zurück, auf die sich das religiöse Bewusstsein beruft. Dies ist offenbar nicht in der Ordnung. Die psychologische Bezeugung ist von Bedeutung, weil schließlich alle Bezeugung eine psychologische Seite hat, die übersehen worden ist. Die Berufung auf die Geschichte ist von Bedeutung, weil am Ende alle Bewegung historisch ist und auch die wissenschaftliche Wahrheit auf der Geschichte ihrer Leistungen beruht. Daher wird der Streit um den logischen Wert der religiösen Erfahrung fortan mit erheblich erweiterten Begriffen betreffs dessen, was als Bezeugung zulässig ist, geführt werden müssen. Wir sollten uns nicht gegen die Religion strenger verhalten als gegen die Wissenschaft. Doch tun wir dies offenbar. Wir sollten den religiösen Theorien nicht mehr mißtrauen als den vielen wissenschaftlichen Theorien, welche einer direkten Verifikation durch die Sinneswahrnehmung nicht fähig sind. Wenn auch z. B. der Äther eine Annahme ist, die durch keine Wahrnehmung zu verifizieren ist, so ist sie doch in der wissenschaftlichen Theorie in einen solchen Zusammenhang mit dem durch Wahrnehmung Verifizierbaren gebracht, daß die Diskrepanz kaum bemerkt wird. Das System der religiösen Wahrheiten ist weit weniger fest verknüpft; die Verbindung der Postulate mit unseren seelischen Bedürfnissen und den sie befriedigenden Erfahrungen ist weit weniger ersichtlich, die Methoden und Möglichkeiten des geistigen Experiments sind weit weniger festgelegt.

Der Grund davon ist zweifellos zum Teil der, daß auf religiösem Gebiete die Begriffe, die der Glaubensbasis bedürfen, viel weniger fest umrissen sind. Es wäre ja auch nicht leicht, den Begriff der Religion so zu definieren, daß er alles Wesentliche ein- und alles andere ausschließt. Und es würde sich leicht zeigen lassen, daß im Innersten des religiösen Gefühls selbst Überbleibsel der Furcht und des Schreckens stecken, welche den Urmenschen beim Anblick einer unverstandenen Welt erfüllten.

Man betrachte ferner einen religiösen Hauptbegriff wie den »Gottes«. Er wird so unbestimmt und mehrdeutig verstanden, daß innerhalb derselben Religion, ja innerhalb derselben Kirche, der Name alles Mögliche, von dem Weltprinzip des verschwommensten Pantheismus an bis zu einem nahen Nachbarn des anthropomorphischsten Polytheismus, bezeichnen kann. Und es ist klar, daß, so lange dies sich so verhält, für einen Ausdruck, dessen Bedeutung sich über die ganze Skala philosophischer Möglichkeiten erstreckt, keine völlig zusammenhängende oder »vernünftige« Erklärung gegeben werden kann. Ebenso klar ist es aber auch, daß für einen solchen Sachverhalt kein innerer Grund besteht und daß die Theologen, wenn sie es wünschten, dem Ausdruck einen genügend bestimmten Sinn geben und für die anderen Bedeutungen desselben andere Ausdrücke wählen könnten. Als glückliches Vorspiel eines solchen rationelleren Verfahrens sei es erwähnt, daß schon Philosophen verschiedener Richtungen zwischen dem Begriffe »Gott« und dem des »Absoluten« zu unterscheiden anfangen, wenn es für mich auch klar ist, daß der letztere »Begriff« noch immer zu unbestimmt ist und seinerseits entweder beseitigt oder doch zu einer bloßen Ehrenstellung verwiesen werden muß.

11. Es muß, drittens, zugegeben werden, daß ein weitverbreitetes Mißtrauen gegen den Glauben nicht ohne Grund durch den ausgedehnten Mißbrauch des Prinzips in dessen religiöser Bedeutung gezeitigt worden ist. Der Glaube ist zum allgemeinen Ausdruck für alle mit einem Mangel der Erkenntnis behafteten religiösen Phänomene geworden. Hierher gehören folgende unechte Formen des Glaubens:

1. Der »Glaube« kann zu einem Euphemismus für eine Abneigung gegen das Denken oder doch für ein mangelndes Denken werden. In diesem Sinne ist der Glaube der Lieblingssproß intellektueller Indolenz. Er wird hauptsächlich als die Quelle eines bequemen Gefühls, daß alles in der Ordnung ist und daß wir uns über nichts weiter den Kopf zu zerbrechen haben, gehegt. Haben wir den Glauben dieser Art, so bedarf es zur Erhaltung unseres geistigen Lebens keiner Anstrengung mehr, es ist die leichteste und wohlfeilste Weise, die geistige Perspektive zu begrenzen und zu versperren.

2. Es ist nicht ungebräuchlich, den Glauben grade wegen seiner Ungewißheit der Erkenntnis vorzuziehen. Das Sichere der Erkenntnis wirkt kalt und beengend, während die Möglichkeiten des Glaubens sehr elastisch sind.

3. Unsere Befürchtungen für die Zukunft, unser feiges Zurückschrecken vor den Verantwortlichkeiten und Mühen eines zu erhabenen Geschickes, ja auch unser Verzweifeln an der Erkenntnis selbst können alle die Form des Glaubens annehmen und sich als solchen verkleiden.

4. »Glaube« kann bloß ein verhülltes Geständnis eines Mangels an Erkenntnis sein, das uns den unberechtigten Besitz dessen ermöglicht, was wir nicht mit rechten Mitteln zu gewinnen gelernt (oder gesucht) haben. Allen diesen unechten Formen des Glaubens kann unser Humanismus natürlich keine Stütze geben, wenn er auch bereit ist, die wichtige Rolle zu verzeichnen, welche sie (besonders die erste) in unserem ganzen Geistesleben spielen.

Die fünfte Form des Glaubens ist weniger trügerisch als unvollständig; das Falsche daran ist, daß er bei dem Wollen stehen bleibt und auf die Verifikationsversuche verzichtet. Dies ist die besondere Gefahr der robusteren Glaubensformen: ist unser Glaube stark genug, so erzeugt er eine Zuversicht, die sich psychologisch durch nichts steigern läßt. Wozu dann noch nach Erkenntnis verlangen? Zeugt dies nicht von einem unwürdigen Mißtrauen gegen den Glauben eben dann, wenn dieser seine Macht gezeigt hat? Darauf ist zu erwidern, daß wir psychologische Zuversicht von logischer Beweiskraft unterscheiden können und müssen, wenn auch die letztere die erstere erzeugen und die erstere in dem Maße, als sie allgemeiner wird, logischen Wert beanspruchen muß. Der Unterschied liegt in der größeren psychologischen Mitteilbarkeit »logischer« Versicherungen und in deren größeren Einflußsphäre. Auf den ersten Blick kann es scheinen, als ob leidenschaftliche Ermahnungen (Predigten usw.) einen stärkeren und sicheren Glauben zu erzeugen vermöchten, als das ruhige Folgern. Aber sie sagen nicht so vielen zu und halten sich nicht so gut, und wenn auch die Annahme gewagt ist, der »logische« Zwang sei ein universaler, so ist er doch im Ganzen von größerem pragmatischen Wert.

Die Motive eines irrationalen Glaubens werden ferner leicht mißdeutet; der Glaube, der stark genug ist, so daß er kein Bedürfnis nach weiteren Beweisen empfindet, gilt als zu schwach, um nach solchen trachten zu können. So sollte denn ein recht erleuchteter Glaube die kräftigste Aufmunterung zum Erkennen bilden. Je stärker er sich fühlt, desto kühner und eifriger sollte er die verifizierenden Erfahrungen, welche seine Anstrengungen belohnen, suchen, desto vertrauensvoller sie vorwegnehmen, desto wahrscheinlicher sie erreichen.

12. Aus diesen Gründen ist zuzugeben, daß die verkehrte Anwendung des Glaubensprinzips die intellektuelle Entwicklung der religiösen Lebensanschauung verzögert hat. Sie ist so weit hinter der wissenschaftlichen in ihrer formalen Entwicklung zurückgeblieben, daß die Theologen oft mit Vorteil von den Wissenschaftlern lernen könnten, wie man den Glauben anzuwenden hat. An sich selbst aber sind die religiösen Postulate der Verifikation nicht unzugänglich, und religiöse Zeugnisse sind nicht unfähig, die pragmatische Wahrheitsprobe zu bestehen. Und man kann sagen, es haben so manche dieser Postulate und viele dieser Gewißheiten in mancher Hinsicht einige Verifikation erfahren. Die Frage, wie weit eine solche Verifikation gegangen ist, ist, streng logisch betrachtet, die Frage nach der Sphäre der religiösen »Wahrheit«. Die Frage, wie weit sich die Verifikation noch durchführen läßt und welche Aussichten sie hat, ist, genau genommen, die Frage nach der Sphäre der Wahrheitsansprüche, welche bisher nur auf dem Glauben beruhten.

13. Der Versuch, mit wissenschaftlicher Genauigkeit zu bestimmen, welcher Wahrheitsgehalt der Religion in ihrer jetzigen Verfassung zuerkannt werden muß und welche Wahrheitsansprüche als begründet und wertvoll zu gelten haben, welche nicht, übersteigt wahrscheinlich die Kräfte, sicherlich aber die Aufgabe bloßer Philosophen. Jedenfalls wäre es phantastisch und wohl auch illusorisch, von irgendeiner Philosophie die apriorische Deduktion der besonderen Lehren einer Religion zu erwarten, welche ihre Ansprüche auf historische Offenbarung basiert und sie vielleicht durch ihre Leistung begründen kann. Denn wozu wäre die Offenbarung nötig und dienlich, fügte sie dem, was wir selbst hätten finden können, nichts hinzu?Überdies könnte bei dem gegenwärtigen Stande der religiösen Belege jeder Versuch zu ihrer Bewertung nur subjektives und persönliches Interesse beanspruchen. Nicht zwei Philosophen würden sie wohl gleich und mit den gleichen Ergebnissen werten.

Es ist daher besser, nur ganz allgemeine Bemerkungen zu machen und nur allgemeine Folgerungen zu ziehen. Betreffs der allgemeinen Religionspsychologie ist es klar, erstens, dass alle unsere menschlichen Methoden der Deutung und Umbildung unserer Erfahrung im Grunde eins sind. Zweitens ist es klar, daß die religiöse Stellungnahme zu den wirklichen oder scheinbaren Tatsachen des Lebens im Ganzen haltbar ist. Drittens hat diese Stellungnahme offenbar ihre unerschütterlichen Grundlagen in der psychologischen Natur der menschlichen Seele. Viertens vermag die pragmatistische Methode streng zwischen gültigen und ungültigen Anwendungen des Glaubens zu unterscheiden, und sie bietet hinreichende Gewähr sowohl gegen die Ausschweifungen individueller Laune wie gegen die Enge eines Doktrinarismus, der unsere Postulate fälschlich auf einen einzigen Typus beschränken möchte — nämlich auf den sogenannten »mechanischen«*. Sie kann zeigen, daß es dem »Glauben« nicht zusteht, die Leistung der Vernunft, der »Vernunft« nicht, die Hilfe des »Glaubens« zu verachten und daß das Feld der Erfahrung so ausgedehnt und noch so unbebaut ist, daß wir uns nie zu schämen brauchen, bei dessen Anbau die Religion zur Hilfe zu nehmen, um die Früchte des menschlichen Lebens zu veredeln.
*Genau genommen, bestätigt dieser Ausdruck die Stellung des Humanismus, gegen die er so oft ins Treffen geführt wird. Denn ein »Mechanismus« ist eigentlich ein Kunstgriff — ein Mittel für eine Zweckverwirklichung. In der Tat dienen »mechanistische« Begriffe zur Ordnung unserer Erfahrung. Abstrahiert man von dieser teleologischen Funktion jedes »Mechanismus«, so verfälscht man die Metapher: ein Kunstgriff von niemanden, zu keinem Zweck ist ein Mittel ohne Sinn.

Bezüglich der positiven Religionen selbst ist es zunächst klar, daß alle Religionen von der sympathischeren Stellungnahme des Humanismus zur religiösen Anlage der menschlichen Natur und ebenso zu ihren Gewißheiten und Methoden profitieren können. Und das ist kein zu verachtender Gewinn für sie. Denn sie schwächt die herkömmlichen rationalistischen Angriffe ab und sichert die Religionen gegen die gebräuchlichen »dialektischen« Widerlegungen. Sie gewährt ihnen überdies eine Aussicht auf Bestätigung ihrer Wahrheit in der ihnen angemessenen Weise Es ist, zweitens, klar, daß alle Religionen in größerem oder geringerem Maße pragmatisch wirksam sind, und zwar ungeachtet dessen, was theoretisch die größten Schwierigkeiten bietet. Es erklärt sich dies offenbar daraus, daß diese »theoretischen« Schwierigkeiten tatsächlich unrichtig sind, weil sie entweder nicht wirkungsfähig oder pragmatisch gleichwertig sind, und daß die wirklich wirksamen Bestandteile aller Religionen sich als praktisch identisch erweisen. Daraus folgt, drittens, daß alle Religionen durch Lostrennung von ihren nicht funktionierenden Zusätzen und Anhängen erheblich gefördert und gestärkt würden. Aus diesen besteht nämlich das, was wohl ohne schweres Unrecht die theologische Seite der Religion genannt werden darf, welche fast immer mehr schadet als nützt. Denn auch da, wo »theologische« Systeme nicht bloße Erzeugnisse berufsmäßiger Pedanterie sind und wo ihre »Rationalität« nicht bloß illusorisch ist, absorbieren sie zu viel Energie, die besser den wahren religiösen Funktionen gewidmet würde. Das treffendste und bekannteste Beispiel dafür gibt uns unser Christentum, eine wesentlich menschliche und durchaus pragmatische Religion, die durch ihre ganze Geschichte gehemmt und zeitweilig durch eine fremdartige, auf den intellektualistischen Spekulationen griechischer Philosophen beruhende Theologie fast erstickt worden ist. Glücklicherweise ist die (hauptsächlich) im Athanasianischen Glaubensbekenntnis verkörperte griechische Metaphysik zu dunkel, um jemals wirklich wirksam gewesen zu sein. Aber geschadet hat sie immer besonders dadurch, daß sie »philosophischen« Kritiken eine theologische Stütze gab, welche durch Identifizierung Gottes mit dem »Einen« nach Ausmerzung des menschlichen Elementes aus der christlichen Religion strebten. Gegenüber solchen Versuchen aber müssen wir prinzipiell daran festhalten, daß diejenige Religion, welche zum besten Leben führt und es fördert, auch die wahrste ist.
S.364ff.
Aus: F. C. S. Schiller, Humanismus, Beiträge zu einer pragmatischen Philosophie, deutsch von Dr. Rudolf Eisler
Philosophisch-soziologische Bücherei XXV, Verlag von Dr. Werner Klinkhardt, Leipzig 1911

Die ethische Bedeutung der Unsterblichkeit.
Wir sind heutzutage so gewöhnt, die uralten Überlieferungen der menschlichen Gattung nur deshalb zu leugnen oder ignorieren zu sehen, weil sie alt sind, daß der Geruch des Altertümlichen, der unvermeidlich an jedem Argument betreffs der Unsterblichkeit haftet, genügt, es ungehört zu verdammen. Aber der gegenwärtige Stand unserer Erkenntnis berechtigt nicht zu einer solchen verächtlichen Behandlung der Überlieferung. Im Gegenteil, das Alter und die ausgedehnte Herrschaft einer Idee beanspruchen schon an sich die Aufmerksamkeit des Vorurteilsfreien. Auch nach unseren modernsten evolutionistischen Erklärungsprinzipien bedeutet dies, daß die Idee irgendwie einem überall empfundenen und dauernden Element unserer Erfahrung entspricht. Daher verleiht ihr eben ihr Alter eine Autorität, die sich nicht leicht beiseiteschieben läßt.

Allein ich will dieses Problem der Unsterblichkeit nicht auf Grundlage der Autorität erörtern. Es hat die Autorität, wenn sie alt ist, auch eine Schattenseite. Es wird dann nämlich wahrscheinlich, daß die von der Autorität gestützte Idee durch den Altersstaub entstellt, mit allen Arten Schmarotzerpilzen der Einbildung überwachsen und durch die Krusten fossiler Formeln lächerlich geworden ist, bis sie ihre besten Freunde kaum mehr erkennen und sie für ihre Feinde intellektuell verächtlich, sittlich unausstehlich und ästhetisch abstoßend wird. Da nun wohl der Idee der Unsterblichkeit etwas Ähnliches zugestoßen ist, so wollen wir hier das Problem ausschließlich auf dem Boden der Vernunft erörtern, unter der einzigen Bedingung, daß man sich wirklich auf das Licht der Vernunft beruft, möglichst unbehindert und ungetrübt durch die gefärbten Brillen religiöser oder wissenschaftlicher Orthodoxie, die dessen Ausbreitung hindern könnten, scheinen läßt.

Das Problem der Unsterblichkeit ist jedoch so ausgedehnt, daß ich hier darauf verzichte, es im Ganzen zu erörtern, und es werden sich meine Bemühungen auf eine einzige Seite desselben beschränken, auf die ethische. Ich werde also nicht zu bestimmen suchen, ob Unsterblichkeit eine Tatsache ist, sondern nur, ob die Ethik diesen Begriff zu ihrer eigenen Vollkommenheit braucht. Mit genauer Formulierung der Frage will ich zweierlei untersuchen.

Erstens: Ist die Unsterblichkeit ein ethisches Postulat? Muß ein sittliches Wesen, d. h. ein Wesen, welches als gut oder böse gewertet werden kann, für unsterblich erachtet werden?

Zweitens: Wenn ja, was beweist ein ethisches Postulat? Welches ist die allgemeine Bedeutung oder die logische Stelle desselben in der Welt der Gedanken?

Die erste dieser Fragen ist ausschließlich ethischer Art. Die zweite berührt das Gebiet der Metaphysik und schließt, wie man erwarten darf, so viel subtilere und schwierigere Betrachtungen ein, daß ich ihr gern, wenn es ginge, ausweichen möchte. Leider ist es aber notwendig, den Fall vor den obersten Gerichtshof der Metaphysik zu bringen, um die gebührende Achtung vor einem ethischen Postulat zu erzwingen. Außerdem ist es nur die Erörterung seiner metaphysisischen Bedeutung, was dem ethischen Argument einen direkten Bezug auf die hier nicht als solche erörterte Frage nach der Tatsächlichkeit der Unsterblichkeit gibt.Ist Unsterblichkeit ein ethisches Postulat?
Wir gehen somit an die erste Frage, ob Unsterblichkeit ein ethisches Postulat ist. Was läßt sich zugunsten dieser Meinung sagen? Das diesbezügliche Argument ist außerordentlich einfach; es besteht darin, daß man zeigt, wie sich ohne Unsterblichkeit die Welt nicht als ein harmonisches Ganzes, als ein sittlicher Kosmos denken läßt. Um dies darzutun, braucht man nicht weiter zurückzugehen, als auf die Tatsache, daß in unserer gegenwärtigen Daseinsphase das sittliche Leben nicht vollständig sich ausleben kann, daß es ihm nicht vergönnt ist, die ganze Frucht der Folgen des Guten und Bösen ausreifen zu lassen. Wenn die Macht über das Recht triumphiert, wenn die Übeltäter Erfolg haben und die Redlichen untergehen, wenn Güte mit Füßen getreten wird und Schlechtigkeit zu hohen Ehren gelangt, wenn die sittliche Entwicklung des Charakters durch den Tod abgeschnitten und vereitelt wird, dann stehen wir vor Tatsachen, welche die Weltgerechtigkeit anklagen, welche mit dem Begriff einer sittlichen Weltordnung unvereinbar sind. Können wir daher nicht diese Ordnung durch Wegerklärung der Tatsachen, die sie sonst aufheben würden, rechtfertigen, dann müssen wir die ethische Beurteilung unserer Erfahrungswelt als gut oder schlecht preisgeben, dann müssen wir zugeben, das Ideal des sittlichen Wertes sei eine Illusion, um das sich die Weltordnung nicht kümmert.

Weigern wir uns aber, dies zu tun (— ob wir es nicht ablehnen müssen, unsere Ideale aufzugeben, sowie sie auf Widerstand stoßen, wird später erwogen werden —), läßt sich dann die sittliche Harmonie anders wiederherstellen als durch die Annahme einer Verlängerung und künftigen Vervollkommnung des sittlichen Lebens? Nur so kann der sittliche Wert von wahrer Bedeutung für die Weltordnung sein, nur so ist er etwas Wertvolles, eine dauerhaftere und unser Wohl und Wehe tiefer berührende Anlage, als alle jene äußeren Güter, denen die Menschen anhängen, nur so ist er mehr als eine vergängliche Blase, für dessen Glanz es völlig gleichgültig ist, ob er ein reiner Widerschein der Sonnenstrahlen ist oder ein schillerndes Häutchen, welches nur die Verwesung deckt.

Das ethische Argument zugunsten der Unsterblichkeit ist also einfach dieses, daß, wenn mit dem Tode alles aus ist, das sittliche Leben nicht zur Durchführung gelangt, sittliche Vollkommenheit unmöglich ist und das Universum seinem Wesen nach nicht als moralisch gelten kann. Trotz seiner Einfachheit aber ist dieses Argument in verschiedenster Weise mißverstanden worden.

Von wohlmeinenden Leuten, die auf ihre Vertretung einer reineren und höheren Sittlichkeit stolz sind, wird oft der Einwand erhoben, die ethische Sphäre bedürfe keiner Ergänzung durch ein künftiges Leben. Der Gedanke empört sie, »daß die Taten der Guten ihnen ins Grab folgen« sollen und nicht vielmehr fortleben, um spätere Generationen zu begeistern und zu leiten. Sie heißen uns daher, den guten Kampf uninteressiert und ohne selbstische Belohnung bestehen, damit unsere Urenkel, wenn wir welche haben, die Früchte unserer Selbstverleugnung und eine durch unsere Bemühungen verbesserte Welt genießen können.

Darauf ist zweierlei zu erwidern. Es genügt nicht zu erklären, die Güte werde nicht vergeudet, weil der Nachhall guter Handlungen durch alle Zeiten töne. Was die Menschen Gutes taten, kann dauern und gut oder schlecht wirken, aber was die Menschen Gutes sind, geht sicherlich zugrunde. Der menschliche Charakter selbst geht verloren, und seine Wirkungen werden nur durch die Charaktere anderer übermittelt. Der Charakter selbst aber ist ein unantastbarer und unveräußerlicher Besitz seines Eigentümers, und läßt sich durch keinen Schwung der Einbildungskraft an andere übertragen. Welchen Wert wir daher auch dem Charakter beimessen, dieser Wert geht der Welt verloren, wenn die Unsterblichkeit geleugnet wird. Außerdem lassen sich die Handlungen eines Menschen nur in ihrer Wirkung auf dessen eigenen Charakter mit Sicherheit als gut oder schlecht bestimmen. Welches die jetzige oder spätere Wirkung der Handlungen auf andere sein wird, kann niemand voraussagen; will man zu viel für die Nachwelt tun, so ist das eigentliche Bedenken nicht etwa, daß die Nachwelt nichts für uns getan hat, sondern daß die Wirkung auf die Nachwelt so unberechenbar ist. Denn diese hängt in hohem Maße von dem Charakter anderer ab und »quisque suos patimur manes«. Jeder kann nur für seine eigenen Handlungen volle Verantwortlichkeit übernehmen, das übrige liegt zu sehr im Schoße der Götter. Leugnet man also die Fortdauer des Charakters, so leugne: man auch die eigentliche Grundlage der sittlichen Ordnung.

Nehmen wir aber auch an, die Menschheit profitiere von unseren Anstrengungen, inwiefern könnte dies zur Wiederherstellung der sittlichen Weltordnung beitragen? Ist die Unsterblichkeit des Individuums eine Illusion, dann ist sicherlich die der Gattung ein offenbarer Widersinn. Gibt es eine Gewissheit betreffs irgendeiner Voraussagung der Wissenschaft, dann sicherlich die, dass die Menschheit die Bestimmung hat, in immer tieferer Dunkelheit zu verfrieren und dahinzusterben. Die voraussichtlichen Schicksale der Gattung stellen also den sittlichen Charakter des Universums nicht wieder her. Ist die mechanistische Auffassung der Wissenschaft die ganze Wahrheit über das Weltall, so gilt die Gattung ebensowenig wie das Individuum; Sonnen und Sterne und himmlische Scharen werden ihren Umlauf ebenso sicher und fühllos vollziehen, ob wir nun gedeihen oder zugrundegehen, kämpfen oder verzweiflungsvoll entsagen. Kosmisch betrachtet, hat die Erde und alles, was auf ihr haust, unendlich kleine Bedeutung; was bedeutet es, ob eine Milbenbrut, die auf ihr kriecht, besser oder schlechter als ihre Nachkommenschaft ist, sowie ob sie einige Atome eines gelb oder eines weiß glänzenden Metalls mühsam ausgräbt und um das Verhältnis beider streitet? Nein, die werten Leute, die da meinen, George Eliots »unsichtbarer Chor« könne an Lärm mit dem Schwirren der Welten konkurrieren, täuschen sich entschieden, und eine »Unsterblichkeit des Einflusses« ist auch ethisch kein entsprechender Ersatz für die persönliche Unsterblichkeit.

Ein zweiter Einwand will nicht die Ethik der Unsterblichkeit verbessern, sondern kritisiert sie so, daß er sich über die Schändlichkeit verbreitet, die in der Begründung der Sittlichkeit auf »Höllenfurcht und Himmelshoffnung« liegt. Auch dieser Einwand geht von vielen trefflichen Leuten aus, und ich habe einige gekannt, denen der Stolz durchs Leben half, den sie darin setzten, daß sie ebenso sittlich sein konnten, ohne zu wissen, warum, als sie es waren, da sie noch glaubten, ihr Seelenheil hänge von ihrem Betragen ab. Theoretisch aber beruht dieser Einwand entschieden auf einem Missverständnis. Die Belohnungen und Strafen für das Verhalten dürfen nicht als Motive, sondern als natürliche Folgen des Verhaltens, die in einem sittlich geordneten Universum unausbleiblich sind, angesehen werden. In einem sittlichen Universum kann Güte nicht mit beständigem Elend verbunden sein, weil dies auf die sittliche Ordnung einen Flecken würfe; Schlechtigkeit muss schließlich Unseligkeit nach sich ziehen, weil nur eine solche Vergeltung die gestörte Majestät der sittlichen Ordnung wiederherstellen kann. Lohn und Strafe treten also nur auf zur Vervollkommnung des sittlichen Lebens, um derentwillen ja die Unsterblichkeit postuliert wurde, sie sind nicht die einzigen Motive für eine sittliche Lebensführung. Schon die Idee, dass sie als solche gelten können, zeugt, wo immer sie geäußert wird, von einer unvollkommenen Würdigung des Wesens der Sittlichkeit und bedeutet eine gröbere moralische Fiber und eine niedrigere Stufe sittlicher Entwicklung.

Dennoch aber dürfen wir diese Betrachtungsweise der Unsterblichkeit nicht gänzlich verurteilen. Furcht und Hoffnung betreffs dessen, was im Jenseits geschehen kann, mögen nicht die höchsten sittlichen Motive sein, sie können als äußere Sanktion das verstärken, was innere Überzeugung sein sollte, aber sie sind deswegen nicht wertlos. Denn, wenn sie wirksam sind, so gewöhnen sie wenigstens die Menschen ans Rechte und bilden so die Grundlage einer guten Gewöhnung, welche überall die wirkliche Grundlage alles Handelns und die unumgängliche Vorbedingung für die rechte Erwägung des Verhaltens und die Erlangung einer höheren Sittlichkeitsauffassung ist. Unser sittlicher Enthusiasmus braucht also über diese niederen Motive ebensowenig die Stirn zu runzeln, als die Polizei deshalb aufzulösen, weil eine wahrhaft sittliche Gemeinschaft keiner solchen bedürfe.

Noch radikaler als die obigen Einwände ist aber noch ein dritter Einwand, welcher mit Bezug auf unser Verhalten auf Erden, jegliches Ausschauen nach einem künftigen Leben als völlig unsittlich verdammt. Die Gewohnheit, auf ein künftiges Leben hinzublicken, erklärt man, erzeugt eine verderbliche »Richtung aufs Jenseits«, die dem rechten Verhalten auf dieser Welt Abbruch tut. Wir können nicht für zwei Welten zugleich leben; die vorausgesetzte Bedeutung des ewigen Lebens im Jenseits hebt die wahre Bedeutung unseres irdischen, zeitlichen Lebens auf.

Ich glaube, der Einwand leidet wieder an einem Missverständnis. Er trifft nur eine solche Auffassung der Unsterblichkeit, welche, wie z. B. das
Buddhistische Nirwâna der ethischen Auffassung dieser Welt in Konflikt gerät und mit ihr konkurriert. Nur dann »können wir nicht für zwei Welten zugleich leben«, wenn die in beiden erforderlichen Handlungsgrundsätze von Grund aus verschieden sind. Ist Vernichtung das Ziel, das wir zu erstreben haben, dann wäre es freilich töricht, sich dafür durch ein tätiges Leben auf Erden vorzubereiten. Nicht stichhaltig ist aber der Einwand gegenüber einer Unsterblichkeit, welche als Ergänzung irdischer Sittlichkeit postuliert wird, welche weniger eine »Richtung auf eine andere Welt« als eine »Richtung auf eine bessere Welt« bedeutet, zu der uns die sittlichen Mängel unserer gegenwärtigen Erfahrung antreiben. In Wahrheit vertieft eine solche Anschauung die Bedeutung des gegenwärtigen Lebens unendlich. Man bedenke, was in der Behauptung liegt, dass der Charakter unzerstörbar fortdauert und uns nicht verloren geht, wie sehr sich auch die Form unseres äußeren Lebens ändern mag! Man denke daran, dass wir niemals uns selbst, niemals der Wirkung unserer Handlungen auf unseren Charakter entgehen können und dass jede Tat in der Seele ihre Spur hinterlässt, eine Spur, die zwar modifiziert werden, aber in aller Ewigkeit nicht ausgelöscht werden kann! Wird ein solcher Glaube nicht die Wirkung haben, uns den Ernst des Lebens vor Augen zu halten wie nie zuvor, uns in jener unablässlichen Selbstvervollkommnung zu bestärken, ohne welche es keine Annäherung an das sittliche Ideal gibt? Wird sich nicht jeder Lebensakt, anstatt seine Bedeutung zu verlieren, vielmehr zu unendlicher Bedeutung erheben? Werden wir es nicht, statt um uns unbekümmert zu sein, der Mühe wert finden, auf unsere Charakterbildung eine Sorgfalt zu verwenden, welche sonst übertrieben gewesen wäre? Denn gewöhnliche Leute sind, wie Sie meistens sehr wohl wissen, für gewöhnliche Zwecke ganz gut genug. Warum sollten sie dann eifrig trachten, sich zu ändern und umzubilden, um etwa in die übertriebene Tugend der Jane Austen Beecher Stowe de Rouse zu verfallen; welche »über alle irdische Bedürftigkeit hinaus gut« war. Ist es nicht viel richtiger, zu verbleiben, wie man ist, und den Ehrgeiz eines unruhigen Gewissens mit der Erwiderung zu beschwichtigen, die der Jesuitengeneral dem reformsüchtigen Papste gab: Sint ut sunt aut non sint — Sie mögen bleiben, wie sie sind oder überhaupt nicht sein? Ist es nicht stets unbequem, an die Zukunft zu denken, und ist nicht das künftige Leben überhaupt etwas zu Großes, um daran zu denken? Und liegt nicht darin, nicht aber in logischen oder wissenschaftlichen Schwierigkeiten des Gedankens, der wahre Grund, warum die Menschen ihn aus ihrem Bewußtsein zu verbannen suchen, warum die meisten fast niemals mehr als halb daran glauben? Die menschliche Trägheit, alles was uns gemein und niedrig, unheroisch und zaghaft macht, sträubte sich von jeher gegen diesen Glauben. Darum eben haben Sittlichkeitsreformer stets darauf bestanden, denn ihre Aufgabe ist die Überwindung der sittlichen Trägheit.

Es liegt jedoch einiger Trost in dem Gedanken, dass der bisherige Verlauf der Entwicklung augenscheinlich den Glauben jener rechtfertigt, welche wollen, dass wir eine in ein anderes Leben reichende Zukunft in Betracht ziehen sollen. Sicherlich ist die Ausdehnung der Zukunft, auf die unser Handeln Rücksicht nimmt, eines der hervorstechendsten Kennzeichen einer fortschreitenden Kultur. Die Tiere blicken überhaupt nicht in die Zukunft, die Wilden nur wenig. Sowie aber die Kultur fortschreitet, kommen die künftigen Folgen des Handelns immer mehr in Betracht, und man bereitet sich immer mehr darauf vor. Haben wir es gewagt, die Zukunft unserer Rasse vorauszusehen, wenn unsere Kohlenfelder erschöpft sein werden, haben wir entschlossen in jene unvorstellbare Periode geblickt, wo das Sonnenlicht schwinden wird — warum sollen wir da vor der Betrachtung einer Zukunft zurückschrecken, welche sich unermesslich weiter erstreckt?

Welchen Wert hat ein ethisches Postulat?

Ich hoffe, durch die Beantwortung dieser drei Einwände den ersten Teil meiner Behauptung, daß die Unsterblichkeit wirklich ein ethisches Postulat ist, genügend begründet zu haben. Es bleibt aber noch der zweite Teil zu erledigen, nämlich die Frage: Welchen Wert hat eigentlich ein ethisches Postulat? Was ist dessen metaphysischer Wert? Ist es mehr als ein Impuls des sittlichen Gefühls, welcher unter dem ruhigen Blick der wissenschaftlichen Wahrheit zunichte wird? Ist es beweiskräftig?

Wir hören oft, die Unsterblichkeit sei eine vernunftlose, wenn nicht vernunftwidrige Forderung des Gemütes, und die abgedroschene Phrase,
»Die Hoffnung auf Unsterblichkeit«, bezeugt unfreiwillig die Tatsache, dass das Argument nicht als beweiskräftig gilt. Jene Leute, welche die Hoffnung auf Unsterblichkeit hegen, sind als Menschen anzusehen, die aus den oben angegebenen Gründen zuweilen hoffen, da
ss es keine Unsterblichkeit gibt, oder die doch zu ihrem eigenen Argument kein großes Vertrauen haben. Zu ihrer Ermunterung möchte ich deshalb die folgende Lehre verfechten.

Das ethische Postulat der Unsterblichkeit ist kein Gemütspostulat, sondern so vernünftig wie nur irgendein Postulat und verdient ebensolche Anerkennung in unserer endgültigen Metaphysik. Oder wenn man es lieber für emotionaler Natur halten will und die Bemerkung v. Hartmanns anführt, metaphysische Wahrheiten ließen sich nicht auf Gemütsforderungen gründen, so antworte ich darauf, dass Wahrheiten schließlich nirgends eine andere Grundlage haben.

1.Die Unsterblichkeit ist demnach als ethisches Postulat von derselben Art, wie gewisse andere Postulate, ohne die wir unsere Erfahrung nicht harmonisieren können.

2.
Sie hängt mit diesen anderen Postulaten zusammen.

3. Ihre Annahme wird genau so wie die der anderen Postulate rechtfertigt.

4. Will man dies nicht als Beweis gelten lassen, so wird man nirgends in der Welt einen besseren finden.

Betrachten wir diese Punkte der Ordnung nach und fragen wir zuerst: was ist die Natur eines ethischen Postulates? Dieses ist nichts anderes als die Behauptung der Bedeutung des Ideals der Güte, unserer sittlichen Wertung der Dinge. Es behauptet, die Welt sei nicht bloß eine Tatsache, sondern besitze einen Wert, den wir sittlich nennen. Sie ist im Grunde ein sittliches Universum und löst sich möglicherweise in eine sittliche Harmonie auf. Die logische Methode, deren sich dieses Argument bedient, ist nun die: Wenn ein Teil gegeben ist, daraus das Ganze zu finden; wenn einige fragmentarische Daten gegeben sind, daraus ein Ideal zu bilden, welches zur Deutung der Daten wirksam zu verwenden ist. Es ist dieselbe Methode, welche der Paläontologe befolgt, wenn er aus einem Zahn oder Knochen eine längst verstorbene Lebensform rekonstruiert. Die Frage stellt sich hiernach so: Haben wir das Recht zur Annahme, dass unsere ethischen Daten zusammenhängen und sich in ein ethisches Ideal einfügen?

In diesem Verfahren steht nun unser sittliches Bewusstsein nicht allein. Sein Anspruch wird durch unser sonstiges Verhalten gestützt. Alle Ideale höchster Ordnung werden in gleicher Weise gebildet. Wie rechtfertigen wir die Behauptung, daß etwas in der Welt schön ist? Wir nehmen an, unsere ästhetischen Urteile seien nicht sinnlos, sondern lassen sich in einem Schönheitsideal harmonisieren, dem die Natur der Dinge irgendwie verwandt ist. Wie rechtfertigen wir die Behauptung, eine Glückseligkeit sei möglich? Wir glauben an die prophetische Bedeutung der lustvollen Bewusstseinszustände in unserer Erfahrung und schmieden daraus das Glücksideal, von dem wir annehmen, es werde sich verwirklichen lassen.

Wie rechtfertigen wir endlich die Behauptung von der Erkennbarkeit der Welt? Wir nehmen an, dass die Tatsachen irgendwie zusammenhängen und sich zu einem regelrechten Wahrheits- oder Erkenntnissystem anordnen lassen. Mit anderen Worten, wir betrachten die Wirklichkeit so, als ob sie unsere Ideale der Erkenntnis, der Schönheit, der Güte und der Glückseligkeit realisiere, und konstituieren dadurch eine erkennbare, schöne, sittliche und erfreuliche Weltordnung. In jedem dieser Fälle aber begegnen uns die gleichen Hindernisse. Diese Ideale schweben sicher nicht auf der Oberfläche des Lebens. Mit den groben Tatsachen der Erfahrung fallen sie nicht zusammen. Sie müssen mit unendlicher Mühe ausgegraben werden, und ehe wir sie hervorgelockt und als gültig erwiesen haben, siehe da kommt der Tod und bricht mit gleicher Unerbittlichkeit die Laufbahn des Gelehrten wie des Weltmanns ab. Das Leben ist unvollkommen und fragmentarisch durch und durch, also nicht bloß in den Augen der Ethik. Das Leben, wie es sich abspielt, ist emotionell, intellektuell und ästhetisch ebenso mangelhaft wie in ethischer Beziehung. Die Ideale der Glückseligkeit, der Erkenntnis und der Schönheit fordern ihre Verwirklichung nicht weniger und in keiner andern Weise als das Ideal der Güte; die trübe Atmosphäre der Erde, die der Todeshauch vergiftet, spottet nicht weniger ihrer Möglichkeit. Was wir also für das eine verlangen, das verlangen wir für alle, und zwar gemäß demselben Gesetze unseres Wesens — das Leben soll sich den Idealen, von denen es seinen Wert empfängt, verwandt erweisen.

Diese Ideale sind nun aber nicht bloß miteinander verwandt, sondern fallen auch zusammen; wir können schließlich nicht das eine bejahen und das andere verneinen, nur eine vollständige Harmonie kann uns gänzlich befriedigen. Wahrheit, Güte, Glückseligkeit und Schönheit sind insgesamt unentbehrliche Faktoren der Vollkommenheit, die verschiedenen Facetten, welche das eine Ideal den verschiedenen Arten unseres Strebens darbietet.

In der Regel wird dies nur von den Anwälten der Wahrheit bestritten, und so wird es wohl genügen, wenn ich diesen die Unhaltbarkeit ihres Standpunktes zeige. Wir haben wohl alle gehört, wie man Gemütspostulaten mit dem kalten Spott einer kurzsichtigen Wissenschaft und der Frage begegnete: Warum sollte das Weltall sich um Sittlichkeit und deren Vollendung kümmern? Nun, ich behaupte, wenn dieser Spott irgendeinen Wert hat, muss er sich auf die ganze menschliche Tätigkeit erstrecken, so dass wir mit gleichem Rechte fragen könnten: Warum denn sollte sich das Weltall um die Erkenntnis und deren Begründung oder um das Glück und dessen Erlangung kümmern? Wir haben, behaupte ich, keinen logischen Grund zur Annahme, daß die Welt zwar erkennbar aber doch völlig gleichgültig betreffs Glück und Sittlichkeit ist. Denn eine Welt, die als völlig erkennbar, d. h. als völlig mit unseren intellektuellen Forderungen übereinstimmend gilt, die aber zu unserer Gemütsbeschaffenheit in völligem Missklang steht, würde eben dadurch ein intellektuell unlösbares Rätsel enthalten, das sie durchaus unerkennbar machen würde. Ja, ist nicht sogar diese Annahme geradezu widerspruchsvoll? Befriedigt nicht eine erkennbare Welt wenigstens eines unserer Gemütsbedürfnisse — den Wunsch nach Erkenntnis? Sie kann dann nicht, wie behauptet wird, bar sein jeder Beziehung zu unserem Gemüte. Kann sie aber ein solches Postulat erfüllen, weshalb nicht auch die übrigen?

Die Ideale stehen und fallen also miteinander. Sie wurzeln in der Einheit der menschlichen Seele, in der Solidarität menschlicher Bestrebungen. In ihrer höchsten Not also kann der Aufschrei der Seele zu ihrer Unterstützung alle Kräfte heranziehen, die ihr zu Gebote stehen. Ihr Zauberspruch erhallt von den eisigsten Höhen wissenschaftlicher Abstraktion bis zu den wärmsten Schwingungen des konkreten Gefühls und von den ätherischsten Gebilden des reinsten Intellekts bis zu den blindesten Impulsen tobender Leidenschaften; sie kann jedem Element unseres Wesens das Bekenntnis seiner Solidarität mit dem übrigen Leben abfordern und es auf das schreckensvolle Schlachtfeld führen, auf dem die Götter gegen die Giganten — des Zweifels, des Aufruhrs und der Verzweiflung kämpfen.

Diese Solidarität der Ideale ist daher die Ursache, warum deren Leugnung so ernst zu nehmen ist. Sie alle bringen nämlich, in verschiedener Fassung, aber mit derselben Abzweckung, ein und dasselbe große Prinzip zum Ausdruck: die Konformität der Welt mit dem Vermögen unseres Wesens. So fremdartig auch manche Anwendung dieses Prinzips unsere Denkgepflogenheiten berühren mag, so müssen wir doch dessen eingedenk sein, dass sich das Prinzip als solches kaum abstreiten lässt. Denn da ja die Welt schließlich Inhalt menschlicher Erfahrung ist und eine Welt, die wir weder erfahren noch erfahren könnten, kein Gegenstand unseres Nachdenkens und Sorgens bilden würde, läuft dieses Prinzip auf die Behauptung des innern Zusammenhanges und der möglichen Harmonie des Erfahrungsganzen hinaus. Wie würden wir uns ohne dasselbe stehen? Wie müßten wir uns gegenüber einer Welt verhalten, in welcher die endgültige Bedeutung unserer Ideale geleugnet wird, d. h. einer Welt, die keine Welt ist, einer Welt, in welcher kein wahrer Sinn liegt, in der es nichts Gutes oder Schönes oder Wahres gibt und wo die Hoffnung auf Glück nur eine Illusion ist? Wenn wir sagen, die Aussicht auf eine solche Welt würde uns in die verzweiflungsvollsten Tiefen des verworfensten Pessimismus schleudern, so geben wir dem Schrecken einer solchen Sachlage noch keinen genügenden Ausdruck: sie wäre eine Welt, deren Hoffnungslosigkeit selbst die Hand des Selbstmörders entwaffnen würde. Denn in einer Welt, welche wirklich dem Ideal jeglichen Gehorsam versagt hätte, würde jede Handlung durch die Überzeugung gelähmt, dass nichts von dem, was wir wünschen, je zu erreichen ist, weil das Bestehende dem Wünschenswerten unwiederbringlich entfremdet ist. Die Grundlagen der Weltordnung wären also gesprengt, und wir müßten einsehen, daß es keinen Wert hat, irgend etwas zu tun, weil es keinen Wert gibt, weil menschliche Wertungen für die Festlegung der Natur der Dinge keine Bedeutung haben. Wir würden, mit anderen Worten, in jenen bodenlosen Abgrund geraten, wo sich der Skeptizismus mit dem Pessimismus verbrüdert und sich im unverhohlenen Chaos ihr Elend bekennen.

Wir können also das Prinzip, auf dem das ethische Postulat der Unsterblichkeit beruht, nur auf Kosten des völligen Skeptizismus und Pessimismus ablehnen. Jene, welche nicht bereit sind, diesen Preis zu zahlen, müssen das Prinzip ebenso wie die übrigen Annahmen akzeptieren, welche die Welt zu einem für die Befriedigung anderer menschlicher Tätigkeiten geeigneten Schauplatz machen. Betrachten wir z. B. die Annahme, daß die Welt ein erkennbarer Kosmos ist. Ist sie bewiesen? Gewiß nicht, sie kann es auch nicht werden, bevor nicht alles erkannt ist; bis dahin bleibt es also stets möglich, daß die Welt sich schließlich als nicht wirklich erkennbar erweist. Können wir aber jene Annahme vermeiden? Gewiss nicht; ohne sie würden wir nicht um einen Schritt in der Wissenschaft oder Praxis vorrücken. Wir müssen einfach annehmen, dass die Welt eine begreifliche Welt ist, wenn wir in ihr leben sollen. In der Tat nehmen wir es auch an, mit Ausnahme einiger weniger, welche ihre abweichende Meinung in der Abgeschiedenheit des Irrenhauses verbergen. Wird die Annahme bestätigt? Ja, in der einzigen Weise, wie solche Grundannahmen bestätigt werden: je weiter wir ihr vertrauen, desto mehr erkennen wir, desto mehr Zuversicht flößt sie uns ein.

Die Annahme eines sittlichen Kosmos wird in derselben Weise gemacht und bestätigt. Wir können sie nicht als richtig erweisen, solange die Welt nicht sittlich vollkommen ist; wir können die wiederkehrende Furcht nie ganz loswerden, dass schließlich doch die sittliche Ordnung vor unseren Augen plötzlich ins Chaos stürzen könnte. Aber ohne diese Annahme können wir unsere sittliche Erfahrung nicht ordnen, und unser Vertrauen zu ihr wächst im Laufe der sittlichen Entwicklung.

Aber, kann man sagen, wenn kein wesentlicher Unterschied zwischen der Annahme einer sittlichen und der einer intellektuellen Ordnung in unserer Erfahrung besteht, wie kommt es dann, dass die erstere so viel weniger sicher erscheint als die letztere?

Warum hegen wir eine so viel größere Zuversicht, dass die Welt dem Naturgesetz, als dass sie dem Sittengesetz unterworfen ist? Warum ist die
ethische Skepsis so viel häufiger und erfolgreicher als die intellektuelle? Die Tatsachen sind nicht zu bestreiten, sie lassen sich aber erklären. Zweifellos steht die sittliche Ordnung nicht so fest wie die wissenschaftliche, und ihre Prinzipien haben nicht dieselbe Macht über die menschliche Natur. Die Rebellen gegen die sittliche Ordnung sitzen nicht alle im Gefängnis; unsere Schurken laufen in großer Anzahl ungehangen herum. »Moralisches Irresein« wird zur Milderung der Strafe, welche es zu einer unerbittlichen machen sollte, angeführt. Aber der Unterschied hat einfach seinen Grund in den verschiedenen Mengen an Erfahrung, die hinter den beiden Annahmen stecken. Historisch betrachtet war der Mensch ein erkennendes Wesen, lange bevor er ein sittliches Wesen war. Er hatte, wie Aristoteles sagt, lang gelebt, bevor er gut lebte. Die Wahrnehmungsanpassung an die physische Ordnung hatte sowohl der Zeit als der Dringlichkeit nach den Vortritt vor der ethischen Anpassung an die soziale Ordnung. Der Mensch musste daher die Prinzipien, welche die Welt zu einem erkennbaren Kosmos machen, viel früher annehmen, als er eine sittliche Ordnung anzunehmen brauchte. Daher hat der Glaube an die Gleichförmigkeit und Berechenbarkeit der Natur u. dgl. ein viel größeres Maß von Gattungserfahrung und ererbtem Instinkt hinter sich als irgendein sittlicher Trieb, den wir bis jetzt erworben haben. Aber dies beweist nicht, dass die Natur der verschiedenen Annahmen nicht wesentlich dieselbe ist.

Findet das hier vorgetragene Argument soweit Zustimmung, so wird wohl der letzte Punkt leicht zugegeben werden, dass der auf dem ethischen Argument beruhende Unsterblichkeitsbeweis so vollständig ist als er es nur sein kann. Zur Bekräftigung dessen sei aber noch darauf hingewiesen, dass die Beweisführung von der Art ist, welche die Logiker als »hypothetisch« bezeichnen. Sie erfolgt in der Form: Wenn A ist, muss B sein. Wie kommen wir aber zur Erkenntnis, dass A ist? Die Prämisse muss in jedem: Beweise angenommen oder zugegeben werden. Wir können also auch nicht mehr tun, als unseren Beweis auf eine Annahme zu basieren, die so grundlegend ist, dass es niemand wagen wird, sie zu bestreiten. Und dies glauben wir hier getan zu haben. Denn was kann fundamentaler sein als die Annahme, auf der das ethische Argument beruht, nämlich dass die Elemente unserer Erfahrung sich harmonisieren lassen, dass die Welt wahrhaft ein »Kosmos« ist? Ist dies auch nicht absolut gewiß, so ist es doch wenigstens von solcher Gewissheit, dass, während kein Satz irgendeiner Einzelwissenschaft weniger hypothetisch ist, keiner auf einer ebenso unentbehrlichen Annahme beruht.

Im Ganzen erscheint also das ethische Unsterblichkeitsargument logisch so triftig und metaphysisch so berechtigt, wie es nur irgendein Argument sein kann; aber es wird nicht unangebracht sein, zum Schlusse auf zwei Punkte hinzuweisen, über die wir bisher nichts gesagt haben. Zunächst darauf, daß mit der Aufzeigung der Unsterblichkeit als ethisches Postulat noch nichts über den Inhalt dieser Idee bestimmt worden ist. Wir wissen nur, die Unsterblichkeit muß von der Art sein, daß sie ein ethisches Postulat werden kann. Und es ist ganz möglich, dass aus diesem Grunde die Ethik gegen viele der überlieferten Formen des Unsterblichkeitsglaubens viel einzuwenden haben wird, während sie an andern, die uns weniger vertraut sind, nur wenig aussetzen wird. So z. B. ist es schwer zu ersehen, wie sich die ewige Verdammnis als ein ethisches Postulat betrachten läßt, während eine entsprechende Modifikation des indischen Karma-Begriffes ethisch willkommen erscheinen kann. Könnte aber auch die Ethik auf diese Weise gewisse ethisch empörende Unsterblichkeitsformen untersagen, so kann sie sich doch nicht erkühnen, die Art und Weise der Erfüllung ihres Postulats positiv zu bestimmen. Dieses Problem liegt außerhalb ihrer Sphäre und muss, wenn überhaupt, durch Erwägungen von wissenschaftlichem und metaphysischem Charakter bestimmt werden. Daher ist das moralische Argument für die Unsterblichkeit in gewisser Hinsicht unvollständig: erstens, weil ein sittliches Postulat als solches uns nicht die Methode seiner Erfüllung lehren kann, zweitens, weil, mag er da noch so verhüllt sein, unser Glaube an eine Weltordnung, welche die sittliche einschließt, immer noch einer weiteren Bestätigung fähig ist. Denn so fest auch unser Zutrauen zur Vernünftigkeit des Lebens sein mag, so werden doch nur wenige behaupten, die Entdeckung wissenschaftlicher Tatsachen, die mit unseren ethischen Forderungen übereinstimmen, werde nichts zur Kräftigung ihres Glaubens beitragen.

Und so müssen zuletzt ein paar Worte über den Inhalt jener wissenschaftlichen und metaphysischen Unsterblichkeitsargumente gesagt werden, welche anfangs als für die ethische Seite der Frage gleichgültig ausgeschieden wurden, um die wichtige Tatsache hervorzuheben, daß das ethische Argument seine selbständige Gültigkeit bewahrt, was für Ergebnisse auch jene Erörterungen liefern mögen. Soweit ich ersehe, können diese Argumente zu drei Ergebnissen führen. Sie können das ethische Argument bestätigen; dann werden wir in unserem Vertrauen zur Unsterblichkeit bestärkt. Sie können einander das Gleichgewicht halten; dann werden sie das Feld für das ethische Argument frei lassen. Oder sie können, schlimmstenfalls, überwiegend mit dem ethischen Argument in Konflikt geraten. Aber auch dann würde nicht folgen. dass sie richtig und das ethische Argument falsch ist, wenigstens bis der Beweis für die innere Solidarität der obersten Postulate entkräftet ist. Eine Welt, in welcher das ethische Ideal aufgehoben und vernichtet ist, kann keine harmonische Welt sein; und wenn sie nicht durchaus harmonisch ist, können wir nicht die Zuversicht haben, daß sie in irgendeinem ihrer Teile harmonisch ist. Mit anderen Worten, solange wir der obersten Voraussetzung alles Erkennens und Handelns trauen, könnten wir uns den nichtethischen Argumenten, die uns im gegebenen Falle Schwierigkeiten bereiten würden, niemals gänzlich anvertrauen
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S. 385ff.
Aus: F. C. S. Schiller, Humanismus, Beiträge zu einer pragmatischen Philosophie, deutsch von Dr. Rudolf Eisler
Philosophisch-soziologische Bücherei XXV, Verlag von Dr. Werner Klinkhardt, Leipzig 1911