Johann Friedrich von Schiller (1759 – 1805)

Deutscher Dichter und Philosoph; 1773—80 Besuch der Karlsschule (Militärakademie) auf Befehl des württembergischen Herzogs Karl Eugen; zunächst Studium der Rechte, seit 1775 der Medizin; 1782 Flucht aus Stuttgart mit Andreas Streicher nach kurzen Aufenthalten in Mannheim, Frankfurt und Oggersheim Aufnahme bei Henriette von Wolzogen in Bauerbach, Thüringen (1782/83), 1783/84 Theaterdichter in Mannheim, 1784 Bekanntschaft mit Charlotte von Kalb; 1785—87 als Gast bei Christian Gottfried Körner in Leipzig und Dresden; 1787/88 in Weimar, Umgang mit Wieland, Herder u. a.;1788 erste Begegnung mit Goethe, seit 1789 Professor für Geschichte in Jena. Freundschaft mit Wilhelm von Humboldt; 1790 Trauung mit Charlotte von Lengefeld; seit 1791 zunehmende Tbc-Erkrankung; seit 1794 Freundschaft und Zusammenarbeit mit Goethe, 1799 endgültige Übersiedlung nach Weimar. Schon die ersten Dramen »Die Räuber« (1782 in Mannheim uraufgeführt) und »Luise Millerin« (1783; später »Kabale und Liebe«) mit dem mitreißenden Schwung ihrer Sprache, der straffen Szenenführung und den wirkungsstarken Höhepunkten machten Schiller sofort berühmt; in Absicht und Sprache dem Sturm und Drang verpflichtet, geht er doch über diesen hinaus: statt unversöhnlichem Tyrannenhass Kampf um Erhaltung der göttlichen Weltordnung, statt maß- und bindungsloser Freiheit Schuldbekenntnis des Helden; sehr theaterwirksam: »Die Verschwörung des Fiesko zu Genua« (1783); daneben Gedichte (»Anthologie auf das Jahr 1782«) und Prosa: »Der Verbrecher aus verlorener Ehre«, »Der Geisterseher«, veröffentlicht 1786 in seiner Zeitschrift »Rheinische Thalia«; sein erstes klassisches Drama schuf er mit »Don Carlos« (1787); erstmals Blankvers statt Prosa; neu das politische Interesse, das distanzierte Verständnis und Einfühlungsvermögen den Gestalten gegenüber, die nicht seine Ideale teilen, damit Differenzierung der Charakterzeichnung. In Gemeinschaft mit Goethe entstehen die »Xenien« (1796), im Wettstreit mit ihm die Balladen (»Der Taucher«, »Die Kraniche des Ibykus«; im Musenalmanach für 1798). Schon früh beschäftigte sich Schiller mit dem Urkonflikt von Trieb und Geist, Natur und Freiheit. Entscheidend wurde für ihn die Auseinandersetzung mit Kants Philosophie, die er selbständig weiterentwickelte Für Schiller ist vollendete Sittlichkeit Würde — allein in der Versöhnung von Pflicht und Neigung möglich, während Kant den Vorrang der Pflicht betont.

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Inhaltsverzeichnis

Über die ästhetische Erziehung des Menschen
Mensch und Gottheit (11. Brief)
Schönheit und Freiheit (25. Brief)

Theosophie des Julius (Philosophische Briefe)
Die Welt und das denkende Wesen
Idee
Liebe
Aufopferung
Gott


Algemeine Schriften
Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen
Die Unvergänglichkeit des Papsttums
Die Sendung Moses

  Liebe
Herrschsucht ist unvereinbar mit Liebe
Liebe ist uneigennützig

Das unfehlbare Band der Schöpfung


Gedichte

Die Worte des Glaubens
Die Freundschaft
Die Künstler
Die Größe der Welt
Der Tanz
Der Spaziergang
Spruch des Konfuzius 1
Spruch des Konfuzius 2
Spinoza
Die Ideale
 

Das Ideal und das Leben
Die Götter Griechenlands

Die Worte des Wahns
Laura am Klavier

Votivtafeln

Die Philosophen
Zitate aus Schillers Dramen

Über Geistersehen
Der Armenier und der Magier
Die dunkle Decke

Das philosophische Gespräch aus dem Geisterseher

Über die ästhetische Erziehung des Menschen
Mensch und Gottheit (11. Brief)
Wenn die Abstraktion so hoch als sie immer kann hinaufsteigt, so gelangt sie zu zwei letzten Begriffen, bei denen sie stille stehen und ihre Grenzen bekennen muß. Sie unterscheidet in dem Menschen etwas, das bleibt, und etwas, das sich unaufhörlich verändert. Das Bleibende nennt sie seine Person, das Wechselnde seinen Zustand.

Person und Zustand — das Selbst und seine Bestimmungen — die wir uns in dem notwendigen Wesen als eins und dasselbe denken, sind ewig zwei in dem endlichen. Bei aller Beharrung der Person wechselt der Zustand, bei allem Wechsel des Zustands beharret die Person. Wir gehen von der Ruhe zur Tätigkeit, vom Affekt zur Gleichgültigkeit, von der Übereinstimmung zum Widerspruch, aber wir sind doch immer, und was unmittelbar aus uns folgt, bleibt. In dem absoluten Subjekt allein beharren mit der Persönlichkeit auch alle ihre Bestimmungen, weil sie aus der Persönlichkeit fließen. Alles was die Gottheit ist, ist sie deswegen, weil sie ist; sie ist folglich alles auf ewig, weil sie ewig ist.

Da in dem Menschen, als endlichem Wesen, Person und Zustand verschieden sind, so kann sich weder der Zustand auf die Person, noch die Person auf den Zustand gründen. Wäre das letztere, so müßte die Person sich verändern; wäre das erstere, so müßte der Zustand beharren; also in jedem Fall entweder die Persönlichkeit oder die Endlichkeit aufhören. Nicht, weil wir denken, wollen, empfinden, sind wir; nicht weil wir sind, denken, wollen, empfinden wir. Wir sind, weil wir sind; wir empfinden, denken und wollen, weil außer uns noch etwas anderes ist.

Die Person also muß ihr eigener Grund sein, denn das Bleibende kann nicht aus der Veränderung fließen; und so hätten wir denn fürs erste die Idee des absoluten, in sich selbst gegründeten Seins, d. i. die Freiheit. Der Zustand muß einen Grund haben; er muß, da er nicht durch die Person, also nicht absolut ist, erfolgen; und so hätten wir fürs zweite die Bedingung alles abhängigen Seins oder Werdens, die Zeit. Die Zeit ist die Bedingung alles Werdens: ist ein identischer Satz, denn er sagt nichts anders, als: die Folge ist die Bedingung, daß etwas erfolgt.

Die Person, die sich in dem ewig beharrenden Ich und nur in diesem offenbart, kann nicht werden, nicht anfangen in der Zeit, weil vielmehr umgekehrt die Zeit in ihr anfangen, weil dem Wechsel ein Beharrliches zum Grund liegen muß. Etwas muß sich verändern, wenn Veränderung sein soll; dieses Etwas kann also nicht selbst schon Veränderung sein. Indem wir sagen, die Blume blühet und verwelkt, machen wir die Blume zum Bleibenden in dieser Verwandlung, und leihen ihr gleichsam eine Person, an der sich jene beiden Zustände offenbaren. Daß der Mensch erst wird, ist kein Einwurf, denn der Mensch ist nicht bloß Person überhaupt, sondern Person, die sich in einem bestimmten Zustand befindet. Aller Zustand aber, alles bestimmte Dasein entsteht in der Zeit, und so muß also der Mensch, als Phänomen, einen Anfang nehmen, obgleich die reine Intelligenz in ihm ewig ist. Ohne die Zeit, das heißt, ohne es zu werden, würde er nie ein bestimmtes Wesen sein; seine Persönlichkeit würde zwar in der Anlage, aber nicht in der Tat existieren. Nur durch die Folge seiner Vorstellungen wird das beharrliche Ich sich selbst zur Erscheinung.

Die Materie der Tätigkeit also, oder die Realität, welche die höchste Intelligenz aus sich selber schöpft, muß der Mensch erst empfangen, und zwar empfängt er dieselbe als etwas außer ihm Befindliches im Raume, und als etwas in ihm Wechselndes in der Zeit, auf dem Wege der Wahrnehmung. Diesen in ihm wechselnden Stoff begleitet sein niemals wechselndes Ich — und in allem Wechsel beständiger selbst zu bleiben, alle Wahrnehmungen zur Erfahrung, d. h. zur Einheit der Erkenntnis, und jede seiner Erscheinungsarten in der Zeit zum Gesetz für alle Zeiten zu machen, ist die Vorschrift, die durch seine vernünftige Natur ihm gegeben ist. Nut indem er sich verändert, existiert er; nur indem er unveränderlich bleibt, existiert er. Der Mensch, vorgestellt in seiner Vollendung, wäre demnach die beharrliche Einheit, die in den Fluten der Veränderung ewig dieselbe bleibt.

Ob nun gleich ein unendliches Wesen, eine Gottheit, nicht werden kann, so muß man doch eine Tendenz göttlich nennen, die das eigentlichste Merkmal der Gottheit, absolute Verkündigung des Vermögens (Wirklichkeit alles Möglichen) und absolute Einheit des Erscheinens (Notwendigkeit alles Wirklichen) zu ihrer unendlichen Aufgabe hat. Die Anlage zu der Gottheit trägt der Mensch unwidersprechlich in seiner Persönlichkeit in sich; der Weg zu der Gottheit, wenn man einen Weg nennen kann, was niemals zum Ziele führt, ist ihm aufgetan in den Sinnen.

Seine Persönlichkeit, für sich allein und unabhängig von allem sinnlichen Stoffe betrachtet, ist bloß die Anlage zu einer möglichen unendlichen Äußerung; und solange er nicht anschaut und nicht empfindet, ist er noch weiter nichts als Form und leeres Vermögen. Seine Sinnlichkeit, für sich allein und abgesondert von aller Selbsttätigkeit des Geistes betrachtet, vermag weiter nichts, als daß sie ihn, der ohne sie bloß Form ist, zur Materie macht, aber keineswegs, daß sie die Materie mit ihm vereinigt. Solange er bloß empfindet, bloß begehrt und aus bloßer Begierde wirkt, ist er noch weiter nichts als Welt, wenn wir unter diesem Namen bloß den formlosen Inhalt der Zeit verstehen. Seine Sinnlichkeit ist es zwar allein, die sein Vermögen zur wirkenden Kraft macht, aber nur seine Persönlichkeit ist es, die sein Wirken zu dem seinigen macht. Um also nicht bloß Welt zu sein, muß er der Materie Form erteilen; um nicht bloß Form zu sein, muß er der Anlage, die er in sich trägt, Wirklichkeit geben. Er verwirklichet die Form, wenn er die Zeit erschafft und dem Beharrlichen die Veränderung, der ewigen Einheit seines Ichs die Mannigfaltigkeit der Welt gegenüber stellt; er formt die Materie, wenn er die Zeit wieder aufhebt, Beharrlichkeit im Wechsel behauptet, und die Mannigfaltigkeit der Welt der Einheit seines Ichs unterwürfig macht.

Hieraus fließen nun zwei entgegengesetzte Anforderungen an den Menschen, die zwei Fundamentalgesetze der sinnlich vernünftigen Natur. Das erste dringt auf absolute Realität: er soll alles zur Welt machen, was bloß Form ist, und alle seine Anlagen zur Erscheinung bringen; das zweite dringt auf absolute Formalität: er soll alles in sich vertilgen, was bloß Welt ist, und Übereinstimmung in alle seine Veränderungen bringen; mit andern Worten: es soll alles Innre veräußern und alles Äußere formen. Beide Aufgaben, in ihrer höchsten Erfüllung gedacht, führen zu dem Begriff der Gottheit zurücke, von dem ich ausgegangen bin.

Aus: Friedrich Schiller, Theoretische Schriften (S.280-283) Herausgegeben von Rolf Toman Könemann Verlagsgesellschaft, Köln

Schönheit und Freiheit (25. Brief)
Solange der Mensch, in seinem ersten physischen Zustande, die Sinnenwelt bloß leidend in sich aufnimmt, bloß empfindet, ist er auch noch völlig eins mit derselben, und eben weil er selbst bloß Welt ist, so ist für ihn noch keine Welt. Erst wenn er in seinem ästhetischen Stande sie außer sich stellt oder betrachtet, sondert sich seine Persönlichkeit von ihr ab, und es erscheint ihm eine Welt, weil er aufgehört hat, mit derselben eins auszumachen.

Die Betrachtung (Reflexion) ist das erste liberale Verhältnis des Menschen zu dem Weltall, das ihn umgibt. Wenn die Begierde ihren Gegenstand unmittelbar ergreift, so rückt die Betrachtung den ihrigen in die Ferne und macht ihn eben dadurch zu ihrem wahren und unverlierbaren Eigentum, daß sie ihn vor der Leidenschaft flüchtet. Die Notwendigkeit der Natur, die ihn im Zustand der bloßen Empfindung mit ungeteilter Gewalt beherrschte, läßt bei der Reflexion von ihm ab, in den Sinnen erfolgt ein augenblicklicher Friede, die Zeit selbst, das ewig Wandelnde, steht still, indem des Bewußtseins zerstreute Strahlen sich sammeln, und ein Nachbild des Unendlichen, die Form, reflektiert sich auf dem vergänglichen Grunde. Sobald es Licht wird in dem Menschen, ist auch außer ihm keine Nacht mehr, sobald es stille wird in ihm, legt sich auch der Sturm in dem Weltall, und die streitenden Kräfte der Natur finden Ruhe zwischen bleibenden Grenzen. Daher kein Wunder, wenn die uralten Dichtungen von dieser großen Begebenheit im Innern des Menschen als von einer Revolution in der Außenwelt reden und den Gedanken, der über die Zeitgesetze siegt, unter dem Bilde des Zeus versinnlichen, der das Reich des Saturnus endigt.

Aus einem Sklaven der Natur, solang er sie bloß empfindet, wird der Mensch ihr Gesetzgeber, sobald er sie denkt. Die ihn vordem nur als Macht beherrschte, steht jetzt als Objekt vor seinem richtenden Blick. Was ihm Objekt ist, hat keine Gewalt über ihn, denn um Objekt zu sein, muß es die seinige erfahren. Soweit er der Materie Form gibt, und solange er sie gibt, ist er ihren Wirkungen unverletzlich; denn einen Geist kann nichts verletzen, als was ihm die Freiheit raubt, und er beweist ja die seinige, indem er das Formlose bildet. Nur wo die Masse schwer und gestaltlos herrscht und zwischen unsichern Grenzen die trüben Umrisse wanken, hat die Furcht ihren Sitz; jedem Schrecknis der Natur ist der Mensch überlegen, sobald er ihm Form zu geben und es in sein Objekt zu verwandeln weiß.

So wie er anfängt, seine Selbständigkeit gegen die Natur als Erscheinung zu behaupten, so behauptet er auch gegen die Natur als Macht seine Würde, und mit edler Freiheit richtet er sich auf gegen seine Götter. Sie werfen die Gespensterlarven ab, womit sie seine Kindheit geängstigt hatten, und überraschen ihn mit seinem eigenen Bild, indem sie seine Vorstellung werden. Das göttliche Monstrum des Morgenländers, das mit der blinden Stärke des Raubtiers die Welt verwaltet, zieht sich in der griechischen Phantasie in den freundlichen Kontur der Menschheit zusammen, das Reich der Titanen fällt, und die unendliche Kraft ist durch die unendliche Form gebändigt.

Aber indem ich bloß einen Ausgang aus der materiellen Welt und einen Übergang in die Geisterwelt suchte, hat mich der freie Lauf meiner Einbildungskraft schon mitten in die letztere hineingeführt. Die Schönheit, die wir suchen, liegt bereits hinter uns, und wir haben sie übersprungen, indem wir von dem bloßen Leben unmittelbar zu der reinen Gestalt und zu dem reinen Objekt übergingen. Ein solcher Sprung ist nicht in der menschlichen Natur, und um gleichen Schritt mit dieser zu halten, werden wir zu der Sinnenwelt wieder umkehren müssen.

Die Schönheit ist allerdings das Werk der freien Betrachtung, und wir treten mit ihr in die Welt der Ideen - aber was wohl zu bemerken ist, ohne darum die sinnliche Welt zu verlassen, wie bei Erkenntnis der Wahrheit geschieht. Diese ist das reine Produkt der Absonderung von allem, was materiell und zufällig ist, reines Objekt, in welchem keine Schranke des Subjekts zurückbleiben darf, reine Selbsttätigkeit ohne Beimischung eines Leidens. Zwar gibt es auch von der höchsten Abstraktion einen Rückweg zur Sinnlichkeit, denn der Gedanke rührt die innre Empfindung, und die Vorstellung logischer und moralischer Einheit geht in ein Gefühl sinnlicher Übereinstimmung über. Aber wenn wir uns an Erkenntnissen ergötzen, so unterscheiden wir sehr genau unsere Vorstellung von unserer Empfindung und sehen diese letztere als etwas Zufälliges an, was gar wohl wegbleiben könnte, ohne daß deswegen die Erkenntnis aufhörte und Wahrheit nicht Wahrheit wäre. Aber ein ganz vergebliches Unternehmen würde es sein, diese Beziehung auf das Empfindungsvermögen von der Vorstellung der Schönheit absondern zu wollen; daher wir nicht damit ausreichen, uns die eine als den Effekt der andern zu denken, sondern beide zugleich und wechselseitig als Effekt und als Ursache ansehen müssen. In unserm Vergnügen an Erkenntnissen unterscheiden wir ohne Mühe den Übergang von der Tätigkeit zum Leiden und bemerken deutlich, daß das erste vorüber ist, wenn das letztere eintritt. In unserm Wohlgefallen an der Schönheit hingegen läßt sich keine solche Succession zwischen der Tätigkeit und dem Leiden unterscheiden, und die Reflexion zerfließt hier so vollkommen mit dem Gefühle, daß wir die Form unmittelbar zu empfinden glauben. Die Schönheit ist also zwar Gegenstand für uns, weil die Reflexion die Bedingung ist, unter der wir eine Empfindung von ihr haben; zugleich aber ist sie ein Zustand unsers Subjekts, weil das Gefühl die Bedingung ist, unter der wir eine Vorstellung von ihr haben. Sie ist also zwar Form, weil wir sie betrachten, zugleich aber ist sie Leben, weil wir sie fühlen. Mit einem Wort: sie ist zugleich unser Zustand und unsre Tat.

Und eben weil sie dieses beides zugleich ist, so dient sie uns also zu einem siegenden Beweis, daß das Leiden die Tätigkeit, daß die Materie die Form, daß die Beschränkung die Unendlichkeit keineswegs ausschließe - daß mithin durch die notwendige physische Abhängigkeit des Menschen seine moralische Freiheit keineswegs aufgehoben werde. Sie beweist dieses, und, ich muß hinzusetzen, sie allein kann es uns beweisen. Denn da beim Genuß der Wahrheit oder der logischen Einheit die Empfindung mit dem Gedanken nicht notwendig eins ist, sondern auf denselben zufällig folgt, so kann uns dieselbe bloß beweisen, daß auf eine vernünftige Natur eine sinnliche folgen könne und umgekehrt, nicht, daß beide zusammen bestehen, nicht, daß sie wechselseitig aufeinander wirken, nicht, daß sie absolut und notwendig zu vereinigen sind. Vielmehr müßte sich gerade umgekehrt aus dieser Ausschließung des Gefühls, solange gedacht wird, und des Gedankens, solange empfunden wird, auf eine Unvereinbarkeit beider Naturen schließen lassen, wie denn auch wirklich die Analysten keinen bessern Beweis für die Ausführbarkeit reiner Vernunft in der Menschheit anzuführen wissen als den, daß sie geboten ist. Da nun aber bei dem Genuß der Schönheit oder der ästhetischen Einheit eine wirkliche Vereinigung und Auswechslung der Materie mit der Form und des Leidens mit der Tätigkeit vor sich geht, so ist eben dadurch die Vereinbarkeit beider Naturen, die Ausführbarkeit des Unendlichen in der Endlichkeit, mithin die Möglichkeit der erhabensten Menschheit bewiesen.

Wir dürfen also nicht mehr verlegen sein, einen Übergang von der sinnlichen Abhängigkeit zu der moralischen Freiheit zu finden, nachdem durch die Schönheit der Fall gegeben ist, daß die letztere mit der erstern vollkommen zusammen bestehen könne, und daß der Mensch, um sich als Geist zu erweisen, der Materie nicht zu entfliehen brauche. Ist er aber schon in Gemeinschaft mit der Sinnlichkeit frei, wie das Faktum der Schönheit lehrt, und ist Freiheit etwas Absolutes und Übersinnliches, wie ihr Begriff notwendig mit sich bringt, so kann nicht mehr die Frage sein, wie er dazu gelange, sich von den Schranken zum Absoluten zu erheben, sich in seinem Denken und Wollen der Sinnlichkeit entgegenzusetzen, da dieses schon in der Schönheit geschehen ist. Es kann, mit einem Wort, nicht mehr die Frage sein, wie er von der Schönheit zur Wahrheit übergehe, die dem Vermögen nach schon in der ersten liegt, sondern wie er von einer gemeinen Wirklichkeit zu einer ästhetischen, wie er von bloßen Lebensgefühlen zu Schönheitsgefühlen den Weg sich bahne.
S.330-334
Aus: Friedrich Schiller, Theoretische Schriften Herausgegeben von Rolf Toman Könemann Verlagsgesellschaft, Köln


Theosophie des Julius

Die Welt und das denkende Wesen
Das Universum ist ein Gedanke Gottes. Nachdem dieses idealische Geistesbild in die Wirklichkeit hinübertrat und die geborene Welt den Riß ihres Schöpfers erfüllte - erlaube mir diese menschliche Vorstellung - so ist der Beruf aller denkenden Wesen, in diesem vorhandenen Ganzen die erste Zeichnung wiederzufinden, die Regel in der Maschine, die Einheit in der Zusammensetzung, das Gesetz in dem Phänomen aufzusuchen und das Gebäude rückwärts auf seinen Grundriß zu übertragen. Also gibt es für mich nur eine einzige Erscheinung in der Natur, das denkende Wesen. Die große Zusammensetzung, die wir Welt nennen, bleibt mir jetzo nur merkwürdig, weil sie vorhanden ist, mir die mannigfaltigen Äußerungen jenes Wesens symbolisch zu bezeichnen. Alles in mir und außer mir ist nur Hieroglyphe einer Kraft, die mir ähnlich ist. Die Gesetze der Natur sind die Chiffern, welche das denkende Wesen zusammenfügt, sich dem denkenden Wesen verständlich zu machen - das Alphabet, vermittelst dessen alle Geister mit dem vollkommensten Geist und mit sich selbst unterhandeln. Harmonie, Wahrheit, Ordnung, Schönheit, Vortrefflichkeit geben mir Freude, weil sie mich in den tätigen Zustand ihres Erfinders, ihres Besitzers versetzen, weil sie mir die Gegenwart eines vernünftig empfindenden Wesens verraten und meine Verwandtschaft mit diesem Wesen mich ahnden lassen. Eine neue Erfahrung in diesem Reiche der Wahrheit, die Gravitation, der entdeckte Umlauf des Blutes, das Natursystem des Linnäus, heißen mir ursprünglich eben das, was eine Antike, in Herkulanum hervorgegraben - beides nur Widerschein eines Geistes, neue Bekanntschaft mit einem mir ähnlichen Wesen. Ich bespreche mich mit dem Unendlichen durch das Instrument der Natur, durch die Weltgeschichte - ich lese die Seele des Künstlers in seinem Apollo.

Willst Du Dich überzeugen, mein Raphael, so forsche rückwärts. Jeder Zustand der menschlichen Seele hat irgendeine Parabel in der physischen Schöpfung, wodurch er bezeichnet wird, und nicht allein Künstler und Dichter, auch selbst die abstraktesten Denker haben aus diesem reichen Magazine geschöpft. Lebhafte Tätigkeit nennen wir Feuer, die Zeit ist ein Strom, der reißend von hinnen rollt, die Ewigkeit ist ein Zirkel, ein Geheimnis hüllt sich in Mitternacht, und die Wahrheit wohnt in der Sonne. Ja, ich fange an zu glauben, daß sogar das künftige Schicksal des menschlichen Geistes im dunkeln Orakel der körperlichen Schöpfung vorherverkündigt liegt. Jeder kommende Frühling, der die Sprößlinge der Pflanzen aus dem Schoße der Erde treibt, gibt mir Erläuterung über das bange Rätsel des Todes und widerlegt meine ängstliche Besorgnis eines ewigen Schlafs. Die Schwalbe, die wir im Winter erstarret finden und im Lenze wieder aufleben sehen, die tote Raupe, die sich als Schmetterling neu verjüngt in die Luft erhebt, reichen uns ein treffendes Sinnbild unsrer Unsterblichkeit.

Wie merkwürdig wird mir nun alles! - Jetzt, Raphael, ist alles bevölkert um mich herum. Es gibt für mich keine Einöde in der ganzen Natur mehr. Wo ich einen Körper entdecke, da ahnde ich einen Geist - Wo ich Bewegung merke, da rate ich auf einen Gedanken.

»Wo kein Toter begraben liegt, wo kein Auferstehen sein wird«,
redet ja noch die Allmacht durch ihre Werke zu mir, und so verstehe ich die Lehre von einer Allgegenwart Gottes.

Idee
Alle Geister werden angezogen von Vollkommenheit. Alle — es gibt hier Verirrungen, aber keine einzige Ausnahme — alle streben nach dem Zustand der höchsten freien Äußerung ihrer Kräfte, alle besitzen den gemeinschaftlichen Trieb, ihre Tätigkeit auszudehnen, alles an sich zu ziehen, in sich zu versammeln, sich eigen zu machen, was sie als gut, als vortrefflich, als reizend erkennen. Anschauung des Schönen, des Wahren, des Vortrefflichen ist augenblickliche Besitznehmung dieser Eigenschaften. Welchen Zustand wir wahrnehmen, in diesen treten wir selbst. In dem Augenblicke, wo wir sie uns denken, sind wir Eigentümer einer Tugend, Urheber einer Handlung, Erfinder einer Wahrheit, Inhaber einer Glückseligkeit. Wir selber werden das empfundene Objekt. Verwirre mich hier durch kein zweideutiges Lächeln, mein Raphael — diese Voraussetzung ist der Grund, worauf ich alles Folgende gründe, und einig müssen wir sein, ehe ich Mut habe, meinen Bau zu vollenden.

Etwas Ähnliches sagt einem jeden schon das innre Gefühl. Wenn wir z. B. eine Handlung der Großmut, der Tapferkeit, der Klugheit bewundern, regt sich da nicht ein geheimes Bewußtsein in unserm Herzen, daß wir fähig wären, ein gleiches zu tun? Verrät nicht schon die hohe Röte, die bei Anhörung einer solchen Geschichte unsre Wangen färbt, daß unsre Bescheidenheit vor der Bewunderung zittert? daß wir über dem Lobe verlegen sind, welches uns diese Veredlung unsers Wesens erwerben muß? Ja unser Körper selbst stimmt sich in diesem Augenblick in die Gebärden des handelnden Menschen und zeigt offenbar, daß unsre Seele in diesen Zustand übergegangen. Wenn du zugegen warst, Raphael, wo eine große Begebenheit vor einer zahlreichen Versammlung erzählt wurde, sahest du es da dem Erzähler nicht an, wie er selbst auf den Weihrauch wartete, er selbst den Beifall aufzehrte, der seinem Helden geopfert wurde — und, wenn du der Erzähler warst, überraschtest du dein Herz niemals auf dieser glücklichen Täuschung? Du hast Beispiele, Raphael, wie lebhaft ich sogar mit meinem Herzensfreund um die Vorlesung einer schönen Anekdote, eines vortrefflichen Gedichtes mich zanken kann, und mein Herz hat mirs leise gestanden, daß es dir dann nur den Lorbeer mißgönnte, der von dem Schöpfer auf den Vorleser übergeht. Schnelles und inniges Kunstgefühl für die Tugend gilt darum allgemein für ein großes Talent zu der Tugend, wie man im Gegenteil kein Bedenken trägt, das Herz eines Mannes zu bezweifeln, dessen Kopf die moralische Schönheit schwer und langsam faßt.

Wende mir nicht ein, daß bei lebendiger Erkenntnis einer Vollkommenheit nicht selten das entgegenstehende Gebrechen sich finde, daß selbst den Bösewicht oft eine hohe Begeisterung für das Vortreffliche anwandele, selbst den Schwachen zuweilen ein Enthusiasmus hoher herkulischer Größe durchflamme. Ich weiß z. B., daß unser bewunderter Haller, der das geschätzte Nichts der eiteln Ehre so männlich entlarvte, dessen philosophischer Größe ich so viel Bewunderung zollte, daß eben dieser das noch eitlere Nichts eines Rittersternes, der seine Größe beleidigte, nicht zu verachten imstande war. Ich bin überzeugt, daß in dem glücklichen Momente des Ideales der Künstler, der Philosoph und der Dichter die großen und guten Menschen wirklich sind, deren Bild sie entwerfen — aber diese Veredlung des Geistes ist bei vielen nur ein unnatürlicher Zustand, durch eine lebhaftere Wallung des Bluts, einen rascheren Schwung der Phantasie gewaltsam hervorgebracht, der aber auch eben deswegen so flüchtig wie jede andre Bezauberung dahin schwindet und das Herz der despotischen Willkür niedriger Leidenschaften desto ermatteter überliefert. Desto ermatteter, sage ich — denn eine gemeine Erfahrung lehrt, daß der rückfällige Verbrecher immer der wütendere ist, daß die Renegaten der Tugend sich von lästigen Zwange der Reue in den Armen des Lasters nur desto süßer erholen.

Ich wollte erweisen, mein Raphael, daß es unser eigener Zustand ist, wenn wir einen fremden empfinden, daß die Vollk¬ommenheit auf den Augenblick unser wird, worin wir uns eine Vorstellung von ihr erwecken, daß unser Wohlgefallen an Wahrheit, Schönheit und Tugend sich endlich in das Bewußtsein eigner Veredlung, eigner Bereicherung auflöset, und ich glaube, ich habe es erwiesen.

Wir haben Begriffe von der Weisheit des höchsten Wesens, von seiner Güte, von seiner Gerechtigkeit — aber keinen von seiner Allmacht. Seine Allmacht zu bezeichnen, helfen wir uns mit der stückweisen Vorstellung dreier Sukzessionen: Nichts, sein Wille und Etwas. Es ist wüste und finster — Gott ruft: Licht — und es wird Licht. Hätten wir eine Real-Idee seiner wirkenden Allmacht, so wären wir Schöpfer, wie Er.

Jede Vollkommenheit also, die ich wahrnehme, wird mein eigen, sie gibt mir Freude, weil sie mein eigen ist, ich begehre sie, weil ich mich selbst liebe.

Vollkommenheit in der Natur ist keine Eigenschaft der Materie, sondern der Geister
. Alle Geister sind glücklich durch ihre Vollkommenheit. Ich begehre das Glück aller Geister, weil ich mich selbst liebe. Die Glückseligkeit, die ich mir vorstelle, wird meine Glückseligkeit; also liegt mir daran, diese Vorstellungen zu erwecken, zu vervielfältigen, zu erhöhen — also liegt mir daran, Glückseligkeit um mich her zu verbreiten. Welche Schönheit, welche Vortrefflichkeit, welchen Genuß ich außer mir hervorbringe, bringe ich mir hervor; welchen ich vernachlässige, zerstöre, zerstöre ich mir, vernachlässige ich mir
— Ich begehre fremde Glückseligkeit, weil ich meine eigne begehre. Begierde nach fremder Glückseligkeit nennen wir Wohlwollen - Liebe.

Liebe
Jetzt, bester Raphael, laß mich herumschauen. Die Höhe ist erstiegen, der Nebel ist gefallen, wie in einer blühenden Landschaft stehe ich mitten im Unermeßlichen. Ein reineres Sonnenlicht hat alle meine Begriffe geläutert.

Liebe also — das schönste Phänomen in der beseelten Schöpfung, der allmächtige Magnet in der Geisterwelt, die Quelle der Andacht und der erhabensten Tugend — Liebe ist nur der Widerschein dieser einzigen Urkraft, eine Anziehung des Vortrefflichen, gegründet auf einen augenblicklichen Tausch der Persönlichkeit, eine Verwechslung der Wesen.

Wenn ich hasse, so nehme ich mir etwas; wenn ich liebe, so werde ich um das reicher, was ich liebe. Verzeihung ist das Wiederfinden eines veräußerten Eigentums — Menschenhaß ein verlängerter Selbstmord; Egoismus die höchste Armut eines erschaffenen Wesens.

Als Raphael sich meiner letzten Umarmung entwand, da zerriß meine Seele, und ich weine um den Verlust meiner schöneren Hälfte. An jenem seligen Abend — du kennest ihn — da unsre Seelen sich zum erstenmal feurig berührten, wurden alle deine großen Empfindungen mein, machte ich nur mein ewiges Eigentumsrecht auf deine Vortrefflichkeit gelten — stolzer darauf, dich zu lieben, als von dir geliebt zu sein, denn das erste hatte mich zu Raphael gemacht.

War‘s nicht dies allmächtige Getriebe,
das zum ew‘gen Jubelbund der Liebe
unsre Herzen an einander zwang?
Raphael, an deinem Arm — o Wonne!
wag‘ auch ich zur großen Geistersonne
freudig den Vollendungsgang.

Glücklich! Glücklich! Dich hab‘ ich gefunden,
hab‘ aus Millionen dich umwunden
und aus Millionen mein bist du.
Laß das wilde Chaos wiederkehren,
durch einander die Atomen stören:
ewig fliehn sich unsre Herzen zu.

Muß ich nicht aus deinen Flammenaugen
meiner Wollust Widerstrahlen saugen?
Nur in dir bestaun ich mich.
Schöner malt sich mir die schöne Erde,
heller spiegelt in des Freunds Gebärde
reizender der Himmel sich.

Schwermut wirft die bange Tränenlasten,
süßer von des Leidens Sturm zu rasten,
in der Liebe Busen ab.
Sucht nicht selbst das folternde Entzücken,
Raphael, in deinen Seelenblicken
ungeduldig ein wollüst‘ges Grab?

Stünd‘ im All der Schöpfung ich alleine,
Seelen träumt‘ ich in die Felsensteine,
und umarmend küßt‘ ich sie.
Meine Klagen stöhnt‘ ich in die Lüfte,
freute mich, antworteten die Klüfte,
Tor genug, der süßen Sympathie.


Liebe findet nicht statt unter gleichtönenden Seelen, aber unter harmonischen. Mit Wohlgefallen erkenne ich meine Empfindungen wieder in dem Spiegel der deinigen, aber mit feuriger Sehnsucht verschlinge ich die höheren, die mir mangeln. Eine Regel leitet Freundschaft und Liebe. Die sanfte Desdemona liebt ihren Othello wegen der Gefahren, die er bestanden; der männliche Othello liebt sie um der Träne willen, die sie ihm weinte.

Es gibt Augenblicke im Leben, wo wir aufgelegt sind, jede Blume und jedes entlegene Gestirne, jeden Wurm und jeden geahndeten höhern Geist an den Busen zu drücken — ein Umarmen der ganzen Natur gleich unsrer Geliebten. Du verstehst mich, mein Raphael, der Mensch, der es so weit gebracht hat, alle Schönheit, Größe, Vortrefflichkeit im Kleinen und Großen der Natur aufzulesen und zu dieser Mannigfaltigkeit die große Einheit zu finden, ist der Gottheit schon sehr viel näher gerückt. Die ganze Schöpfung zerfließt in seine Persönlichkeit. Wenn jeder Mensch alle Menschen liebte, so besäße jeder Einzelne die Welt.

Die Philosophie unsrer Zeiten — ich fürchte es — widerspricht dieser Lehre. Viele unsrer denkenden Köpfe haben es sich angelegen sein lassen, diesen himmlischen Trieb aus der menschlichen Seele hinweg zu spotten, das Gepräge der Gottheit zu verwischen und diese Energie, diesen edlen Enthusiasmus im kalten tötenden Hauch einer kleinmütigen Indifferenz aufzulösen. Im Knechtsgefühle ihrer eignen Entwürdigung haben sie sich mit dem gefährlichen Feinde des Wohlwollens, dem Eigennutz abgefunden, ein Phänomen zu erklären, das ihrem begrenzten Herzen zu göttlich war. Aus einem dürftigen Egoismus haben sie ihre trostlose Lehre gesponnen und ihre eigene Beschränkung zum Maßstab des Schöpfers gemacht — Entartete Sklaven, die unter dem Klang ihrer Ketten die Freiheit verschreien. Swift, der den Tadel der Torheit bis zur Infamie der Menschheit getrieben und an den Schandpfahl, den er dem ganzen Geschlechte baute, zuerst seinen eigenen Namen schrieb, Swift selbst konnte der menschlichen Natur keine so tödliche Wunde schlagen als diese gefährlichen Denker, die mit allem Aufwande des Scharfsinns und des Genies den Eigennutz ausschmücken und zu einem Systeme veredeln.

Warum soll es die ganze Gattung entgelten, wenn einige Glieder an ihrem Werte verzagen?

Ich bekenne es freimütig, ich glaube an die Wirklichkeit einer uneigennützigen Liebe. Ich bin verloren, wenn sie nicht ist, ich gebe die Gottheit auf, die Unsterblichkeit und die Tugend. Ich habe keinen Beweis für diese Hoffnungen mehr übrig, wenn ich aufhöre, an die Liebe zu glauben. Ein Geist, der sich allein liebt, ist ein schwimmender Atom im unermeßlichen leeren Raume.

Aufopferung
Aber die Liebe hat Wirkungen hervorgebracht, die ihrer Natur zu widersprechen scheinen.

Es ist denkbar, daß ich meine eigne Glückseligkeit durch ein Opfer vermehre, das ich fremder Glückseligkeit bringe - aber auch noch dann, wenn dieses Opfer mein Leben ist? Und die Geschichte hat Beispiele solcher Opfer - und ich fühle es lebhaft, daß es mich nichts kosten sollte, für Raphaels Rettung zu sterben. Wie ist es möglich, daß wir den Tod für ein Mittel halten, die Summe unsrer Genüsse zu vermehren? Wie kann das Aufhören meines Daseins sich mit Bereicherung meines Wesens vertragen?

Die Voraussetzung von einer Unsterblichkeit hebt diesen Widerspruch - aber sie entstellt auch auf immer die hohe Grazie dieser Erscheinung. Rücksicht auf eine belohnende Zukunft schließt die Liebe aus. Es muß eine Tugend geben, die auch ohne den Glauben an Unsterblichkeit auslangt, die auch auf Gefahr der Vernichtung das nämliche Opfer wirkt.

Zwar ist es schon Veredlung einer menschlichen Seele, den gegenwärtigen Vorteil dem ewigen aufzuopfern - es ist die edelste Stufe des Egoismus - aber Egoismus und Liebe scheiden die Menschheit in zwei höchst unähnliche Geschlechter, deren Grenzen nie ineinanderfließen. Egoismus errichtet seinen Mittelpunkt in sich selber; Liebe pflanzt ihn außerhalb ihrer in die Achse des ewigen Ganzen. Liebe zielt nach Einheit, Egoismus ist Einsamkeit. Liebe ist die mitherrschende Bürgerin eines blühenden Freistaats, Egoismus ein Despot in einer verwüsteten Schöpfung. Egoismus sät für die Dankbarkeit, Liebe für den Undank. Liebe verschenkt, Egoismus leiht - Einerlei vor dem Thron der richtenden Wahrheit, ob auf den Genuß des nächstfolgenden Augenblicks, oder die Aussicht einer Märtyrerkrone - einerlei, ob die Zinsen in diesem Leben oder im andern fallen!

Denke Dir eine Wahrheit, mein Raphael, die dem ganzen Menschengeschlecht auf entfernte Jahrhunderte wohltut - setze hinzu, diese Wahrheit verdammt ihren Bekenner zum Tode, diese Wahrheit kann nur erwiesen werden, nur geglaubt werden, wenn er stirbt. Denke Dir dann den Mann mit dem hellen umfassenden Sonnenblicke des Genies, mit dem Flammenrad der Begeisterung, mit der ganzen erhabenen Anlage zu der Liebe. Laß in seiner Seele das vollständige Ideal jener großen Wirkung emporsteigen - laß in dunkler Ahndung vorübergehen an ihm alle Glückliche, die er schaffen soll - laß die Gegenwart und die Zukunft zugleich in seinem Geist sich zusammendrängen - und nun beantworte Dir, bedarf dieser Mensch der Anweisung auf ein anderes Leben?

Die Summe aller dieser Empfindungen wird sich verwirren mit seiner Persönlichkeit, wird mit seinem Ich in eins zusammenfließen. Das Menschengeschlecht, das er jetzt sich denket, ist er selbst. Es ist ein Körper, in welchem sein Leben, vergessen und entbehrlich, wie ein Blutstropfe schwimmt - wie schnell wird er ihn für seine Gesundheit verspritzen!

Gott
Alle Vollkommenheiten im Universum sind vereinigt in Gott. Gott und Natur sind zwei Größen, die sich vollkommen gleich sind.

Die ganze Summe von harmonischer Tätigkeit, die in der göttlichen Substanz beisammen existiert, ist in der Natur, dem Abbilde dieser Substanz, zu unzähligen Graden und Maßen und Stufen vereinzelt. Die Natur (erlaube mir diesen bildlichen Ausdruck), die Natur ist ein unendlich geteilter Gott.

Wie sich im prismatischen Glase ein weißer Lichtstreif in sieben dunklere Strahlen spaltet, hat sich das göttliche Ich in zahllose empfindende Substanzen gebrochen. Wie sieben dunklere Strahlen in einen hellen Lichtstreif zusammenschmelzen, würde aus der Vereinigung aller dieser Substanzen ein göttliches Wesen hervorgehen. Die vorhandene Form des Naturgebäudes ist das optische Glas, und alle Tätigkeiten der Geister nur ein unendliches Farbenspiel jenes einfachen göttlichen Strahles. Gefiel' es der Allmacht dereinst, dieses Prisma zu zerschlagen, so stürzte der Damm zwischen ihr und der Welt ein, alle Geister würden in einem Unendlichen untergehen, alle Akkorde in einer Harmonie in einander fließen, alle Bäche in einem Ozean aufhören.

Die Anziehung der Elemente brachte die körperliche Form der Natur zu Stande. Die Anziehung der Geister, ins Unendliche vervielfältigt und fortgesetzt, müsste endlich zur Aufhebung jener Trennung führen, oder (darf ich es aussprechen, Raphael?) Gott hervorbringen. Eine solche Anziehung ist Liebe.

Also Liebe, mein Raphael, ist die Leiter, worauf wir emporklimmen zur Gottähnlichkeit. Ohne Anspruch, uns selbst unbewusst, zielen wir dahin.

Tote Gruppen sind wir, wenn wir hassen,
Geister, wenn wir liebend uns umfassen,
Lechzen nach dem süßen Fesselzwang.
Aufwärts, durch die tausendfachen Stufen
Zahlloser Geister, die nicht schufen,
Waltet göttlich dieser Drang.

Arm in Arm, höher stets und höher,
Vom Barbaren bis zum griech’schen Seher,
der sich an den letzten Seraph reiht,
Wallen wir einmüt’gen Ringeltanzes,
Bis sich dort im Meer des ew’gen Glanzes
Sterbend untertauchen Maß und Zeit.

Freundlos war der große Weltenmeister,
Fühlte Mangel, darum schuf er Geister,
Sel'ge Spiegel seiner Seligkeit.
Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches,
Aus dem Kelch des ganzen Wesenreiches
»Schäumt ihm die Unendlichkeit.«

Liebe, mein Raphael, ist das wuchernde Arkan, den entadelten König des Goldes aus dem unscheinbaren Kalke wieder herzustellen, das Ewige aus dem Vergänglichen, und aus dem zerstörenden Brande der Zeit das große Orakel der Dauer zu retten.
Was ist die Summe von allem Bisherigen?

Laßt uns Vortrefflichkeit einsetzen, so wird sie unser. Laßt uns vertraut werden mit der hohen idealistischen Einheit, so werden wir uns mit Bruderliebe anschließen aneinander. Laßt uns Schönheit und Freude pflanzen, so ernten wir Schönheit und Freude. Laßt uns hell denken, so werden wir feurig lieben. Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist, sagt der Stifter unsers Glaubens. Die schwache Menschheit erblasste bei diesem Gebote, darum erklärt er sich deutlicher: liebet euch unter einander.

Weisheit mit dem Sonnenblick,
Große Göttin, tritt zurück,
Weiche vor der Liebe!

Wer die steile Sternenbahn
Ging dir heldenkühn voran
zu der Gottheit Sitze?
Wer zerriß das Heiligtum,
zeigte dir Elysium
durch des Grabes Ritze?

Lockte sie uns nicht hinein,
Möchten wir unsterblich sein?
Suchten auch die Geister
Ohne sie den Meister?
Lieber, Liebe leitet nur
Zu dem Vater der Natur,
Liebe nur die Geister.


Hier, mein Raphael, hast du das Glaubensbekenntnis meiner Vernunft, einen flüchtigen Umriß meiner unternommenen Schöpfung.

So wie Du hier findest, ging der Samen auf, den Du selber in meine Seele streutest. Spotte nun oder freue Dich oder erröte über Deinen Schüler. Wie Du willst - aber diese Philosophie hat mein Herz geadelt und die Perspektive meines Lebens verschönert. Möglich, mein Bester, daß das ganze Gerüste meiner Schlüsse ein bestandloses Traumbild gewesen -

Die Welt, wie ich sie hier malte, ist vielleicht nirgends als im Gehirne deines Julius wirklich - vielleicht, daß nach Ablauf der tausend tausend Jahre jenes Richters, wo der versprochne weisere Mann auf dem Stuhle sitzt, ich bei Erblickung des wahren Originales meine schülerhafte Zeichnung schamrot in Stücken reiße -

Alles dies mag eintreffen, ich erwarte es; dann aber, wenn die Wirklichkeit meinem Traume auch nicht einmal ähnelt, wird mich die Wirklichkeit um so entzückender, um so majestätischer überraschen. Sollten meine Ideen wohl schöner sein als die Ideen des ewigen Schöpfers? Wie? Sollte der es wohl dulden, daß sein erhabenes Kunstwerk hinter den Erwartungen eines sterblichen Kenners zurückbliebe? -

Das eben ist die Feuerprobe seiner großen Vollendung und der süßeste Triumph für den höchsten Geist, daß auch Fehlschlüsse und Täuschung seiner Anerkennung nicht schaden, daß alle Schlangenkrümmungen der ausschweifenden Vernunft in die gerade Richtung der ewigen Wahrheit zuletzt einschlagen, zuletzt alle abtrünnige Arme ihres Stromes nach der nämlichen Mündung laufen. Raphael - welche Idee erweckt mir der Künstler, der, in tausend Kopien anders entstellt, in allen tausenden dennoch sich ähnlich bleibt, dem selbst die verwüstende Hand eines Stümpers die Anbetung nicht entziehen kann!

Übrigens könnte meine Darstellung durchaus verfehlt, durchaus unecht sein - noch mehr, ich bin überzeugt, daß sie es notwendig sein muß, und dennoch ist es möglich, daß alle Resultate daraus eintreffen. Unser ganzes Wissen läuft endlich, wie alle Weltweisen übereinkommen, auf eine konventionelle Täuschung hinaus, mit welcher jedoch die strengste Wahrheit bestehen kann. Unsre reinsten Begriffe sind keineswegs Bilder der Dinge, sondern bloß ihre notwendig bestimmte und koexistierende Zeichen. Weder Gott, noch die menschliche Seele, noch die Welt sind das wirklich, was wir davon halten.

Unsre Gedanken von diesen Dingen sind nur die endemische Formen, worin sie uns der Planet übe
rliefert, den wir bewohnen - unser Gehirne gehört diesem Planeten, folglich auch die Idiome unsrer Begriffe, die darinne aufbewahrt liegen. Aber die Kraft der Seele ist eigentümlich, notwendig und immer sich selbst gleich: das Willkürliche der Materialien, woran sie sich äußert, ändert nichts an den ewigen Gesetzen, wornach sie sich äußert, solang dieses Willkürliche mit sich selbst nicht im Widerspruch steht, solang das Zeichen dem Bezeichneten durchaus getreu bleibt. So, wie die Denkkraft die Verhältnisse der Idiome entwickelt, müssen diese Verhältnisse in den Sachen auch wirklich vorhanden sein. Wahrheit also ist keine Eigenschaft der Idiome, sondern der Schlüsse; nicht die Ähnlichkeit des Zeichens mit dem Bezeichneten, des Begriffs mit dem Gegenstand, sondern die Übereinstimmung dieses Begriffs mit den Gesetzen der Denkkraft.

Ebenso bedient sich die Größenlehre der Chiffern, die nirgends als auf dem Papiere vorhanden sind, und findet damit, was vorhanden ist in der wirklichen Welt. Was für eine Ähnlichkeit haben z.B. die Buchstaben A und B, die Zeichen : und =, + und - mit dem Faktum, das gewonnen werden soll? -

Und doch steigt der vor Jahrhunderten verkündigte Komet am entlegenen Himmel auf, doch tritt der erwartete Planet vor die Scheibe der Sonne. Auf die Unfehlbarkeit seines Kalkuls geht der Weltentdecker Kolumbus die bedenkliche Wette mit einem unbefahrenen Meere ein, die fehlende zwote Hälfte zu der bekannten Hemisphäre, die große Insel Atlantis zu suchen, welche die Lücke auf seiner geographischen Karte ausfüllen sollte. Er fand sie, diese Insel seines Papiers, und seine Rechnung war richtig. Wäre sie es etwa minder gewesen, wenn ein feindseliger Sturm seine Schiffe zerschmettert oder rückwärts nach ihrer Heimat getrieben hätte? - Einen ähnlichen Kalkül macht die menschliche Vernunft, wenn sie das Unsinnliche mit Hülfe des Sinnlichen ausmißt und die Mathematik ihrer Schlüsse auf die verborgene Physik des Übermenschlichen anwendet. Aber noch fehlt die letzte Probe zu ihren Rechnungen, denn kein Reisender kam aus jenem Lande zurück, seine Entdeckung zu erzählen.

Ihre eigne Schranken hat die menschliche Natur, seine eigne jedes Individuum. Über jene wollen wir uns wechselsweise trösten; diese wird Raphael dem Knabenalter seines Julius vergeben. Ich bin arm an Begriffen, ein Fremdling in manchen Kenntnissen, die man bei Untersuchungen dieser Art als unentbehrlich voraussetzt. Ich habe keine philosophische Schule gehört und wenig gedruckte Schriften gelesen. Es mag sein, daß ich dort und da meine Phantasien strengern Vernunftschlüssen unterschiebe, daß ich Wallungen meines Blutes, Ahndungen und Bedürfnisse meines Herzens für nüchterne Weisheit verkaufe, auch das, mein Guter, soll mich dennoch den verlorenen Augenblick nicht bereuen lassen. Es ist wirklicher Gewinn für die allgemeine Vollkommenheit, es war die Vorhersehung des weisesten Geistes, daß die verirrende Vernunft auch selbst das chaotische Land der Träume bevölkern und den kahlen Boden des Widerspruchs urbar machen sollte.

Nicht der mechanische Künstler nur, der den rohen Demant zum Brillanten schleift - auch der andre ist schätzbar, der gemeinere Steine bis zur scheinbaren Würde des Demants veredelt. Der Fleiß in den Formen kann zuweilen die massive Wahrheit des Stoffes vergessen lassen. Ist nicht jede Übung der Denkkraft, jede feine Schärfe des Geistes eine kleine Stufe zu seiner Vollkommenheit, und jede Vollkommenheit mußte Dasein erlangen in der vollständigen Welt. Die Wirklichkeit schränkt sich nicht auf das absolut Notwendige ein: sie umfaßt auch das bedingungsweise Notwendige; jede Geburt des Gehirnes, jedes Gewebe des Witzes hat ein unwidersprechliches Bürgerrecht in diesem größeren Sinne der Schöpfung. Im unendlichen Risse der Natur durfte keine Tätigkeit ausbleiben, zur allgemeinen Glückseligkeit kein Grad des Genusses fehlen.

Derjenige große Haushalter seiner Welt, der ungenützt keinen Splitter fallen, keine Lücke unbevölkert läßt, wo noch irgendein Lebensgenuß Raum hat, der mit dem Gifte, das den Menschen anfeindet, Nattern und Spinnen sättigt, der in das tote Gebiet der Verwesung noch Pflanzungen sendet, die kleine Blüte von Wollust, die im Wahnwitze sprossen kann, noch wirtschaftlich ausspendet, der Laster und Torheit zur Vortrefflichkeit noch endlich verarbeitet und die große Idee des weltbeherrschenden Roms aus der Lüsternheit des Tarquinius Sextus zu spinnen wußte -

Dieser erfinderische Geist sollte nicht auch den Irrtum zu seinen großen Zwecken verbrauchen und diese weitläufige Weltstrecke in der Seele des Menschen verwildert und freudeleer liegen lassen? Jede Fertigkeit der Vernunft, auch im Irrtum, vermehrt ihre Fertigkeit zu Empfängnis der Wahrheit.

Laß, teurer Freund meiner Seele, laß mich immerhin zu dem weitläuftigen Spinngewebe der menschlichen Weisheit auch das meinige tragen. Anders malt sich das Sonnenbild in den Tautropfen des Morgens, anders im majestätischen Spiegel des erdumgürtenden Ozeans! Schande aber dem trüben, wolkigten Sumpfe, der es niemals empfängt und niemals zurückgibt. Millionen Gewächse trinken von den vier Elementen der Natur. Eine Vorratskammer steht offen für alle; aber sie mischen ihren Saft millionenfach anders, geben ihn millionenfach anders wieder; die schöne Mannigfaltigkeit verkündigt einen reichen Herrn dieses Hauses.

Vier Elemente sind es, woraus alle Geister schöpfen: ihr Ich, die Natur, Gott und die Zukunft.
Alle mischen sie millionenfach anders, geben sie millionenfach anders wieder; aber eine Wahrheit ist es, die, gleich einer festen Achse, gemeinschaftlich durch alle Religionen und alle Systeme geht - »Nähert euch dem Geist, den ihr meinet!«
Cotta’scher Verlag 1856, Schillers sämtliche Werke in zwölf Bänden. Zehnter Band, Philosophische Briefe, S.288-291

Allgemeine Schriften
Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen
§ 1. Einleitung
Schon mehrere Philosophen haben behauptet, dass der Körper gleichsam der Kerker des Geistes sei, dass er solchen allzusehr an das Irdische hefte, und seinen sogenannten Flug zur Vollkommenheit hemme. Wiederum ist von manchen Philosophen mehr oder weniger bestimmt die Meinung gehegt worden, dass Wissenschaft und Tugend nicht sowohl Zweck, als Mittel zur Glückseligkeit seien, dass sich alle Vollkommenheit des Menschen in der Verbesserung seines Körpers versammle.

Mich däucht, es ist dies von beiden Teilen gleich einseitig gesagt. Letzteres System wird beinahe völlig aus unseren Moralen und Philosophien verwiesen sein, und ist, scheint es mir, nicht selten mit fanatischem Eifer verworfen worden, - es ist gewiss der Wahrheit nichts so gefährlich, als wenn einseitige Widerleger finden; - - das erstere ist wohl im Ganzen am mehrsten geduldet worden, indem es am fähigsten ist, das Herz zur Tugend zu erwärmen und seinen Wert an wahrhaftig großen Seelen schon gerechtfertigt hat. Wer bewundert nicht den Starksinn eines Cato, die hohe Tugend eines Brutus und Aurels, den Gleichmut eines Epiktets und Seneca.

Aber dessen ungeachtet ist es doch nichts mehr als eine schöne Verirrung des Verstandes, ein wirkliches Extremum, das den Teil des Menschen allzu enthuastisch herabwürdigt, und uns in den Rang idealistischer Wesen erheben will, ohne uns zugleich unserer Menschlichkeit zu entladen; ein System, dass Allem, was wir von der Evolution des einzelnen Menschen und des gesamten Geschlechts historisch wissen und philosophisch erklären können, schnurgerade zuwiderläuft und sich durchaus nicht mit der Eingeschränktheit der menschlichen Seele verträgt. Es ist demnach hier, wie überall, am ratsamsten, das Gleichgewicht zwischen beiden Lehrmeinungen zu halten, um die Mittellinie der Wahrheit desto gewisser zu treffen. Da aber gewöhnlicher Weise mehr darin gefehlt worden ist, dass man zu viel auf die eigene Rechnung der Geisteskraft, insofern sie außer Abhängigkeit von dem Körper gedacht wird, mit Hintansetzung dieses letzteren geschrieben hat, so wird sich gegenwärtiger Versuch mehr damit beschäftigen, den merkwürdigen Beitrag des Körpers zu den Aktionen der Seele, den großen und reellen Einfluss des tierischen Empfindungssystems auf das Geistige in ein helleres Licht zu setzen. Aber darum ist das noch gar nicht die Philosophie des Epikurus, so wenig es Stoizismus ist, die Tugend für das höchste Gut zu halten.

Ehe wir die höheren moralischen Zwecke, die mit Beihilfe der tierischen Natur erreicht werden, zu erforschen suchen, müssen wir zuerst ihre physische Notwendigkeit festsetzen und in einigen Grundbegriffen einig werden. Darum der erste Gesichtspunkt, aus welchem wir den Zusammenhang der beiden Naturen betrachten.

Physischer Zusammenhang.
Tierische Natur befestigt die Tätigkeit des Geists.
§. 2. Organismus der Seelenwirkung – der Ernährung – der Zeugung.
Alle Anstalten, die wir in der sittlichen und körperlichen Welt zur Vollkommenheit des Menschen gewahrnehmen, scheinen sich zuletzt in den Elementarsatz zu vereinigen: Vollkommenheit des Menschen liegt in der Übung seiner Kräfte durch Betrachtung des Weltplans; und da zwischen dem Maße der Kraft und dem Zweck, auf den sie wirkt, die genaueste Harmonie sein muss, so wird Vollkommenheit in der höchstmöglichsten Tätigkeit seiner Kräfte und ihrer wechselseitigen Unterordnung bestehen. Aber die Tätigkeit der menschlichen Seele ist – aus einer Notwendigkeit, die ich noch nicht erkenne, und auf eine Art, die ich noch nicht begreife – an die Tätigkeit der Materie gebunden. Die Veränderungen in der Körperwelt müssen durch eine eigene Klasse mittlerer organischer Kräfte, die Sinne, modifiziert und so zu sagen verfeinert werden, ehe sie vermögend sind, in mir eine Vorstellung zu erwecken; so müssen wiederum andere organische Kräfte, die Maschinen der willkürlichen Bewegung, zwischen Seele und Welt treten, um die Veränderung der ersteren auf die letztere fortzupflanzen; so müssen endlich selbst die Operationen des Denkens und Empfindens gewissen Bewegungen des innern Sensoriums korrespondieren. Alles dieses macht den Organismus der Seelenwirkungen aus.

Aber die Materie ist ein Raub des ewigen Wechsels und reibt sich selbst auf, so wie sie wirket, unter der Bewegung wird das Element aus seinen Fugen getrieben, verjagt und verloren. Weil nun im Gegenteil das einfache Wesen, die Seele, Dauer und Bestandheit in sich selber hat und in ihrem Wesen weder gewinnet noch verlieret, so kann die Materie nicht gleichen Schritt mit der Geistestätigkeit halten, und bald würde also der Organismus des geistigen Lebens, mit ihm alle Wirksamkeit der Seele dahin sein. Dies nun zu verhüten, mußte ein neues System organischer Kräfte zu dem ersten gleichsam angereiht werden, das seine Konsumtionen ersetzt und seinen sinkenden Flor durch eine stetig an einander hangende Kette neuer Schöpfungen erhält. Dies ist der Organismus der Ernährung.

Noch mehr. Nach einem kurzen Zeitraum von Wirkung, nach dem aufgehobenen Gleichgewicht zwischen Verlust und Erneuerung tritt der Mensch von der Bühne des Lebens, und das Gesetz der Sterblichkeit entvölkert die Erde. Auch hat die Anzahl empfindender Wesen, die die ewige Liebe und Weisheit in ein glückliches Dasein wollte gerufen haben, nicht Raum genug, in den engen Grenzen dieser Welt zumal zu existieren, und das Leben dieser Generation schließt das Leben einer andern aus. Darum ward es notwendig, daß neue Menschen an die Stelle der weggeschiedenen alten treten und das Leben durch ununterbrochene Sukzessionen erhalten würde. Aber geschaffen wird nichts mehr, und was nun Neues wird, wird es nur durch Entwicklung. Die Entwicklung des Menschen musste durch Menschen geschehen, wenn sie mit der Konsumtion im Verhältnis stehen, wenn der Mensch zum Menschen gebildet werden sollte. Aus diesem Grund wurde ein neues System organischer Kräfte den zwei vorhergehenden zugeordnet, das die Belebung und Entwicklung des Menschenkeims zur Absicht hatte. Dies ist der Organismus der Zeugung. Diese drei Organismen, in den genaueren Lokal- und Realzusammenhang gebracht, bilden den menschlichen Körper.

§. 3. Der Körper.
Die organischen Kräfte des menschlichen Körpers teilen sich von selbst in zwei Hauptklassen: die erste enthält diejenigen, die wir nach keinen bekannten Gesetzen und Phänomenen der physischen Welt begreifen können, und dahin gehören die Empfindlichkeit der Nerven und die Reizbarkeit des Muskels. Da es bisher unmöglich war, in die Ökonomie des Unsichtbaren einzudringen, so hat man die unbekannte Mechanik durch die bekannte zu erklären gesucht und den Nerven als einen Kanal betrachtet, der ein äußerst feines, flüchtiges und wirksames Fluidum führet, das an Geschwindigkeit und Feinheit Äther und elektrische Materie übertreffen soll, und hat dieses als das Prinzipium der Empfindlichkeit und Beweglichkeit angesehen und ihm daher den Namen der Lebensgeister gegeben. So hat man ferner die Reizbarkeit der Muskelfaser in einen gewissen Nisum gesetzt, sich auf Veranlassung eines fremden Reizes zu verkürzen und beide Endpunkte näher zu bringen. Diese zweierlei Prinzipien machen den spezifischen Charakter des tierischen Organismus.

Die zweite Klasse begreift diejenigen, die wir den allgemeinen bekannten Gesetzen der Physik unterordnen können. Hierher rechne ich die Mechanik der Bewegung und die Chemie des menschlichen Körpers, woraus das vegetabilische Leben erwächst. Vegetation also und tierische Mechanik, auf das genaueste vermischt, bilden eigentlich das physische Leben des menschlichen Körpers.

§. 4. Tierisches Leben.
Noch ist das nicht alles. Da der Verlust mehr oder weniger in der Willkür des Geistes liegt, so mußte es auch notwendig der Ersatz sein. Ferner, da der Körper allen Folgen der Zusammensetzung unterworfen und im Kreis der um ihn wirkenden Dinge unzähligen feindlichen Wirkungen bloßgestellt ist, so musste es in der Gewalt der Seele stehen, ihn wider den schädlichen Einfluss dieser letzteren zu beschützen und ihn mit der physischen Welt in diejenigen Verhältnisse zu bringen, die seiner Fortdauer am zuträglichsten sind; sie musste daher von dem gegenwärtigen schlimmen oder guten Zustand ihrer Organe unterrichtet werden; sie mußte aus seinem schlimmen Zustand Missvergnügen, aus seinem Wohlstand Vergnügen schöpfen, um ihn entweder zu verlängern oder zu entfernen, zu suchen oder zu fliehen. Hier also wird schon der Organismus an das Empfindungsvermögen gleichsam angeknüpft und die Seele in das Interesse ihres Körpers gezogen. Jetzt ist es etwas mehr als Vegetation, etwas mehr als toter Model und Nerven- und Muskel-Mechanik, jetzt ist es tierisches Leben.
Aber auch etwas mehr als tierisches Leben des Tiers. Das Tier lebt das tierische Leben, um angenehm zu empfinden. Es empfindet angenehm, um das tierische Leben zu erhalten. Also es lebt jetzt, um morgen wieder zu leben. Es ist jetzt glücklich, um morgen glücklich zu sein. Aber ein einfaches, ein unsicheres Glück, das die Perioden des Organismus nachmacht, das dem Zufall, dem blinden Ohngefähr preisgegeben ist, weil es nur allein in der Empfindung beruht. Der Mensch lebt auch das tierische Leben und empfindet seine Vergnügungen und leidet seine Schmerzen. Aber warum? Er empfindet und leidet, dass er sein tierisches Leben erhalte. Er erhält sein tierisches Leben, um ein geistiges länger leben zu können. Hier ist also Mittel verschieden vom Zweck, dort schienen Mittel und Zweck zu koinzidieren. Dies ist eine von den Grenzscheiden zwischen Mensch und Tier.

Der Flor des tierischen Lebens ist, wie wir wissen, für den Flor der Seelenwirkungen äußerst wichtig und darf ohne die Totalaufhebung dieser letztern niemals aufgehoben werden. Er muss also einen festen Grund haben, der ihm nicht so leicht schwanke, das heißt, die Seele muß durch eine unwiderstehliche Macht zu den Handlungen des physischen Lebens bestimmt werden. Konnten also wohl die Empfindungen des tierischen Wohl- oder Übelstands geistige Empfindungen sein und durch das Denken erzeugt werden? Wie oft würde sie das überwaltende Licht der Leidenschaften verdunkeln, wie oft Trägheit oder Dummheit begraben, wie oft Geschäftigkeit und Zerstreuung übersehen? Ferner, würde nicht von dem Tiermenschen die vollkommenste Kenntnis seiner Ökonomie gefordert, müsste das Kind nicht in demjenigen Meister sein, in dem unsere Harvey, Boerhave und Haller nach einer fünfzigjährigen Untersuchung noch Anfänger geblieben sind? – Die Seele konnte also schlechterdings keine Idee von dem Zustand haben, den sie verändern soll. Wie wird sie ihn erfahren, wie wird sie in Tätigkeit kommen?

§. 5. Tierische Empfindungen.
Noch kennen wir keine andern Empfindungen als solche, die aus einer vorgängigen Operation des Verstandes entspringen; aber jetzt sollen Empfindungen entstehen, bei denen der Verstand ganz exulieren [verbannt sein] muss. Diese Empfindungen sollen die gegenwärtige Beschaffenheit meiner Werkzeuge wo nicht ausdrücken, doch gleichsam spezifisch bezeichnen, oder besser, begleiten. Diese Empfindungen sollen den Willen rasch und lebhaft zu Abscheu oder Begierde bestimmen, diese Empfindungen sollen aber doch nur auf der Oberfläche der Seele schweben und niemals in das Gebiet der Vernunft reichen. Was also bei der geistigen Empfindung das Denken getan hat, das tut hier diejenige Modifikation in den tierischen Teilen, die entweder ihre Auflösung droht oder ihre Fortdauer sichert, das heißt, mit demjenigen Zustand der Maschine, der ihren Flor befestiget, ist eine angenehme, und im Gegenteil mit demjenigen, der ihren Wohlstand untergräbt und ihren Ruin beschleunigt, eine schmerzhafte Rührung der Seele durch ein ewiges Gesetz der Weisheit verbunden, und so, daß die Empfindung selbst nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Beschaffenheit der Organe hat, die sie bezeichnet. So entstehen tierische Empfindungen. Tierische Empfindungen haben demnach einen zweifachen Grund,

1) in dem gegenwärtigen Zustand der Maschine,

2) im Empfindungsvermögen.

Nun lässt sich begreifen, warum die tierischen Empfindungen mit unwiderstehlicher und gleichsam tyrannischer Macht die Seele zu Leidenschaften und Handlungen fortreißen und über die geistigsten selbst nicht selten die Oberhand bekommen. Diese nämlich hat sie vermittelst des Denkens hervorgebracht, diese also kann sie wiederum durch das Denken auflösen und gar vernichten. Dies ist die Gewalt der Abstraktion und überhaupt der Philosophie über die Leidenschaften, über die Meinungen, kurz über alle Situationen des Lebens, jene aber sind ihr durch eine blinde Notwendigkeit, durch das Gesetz des Mechanismus aufgedrungen worden; der Verstand, der sie nicht schuf, kann sie auch nicht auflösen, ob er dieselben schon durch eine entgegengesetzte Richtung der Aufmerksamkeit um vieles schwächen und verdunkeln kann.

Der hartnäckigste Stoiker, der am Steinschmerzen danieder liegt, wird sich niemals rühmen können, keinen Schmerz empfunden zu haben; aber er wird, in Betrachtungen über seine Endursachen verloren, die Empfindungskraft teilen, und das überwiegende Vergnügen der großen Vollkommenheit, die auch den Schmerz der allgemeinen Glückseligkeit unterordnet, wird über die Unlust siegen. Nicht Mangel der Empfindung war es, nicht Vernichtung derselben, daß Mucius, die Hand in lohen Flammen bratend, den Feind mit dem römischen Blick der stolzen Ruhe anstarren konnte, sondern der Gedanke des großen ihn bewundernden Roms, der in seiner Seele herrschte, hielt sie gleichsam innerhalb ihrer selbst gefangen, daß der heftige Reiz des tierischen Übels zu wenig war, sie aus dem Gleichgewicht zu heben. Aber darum war der Schmerz des Römers nicht geringer als der des weichsten Wollüstlings. Freilich wohl wird derjenige, der gewohnt ist, in einem Zustand dunkler Ideen zu existieren, weniger fähig sein, sich in dem kritischen Augenblick des sinnlichen Schmerzens zu ermannen, als der, der beständig in hellen deutlichen Ideen lebt; aber dennoch schützt weder die höchste Tugend, noch die tiefste Philosophie, noch selbst die göttliche Religion vor dem Gesetz der Notwendigkeit, ob sie schon ihre Anbeter auf dem einstürzenden Holzstoß beseligen kann.

Eben diese Macht der tierischen Fühlungen auf die Empfindungskraft der Seele hat die weiseste Absicht zum Grunde. Der Geist, wenn er einmal in den Geheimnissen einer höhern Wollust eingeweiht worden ist, würde mit Verachtung auf die Bewegungen seines Gefährten herabsehen und den niedrigen Bedürfnissen des physischen Lebens nicht leicht mehr opfern wollen, wenn ihn nicht das tierische Gefühl dazu zwänge. Den Mathematiker, der in den Regionen des Unendlichen schweifte und in der Abstraktionswelt die wirkliche verträumte, jagt der Hunger aus seinem intellektuellen Schlummer empor; den Physiker, der die Mechanik des Sonnensystems zergliedert und den irrenden Planeten durchs Unermessliche begleitet, reißt ein Nadelstich zu seiner mütterlichen Erde zurück; den Philosophen, der die Natur der Gottheit entfaltet und wähnt, die Schranken der Sterblichkeit durchbrochen zu haben, kehrt ein kalter Nordwind, der durch seine baufällige Hütte streicht, zu sich selbst zurück und lehrt ihn, dass er das unselige Mittelding von Vieh und Engel ist.

Wider die überhandnehmenden tierischen Fühlungen vermag endlich die höchste Anstrengung des Geistes nichts mehr, die Vernunft wird, so wie sie wachsen, mehr und mehr übertäubt und die Seele gewaltsam an den Organismus gefesselt. Hunger und Durst zu löschen, wird der Mensch Taten tun, worüber die Menschlichkeit schauert, er wird wider Willen Verräter und Mörder, er wird Kannibal –

»Tiger! In deiner Mutter Busen wolltest du deine Zähne setzen?«

So heftig wirkt die tierische Fühlung auf den Geist. So wachsam hat der Schöpfer für die Erhaltung der Maschine gesorgt; die Pfeiler, auf denen sie ruht, sind die festesten, und die Erfahrung hat gelehrt, dass mehr das Übermaß, als der Mangel der tierischen Empfindung verdorben hat.

Tierische Empfindungen befestigen also den Wohlstand der tierischen Natur, so wie die moralischen und intellektuellen den Wohlstand der geistigen oder die Vollkommenheit. Das System tierischer Empfindungen und Bewegungen erschöpft den Begriff der tierischen Natur. Diese ist der Grund, aus dem die Beschaffenheit der Seelenwerkzeuge beruht, und die Beschaffenheit dieser letztern bestimmt die Leichtigkeit und Fortdauer der Seelentätigkeit selbst. Hier also ist schon das erste Glied des Zusammenhangs der beiden Naturen.

§. 6. Einwürfe wider den Zusammenhang der beiden Naturen aus der Moral.
Aber man wird dieses einräumen und weiter sagen: hier endet sich auch die Bestimmung des Körpers. Über diese hinaus ist er ein träger Gefährte der Seele, mit dem sie ewig zu kämpfen hat, dessen Bedürfnisse ihr alle Muße zum Denken rauben, dessen Anfechtungen den Faden der vertieftesten Spekulation zerreißen und den Geist von seinen deutlichsten und hellesten Begriffen in sinnliche Verworrenheit stürzen; dessen Lüste den größten Teil unserer Mitgeschöpfe von ihrem hohen Urbild entfernen und in die Klasse der Tiere erniedern, kurz, der sie in eine Sklaverei verstrickt, woraus der Tod sie endlich befreien muss. Ist es nicht widersinnig und ungerecht, dürfte man fortfahren zu klagen, das einfache, notwendige, für sich Bestand habende Wesen mit einem andern Wesen zu verwickeln, das, in ewigem Wirbel umhergerollt, jedem Ungefähr preisgegeben, jeder Notwendigkeit zum Opfer wird? – Vielleicht sehen wir bei kälterem Nachdenken aus dieser anscheinenden Verwirrung und Planlosigkeit eine große Schönheit hervorgehen.

Philosophischer Zusammenhang.
Tierische Triebe wecken und entwickeln die geistigen.
§. 7. Methode.
Die sicherste Methode, einiges Licht auf diese Materie zu werfen, mag vielleicht folgende sein: man denkt sich vom Menschen alles weg, was Organisation heißt, das ist, man trennt den Körper vom Geist, ohne ihm jedoch die Möglichkeit, zu Vorstellungen zu gelangen und Handlungen in der Körperwelt hervorzubringen, abzuschneiden, und untersucht dann, wie er in Wirkung gekommen, wie er seine Kräfte entwickelt, was für Schritte er wohl zu seiner Vollkommenheit würde getan haben; das Resultat dieser Untersuchung muß durch Fakta bestätigt werden. Man übersieht also die wirkliche Bildung des einzelnen Menschen und wirft einen Blick über die Entwicklung des gesamten Geschlechts. Zuerst also den abstrakten Fall: es ist Vorstellungskraft und Wille da, es ist Kreis der Wirkung da und freier Übergang von Seele zu Welt, von Welt zu Seele. Fragt sich nun, wie wird er wirken?

§. 8. Die Seele außer Verbindung mit dem Körper.
Wir können keinen Begriff setzen, ohne einen vorhergehenden Willen, ihn zu machen; keinen Willen, ohne die Erfahrung unsers durch diese Handlung verbesserten Zustands, ohne Empfindung. Keine Empfindung ohne vorhergehende Idee (denn wir schlossen ja zugleich mit dem Körper auch die körperlichen Empfindungen aus), also keine Idee ohne Idee.

Nun betrachte man das Kind, das hieße nach der Voraussetzung einen Geist, der die Fähigkeit, Ideen zu formieren, in sich begreift, aber diese Fähigkeit jetzt zum ersten Mal in Übung bringen soll. Was wird ihn zum Denken bestimmen, wenn es nicht die daraus entspringende angenehme Empfindung ist, was kann ihm die Erfahrung dieser angenehmen Empfindung verschafft haben? Wir sahen ja eben, daß dies wieder nichts als Denken sein konnte, und er soll nun zum ersten Mal denken. Ferner, was kann ihn zur Betrachtung der Welt einladen? nichts anderes als die Erfahrung ihrer Vollkommenheit, insofern sie seinen Trieb zur Aktivität befriedigt und diese Befriedigung ihm Vergnügen gewährt; was kann ihn zu Übung seiner Kräfte determinieren? nichts als die Erfahrung ihres Daseins, aber alle diese Erfahrungen soll er ja zum ersten Mal machen. – Er müsste also von Ewigkeit her tätig gewesen sein, und dieses ist wider den angenommenen Fall, oder er wird ewig niemals in Tätigkeit kommen, gleichwie die Maschine ohne den Stoß von außen träg und ruhig bleibt.

§. 9. In Verbindung.
Jetzt setze man zu dem Geiste das Tier. Man verflechte diese beiden Naturen so innig, als sie wirklich verflochten sind, und lasse ein unbekanntes Etwas, aus der Ökonomie des tierischen Leibes geboren, die Empfindungskraft anfallen, – man versetze die Seele in den Zustand des physischen Schmerzens. Das war der erste Stoß, der erste Lichtstrahl in die Schlummernacht der Kräfte, tönender Goldklang auf die Laute der Natur. Jetzt ist Empfindung da, und Empfindung war es ja auch nur allein, was wir vorhin vermissten. Diese Art von Empfindung scheint mit Absicht recht dazu gemacht zu sein, alle jene Schwierigkeiten zu heben. Dort konnten wir keine herausbringen, weil wir keine Idee voraussetzen durften; hier vertritt die Modifikation in dem körperlichen Werkzeug die Stelle der Ideen, und so hilft tierische Empfindung das innere Uhrwerk des Geists, wenn ich so sagen darf, in den Gang bringen. Der Übergang von Schmerz zu Abscheu ist Grundgesetz der Seele. Der Wille ist tätig, und die Tätigkeit einer einzigen Kraft ist hinlänglich, alle übrigen in Wirkung zu setzen. Die nachfolgenden Operationen entwickeln sich von selbst und gehören auch nicht in dieses Kapitel.

§. 10. Aus der Geschichte des Individuums.
Nun verfolge man das Seelenwachstum des einzelnen Menschen in Beziehung auf den zu erweisenden Satz, und gebe Acht, wie sich alle seine Geistesfähigkeiten aus sinnlichen Trieben entwickeln.

a. Das Kind. Noch ganz Tier, oder besser: mehr oder auch weniger als Tier; menschliches Tier. (Denn dasjenige Wesen, das einmal Mensch heißen sollte, darf niemals nur Tier gewesen sein.) Elender als ein Tier, weil es auch nicht einmal Instinkt hat. Die Tiermutter darf ihr Junges eher verlassen, als die Mutter ihr Kind. Der Schmerz mag ihm wohl Geschrei auspressen, aber er wird es niemals auf die Quelle desselben aufmerksam machen. Die Milch mag ihm wohl Vergnügen gewähren, aber sie wird niemals von ihm gesucht werden. Es ist ganz leidend –

» Sein Denken steigt nur noch bis zum Empfinden,
Sein ganzes Kenntnis, ist Schmerz, Hunger und die Binden.«


b. Der Knabe.
Hier ist schon Reflexion, aber immer nur in Bezug auf Stillung tierischer Triebe. »Er lernt,« wie Garve sagt, »die Dinge anderer Menschen und seine Handlungen gegen sie erstlich dadurch schätzen, weil sie ihm (sinnliches) Vergnügen gewähren.« Liebe zur Arbeit, Liebe zu den Eltern, zu Freunden, ja selbst Liebe zur Gottheit geht durch den Weg der Sinnlichkeit in seine Seele. »Die allein ist die Sonne,« wie Garve an einem andern Orte anmerkt, »die durch sich selbst leuchtet und wärmt, alle übrigen Gegenstände sind dunkel und kalt; aber sie können auch erleuchtet und erwärmt werden, wenn sie mit ihr in eine solche Verbindung treten, daß sie die Strahlen derselben bekommen können.« Die Güter des Geists erhalten beim Knaben nur durch Übertragung einigen Werth, sie sind geistiges Mittel zu tierischem Zweck.

c. Jüngling und Mann.
Oftmalige Wiederholung dieser Schlüsse macht sie nach und nach zur Fertigkeit, und Übertragung will in dem Mittel selbst Schönheit gefunden haben. Er wird gerner darauf verweilen, ohne zu wissen warum? Er wird unvermerkt hingezogen werden, darüber zu denken. Jetzt können schon die Strahlen der geistigen Schönheit selbst seine offene Seele rühren; das Gefühl seiner Kraftäußerung ergötzt ihn und flößt ihm Neigung zu dem Gegenstand ein, der bisher nur Mittel war; der erste Zweck ist vergessen. Aufklärung und Ideenbereicherung decken ihm zuletzt die ganze Würde geistiger Vergnügungen auf – das Mittel ist höchster Zweck worden.

Dies lehrt mehr oder weniger die Individualgeschichte jedes Menschen, der nur einige Bildung hat, und einen bessern Weg konnte wohl die Weisheit nicht wählen, den Menschen zu führen; wird nicht auch jetzt noch der Pöbel gegängelt wie unser Knabe? Und hat uns nicht der Prophet aus Medina ein auffallend deutliches Beispiel zurückgelassen, wie man den rohen Sinn der Sarazenen im Zügel halten sollte?

(Hierüber kann nichts Vortrefflicheres gesagt werden, als was Garve in seinen Anmerkungen zu dem Kapitel über die natürlichen Triebe in Fergusons Moralphilosophie auf folgende Art entwickelt hat: »Der Trieb der Erhaltung und der Reiz der sinnlichen Lust setzt zuerst den Menschen wie das Tier in Tätigkeit; er lernt die Dinge andrer Menschen und seine Handlungen gegen sie erstlich dadurch schätzen, weil sie ihm Vergnügen verschaffen. So wie sich die Anzahl der Dinge erweitert, deren Wirkungen er erfährt, so breiten sich seine Begierden aus; so wie sich der Weg verlängert, auf welchem er zu diesen Wirkungen gelangt, so werden seine Begierden künstlicher. Hier ist die erste Grenzscheidung zwischen Mensch und Tier, und hier findet sich selbst ein Unterschied zwischen einer Tierart und der andern. Bei wenig Tieren folgt die Handlung des Fressens unmittelbar auf die Begierde des Hungers; die Hitze der Jagd oder der Fleiß des Sammelns geht vorher. Aber bei keinem Tiere erfolgt die Befriedigung der Begierde so spät auf die Anstalten, die es zu diesem Ende macht, als bei dem Menschen; bei keinem wird die Bestrebung des Tiers durch eine so lange Kette von Mitteln und Absichten fortgeführt, ehe sie bis an dieses letzte Glied gelangt. Wie weit sind die Arbeiten des Handwerksmannes oder des Ackerbauers, wenn sie gleich alle auf nichts weiter abzielen, als ihm Brot oder ein Kleid zu verschaffen, doch von diesem Ziele entfernt? Aber das ist noch nicht alles. Wenn die Mittel der Erhaltung für den Menschen, durch Errichtung der Gesellschaft, reichlicher werden; wenn er Überfluss für sich findet, zu dessen Herbeischaffung er nicht seine ganze Zeit und Kräfte braucht; wenn er zugleich durch die Mitteilung der Ideen aufgeklärt wird: dann fängt er an, einen Endzweck seiner Handlung in sich selbst zu finden; dann bemerkt er, daß, wenn er auch völlig satt, bekleidet, unter einem guten Dach, mit allem Hausgeräte versehen ist, doch noch für ihn etwas zu tun übrig bleibe. – Er geht noch einen Schritt weiter; er wird gewahr, dass in diesen Handlungen selbst, wodurch der Mensch sich Nahrung und Bequemlichkeit verschafft hat, insofern sie aus gewissen Kräften eines Geistes entstehen, insofern sie diese Kräfte üben, ein höheres Gut liege, als in den äußeren Endzwecken selbst, die durch sie erreicht werden. Von diesem Augenblick an arbeitet er zwar in Gesellschaft mit dem übrigen menschlichen Geschlecht und mit dem Reich aller lebendigen Wesen dazu, sich zu erhalten und sich und seinen Freunden die Hilfsmittel des physischen Lebens zu verschaffen; – denn was wollte er anders tun? welche andere Sphäre von Tätigkeit könnte er sich schaffen, wenn er aus dieser herausginge? Aber er weiß nun, daß die Natur nicht sowohl diese vielen Triebe im Menschen erweckt hat, um ihm jene Bequemlichkeiten zu gewähren, als ihm vielmehr den Reiz jener Vergnügen und Vorteile aufstelle, um diese Triebe in Bewegung zu setzen; um einem denkenden Wesen Materie zu Vorstellungen, einem empfindlichen Geiste Stoff zu Empfindungen, einem wohlwollenden Geiste Mittel der Guttätigkeit, einem tätigen Gelegenheit zu Beschäftigungen zu geben. – Dann nimmt jede Sache, leblose und lebendige, eine andere Gestalt für ihn an. Die Gegenstände und Verändernden wurden zuerst von ihm nur angesehen, insofern sie ihm nur Vergnügen oder Verdruss machen; jetzt, insofern sie Handlungen und Äußerungen seiner Vollkommenheit veranlassen. In jener Betrachtung sind die Vorfälle bald gut, bald böse; in dieser sind sie alle auf gleiche Weise gut. Denn es ist keiner, wo nicht die Ausübung einer Tugend oder die Beschäftigung einer besonderen Fähigkeit möglich wäre. – Zuerst liebte er die Menschen, weil er glaubte, daß sie ihm nutzen können; jetzt liebt er sie noch mehr, weil er das Wohlwollen für den Zustand eines vollkommenen Geistes hält.«)

§. 11. Aus der Geschichte des Menschengeschlechts.
Nun noch ein gewagterer Blick über die Universalgeschichte des ganzen menschlichen Geschlechts – von seiner Wiege an bis zu seinem männlichen Alter – und die Wahrheit des bisher Gesagten wird in ihrem vollesten Lichte stehen.

Hunger und Blöße haben den Menschen zuerst zum Jäger, Fischer, Viehhirten, Ackermann und Baumeister gemacht. Wollust stiftete Familien, und Wehrlosigkeit der Einzelnen zog Horden zusammen. Hier schon die ersten Wurzeln der geselligen Pflichten. Bald mußte der anwachsenden Menschenmenge der Acker zu arm werden, der Hunger zerstreute sie in ferne Klimate und Lande, die dem forschenden Bedürfnis ihre Produkte enthüllten und sie neue Raffinements, sie zu bearbeiten und ihrem schädlichen Einfluss zu begegnen, lehrten. Diese einzelnen Erfahrungen gingen durch Tradition vom Großvater zum Urenkel über und wurden erweitert. Man lernte die Kräfte der Natur wider sie selbst benutzen, man brachte sie in neue Verhältnisse und erfand – hier schon die ersten Wurzeln der einfachen und heilsamen Künste. Zwar immer nur Kunst und Erfindung für das Wohl des Tieres, aber doch Übung der Kraft, doch Gewinn an Kenntnis, und – an eben dem Feuer, woran der rohe Naturmensch seine Fische bratete, spähte nachher Boerhave in die Mischungen der Körper; aus eben dem Messer, mit dem der Wilde sein Wildbret zerlegte, erfand Lionet dasjenige, womit er die Nerven der Insekten aufdeckte; mit eben dem Zirkel, mit dem man anfangs nur Hufen maß, misst Newton Himmel und Erde. So zwang der Körper den Geist, auf die Erscheinungen um ihn her zu achten, so machte er ihm die Welt interessant und wichtig, weil er sie ihm unentbehrlich machte. Der Drang einer innern tätigen Natur, verbunden mit der Dürftigkeit der mütterlichen Gegend, lehrte unsere Stammväter kühner denken und erfand ihnen ein Haus, worin sie im Geleit der Gestirne auf Flüssen und Ozeanen sicher dahinglitten und neuen Zonen entgegenschifften. –

Fluctibus ignotis insultavere carinae.

Hier wiederum neue Produkte, neue Gefahren, neue Bedürfnisse, Anstrengungen des Geistes. Die Kollision der tierischen Triebe stößt Horden wider Horden, schmiedet das rohe Erz zum Schwert, zeugt Abenteurer, Helden und Despoten. Städte werden befestiget, Staaten errichtet, mit den Staaten entstehen bürgerliche Pflichten und Rechte, Künste, Ziffern, Gesetzbücher, schlaue Priester – und Götter.

Und nun die Bedürfnisse ausgeartet in Luxus – welch unermessliches Feld eröffnet sich unserm Auge! Jetzt werden die Adern der Erde durchwühlt, jetzt wird der Grund des Meeres betreten, Handel und Wandel blühen –

Latet sub classibus aequor.

Der Ost wird in West, der West in Ost bewundert, die Geburten des Auslands gewöhnen sich unter künstlichen Himmeln, und die Gartenkunst bringt die Produkte von drei Weltteilen in Einem Garten zusammen. Künstler lernen der Natur ihre Werke ab, Töne schmelzen die Wilden, Schönheit und Harmonie veredeln Sitten und Geschmack, und die Kunst geleitet zu Wissenschaft und Tugend hinüber. »Der Mensch,« sagt Schlözer, »dieser mächtige Untergott, räumt Felsen aus der Bahn, gräbt Seen ab und pflüget, wo man sonsten schiffte. Durch Kanäle trennt er Weltteile und Provinzen von einander, leitet Ströme zusammen und führt sie in Sandwüsten hin, die er dadurch in lachende Fluren verwandelt; er plündert dreien Weltteilen ihre Produkte ab und versetzt sie in den vierten. Selbst Klima, Luft und Witterung gehorchen seiner Macht. Indem er Wälder ausreutet und Sümpfe austrocknet, so wird ein heiterer Himmel über ihm, Nässe und Nebel verlieren sich, die Winter werden sanfter und kürzer, die Flüsse frieren nicht mehr zu.« – Und der Geist verfeinert sich mit dem seinem Klima.

Der Staat beschäftiget den Bürger für die Bedürfnisse und Bequemlichkeiten des Lebens. Arbeitsamkeit gibt dem Staat Sicherheit und Ruhe von außen und innen, die dem Denker und Künstler jene fruchtbare Muße gewährt, wodurch das Zeitalter des Augusts zum goldenen Alter geworden. Jetzt nehmen die Künste einen kühneren ungehinderten Schwung, jetzt gewinnen die Wissenschaften ein reines geläutertes Licht, Naturgeschichte und Physik stürzen den Aberglauben, die Geschichte reicht den Spiegel der Vorwelt, und die Philosophie lacht über die Torheit der Menschen. Wie aber nun der Luxus, in Weichlichkeit und Schwelgerei ausgeartet, in den Gebeinen der Menschen zu toben anfängt und Seuchen ausbrütet und die Atmosphäre verpestet, da eilt der bedrängte Mensch von einem Reich der Natur zum andern, die lindernden Mittel auszuspähen, da findet er die göttliche Rinde der China, da gräbt er aus den Eingeweiden der Berge den mächtig wirkenden Merkur und presst den kostbaren Saft aus dem orientalischen Mohn. Die verhohlensten Winkel der Natur werden durchsucht, die Scheidekunst zertrümmert die Produkte in ihre letzten Elemente und schafft sich eigene Welten, Goldmacher bereichern die Naturgeschichte, der mikroskopische Blick eines Swammerdamms ertappt die Natur bei ihren geheimsten Prozessen. Der Mensch geht noch weiter. Not und Neugierde überspringen die Schranken des Aberglaubens, er ergreift mutig das Messer – und hat das größte Meisterstück der Natur, den Menschen entdeckt. So mußte das Schlimmste das Größte erreichen helfen, so mußte uns Krankheit und Tod drängen zum ????? ?????. Die Pest bildete unsere Hippokrate und Sydenhame, wie der Krieg Generale gebar, und der einreißenden Lustseuche haben wir eine totale Reformation des medizinischen Geschmacks zu verdanken.

Wir wollten den rechtmäßigen Genuss der Sinnlichkeit auf die Vollkommenheit der Seele zurückführen, und wie wunderbar drehte sich der Stoff unter unsern Händen! Wir fanden, daß auch ihr Übermaß, ihr Missbrauch im Ganzen die Realitäten der Menschheit befördert hat. Die Verirrungen vom ersten Zwecke der Natur, Kaufleute, Eroberer und Luxus haben unstreitig die Schritte dahin unendlich beschleunigt, die eine einfachere Lebensart regelmäßiger wohl, aber auch langsam genug würde gemacht haben. Man halte die alte Welt gegen die neue! Dort waren die Begierden einfach, und ihre Befriedigung leicht; aber wie abscheulich wurde auch über die Natur und ihre Gesetze geurteilt! Jetzt ist sie durch tausend Krümmungen erschwert, aber welch volles Licht hat sich über alle Begriffe verbreitet!

Noch einmal also: der Mensch mußte Tier sein, eh er wusste, daß er ein Geist war; er mußte am Staube kriechen, eh er den Newtonischen Flug durchs Universum wagte. Der Körper also der erste Sporn zur Tätigkeit; Sinnlichkeit die erste Leiter zur Vollkommenheit.

Tierische Empfindungen begleiten die geistigen.

§. 12. Gesetz.
Der Verstand des Menschen ist äußerst beschränkt, und darum müssen es auch notwendig alle Empfindungen sein, die aus seiner Tätigkeit resultieren. Diesen also einen größeren Schwung zu geben und den Willen mit gedoppelter Kraft zum Vollkommenen hinzuziehen und vom Übel zurückzureißen, wurden beide Naturen, geistige und tierische, also eng in einander verschlungen, dass ihre Modifikationen sich wechselsweise mitteilen und verstärken. Daraus erwächst nun ein Fundamentalgesetz der gemischten Naturen, das, in seine letzten Grundteile aufgelöst, ungefähr also lautet: die Tätigkeiten des Körpers entsprechen den Tätigkeiten des Geistes; d. h. jede Überspannung von Geistestätigkeit hat jederzeit eine Überspannung gewisser körperlicher Aktionen zur Folge, so wie das Gleichgewicht der erstern oder die harmonische Tätigkeit der Geisteskräfte mit der vollkommensten Übereinstimmung der letzteren vergesellschaftet ist. Ferner: Trägheit der Seele macht die körperlichen Bewegungen träg, Nichttätigkeit der Seele hebt sie gar auf. Da nun Vollkommenheit jederzeit mit Lust, Unvollkommenheit mit Unlust verbunden ist, so kann man dieses Gesetz auch also ausdrücken: geistige Lust hat jederzeit eine tierische Lust, geistige Unlust jederzeit eine tierische Unlust zur Begleiterin.

§. 13. Geistiges Vergnügen befördert das Wohl der Maschine.
Also eine Empfindung, die das ganze Seelenwesen einnimmt, erschüttert in eben dem Grade den ganzen Bau des organischen Körpers. Herz, Adern und Blut, Muskelfasern und Nerven, von jenen mächtigen wichtigen, die dem Herzen den lebendigen Schwung der Bewegung geben, bis hinaus zu jenen unbedeutenden geringen, die die Härchen der Haut spannen, nehmen daran Teil. Alles gerät in heftigere Bewegung. War die Empfindung angenehm, so werden alle jene Teile einen höhern Grad harmonischer Tätigkeit haben, das Herz wird frei, lebhaft und gleichförmig schlagen, das Blut wird ungehemmt, mild, oder feurig rasch, je nachdem der Affekt von der sanften oder heftigen Art ist, durch die weichen Kanäle fließen, Koktion [Verdauung], Sekretion und Exkretion wird frei und ungehindert von statten gehen, die reizbaren Fasern werden im milden Dampfbad geschmeidig spielen, so Reizbarkeit als Empfindlichkeit wird durchaus erhöht sein. Darum ist der Zustand der größten augenblicklichen Seelenlust augenblicklich auch der Zustand des größten körperlichen Wohls.

So viel dieser Partialtätigkeiten sind (und ist nicht jeder Puls das Resultat von vielleicht tausenden), so viel dunkle Sensationen werden sich zumal vor die Seele drängen, wovon jede Vollkommenheit anzeigt. Aus der Verworrenheit dieser aller bildet sich nun die Totalempfindung der tierischen Harmonien, d. h. die höchstzusammengesetzte Empfindung von tierischer Lust, die sich an die ursprüngliche intellektuelle oder moralische gleichsam anreiht und solche durch diesen Zutritt unendlich vergrößert. So ist demnach jeder angenehme Affekt die Quelle unzähliger körperlicher Lüste.

Dieses bestätigen am augenscheinlichsten die Beispiele der Kranken, die die Freude kuriert hat. Man bringe einen, den das fürchterliche Heimweh bis zum Skelett verdorren gemacht hat, in sein Vaterland zurück, er wird sich in blühender Gesundheit verjüngen. Man trete in die Gefangenhäuser, wo Unglückliche seit zehn und zwanzig Jahren im faulen Dampf ihres Unrats wie begraben liegen und kaum noch Kraft finden, von der Stelle zu gehen, und verkündige ihnen auf einmal Erlösung. Das einzige Wort wird jugendliche Kraft durch ihre Glieder gießen, die erstorbenen Augen werden Leben und Feuer funkeln. Die Seefahrer, die der Brot- und Wassermangel auf der ungewissen See siech und elend niedergeworfen hat, werden durch das einzige Wort: Land! das der Steuermann vom Verdeck erspäht, halb gesund, und gewiss würde der sehr irren, der hier den frischen Lebensmitteln alle Wirkung zuschreiben wollte. Der Anblick einer geliebten Person, nach der er lange geschmachtet hat, hält die fliehende Seele des Agonizanten noch auf, er wird kräftiger und augenblicklich besser. Wahr ist es, daß die Freude das Nervensystem in lebhaftere Wirksamkeit setzen kann, als alle Herzstärkungen, die man aus Apotheken holen muß, und selbst inveterierte Stockungen in den labyrinthischen Gängen der Eingeweide, die weder die Rubia durchdringt, noch selbst der Merkur durchreißt, durch sie zerteilt worden sind. Wer begreift nun nicht, daß diejenige Verfassung der Seele, die aus jeder Begebenheit Vergnügen zu schöpfen und jeden Schmerz in die Vollkommenheit des Universums aufzulösen weiß, auch den Verrichtungen der Maschine am zuträglichsten sein muß? Und diese Verfassung ist die Tugend.

§. 14. Geistiger Schmerz untergräbt das Wohl der Maschine.
Auf eben diese Weise erfolget das Gegenteil beim unangenehmen Affekt; die Ideen, die sich beim Zornigen oder Erschrockenen so intensiv stark herausheben, könnte man mit eben dem Recht, als Plato die Leidenschaften Fieber der Seele nannte, als Konvulsionen des Denkorgans betrachten. Diese Konvulsionen pflanzen sich schnell durch den ganzen Umriss des Nervengebäudes fort, bringen die Kräfte des Lebens in jene Missstimmung, die seinen Flor zernichtet und alle Aktionen der Maschine aus dem Gleichgewicht bringt. Das Herz schlägt ungleich und ungestüm; das Blut wird in die Lungen gepresst, wenn in den Extremitäten kaum so viel übrig bleibt, den verlornen Puls zu erhalten. Alle Prozesse der tierischen Chemie durchkreuzen einander. Die Scheidungen überstürzen sich, die gutartigen Säfte verirren und wirken feindlich in fremden Gebieten, wenn zu gleicher Zeit die bösartigen, die im Unrat dahingeschwemmt werden sollten, in den Kern der Maschine zurückfallen. Mit Einem Wort: der Zustand des größten Seelenschmerzens ist zugleich der Zustand der größten körperlichen Krankheit.

Die Seele wird durch tausend dunkle Sensationen vom drohenden Ruin ihrer Werkzeuge unterrichtet und von einer ganzen Schmerzempfindung übergossen, die sich an die ursprüngliche geistige anheftet und solcher einen desto schärfern Stachel gibt.

§. 15. Beispiele.
Tiefe chronische Seelenschmerzen, besonders wenn sie von einer starken Anstrengung des Denkens begleitet sind, worunter ich vorzüglich denjenigen schleichenden Zorn, den man Indignation heißt, rechne, nagen gleichsam an den Grundfesten des Körpers und trocknen die Säfte des Lebens aus. Diese Leute sehen abgezehrt und bleich, und der innere Gram verrät sich aus den hohlen, tiefliegenden Augen. »Ich muß Leute um mich haben, die fett sind,« sagt Cäsar, »Leute mit runden Backen, und die des Nachts schlafen. Der Cassius dort hat ein hageres, hungriges Gesicht; er denkt zu viel; dergleichen Leute sind gefährlich.« Furcht, Unruh, Gewissensangst, Verzweiflung wirken nicht viel weniger als die hitzigsten Fieber. Dem in Angst gejagten Richard fehlt die Munterkeit, die er sonst hat, und er wähnt sie mit einem Glas Wein wieder zu gewinnen. Es ist nicht Seelenleiden allein, das ihm seine Munterkeit verscheucht, es ist eine ihm aus dem Kern der Maschine aufgedrungene Empfindung von Unbehaglichkeit, es ist eben diejenige Empfindung, welche die bösartigen Fieber verkündigt. Der von Freveln schwer gedrückte Moor, der sonst spitzfindig genug war, die Empfindungen der Menschlichkeit durch Skelettisierung der Begriffe in Nichts aufzulösen, springt eben jetzt bleich, atemlos, den kalten Schweiß auf seiner Stirne, aus einem schrecklichen Traum auf. Alle die Bilder zukünftiger Strafgerichte, die er vielleicht in den Jahren der Kindheit eingesaugt und als Mann obsopiert hatte, haben den umnebelten Verstand unter dem Traum überrumpelt. Die Sensationen sind allzu verworren, als dass der langsamere Gang der Vernunft sie einholen und noch einmal zerfasern könnte. Noch kämpft sie mit der Phantasie, der Geist mit den Schrecken des Mechanismus. –

Moor.
Nein, ich zittere nicht. War's doch ledig ein Traum. – Die Toten stehen noch nicht auf – Wer sagt, daß ich zittere und bleich bin? Es ist mir ja so leicht, so wohl.

Bed. Ihr seid todesbleich, eure Stimme ist bang und lallend.

Moor. Ich habe das Fieber. Ich will morgen zur Ader lassen. Sage du nur, wenn der Priester kommt, ich habe das Fieber.

Bed. O, Ihr seid ernstlich krank.


Moor. Ja freilich, freilich, das ist's alles – und Krankheit zerstöret das Gehirn und brütet tolle, wunderliche Träume – Träume bedeuten nichts – Pfui, pfui der weiblichen Feigheit! – Träume kommen aus dem Bauch, und Träume bedeuten nichts – Ich hatte so eben einen lustigen Traum – (Er sinkt ohnmächtig nieder.)

Hier bringt das plötzlich auffahrende Integralbild des Traums das ganze System der dunkeln Ideen in Bewegung und rüttelt gleichsam den ganzen Grund des Denkorgans auf. Aus der Summe aller entspringt eine ganze äußerst zusammengesetzte Schmerzempfindung, die die Seele in ihren Tiefen erschüttert und den ganzen Bau der Nerven per consensum lähmt.

Die Schauer, die denjenigen ergreifen, der auf eine lasterhafte Tat ausgeht oder eben eine ausgeführt hat, sind nichts anders, als eben der Horror, der den Febrizitanten [Fiebernden] schüttelt und welcher auch auf eingenommene widerwärtige Arzneien empfunden wird. Die nächtlichen Jaktationen [Erschütterungen, heftiges Zucken] derer, die von Gewissensbissen gequält werden, und die immer mit einem febrilischen Aderschlag begleitet sind, sind wahrhaftige Fieber, die der Konsens der Maschine mit der Seele veranlasst, und wenn Lady Macbeth im Schlaf geht, so ist sie eine phrenetische [wahnsinnige] Delirantin. Ja schon der nachgemachte Affekt macht den Schauspieler augenblicklich krank, und wenn Garrick seinen Lear oder Othello gespielt hatte, so brachte er einige Stunden in gichterischen Zuckungen auf dem Bette zu. Auch die Illusion des Zuschauers, die Sympathie mit künstlichen Leidenschaften hat Schauer, Gichter und Ohnmachten gewirkt.

Ist also nicht derjenige, der mit der bösen Laune geplagt ist und aus allen Situationen des Lebens Gift und Galle zieht; ist nicht der Lasterhafte, der in einem steten chronischen Zorn, dem Hass, lebt, der Neidische, den jede Vollkommenheit seines Mitmenschen martert, sind nicht alle diese die größten Feinde ihrer Gesundheit? Sollte das Laster noch nicht genug Abschreckendes haben, wenn es mit der Glückseligkeit auch die Gesundheit vernichtet?

§. 16. Ausnahmen.
Aber auch der angenehme Affekt hat getötet, auch der unangenehme hat Wunderkuren getan? – Beides lehrt die Erfahrung, sollte das die Grenzen des aufgestellten Gesetzes verrücken?

Die Freude tötet, wenn sie zur Ekstase hinaufsteigt, die Natur erträgt den Schwung nicht, in den in einem Moment das ganze Nervengebäude gerät, die Bewegung des Gehirns ist nicht Harmonie mehr, sie ist Konvulsion; ein höchster augenblicklicher Vigor, der aber auch gleich in den Ruin der Maschine übergeht, weil er über die Grenzlinie der Gesundheit gewichen ist (denn schon in die Idee der Gesundheit ist die Idee einer gewissen Temperatur der natürlichen Bewegungen wesentlich eingeflochten); auch die Freude der endlichen Wesen hat ihre Schranken, sowie der Schmerz, diese darf sie nicht überschreiten, oder sie muss untergehen.

Was den zweiten Fall betrifft, so hat man viele Beispiele, daß ein mäßiger Grad des Zorns, der Gewalt hat, frei aufzubrausen, die langwierigsten Verstopfungen durchrissen, daß der Schrecken, z. E. über eine Feuersbrunst, alte Gliederschmerzen und unheilbare Lähmungen plötzlich gehoben hat. – Aber auch die Dysenterie [Durchfall, Ruhr] hat Verstopfungen der Pfortader geschmolzen, auch die Krätze hat Melancholien und Tobsuchten geheilt – ist die Krätze darum weniger Krankheit, oder die Ruhr darum Gesundheit?

§. 17. Trägheit der Seele macht die Bewegungen der Maschine träger.
Da die Wirksamkeit des Geistes während den Geschäften des Tags nach dem Zeugnis des Herrn von Haller den abendlichen Puls zu beschleunigen vermag, wird ihre Trägheit ihn nicht schwächen, wird ihre Nichttätigkeit ihn vielleicht nicht gar aufheben müssen? Denn obschon die Bewegung des Bluts nicht so sehr von der Seele abhängig zu sein scheint, so lässt sich doch nicht ohne allen Grund schließen, daß das Herz, welches doch immerhin den größten Teil seiner Kraft vom Gehirn entlehnt, notwendig, wenn die Seele die Bewegung des Gehirns nicht mehr unterhält, einen großen Kraftverlust erleiden müsse? – Das Phlegma führt einen trägen langsamen Puls, das Blut ist wässrig und schleimig, der Kreislauf durch den Unterleib leidet Not. Die Stupiden, die uns Muzell beschrieben hat, atmeten langsam und schwer, hatten weder Trieb zum Essen und Trinken, noch zu den natürlichen Exkretionen, der Aderschlag war selten, alle Verrichtungen des Körpers waren schläfrig und matt. Die Erstarrung der Seele unter dem Schrecken, dem Erstaunen u. s. w. wird zuweilen von einer allgemeinen Aufhebung aller physischen Tätigkeit begleitet. War die Seele die Ursache dieses Zustands, oder war es der Körper, der die Seele in diese Erstarrung versetzte? Aber diese Materie führt uns auf Spitzfindigkeiten und muß ja auch gerade hier nicht entwickelt werden.

§. 18. Zweites Gesetz.
Nun ist das, was von Übertragung der geistigen Empfindungen auf tierische gesagt worden, auch vom umgekehrten Fall, von Übertragung der tierischen auf die geistigen gültig. Krankheiten des Körpers, mehrenteils die natürlichen Folgen der Unmäßigkeit, strafen an sich schon durch sinnlichen Schmerz, aber auch hier musste die Seele in ihrem Grundwesen angegriffen werden, daß der gedoppelte Schmerz ihr die Einschränkung der Begierden desto dringender einschärfe. Eben so mußte zu dem sinnlichen Wohlgefühl der körperlichen Gesundheit auch die feinere Empfindung einer geistigen Realverbesserung treten, dass der Mensch um so mehr gespornt werde, seinen Körper im guten Zustande zu erhalten. So ist es also ein zweites Gesetz der gemischten Naturen, dass mit der freien Tätigkeit der Organe auch ein freier Fluss der Empfindungen und Ideen, daß mit der Zerrüttung derselbigen auch eine Zerrüttung des Denkens und Empfindens sollte verbunden sein. Also kürzer: dass die allgemeine Empfindung tierischer Harmonie die Quelle geistiger Lust und die tierische Unlust die Quelle geistiger Unlust sein sollte.

Man kann in diesen verschiedenen Rücksichten Seele und Körper nicht gar unrecht zweien gleichgestimmten Saiteninstrumenten vergleichen, die neben einander gestellt sind. Wenn man eine Saite auf dem einen rühret und einen gewissen Ton angibt, so wird auf dem andern eben diese Saite freiwillig anschlagen und eben diesen Ton, nur etwas schwächer, angeben. So weckt, vergleichungsweise zu reden, die fröhliche Saite des Körpers die fröhliche in der Seele, so der traurige Ton des ersten den traurigen in der zweiten. Dies ist die wunderbare und merkwürdige Sympathie, die die heterogenen Prinzipien des Menschen gleichsam zu einem Wesen macht, der Mensch ist nicht Seele und Körper, der Mensch ist die innigste Vermischung dieser beiden Substanzen.

§. 19. Die Stimmungen des Geists folgen den Stimmungen des Körpers.
Daher die Schwere, die Gedankenlosigkeit, das mürrische Wesen, auf Überladungen des Magens, auf Exzesse in allen sinnlichen Lüsten; daher die wundertätigen Wirkungen des Weins bei denen, die ihn mit Mäßigkeit trinken. »Wenn ihr Wein getrunken habt,« sagt Bruder Martin, »so seid ihr alles doppelt, noch einmal so leicht denkend, noch einmal so leicht unternehmend, noch einmal so schnell ausführend.« Daher die gute Laune, die Behaglichkeit bei heiterem und gesundem Wetter, die zwar einesteils auch in der Assoziation der Begriffe, mehrenteils aber in dem dadurch erleichterten Gang der natürlichen Aktionen ihren Grund hat. Diese Leute pflegen sich gemeiniglich des Ausdrucks zu bedienen: ich spüre, dass mir wohl ist, und zu dieser Zeit sind sie auch zu allen Arbeiten des Geists mehr aufgelegt und haben ein offener Herz für die Empfindungen der Menschlichkeit und die Ausübung moralischer Pflichten. Eben dieses gilt von dem Nationalcharakter der Völker. Die Bewohner düsterer Gegenden trauern mit der sie umgebenden Natur; der Mensch verwildert in wilden stürmischen Zonen, lacht in freundlichen Lüften und fühlt Sympathie in gereinigten Atmosphären. Nur unter dem feinen griechischen Himmel gab es einen Homer, einen Plato und Phidias; dort nur standen Musen und Grazien auf, wenn das nebliche Lappland kaum Menschen, ewig niemals ein Genie gebiert. Als unser Deutschland noch waldig, rauh und sumpfig war, war der Deutsche ein Jäger, roh wie das Wild, dessen Fell er um seine Schultern schlug. Sobald die Arbeitsamkeit die Gestalt seines Vaterlands umänderte, fing die Epoche seiner Sittlichkeit an. Ich will nicht behaupten, daß das Klima die einzige Quelle des Charakters sei, aber gewiss muss, um ein Volk aufzuklären, eine Hauptrücksicht dahin genommen werden, seinen Himmel zu verfeinern.

Zerrüttungen im Körper können auch das ganze System der moralischen Empfindungen in Unordnung bringen und den schlimmsten Leidenschaften den Weg bahnen. Ein durch Wollüste ruinierter Mensch wird leichter zu Extremen gebracht werden können, als der, der seinen Körper gesund erhält. Dies eben ist ein abscheulicher Kunstgriff derer, die die Jugend verderben, und jener Banditenwerber muß den Menschen genau gekannt haben, wenn er sagt: »Man muß Leib und Seele verderben.« Catilina war ein Wollüstling, eh er ein Mordbrenner wurde, und Doria hatte sich gewaltig geirrt, wenn er den wollüstigen Fiesko nicht fürchten zu dürfen glaubte. Überhaupt beobachtet man, dass die Bösartigkeit der Seele gar oft in kranken Körpern wohnt.

In den Krankheiten ist diese Sympathie noch auffallender. Alle Krankheiten von Bedeutung, diejenigen vorzüglich, die man die bösartigen nennt und die aus der Ökonomie des Unterleibs hervorgehen, kündigen sich mehr oder weniger mit einer sonderbaren Revolution im Charakter an. Damals, wenn sie im Stillen noch in den verborgenen Winkeln der Maschine schleichen und die Lebenskraft der Nerven untergraben, fängt die Seele an, den Fall ihres Gefährten in dunklen Ahnungen voraus zu empfinden. Das ist mit ein großes Ingredienz zu demjenigen Zustand, den uns ein großer Arzt unter dem Namen der Vorschauer (horrores) mit Meisterzügen geschildert hat. Daher die Morosität [veraltet: Grämlichkeit, Verdrießlichkeit] dieser Leute, davon niemand die Ursache weiß anzugeben, die Änderung ihrer Neigungen, der Ekel an allem, was ihnen sonst das Liebste war. Der Sanftmütige wird zänkisch, der Lacher mürrisch, und der sich vorher im Geräusch der geschäftigen Welt verlor, flieht den Anblick der Menschen und entweicht in düstere melancholische Stille. Unter dieser heimtückischen Ruhe rüstet sich die Krankheit zum tödlichen Ausbruch. Der allgemeine Tumult der Maschine, wenn die Krankheit mit offener Wut hervorbricht, gibt uns den redendsten Beweis von der erstaunlichen Abhängigkeit der Seele vom Körper an die Hand. Die aus tausend Schmerzgefühlen zusammengeronnene Empfindung des allgemeinen Umsturzes der Organe richtet im System ihrer geistigen Empfindungen eine fürchterliche Zerrüttung an. Die schrecklichsten Ideen leben wieder auf. Der Bösewicht, den nichts gerührt hat, unterliegt der Übermacht tierischer Schrecken. Der sterbende Winchester heult in wütender Verzweiflung. Die Seele scheint mit Fleiß nach allem zu haschen, was sie in noch tiefere Verfinsterung stürzt, und vor allen Trostgründen mit rasendem Widerwillen zurückzuschaudern. Der Ton der unangenehmen Empfindung ist herrschend, und wie dieser tiefe Schmerz der Seele aus den Zerrüttungen der Maschine entsprungen ist, so hilft er rückwärts diese Zerrüttungen heftiger und allgemeiner machen.

§. 20. Einschränkung des Vorigen.

Aber man hat tägliche Beispiele von Kranken, die sich voll Mut über die Leiden des Körpers erheben, von Sterbenden, die mitten in den Bedrängnissen der kämpfenden Maschine fragen: wo ist dein Stachel, Tod? Sollte die Weisheit, dürfte man einwenden, nicht vermögend sein, wider die blinden Schrecken des Organismus zu waffnen? Sollte, was noch mehr ist als Weisheit, sollte die Religion ihre Freunde so wenig gegen die Anfechtungen des Staubes beschützen können? Oder, welches eben so viel heißt, kommt es nicht auch auf den vorhergehenden Zustand der Seele an, wie sie die Alterationen der Lebensbewegungen aufnimmt?

Dieses nun ist eine unleugbare Wahrheit. Philosophie und noch weit mehr ein mutiger und durch die Religion erhobener Sinn sind fähig, den Einfluss der tierischen Sensationen, die das Gemüt des Kranken bestürmen, durchaus zu schwächen und die Seele gleichsam ans aller Kohärenz mit der Materie zu reißen. Der Gedanke an die Gottheit, die, wie durchs Universum, so auch im Tode webt, die Harmonie des vergangenen Lebens und die Vorgefühle einer ewig glücklichen Zukunft breiten ein volles Licht über alle ihre Begriffe, wenn die Seele des Toren und Ungläubigen von allen jenen dunkeln Fühlungen des Mechanismus umnachtet wird. Wenn auch unwillkürliche Schmerzen dem Christen und Weisen sich aufdrängen (denn ist er weniger Mensch?), so wird er selbst das Gefühl seiner zerfallenden Maschine in Wollust auflösen. –

The Soul, secur'd in her existence, smiles
At the drawn dagger, and defies its point,
The stars shall fade away, the sun himself
Grow dim with age, and nature sink in years,
But thou shalt flourish in immortal youth,
Unhurt amidst the war of Elements,
The wreck of Matter, and the crush of Worlds.

Eben diese ungewöhnliche Heiterkeit der tödlich Kranken hat mehrmalen auch eine physische Ursache zum Grunde und ist äußerst wichtig für den praktischen Arzt. Man findet sie oft in Gesellschaft der tödlichsten Zeichen des Hippokrates, und ohne sie aus irgend einer vorgängigen Krisis begreifen zu können: diese Heiterkeit ist bösartig. Die Nerven, welche während der Höhe des Fiebers auf das schärfste waren angefochten worden, haben jetzt ihre Empfindlichkeit verloren, die entzündeten Teile, weiß man wohl, hören auf zu schmerzen, sobald sie brandig werden, aber es wäre ein unglücklicher Gedanke, sich Glück zu wünschen, dass die Entzündungsperiode nunmehr überstanden sei. Der Reiz weicht von den toten Nerven zurück, und eine tödtiche Indolenz lügt baldige Genesung. Die Seele befindet sich in der Illusion einer angenehmen Empfindung, weil sie einer lang anhaltenden schmerzhaften los ist. Sie ist schmerzenfrei, nicht weil der Ton ihrer Werkzeuge wieder hergestellt ist, sondern weil sie den Misston nicht mehr empfindet. Die Sympathie hört auf, sobald der Zusammenhang wegfällt.

§. 21. Weitere Aussichten in den Zusammenhang.
Wenn ich nun erst tiefer hineingehn – wenn ich vom Wahnsinn selbst, vom Schlummer, vom Stupor, von der fallenden Sucht und der Katalepsis u. s. f. sprechen dürfte, wo der freie und vernünftige Geist dem Despotismus des Unterleibs unterworfen wird, wenn ich mich überhaupt in das große Feld der Hysterie und Hypochondrie ausbreiten dürfte, wenn es mir erlaubt wäre, von Temperamenten, Idiosynkrasien und consensus zu reden, welches für Ärzte und Philosophen ein Abgrund ist, – mit einem Wort: wenn ich die Wahrheit des Bisherigen von dem Krankenbett aus beweisen wollte, welches immerhin eine Hauptschule des Psychologen ist, so würde mein Stoff sich ins Unendliche dehnen. Genug, deucht es mich, ist es nunmehr bewiesen, daß die tierische Natur mit der geistigen sich durchaus vermischt, und dass diese Vermischung Vollkommenheit ist.

Körperliche Phänomene verraten die Bewegungen des Geists.

§. 22. Physiognomik der Empfindungen.
Eben diese innige Korrespondenz der beiden Naturen stützt auch die ganze Lehre der Physiognomik. Durch eben diesen Nervenzusammenhang, welcher, wie wir hören, bei der Mitteilung der Empfindungen zum Grunde liegt, werden die geheimsten Rührungen der Seele auf der Außenseite des Körpers geoffenbart, und die Leidenschaft dringt selbst durch den Schleier des Heuchlers. Jeder Affekt hat seine spezifischen Äußerungen und, so zu sagen, seinen eigentümlichen Dialekt, an dem man ihn kennt. Und zwar ist dies ein bewundernswürdiges Gesetz der Weisheit, daß jeder edle und wohlwollende den Körper verschönert, den der niederträchtige und gehässige in viehische Formen zerreißt. Je mehr sich der Geist vom Ebenbild der Gottheit entfernt, desto näher scheint auch die äußere Bildung dem Viehe zu kommen, und immer demjenigen am nächsten, das diesen Haupthang mit ihm gemein hat. So ladet das sanfte Außenbild des Menschenfreunds den Hilfsbedürftigen ein, wenn der trotzige Blick des Zornigen jeden zurückscheucht. Dies ist der unentbehrlichste Leitfaden im gesellschaftlichen Leben. Es ist merkwürdig, wie viel Ähnlichkeit die körperlichen Erscheinungen mit den Affekten haben, Heldenmut und Unerschrockenheit strömen Leben und Kraft durch Adern und Muskeln, Funken sprühen aus den Augen, die Brust steigt, alle Glieder rüsten sich gleichsam zum Streit, der Mensch hat das Ansehen des Rosses.
Schrecken und Furcht erlöschen das Feuer der Augen, die Glieder sinken kraftlos und schwer, das Mark scheint in den Knochen erfroren zu sein, das Blut fällt dem Herzen zur Last, allgemeine Ohnmacht lähmt die Instrumente des Lebens. Ein großer, kühner, erhabener Gedanke zwingt uns, auf die Zehen zu stehen, das Haupt empor zu richten, Nase und Mund weit aufzusperren. Das Gefühl der Unendlichkeit, die Aussicht in einen weiten offenen Horizont, das Meer und dergleichen dehnt unsere Arme aus, wir wollen ins Unendliche ausfließen. Mit Bergen wollen wir gen Himmel wachsen, auf Stürmen und Wellen dahinbrausen; gähe Abgründe stürzen uns schwindelnd hinunter; der Hass äußert sich im Körper gleichsam durch eine zurückstoßende Kraft, wenn im Gegenteil selbst unser Körper durch jeden Händedruck, jede Umarmung in den Körper des Freundes übergehen will, gleichwie die Seelen harmonisch sich mischen; der Stolz richtet den Körper auf, so wie die Seele steigt; Kleinmut senkt das Haupt, die Glieder hangen; knechtische Furcht spricht aus dem kriechenden Gang; die Idee des Schmerzens verzerret unser Gesicht, wenn wollüstige Vorstellungen eine Grazie über den ganzen Körper verbreiten; so hat ferner der Zorn die stärksten Bande zerrissen und die Not beinahe die Unmöglichkeit überwunden. –

Durch was für eine Mechanik, möcht' ich nun fragen, geschieht es, daß gerade diese Bewegungen auf diese Empfindungen erfolgen, gerade diese Organe bei diesen Affekten interessiert werden? Ist dies nicht eben so viel, als wollt' ich wissen, warum gerade eine solche Verletzung der Bandhaut die untere Kinnlade erstarren mache?

Wird der Affekt, der diese Bewegungen der Maschine sympathetisch erweckte, öfters erneuert, wird diese Empfindungsart der Seele habituell, so werden es auch diese Bewegungen dem Körper. Wird der zur Fertigkeit gewordene Affekt dauernder Charakter, so werden auch diese konsensuellen Züge der Maschine tiefer eingegraben, sie bleiben, wenn ich das Wort von dem Pathologen entlehnen darf, deuteropathisch zurück und werden endlich organisch. So formiert sich endlich die feste perennierende Physiognomie des Menschen, daß es beinahe leichter ist, die Seele nachher noch umzuändern als die Bildung. In diesem Verstande also kann man sagen, die Seele bildet den Körper, ohne ein Stahlianer zu sein, und die ersten Jugendjahre bestimmen vielleicht die Gesichtszüge des Menschen durch sein ganzes Leben, so wie sie überhaupt die Grundlage seines moralischen Charakters sind. Eine untätige und schwache Seele, die niemal in Leidenschaften überwallt, hat gar keine Physiognomie, wenn nicht eben der Mangel derselben die Physiognomie der Simpel ist. Die Grundzüge, die die Natur ihnen anerschuf und die Nutrition [Ernährung] vollendete, dauern unangetastet fort. Das Gesicht ist glatt, denn keine Seele hat darauf gespielt. Die Augenbrauen behalten einen vollkommenen Bogen, denn kein wilder Affekt hat sie zerrissen. Die ganze Bildung behält eine Ründe, denn das Fett hat Ruhe in seinen Zellen; das Gesicht ist regelmäßig, vielleicht auch sogar schön, aber ich bedaure die Seele.

Eine Physiognomik organischer Teile, z. E. der Figur und Größe der Nase, der Augen, des Mundes, der Ohren u. s. w., der Farbe der Haare, der Höhe des Halses u. s. f. ist vielleicht nicht unmöglich, dürfte aber wohl sobald nicht erscheinen, wenn auch Lavater noch durch zehn Quartbände schwärmen sollte. Wer die launischen Spiele der Natur, die Bildungen, mit denen sie stiefmütterlich bestraft und mütterlich beschenkt hat, unter Klassen bringen wollte, würde mehr wagen, als Linné, und dürfte sich sehr in Acht nehmen, daß er über der ungeheuren kurzweiligen Mannigfaltigkeit der ihm vorkommenden Originale nicht selbst eines werde.

(Noch eine Art von Sympathie verdient bemerkt zu werden, indem sie in der Physiologie von großer Erheblichkeit ist; ich meine die Sympathie gewisser Empfindungen mit den Organen, aus denen sie kamen. Ein gewisser Krampf des Magens erregte in uns die Empfindung von Ekel; die Reproduktion dieser Empfindung bringt rückwärts diesen Krampf hervor. Wie geschieht das?)

Auch der Nachlass der tierischen Natur ist eine Quelle von Vollkommenheit.

§. 23. Scheint sie zu hindern.
Noch kann man sagen, wenn auch der tierische Teil des Menschen ihm alle die großen Vorteile gewährt, von denen bisher gesprochen worden, so bleibe er doch immer noch in einer andern Rücksicht verwerflich. Nämlich die Seele ist also sklavisch an die Tätigkeit ihrer Werkzeuge gefesselt, daß die periodische Abspannung dieser letzteren ihr eine tatenlose Pause vorschreibt und sie gleichsam periodisch vernichtet. Ich meine den Schlaf, der, wie man nicht leugnen kann, uns wenigstens den dritten Teil unsers Daseins raubt. Ferner ist unsere Denkkraft von den Gesetzen der Maschine äußerst abhängig, daß der Nachlass dieser letztern dem Gang der Gedanken plötzliches Halt auferlegt, wenn wir eben auf dem geraden offenen Pfade zur Wahrheit begriffen sind. Der Verstand darf kaum ein wenig auf einer Idee gehaftet haben, so versagt ihm die träge Materie; die Saiten des Denkorganes erschlaffen, wenn sie kaum ein wenig angestrengt worden; der Körper verlässt uns, wo wir sein am meisten bedürfen. Welch erstaunliche Schritte, dürfte man einwenden, würde der Mensch in Bearbeitung seiner Fähigkeiten machen, wenn er in einem Zustand ununterbrochener Intensität fortdenken könnte? Wie würde er jede Idee in ihre letzten Elemente zerfasern, wie würde er jede Erscheinung bis zu ihren verhohlensten Quellen verfolgen, wenn er sie unaufhörlich vor seiner Seele festhalten könnte? – Aber es ist nun einmal nicht so; warum ist es nicht so?

§. 24. Notwendigkeit des Nachlasses.
Folgendes wird uns auf die Spur der Wahrheit leiten.

1. Die angenehme Empfindung war notwendig, den Menschen zur Vollkommenheit zu führen, und er ist ja nur darum vollkommen, daß er angenehm empfinde.

2. Die Natur eines endlichen Wesens macht die unangenehme Empfindung unvermeidlich. Das Übel exuliert nicht aus der besten Welt, und die Weltweisen wollen ja darin Vollkommenheit finden.

3 . Die Natur eines gemischten Wesens bringt sie notwendig mit sich, weil sie größtenteils darauf ruht.
Also: Schmerz und Lust sind notwendig. Schwerer scheint es, aber es ist dennoch nicht weniger wahr:

4 . Jeder Schmerz wächst seiner Natur nach, so wie jede Lust, ins Unendliche.

5. Jeder Schmerz und jede Lust eines gemischten Wesens zielt auf seine Auflösung.

§. 25. Erklärung.
Nämlich das will so viel sagen: es ist ein bekanntes Gesetz der Ideenverbindung, daß eine jede Empfindung, welcher Art sie auch immer sei, alsogleich eine andere ihrer Art ergreife und sich durch diesen Zuwachs vergrößere. Je größer und vielfältiger sie wird, desto mehr gleichartige weckt sie nach allen Direktionen des Denkorgans auf, bis sie nach und nach allgemein herrschend wird und die ganze Fläche der Seele einnimmt. So wächst demnach jede Empfindung durch sich selbst; jeder gegenwärtige Zustand des Empfindungsvermögens enthält den Grund eines nachfolgenden ähnlichen heftigern. Dies ist an sich klar. Nun ist, wie wir wissen, jede geistige Empfindung mit einer ähnlichen tierischen vergesellschaftet, d. i. mit andern Worten: jede ist mit mehr oder wenigern Nervenbewegungen verknüpft, die sich nach dem Grad ihrer Stärke und Ausbreitung richten. Also: so wie die geistigen Empfindungen wachsen, müssen auch die Bewegungen im Nervensystem zunehmen. Dies ist nicht minder deutlich. Aber nun lehrt uns die Pathologie, daß kein Nerve jemals allein leide und sagen: hie ist Übermaß von Kraft, eben so viel heiße als: dort ist Mangel der Kraft. Also wächst zugleich noch jede Nervenbewegung durch sich selbst. Ferner ist oben gesagt worden, daß die Bewegungen des Nervensystems auf die Seele zurückwirken und die geistigen Empfindungen verstärken; die verstärkten Empfindungen des Geists vermehren und verstärken wiederum die Bewegungen der Nerven. Also ist hier ein Zirkel, und die Empfindung muß stets wachsen, und die Nervenbewegungen müssen in jedem Moment allgemeiner und heftiger werden. Nun wissen wir, daß die Bewegungen der Maschine, welche die Empfindung des Schmerzens verursachen, dem harmonischen Ton zuwiderlaufen, durch den sie erhalten wird, das heißt, daß sie Krankheit sind. Aber Krankheit kann nicht ins Unendliche wachsen, also endigen sie sich mit der totalen Destruktion der Maschine. In Absicht auf den Schmerz ist es also erwiesen, daß er auf den Tod des Subjekts abzielt.

Aber die Bewegungen der Nerven unter dem Zustand des angenehmen Affekts sind ja so harmonisch, der Fortdauer der Maschine so günstig; der Zustand der größten Seelenlust ist ja der Zustand des größten körperlichen Wohls; – sollte nicht vielmehr umgekehrt der angenehme Affekt den Flor des Körpers ins Unendliche verlängern?– dieser Schluss ist sehr übereilt. In einem gewissen Grade der Moderation sind diese Nervenbewegungen heilsam und wirklich Gesundheit. Wachsen sie über diesen Grad hinaus, so können sie wohl höchste Aktivität, höchste augenblickliche Vollkommenheit sein, aber dann sind sie Exzess der Gesundheit, dann sind sie nicht mehr Gesundheit. Nur diejenige gute Beschaffenheit der natürlichen Aktionen heißen wir Gesundheit, in denen der Grund zukünftiger ähnlicher liegt, d. h. die die Vollkommenheit der darauf folgenden Aktionen befestigen; also gehört die Bestimmung des Fortdauernden wesentlich mit in den Begriff der Gesundheit. So hat z. E. der Körper des entkräftetsten Wollüstlings im Momente der Ausschweifung seine höchste Harmonie erreicht; aber sie ist nur augenblicklich, und ein desto tieferer Nachlass lehrt zur Genüge, dass Überspannung nicht Gesundheit war. So kann man denn mit Recht behaupten, daß der übertriebene Vigor der physischen Aktionen den Tod so sehr beschleunigt als die höchste Disharmonie oder die heftigste Krankheit. Und also reißen uns beide, Schmerz und Vergnügen, einem unvermeidlichen Tod entgegen, wenn nicht etwas vorhanden ist, das ihr Wachstum beschränkt.

§. 26. Vortrefflichkeit dieses Nachlasses.
Und eben dieses leistet nun der Nachlass der tierischen Natur. Eben diese Einschränkung unserer zerbrechlichen Maschine, die unsern Gegnern einen so starken Einwurf wider ihre Vollkommenheit schien geliehen zu haben, mußte es auch sein, die alle die übeln Folgen verbesserte, die der Mechanismus anderwärts unvermeidlich macht. Eben dieses Hinsinken, dieses Erschlaffen der Organe, worüber die Denker so klagen, verhindert, daß uns unsere eigene Kraft nicht in kurzer Zeit aufreibt, und lässt es nicht zu, daß unsere Affekte in immer steigenden Graden zu unserm Verderben fortwachsen. Sie zeichnet jedem Affekt die Perioden seines Wachstums, seiner Höhe und seiner Deferveszenz [Entfieberung], wenn er nicht gar in einer totalen Relaxation [Nachlassen, Entspannung, Erholung] des Körpers erstirbt, die den empörten Geistern Zeit lässt, wiederum ihren harmonischen Ton zu nehmen, und den Organen, sich wiederum zu erholen. Daher die höchsten Grade des Entzückens, des Schreckens und des Zorns eben dieselben sind, nämlich Ermattung, Schwäche oder Ohnmacht. –

»Itzo mußt' er entweder ohnmächtig niedersinken« – –


Noch mehr gewährt der Schlaf, der, wie unser Shakespeare sagt, »den verworrenen Knäuel der Sorgen auseinander löst, das Bad der wunden Arbeit, die Geburt von jedes Tages Leben, der zweite Gang der großen Natur ist.« Unter dem Schlaf ordnen sich die Lebensgeister wiederum in jenes heilsame Gleichgewicht, das die Fortdauer unsers Daseins so sehr verlangt; alle jene krampfichten Ideen und Empfindungen, alle jene überspannten Tätigkeiten, die uns den Tag durch gepeinigt haben, werden jetzt in der allgemeinen Erschlaffung des Sensoriums aufgelöst, die Harmonie der Seelenwirkungen wird wiederum hergestellt, und ruhiger grüßt der neuerwachte Mensch den kommenden Morgen.

Auch in Hinsicht auf die Einrichtung des Ganzen können wir den Wert und die Wichtigkeit dieses Nachlasses nicht genug bewundern. Eben diese Einrichtung brachte es notwendig mit sich, daß Manche, die nicht minder glücklich sein sollten, der allgemeinen Ordnung aufgeopfert wurden und das Los der Unterdrückung davon trugen. Eben so mussten wiederum Viele, die wir vielleicht mit Unrecht zu beneiden pflegen, ihre Geistes- und Leibeskraft in rastloser Anstrengung foltern, damit die Ruhe des Ganzen erhalten werde. So ferner die Kranken, so das unvernünftige Vieh. Der Schlaf versiegelt gleichsam das Auge des Kummers, nimmt dem Fürsten und Staatsmann die schwere Bürde der Regierung ab, gießt Lebenskraft in die Adern des Kranken und Ruhe in seine zerrissene Seele; auch der Taglöhner hört die Stimme des Drängers nicht mehr, und das misshandelte Vieh entflieht den Tyranneien der Menschen. Alle Sorgen und Lasten der Geschöpfe begräbt der Schlaf, setzt alles ins Gleichgewicht, rüstet jeden mit neugeborenen Kräften aus, die Freuden und Leiden des folgenden Tages zu ertragen.

§. 27. Trennung des Zusammenhangs.
Endlich dann, auf den Zeitpunkt, wo der Geist den Zweck seines Daseins in diesem Kreise erfüllt hat, hat zugleich eine inwendige unbegreifliche Mechanik auch seinen Körper unfähig gemacht, weiterhin Werkzeug zu sein. Alle Anordnungen zur Aufrechthaltung des körperlichen Flors scheinen nur bis aus diese Epoche zu reichen, die Weisheit, kommt es mir vor, hat bei Gründung unserer physischen Natur eine solche Sparsamkeit beobachtet, daß, ungeachtet der steten Kompensationen, doch die Konsumtion immer das Übergewicht behalte, dass die Freiheit den Mechanismus missbrauche und der Tod aus dem Leben, wie aus seinem Keime, sich entwickle. Die Materie zerfällt in ihre letzten Elemente wieder, die nun in andere Formen und Verhältnissen durch die Reiche der Natur wandern, andern Absichten zu dienen. Die Seele fährt fort, in andern Kreisen ihre Denkkraft zu üben und das Universum von andern Seiten zu beschauen. Man kann freilich sagen, daß sie diese Sphäre im geringsten noch nicht erschöpft hat, daß sie solche vollkommener hätte verlassen können; aber weiß man denn, daß diese Sphäre für sie verloren ist? Wir legen jetzt manches Buch weg, das wir nicht verstehen, aber vielleicht verstehen wir es in einigen Jahren besser.
Cotta’scher Verlag 1856, Schillers sämtliche Werke in zwölf Bänden. Zehnter Band, Ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, S.3-46 (Schreibweise großteils aktualisiert und Verdeutlichung einiger Fremdworte)

Die Unvergänglichkeit des Papsttums
»Man sah Kaiser und Könige, erleuchtete Staatsmänner und unbeugsame Krieger im Drang der Umstände Rechte aufopfern, ihren Grundsätzen ungetreu werden und der Notwendigkeit weichen; so etwas begegnete selten oder nie einem Papste. Auch wenn er im Elend umherirrte, in Italien keinen Fuß breit Land, keine ihm holde Seele besaß und von der Barmherzigkeit der Fremdlinge lebte, hielt er standhaft über den Vorrechten seines Stuhles und der Kirche. Wenn jede andere politische Gemeinheit durch die persönlichen Eigenschaften deren, welche ihre Verwaltung übertragen ist, zu gewissen Zeiten etwas gelitten hat und leidet, so war dieses kaum jemals der Fall bei der Kirche und ihrem Oberhaupte. So ungleich sich auch die Päpste in Temperament, Denkart und Fähigkeit sein mochten, so standhaft, so gleichförmig, so unveränderlich war ihre Politik. Ihre Fähigkeit, ihr Temperament, ihre Denkart schien in ihr Amt gar nicht einzufließen; ihre Persönlichkeit, möchte man sagen, zerfloß in ihrer Würde, und die Leidenschaft erlosch unter der dreifachen Krone. Obgleich mit jedem hinscheidenden Papste die Kette der Thronfolge abriß und mit jedem neuen Papste wieder neu geknüpft wurde, obgleich kein Thron in der Welt so oft seinen Herrn veränderte, so stürmisch besetzt und so stürmisch verlassen wurde, so war dieses doch der einzige Thron in der christlichen Welt, der seinen Besitzer nie zu verändern schien, weil nur die Päpste starben, aber der Geist, der sie beseelte, unsterblich war
Schiller: Universalhistorische Übersicht der merkwürdigen Staatsbegebenheiten z. Zt. Friedrichs I. 2c. X [2] 41

Liebe
Herrschsucht ist unvereinbar mit Liebe
Liebe hat Tränen, und kann Tränen verstehen; Herrschsucht hat eherne Augen, worin ewig nie die Empfindung perlt — Liebe hat nur ein Gut, tut Verzicht auf die ganze übrige Schöpfung, Herrschsucht hungert beim Raube der ganzen Natur — Herrschsucht zertrümmert die Welt in ein rasselndes Kettenhaus, Liebe träumt sich in jede Wüste Elysium.
S.142

Wer Tränen ernten will, muss Liebe säen.
S.143

Liebe ist uneigennützig
Zwar ist es schon Veredlung einer menschlichen Seele den gegenwärtigen Vorteil dem ewigen aufzuopfern — es ist die edelste Stufe des Egoismus — aber Egoismus und Liebe scheiden die Menschheit in zwei höchstunähnliche Geschlechter, deren Grenzen nie ineinander fließen. Egoismus errichtet seinen Mittelpunkt in sich selber; Liebe pflanzt ihn außerhalb ihrer in die Achse des ewigen Ganzen. Liebe zielt nach Einheit, Egoismus ist Einsamkeit. Liebe ist die mitherrschende Bürgerin eines blühenden Freistaats, Egoismus ein Despot in einer verwüsteten Schöpfung. Egoismus sät für die Dankbarkeit, Liebe für den Undank. Liebe verschenkt, Egoismus leiht — Einerlei vor dem Thron der richtenden Wahrheit, ob auf den Genuss des nächstfolgenden Augenblicks, oder die Aussicht einer Märtyrerkrone — einerlei, ob die Zinsen in diesem Leben oder im andern fallen!
S.141

Liebe ist zugleich das Großmütigste und das Selbstsüchtigste in der Natur; das erste: denn sie empfängt von ihrem Gegenstande nichts, sondern gibt ihm alles, da der reine Geist nur geben, nicht empfangen kann; das zweite: denn es ist immer nur ihr eigenes Selbst, was sie in ihrem Gegenstande sucht und schätzet.
S.142

Ich bekenne es freimütig, ich glaube an die Wirklichkeit einer uneigennützigen Liebe. Ich bin verloren, wenn sie nicht ist, ich gebe die Gottheit auf, die Unsterblichkeit und die Tugend. Ich habe keinen Beweis für diese Hoffnungen mehr übrig, wenn ich aufhöre an die Liebe zu glauben. Ein Geist, der sich allein liebt, ist ein schwimmendes Atom im unermesslichen leeren Raume.
S.143f.

Das unfehlbare Band der Schöpfung
Liebe also — das schönste Phänomen in der beseelten Schöpfung, der allmächtige Magnet in der Geisterwelt, die Quelle der Andacht und der erhabensten Tugend — Liebe ist nur der Widerschein dieser einzigen Urkraft, eine Anziehung des Vortrefflichen, gegründet auf einen augenblicklichen Tausch der Persönlichkeit, eine Verwechslung der Wesen.
S.142

Liebe, mein Freund, das große unfehlbare Band der empfindenden Schöpfung ist zuletzt nur ein glücklicher Betrug. — Erschrecken, entglühen, zerschmelzen wir für das Fremde, uns ewig nie eigen werdende, Geschöpf? Gewiss nicht. Wir leiden jenes alles nur für uns, für das Ich, dessen Spiegel jenes Geschöpf ist. Ich nehme selbst Gott nicht aus. Gott, wie ich mir denke, liebt den Seraph so wenig als den Wurm der ihn unwissend lobet. Er erblickt sich, sein großes unendliches Selbst, in der unendlichen Natur umhergestreut. — In der allgemeinen Summe der Kräfte berechnet er augenblicklich sich selbst — Sein Bild sieht er aus der ganzen Ökonomie des Erschaffenen vollständig, wie aus einem Spiegel, zurückgeworfen, und liebt sich in dem Abriss, das Bezeichnete in dem Zeichen. Wiederum findet er in jedem einzelnen Geschöpf (mehr oder weniger) Trümmer seines Wesens zerstreut. Dieses bildlich auszudrücken — So wie eine Leibnizische Seele vielleicht eine Linie von der Gottheit hat, so hat die Seele der Mimosa nur einen einfachen Punkt, das Vermögen zu empfinden von ihr und der höchste denkende Geist nach Gott — doch Sie verstehen mich ja schon.

Nach dieser Darstellung komme ich auf einen reinern Begriff der Liebe. Gleichwie keine Vollkommenheit einzeln existieren kann, sondern nur diesen Namen in einer gewissen Relation auf einen allgemeinen Zweck verdient, so kann keine denkende Seele sich in sich selbst zurückziehen und mit sich begnügen. Ein ewiges notwendiges Bestreben, zu diesem Winkel den Bogen zu finden, den Bogen in einen Zirkel auszuführen, hieße nichts anders, als die zerstreute Züge der Schönheit, die Glieder der Vollkommenheit in einen ganzen Leib aufzusammeln — das heißt mit andern Worten: Der ewige innere Hang, in das Nebengeschöpf überzugehen, oder dasselbe in sich hineinzuschlingen, es anzureißen ist Liebe. Und sind nicht alle Erscheinungen der Freundschaft und Liebe — vom sanften Händedruck und Kuss bis zur innigsten Umarmung, — so viele Äußerungen eines zur Vermischung strebenden Wesens?
S.144f.
Aus: Schiller zum Vergnügen. Herausgegeben von Martin Neubauer. Reclams Universalbibliothek Nr. 18319 © 2004 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages



Die Worte des Glaubens
Drei Worte nenn‘ ich euch, innhaltschwer,
Sie gehen von Munde zu Munde,
Doch stammen sie nicht von außen her,
Das Herz nur gibt davon Kunde,
Dem Menschen ist aller Wert geraubt,
Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt.

Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei,
Und würd‘ er in Ketten geboren,
Laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei,
Nicht den Mißbrauch rasender Toren.
Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht,
Vor dem freien Menschen erzittert nicht.

Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall,
Der Mensch kann sie üben im Leben,
Und sollt er auch straucheln überall,
Er kann nach der göttlichen streben,
Und was kein Verstand der Verständigen sieht,
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt.

Und ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt,
Wie auch der menschliche wanke,
Hoch über der Zeit und dem Raume webt
Lebendig der höchste Gedanke,
Und ob alles in ewigem Wechsel kreis‘t,
Es beharret im Wechsel ein ruhiger Geist.

Die drei Worte bewahret euch, inhaltschwer,
Sie pflanzet von Munde zu Munde,
Und stammen sie gleich nicht von außen her,
Euer Innres gibt davon Kunde,
Dem Menschen ist nimmer sein Wert geraubt,
So lang er noch an die drei Worte glaubt.
Aus: Friedrich Schiller, Gedichte Herausgegeben von Norbert Oellers Reclams Universalbibliothek Nr. 1710 (S.27) © 1999 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages


Die Freundschaft
Aus den Briefen Julius an Raphael, einem noch ungedruckten Roman

Freund! genügsam ist der Wesenlenker -
Schämen sich kleinmeisterische Denker,
Die so ängstlich nach Gesetzen spähn -
Geisterreich und Körperweltgewühle
Wälzet eines Rades Schwung zum Ziele;
Hier sah es mein Newton gehn.

Sphären lehrt es, Sklaven eines Zaumes,
Um das Herz des großen Weltenraumes
Labyrinthenbahnen ziehn -
Geister in umarmenden Systemen
Nach der großen Geistersonne strömen,
Wie zum Meere Bäche fliehn.

War's nicht dies allmächtige Getriebe,
Das zum ew'gen Jubelbund der Liebe
Unsre Herzen an einander zwang?
Raphael, an deinem Arm - o Wonne!
Wag' auch ich zur großen Geistersonne
Freudigmutig den Vollendungsgang.

Glücklich! glücklich! dich hab' ich gefunden,
Hab' aus Millionen dich umwunden,
Und aus Millionen mein bist du -
Laß das Chaos diese Welt umrütteln,
Durcheinander die Atomen schütteln;
Ewig fliehn sich unsre Herzen zu.

Muß ich nicht aus deinen Flammenaugen
Meiner Wollust Widerstrahlen saugen?
Nur in dir bestaun' ich mich -
Schöner malt sich mir die schöne Erde,
Heller spiegelt in des Freunds Gebärde
Reizender der Himmel sich.

Schwermut wirft die bangen Tränenlasten,
Süßer von des Leidens Sturm zu rasten,
In der Liebe Busen ab;
Sucht nicht selbst das folternde Entzücken
In des Freunds beredten Strahlenblicken
Ungeduldig ein wollüst'ges Grab?

Stünd' im All der Schöpfung ich alleine,
Seelen träumt' ich in die Felsensteine,
Und umarmend küßt' ich sie -
Meine Klagen stöhnt' ich in die Lüfte,
Freute mich, antworteten die Klüfte,
Thor genug! der süßen Sympathie.

Tote Gruppen sind wir - wenn wir hassen,
Götter - wenn wir liebend uns umfassen!
Lechzen nach dem süßen Fesselzwang -
Aufwärts durch die tausendfachen Stufen
Zahlenloser Geister, die nicht schufen,
Waltet göttlich dieser Drang.

Arm in Arme, höher stets und höher,
Vom Mongolen bis zum griech'schen Seher,
Der sich an den letzten Seraph reiht,
Wallen wir, einmüt'gen Ringeltanzes,
Bis sich dort im Meer des ew'gen Glanzes
Sterbend untertauchen Maß und Zeit. -


Freundlos war der große Weltenmeister,
Fühlte Mangel - darum schuf er Geister,
Sel'ge Spiegel seiner Seligkeit!
Fand das höchste Wesen schon kein gleiches,
Aus dem Kelch des ganzen Seelenreiches
Schäumt ihm - die Unendlichkeit.

Cotta’scher Verlag 1853, Schillers sämtliche Werke in zwölf Bänden. Erster Band , Gedichte der ersten Periode, S.30ff.


Die Künstler

Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige
Stehst du an des Jahrhunderts Neige,
In edler stolzer Männlichkeit,
Mit aufgeschloß‘nem Sinn, mit Geistesfülle,
Voll milden Ernsts, in tatenreicher Stille,
Der reifste Sohn der Zeit,
Frei durch Vernunft, stark durch Gesetze
Durch Sanftmut groß, und reich durch Schätze,
Die lange Zeit dein Busen dir verschwieg,
Herr der Natur, die deine Fesseln liebet,
Die deine Kraft in tausend Kämpfen übet,
Und prangend unter dir aus der Verwildrung stieg!

Berauscht von dem errung‘nen Sieg,
Verlerne nicht die Hand zu preisen,
Die an des Lebens ödem Strand
Den weinenden verlaß‘nen Waisen
Des wilden Zufalls Beute fand,
Die frühe schon der künft‘gen Geisterwürde,
Dein junges Herz im Stillen zugekehrt,
Und die befleckende Begierde
Von deinem zarten Busen abgewehrt,
Die Gütige, die deine Jugend
In hohen Pflichten spielend unterwies
Und das Geheimnis der erhab‘nen Tugend
In leichten Rätseln dich erraten ließ,
Die, reifer nur ihn wieder zu empfangen.
In fremde Arme ihren Liebling gab,
O falle nicht mit ausgeartetem Verlangen
Zu ihren niedern Dienerinnen ab!
Im Fleiß kann dich die Biene meistern,
In der Geschicklichkeit ein Wurm dein Lehrer sein,
Dein Wissen teilest du mit vorgezog’nen Geistern,
Die Kunst, o Mensch, hast du allein.
Nur durch das Morgentor
Drangst du in der Erkenntnis Land.
An höhern Glanz sich zu gewöhnen,
Übt sich am Reize der Verstand.
Was bei dem Saitenklang der Musen
Mit süßem Beben dich durchdrang.
Erzog die Kraft in deinem Busen.
Die sich dereinst zum Weltgeist schwang.

Was erst, nachdem Jahrtausende verflossen,
Die alternde Vernunft erfand,
Lag im Symbol des Schönen und des Großen
Voraus geoffenbart dem kindischen Verstand.
Ihr holdes Bild hieß uns die Tugend lieben,
Ein zarter Sinn hat vor dem Laster sich gesträubt,
Eh noch ein Solon das Gesetz geschrieben,
Das matte Blüten langsam treibt.
Eh vor des Denkers Geist der kühne
Begriff des ew‘gen Raumes stand,
Wer sah hinauf zur Sternenbühne,
Der ihn nicht ahndend schon empfand?

Die eine Glorie von Orionen
Ums Angesicht, in hehrer Majestät,
Nur angschaut von reineren Dämonen
Verzehrend über Sternen geht,
Gefloh’n auf ihrem Sonnenthrone
Die furchtbar herrliche Urania,
Mit abgelegter Feuerkrone,
Steht sie – als Schönheit vor uns da.
Der Anmut Gürtel umgewunden,
Wird sie zum Kind, daß Kinder sie verstehn,
Was wir als Schönheit hier empfunden,
Wird einst als Wahrheit uns entgegen gehen.

Als der Erschaffende von seinem Angesichte
Den Menschen in die Sterblichkeit verwies,
Und eine späte Wiederkehr zum Lichte
Auf schwerem Sinnenpfad ihn finden hieß,
Als alle Himmlischen ihr Antlitz von ihm wandten,
Schloß sie, die Menschliche, allein
Mit dem Verlassenen Verbannten
Großmütig in die Sterblichkeit sich ein.
Hier schwebt sie, mit gesenktem Fluge,
Um ihren Liebling, nah am Sinnenland,
Und mahlt mit lieblichem Betruge
Elysium auf seine Kerkerwand.

Als in den weichen Armen dieser Amme
Die zarte Menschheit noch geruht,
Da schürte heilige Mordsucht keine Flamme,
Da rauchte kein unschuldig Blut.
Das Herz, das sie an sanften Banden lenket,
Verschmäht der Pflichten knechtisches Geleit;
Ihr Lichtpfad, schöner nur geschlungen, senket
Sich in die Sonnenbahn der Sittlichkeit.
Die ihrem keuschen Dienste leben
Versucht kein nied‘rer Trieb, bleicht kein Geschick;
Wie unter heilige Gewalt gegeben
Empfangen sie das reine Geisterleben,
Der Freiheit süßes Recht, zurück.

Glückselige, die sie — aus Millionen
Die reinsten — ihrem Dienst geweiht,
In deren Brust sie würdigte zu thronen,
Durch deren Mund die Mächtige gebeut,
Die sie auf ewig flammenden Altären
Erkor das heil‘ge Feuer ihr zu nähren,
Vor deren Aug‘ allein sie hüllenlos erscheint,
Die sie in sanftem Bund um sich vereint!
Freut euch der ehrenvollen Stufe,
Worauf die hohe Ordnung euch gestellt!
In die erhab‘ne Geisterwelt
War‘t ihr der Menschheit erste Stufe!
,
Eh‘ ihr das Gleichmaß in die Welt gebracht,
Dem alle Wesen freudig dienen —
Ein unermeß‘ner Bau, im schwarzen Flor der Nacht ,
Nächst um ihn her, mit mattem Strahl beschienen,
Ein streitendes Gestaltenheer,
Die seinen Sinn in Sklavenbanden hielten,
Und ungesellig, rauh wie er,
Mit tausend Kräften auf ihn zielten,
— So stand die Schöpfung vor dem Wilden,
Durch der Begierde blinde Fessel nur
An die Erscheinungen gebunden,
Entfloh ihm, ungenossen, unempfunden,
Die schöne Seele der Natur.

Und wie sie fliehend jetzt vorüberfuhr,
Ergriffet ihr die nachbarlichen Schatten
Mit zartem Sinn, mit stiller Hand,
Und lerntet in harmon‘schem Band
Gesellig sie zusammen gatten.
Leichtschwebend fühlte sich der Blick
Vom schlanken Wuchs der Zeder aufgezogen,
Gefällig strahlte der Kristall der Wogen
Die hüpfende Gestalt zurück.
Wie konntet ihr des schönen Winks verfehlen,
Womit euch die Natur hilfreich entgegen kam?
Die Kunst, den Schatten ihr nachahmend abzustehlen,

Wies euch das Bild, das auf der Woge schwamm.
Von ihrem Wesen abgeschieden,
Ihr eig‘nes liebliches Phantom,
Warf sie sich in den Silberstrom,
Sich ihrem Räuber anzubieten.
Die schöne Bildkraft ward in eurem Busen wach.
Zu edel schon, nicht müßig zu empfangen,
Schuft ihr im Sand — im Ton den holden Schatten nach,
Im Umriß ward sein Dasein aufgefangen.
Lebendig regte sich des Wirkens süße Lust —
Die erste Schöpfung trat aus eurer Brust.

Von der Betrachtung angehalten,
Von eurem Späheraug umstrickt,
Verrieten die vertraulichen Gestalten
Den Talisman, wodurch sie euch entzückt.
Die wunderwirkenden Gesetze,
Des Reizes ausgeforschte Schätze
Verknüpfte der erfindende Verstand
In leichtem Bund in Werken eurer Hand.
Der Obeliske stieg, die Pyramide,
Die Herme stand, die Säule sprang empor,
Des Waldes Melodie floß aus dem Haberrohr,
Und Siegestaten lebten in dem Liede.

Die Auswahl einer Blumenflur
Mit weiser Wahl in einen Strauß gebunden,
So trat die erste Kunst aus der Natur;
Jetzt werden Sträuße schon in einen Kranz gewunden,
Und eine zweite höh‘re Kunst erstand
Aus Schöpfungen der Menschenhand.
Das Kind der Schönheit, sich allein genug,
Vollendet schon aus eurer Hand gegangen,
Verliert die Krone, die es trug,
Sobald es Wirklichkeit empfangen.
Die Säule muß, dem Gleichmaß untertan,
An ihre Schwestern nachbarlich sich schließen,
Der Held im Heldenheer zerfließen.
Des Mäoniden Harfe stimmt voran.

Bald drängten sich die staunenden Barbaren
Zu diesen neuen Schöpfungen heran.
Seht, riefen die erfreuten Scharen,
Seht an, das hat der Mensch getan!
In lustigen geselligeren Paaren
Riß sie des Sängers Leier nach,
Der von Titanen sang und Riesenschlachten,
Und Löwentötern, die, so lang der Sänger sprach,
Aus seinen Hörern Helden machten.
Zum erstenmal genießt der Geist;
Erquickt von ruhigeren Freuden,
Die aus der Ferne nur ihn weiden,
Die seine Gier nicht in sein Wesen reißt,
Die im Genusse nicht verscheiden.

Jetzt wand sich von dem Sinnenschlafe
Die freie schöne Seele los,
Durch euch entfesselt, sprang der Sklave
Der Sorge in der Freude Schoß.
Jetzt fiel der Tierheit dumpfe Schranke,
Und Menschheit trat auf die entwölkte Stirn,
Und der erhab‘ne Fremdling, der Gedanke,
Sprang aus dem staunenden Gehirn.
Jetzt stand der Mensch, und wies den Sternen
Das königliche Angesicht,
Schon dankte nach erhab‘nen Fernen
Sein sprechend Aug‘ dem Sonnenlicht.
Das Lächeln blühte auf der Wange,
Der Stimme seelenvolles Spiel
Entfaltete sich zum Gesange,
Im feuchten Auge schwamm Gefühl,
Und Scherz mit Huld in anmutsvollem Bunde
Entquollen dem beseelten Munde.

Begraben in des Wurmes Triebe,
Umschlungen von des Sinnes Lust,
Erkanntet ihr in seiner Brust
Den edlen Keim der Geisterliebe.
Daß von des Sinnes niederm Triebe
Der Liebe bess‘rer Keim sich schied,
Dankt er dem ersten Hirtenlied.
Geadelt zur Gedankenwürde
Floß die verschämtere Begierde
Melodisch aus des Sängers Mund.
Sanft glühten die betauten Wangen,
Das überlebende Verlangen
Verkündigte der Seelen Bund.

Der Weisen weisestes, der Milden Milde,
Der Starken Kraft, der Edeln Grazie,
Vermähltet ihr in Einem Bilde
Und stelltet es in eine Glorie.
Der Mensch erbebte vor dem Unbekannten,
Er liebte seinen Widerschein;
Und herrliche Heroen brannten
Dem großen Wesen gleich zu sein,
Den ersten Klang vom Urbild alles Schönen
Ihr ließet ihn in der Natur ertönen.

Der Leidenschaften wilden Drang,
Des Glückes regellose Spiele,
Der Pflichten und Instinkte Zwang
Stellt ihr mit prüfendem Gefühle,
Mit strengem Richtscheid nach dem Ziele.
Was die Natur auf ihrem großen Gange
In weiten Fernen auseinander zieht,
Wird auf dem Schauplatz, im Gesange
Der Ordnung leicht gefaßtes Glied.
Vom Eumenidenchor geschrecket,
Zieht sich der Mord, auch nie entdecket,
Das Los des Todes aus dem Lied.
Lang, eh‘ die Weisen ihren Ausspruch wagen,
Löst eine Ilias des Schicksals Rätselfragen
Der jugendlichen Vorwelt auf;
Still wandelte von Thespis Wagen
Die Vorsicht in den Weltenlauf.

Doch in den großen Weltenlauf
Ward euer Ebenmaß zu früh getragen.
Als des Geschickes dunkle Hand,
Was sie vor eurem Auge schnürte,
Vor eurem Aug‘ nicht auseinander band,
Das Leben in die Tiefe schwand,
Eh‘ es den schönen Kreis vollführte —
Da führtet ihr aus kühner Eigenmacht
Den Bogen weiter durch der Zukunft Nacht;
Da stürztet ihr euch ohne Beben
In des Avernus schwarzen Ozean,
Und trafet das entfloh‘ne Leben
Jenseits der Urne wieder an:
Da zeigte sich mit umgestürztem Lichte,
An Kastor angelehnt, ein blühend Polluxbild;
Der Schatten in des Mondes Angesichte,
Eh sich der schöne Silberkreis erfüllt.

Doch höher stets, zu immer höhern Höhen
Schwang sich der schaffende Genie.
Schon sieht man Schöpfungen aus Schöpfungen erstehen,
Aus Harmonien Harmonie.
Was hier allein das trunk‘ne Aug‘ entzückt,
Dient unterwürfig dort der höhern Schöne;
Der Reiz, der diese Nymphe schmückt,
Schmilzt sanft in eine göttliche Athene:
Die Kraft, die in des Ringers Muskel schwillt,
Muß in des Gottes Schönheit lieblich schweigen;
Das Staunen seiner Zeit, das stolze Jovisbild
Im Tempel zu Olympia sich neigen.
Die Welt, verwandelt durch den Fleiß,
Das Menschenherz, bewegt von neuen Trieben,
Die sich in heißen Kämpfen üben,
Erweitern euren Schöpfungskreis.
Der fortgeschritt‘ne Mensch trägt auf erhob‘nen Schwingen
Dankbar die Kunst mit sich empor,
Und neue Schönheitswelten springen
Aus der bereicherten Natur hervor.
Des Wissens Schranken gehen auf,
Der Geist, in euren leichten Siegen
Geübt mit schnell gezeitigtem Vergnügen
Ein künstlich All von Reizen zu durcheilen,
Stellt der Natur entlegenere Säulen,
Ereilet sie auf ihrem dunkeln Lauf.
Jetzt wägt er sie mit menschlichen Gewichten,
Mißt sie mit Maßen, die sie ihm geliehn;
Verständlicher in seiner Schönheit Pflichten
Muß sie an seinem Aug‘ vorüber ziehn,
In selbstgefäll‘ger jugendlicher Freude
Leiht er den Sphären seine Harmonie,
Und preiset er das Weltgebäude,
So prangt es durch die Symmetrie.

In allem, was ihn jetzt umlebet,
Spricht ihn das holde Gleichmaß an.
Der Schönheit gold‘ner Gürtel webet
Sich mild in seine Lebensbahn;
Die selige Vollendung schwebet
In euren Werken siegend ihm voran.
Wohin die laute Freude eilet,
Wohin der stille Kummer flieht,
Wo die Betrachtung denkend weilet,
Wo er des Elends Tränen sieht,
Wo tausend Schrecken auf ihn zielen,
Folgt ihm ein Harmonienbach,
Sieht er die Huldgöttinnen spielen
Und ringt in still verfeinerten Gefühlen
Der lieblichen Begleitung nach.
Sanft, wie des Reizes Linien sich winden,
Wie die Erscheinungen um ihn
In weichem Umriß in einander schwinden,
Flieht seines Lebens leichter Hauch dahin.
Sein Geist zerrinnt im Harmonienmeere,
Das seine Sinne wollustreich umfließt,
Und der hinschmelzende Gedanke schließt
Sich still an die allgegenwärtige Cythere.
Mit dem Geschick in hoher Einigkeit,
Gelassen hingestützt auf Grazien und Musen,
Empfängt er das Geschoß, das ihn bedräut,
Mit freundlich dargebot‘nem Busen
Vom sanften Bogen der Notwendigkeit.

Vertraute Lieblinge der sel‘gen Harmonie,
Erfreuende Begleiter durch das Leben,
Das Edelste, das Teuerste, was sie,
Die Leben gab, zum Leben uns gegeben!
Daß der entjochte Mensch jetzt seine Pflichten denkt,
Die Fessel liebet, die ihn lenkt,
Kein Zufall mehr mit eh‘rnem Zepter ihm gebeut,
Dies dankt euch — eure Ewigkeit,
Und ein erhab‘ner Lohn in eurem Herzen.
Daß um den Kelch, worin uns Freiheit rinnt,
Der Freude Götter lustig scherzen,
Der holde Traum sich lieblich spinnt,
Dafür seid liebevoll umfangen!

Dem prangenden, dem heitern Geist,
Der die Notwendigkeit mit Grazie umzogen,
Der seinen Äther, seinen Sternenbogen
Mit Anmut uns bedienen heißt,
Der, wo er schreckt, noch durch Erhabenheit entzücket,
Und zum Verheeren selbst sich schmücket,
Dem großen Künstler ahmt ihr nach.
Wie auf dem spiegelhellen Bach
Die bunten Ufer tanzend schweben,
Das Abendrot, das Blütenfeld,
So schimmert auf dem dürft‘gen Leben
Der Dichtung muntre Schattenwelt.
Ihr führet uns im Brautgewande
Die fürchterliche Unbekannte,
Die unerweichte Parze vor.
Wie eure Urnen die Gebeine,
Deckt ihr mit holdem Zauberscheine
Der Sorgen schauervollen Chor.
Jahrtausende hab‘ ich durcheilet,
Der Vorwelt unabsehlich Reich:
Wie lacht die Menschheit, wo ihr weilet,
Wie traurig liegt sie hinter euch!

Die einst mit flüchtigem Gefieder
Voll Kraft aus euren Schöpferhänden stieg,
In eurem Arm fand sie sich wieder,
Als durch der Zeiten stillen Sieg
Des Lebens Blüte von der Wange,
Die Stärke von den Gliedern wich,
Und traurig, mit entnervtem Gange,
Der Greis an seinem Stabe schlich.
Da reichtet ihr aus frischer Quelle
Dem Lechzenden die Lebenswelle,
Zweimal verjüngte sich die Zeit,
Zweimal von Samen, die ihr ausgestreut.

Vertrieben von Barbarenheeren,
Entrisset ihr den letzten Opferbrand
Des Orients entheiligten Altären,
Und brachtet ihn dem Abendland.
Da stieg der schöne Flüchtling aus dem Osten,
Der junge Tag, im Westen neu empor,
Und auf Hesperiens Gefilden sproßten
Verjüngte Blüten Joniens hervor.
Die schönere Natur warf in die Seelen
Sanft spiegelnd einen schönen Widerschein,
Und prangend zog in die geschmückten Seelen
Des Lichtes große Göttin ein.
Da sah man Millionen Ketten fallen
Und über Sklaven sprach jetzt Menschenrecht,
Wie Brüder friedlich mit einander wallen,
So mild erwuchs das jüngere Geschlecht.
Mit inn‘rer hoher Freudenfülle
Genießt ihr das gegeb‘ne Glück,
Und tretet in der Demut Hülle
Mit schweigendem Verdienst zurück.
Wenn auf des Denkens frei gegeb‘nen Bahnen
Der Forscher jetzt mit kühnem Glücke schweift,
Und, trunken von siegrufenden Päanen,
Mit rascher Hand schon nach der Krone greift;
Wenn er mit niederm Söldnerslohne
Den edlen Führer zu entlassen glaubt;
Und neben dem geträumten Throne
Der Kunst den ersten Sklavenplatz erlaubt: —
Verzeiht ihm — der Vollendung Krone
Schwebt glänzend über eurem Haupt.
Mit Euch, des Frühlings erster Pflanze,
Begann die seelenbildende Natur,
Mit euch, dem freud‘gen Erntekranze,
Schließt die vollendende Natur.

Die von dem Ton, dem Stein bescheiden aufgestiegen,
Die schöpferische Kunst umschließt mit stillen Siegen
Des Geistes unermeß‘nes Reich.
Was in des Wissens Land Entdecker nur ersiegen,
Entdecken sie, ersiegen sie für euch.
Der Schätze, die der Denker aufgehäufet,
Wird er in euren Armen erst sich freun,
Wenn seine Wissenschaft, der Schönheit zugereifet,
Zum Kunstwerk wird geadelt sein —
Wenn er auf einen Hügel mit euch steiget,
Und seinem Auge sich, in mildem Abendschein,
Das malerische Tal — auf einmal zeiget.
Je reicher ihr den schnellen Blick vergnüget,
Je höh‘re schön‘re Ordnungen der Geist
In einem Zauberbund durchflieget,
In einem schwelgenden Genuß umkreist;
Je weiter sich Gedanken und Gefühle
Dem üppigeren Harmonienspiele,
Dem reichem Strom der Schönheit aufgetan —
Je schön‘re Glieder aus dem Weltenplan,
Die jetzt verstümmelt seine Schöpfung schänden,
Sieht er die hohen Formen dann vollenden,
Je schön‘re Rätsel treten aus der Nacht,
Je reicher wird die Welt, die er umschließet,
Je breiter strömt das Meer, mit dem er fließet,
Je schwächer wird des Schicksals blinde Macht,
Je höher streben seine Triebe,
Je kleiner wird er selbst, je größer seine Liebe.
So führt ihn, in verborg‘nem Lauf,
Durch immer rein‘re Formen, reine Töne,
Durch immer höh‘re Höhn und immer schön‘re Schöne
Der Dichtung Blumenleiter still hinauf —
Zuletzt, am reifen Ziel der Zeiten,
Noch eine glückliche Begeisterung,
Des jüngsten Menschenalters Dichterschwung,
Und — in der Wahrheit Arme wird er gleiten.

Sie selbst, die sanfte Cypria,
Umleuchtet von der Feuerkrone
Steht dann vor ihrem münd‘gen Sohne
Entschleiert — als Urania;
So schneller nur von ihm erhaschet,
Je schöner er von ihr geflohn!
So süß, so selig überraschet
Stand einst Ulyssens edler Sohn,
Da seiner Jugend himmlischer Gefährte
Zu Jovis Tochter sich verklärte.
Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben,
Bewahret sie!
Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!
Der Dichtung heilige Magie
Dient einem weisen Weltenplane,
Still lenke sie zum Ozeane
Der großen Harmonie!
Von ihrer Zeit verstoßen flüchte
Die ernste Wahrheit zum Gedichte,
Und finde Schutz in der Camönen Chor.
In ihres Glanzes höchster Fülle,
Furchtbarer in des Reizes Hülle,
Erstehe sie in dem Gesange
Und räche sich mit Siegesklange
An des Verfolgers feigem Ohr

Der freisten Mutter freie Söhne
Schwingt euch mit festem Angesicht
Zum Strahlensitz der höchsten Schöne,
Um andre Kronen buhlet nicht.
Die Schwester, die euch hier verschwunden,
Holt ihr im Schoß der Mutter ein;
Was schöne Seelen schön empfunden,
Muß trefflich und vollkommen sein.
Erhebet euch mit kühnem Flügel
Hoch über euren Zeitenlauf;
Fern dämm‘re schon in eurem Spiegel
Das kommende Jahrhundert auf.

Auf tausendfach verschlung‘nen Wegen
Der reichen Mannigfaltigkeit
Kommt dann umarmend euch entgegen
Am Thron der hohen Einigkeit.
Wie sich in sieben milden Strahlen
Der weiße Schimmer lieblich bricht,
Wie sieben Regenbogenstrahlen
Zerrinnen in das weiße Licht,
So spielt in tausendfacher Klarheit
Bezaubernd um den trunk‘nen Blick,
So fließt in Einen Bund der Wahrheit,
In Einen Strom des Lichts zurück!

Aus: Friedrich Schiller, Gedichte Herausgegeben von Norbert Oellers Reclams Universalbibliothek Nr. 1710 (S.248f.) © 1999 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages

Die Größe der Welt
Die der schaffende Geist einst aus dem Chaos schlug,
Durch die schwebende Welt flieg ich des Windes Flug,
Bis am Strande
Ihrer Wogen ich lande,
Anker werf, wo kein Hauch mehr weht
Und der Markstein der Schöpfung steht.

Sterne sah ich bereits jugendlich auferstehn,
Tausendjährigen Gangs durchs Firmament zu gehn,
Sah sie spielen
Nach den lockenden Zielen,
Irrend suchte mein Blick umher,
Sah die Räume schon - sternenleer.

Anzufeuern den Flug weiter zum Reich des Nichts,
Steur ich mutiger fort, nehme den Flug des Lichts,
Neblicht trüber
Himmel an mir vorüber,
Weltsysteme, Fluten im Bach
Strudeln dem Sonnenwandrer nach.

Sieh, den einsamen Pfad wandelt ein Pilger mir
Rasch entgegen - »Halt an! Waller, was suchst du hier?«
»Zum Gestade
Seiner Welt meine Pfade!
Segle hin, wo kein Hauch mehr weht
Und der Markstein der Schöpfung steht!«

»Steh! du segelst umsonst - vor dir Unendlichkeit!«
»Steh! du segelst umsonst - Pilger, auch hinter mir! -
Senke nieder,
Adlergedank, dein Gefieder!
Kühne Seglerin, Phantasie,
Wirf ein mutloses Anker hie.«

Aus: Friedrich Schiller: Gedichte 1776-1788

Der Tanz
Siehe wie schwebenden Schritts im Wellenschwung sich die Paare
Drehen, den Boden berührt kaum der geflügelte Fuß.

Seh‘ ich flüchtige Schatten, befreit von der Schwere des Leibes?
Schlingen im Mondlicht dort Elfen den lustigen Reihn?

Wie, vom Zephyr gewiegt, der leichte Rauch in die Luft fließt,
Wie sich leise der Kahn schaukelt auf silberner Flut,

Hüpft der gelehrige Fuß auf des Takts melodischer Woge,
Säuselndes Saitengetön hebt den ätherischen Leib.

Jetzt, als wollt es mit Macht durchreißen die Kette des Tanzes
Schwingt sich ein mutiges Paar dort in den dichtesten Reihn.

Schnell vor ihm her entsteht ihm die Bahn, die hinter ihm schwindet,
Wie durch magische Hand öffnet und schließt sich der Weg.

Sieh! Jetzt schwand es dem Blick, in wildem Gewirr durch einander
Stürzt der zierliche Bau dieser beweglichen Welt.

Nein, dort schwebt es frohlockend herauf, der Knoten entwirrt sich,
Nur mit verändertem Reiz stellet die Regel sich her.

Ewig zerstört, es erzeugt sich ewig die drehende Schöpfung,
Und ein stilles Gesetz lenkt der Verwandlungen Spiel.

Sprich wie geschieht‘s, daß rastlos erneut die Bildungen schwanken,
Und die Ruhe besteht in der bewegten Gestalt?

Jeder ein Herrscher, frei, nur dem eigenen Herzen gehorchet,
Und im eilenden Lauf findet die einzige Bahn?

Willst du es wissen? Es ist des Wohllauts mächtige Gottheit,
Die zum geselligen Tanz ordnet den tobenden Sprung,

Die, der Nemesis gleich, an des Rhythmus goldenem Zügel
Lenkt die brausende Lust und die verwilderte zähmt;

Und dir rauschen umsonst die Harmonien des Weltalls,
Dich ergreift nicht der Strom dieses erhabnen Gesangs,

Nicht der begeisternde Takt, den alle Wesen dir schlagen,
Nicht der wirbelnde Tanz, der durch den ewigen Raum

Leuchtende Sonnen schwingt in kühn gewundenen Bahnen?
Das du im Spiele doch ehrst, fliehst du im Handeln, das Maß.
Aus: Friedrich Schiller, Gedicht Herausgegeben von Norbert Oellers Reclams Universalbibliothek Nr. 1710 (S.18f.) © 1999 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages

Der Spaziergang
Sei mir gegrüßt mein Berg mit dem rötlich strahlenden Gipfel,
Sei mir Sonne gegrüßt, die ihn so lieblich bescheint,

Dich auch grüß ich belebte Flur, euch säuselnde Linden,
Und den fröhlichen Chor, der auf den Ästen sich wiegt,

Ruhige Bläue dich auch, die unermeßlich sich ausgießt
Um das braune Gebirg, über den grünenden Wald,

Auch um mich, der endlich entflohn des Zimmers Gefängnis
Und dem engen Gespräch freudig sich rettet zu dir,

Deiner Lüfte balsamischer Strom durchrinnt mich erquickend,
Und den durstigen Blick labt das energische Licht,

Kräftig auf blühender Au erglänzen die wechselnden Farben,
Aber der reizende Streit löset in Anmut sich auf,

Frei empfängt mich die Wiese mit weithin verbreitetem Teppich,
Durch ihr freundliches Grün schlingt sich der ländliche Pfad,

Um mich summt die geschäftige Bien‘, mit zweifelndem Flügel
Wiegt der Schmetterling sich über dem rötlichten Klee,

Glühend trifft mich der Sonne Pfeil, still liegen die Weste,
Nur der Lerche Gesang wirbelt in heiterer Luft.

Doch jetzt braust‘s aus dem nahen Gebüsch, tief neigen der Erlen
Kronen sich, und im Winde wogt das versilberte Gras.

Mich umfängt ambrosische Nacht in duftende Kühlung
Nimmt ein prächtiges Dach schattender Buchen mich ein,

In des Waldes Geheimnis entflieht mir auf einmal die Landschaft,
Und ein schlängelnder Pfad leitet mich steigend empor.

Nur verstohlen durchdringt der Zweige laubigtes Gitter
Sparsames Licht, und es blickt lachend das Blaue herein.

Aber plötzlich zerreißt der Flor. Der geöffnete Wald gibt
Überraschend des Tags blendendem Glanz mich zurück.
Unabsehbar ergießt sich vor meinen Blicken die Ferne,
Und ein blaues Gebirg endigt im Dufte die Welt.

Tief an des Berges Fuß, der gählings unter mir abstürzt,
Wallet des grünlichten Stroms fließender Spiegel vorbei.

Endlos unter mir seh‘ ich den Äther, über mir endlos,
Blicke mit Schwindeln hinauf, blicke mit Schaudern hinab,

Aber zwischen der ewigen Höh‘ und der ewigen Tiefe
Trägt ein geländerter Steig sicher den Wandrer dahin.

Lachend fliehen an mir die reichen Ufer vorüber,
Und den fröhlichen Fleiß rühmet das prangende Tal.

Jene Linien, sieh! die des Landmanns Eigentum scheiden,
In den Teppich der Flur hat sie Demeter gewirkt.

Freundliche Schrift des Gesetzes, des Menschenerhaltenden Gottes,
Seit aus der ehernen Welt fliehend die Liebe verschwand,

Aber in freieren Schlangen durchkreuzt die geregelten Felder
Jetzt verschlungen vom Wald, jetzt an den Bergen hinauf

Klimmend, ein schimmernder Streif, die Länder verknüpfende Straße,
Auf dem ebenen Strom gleiten die Flöße dahin,

Vielfach ertönt der Herden Geläut im belebten Gefilde,
Und den Wiederhall weckt einsam des Hirten Gesang.

Muntre Dörfer bekränzen den Strom, in Gebüschen verschwinden
Andre, vom Rücken des Bergs stürzen sie gäh dort herab.

Nachbarlich wohnet der Mensch noch mit dem Acker zusammen,
Seine Felder umruhn friedlich sein ländliches Dach,

Traulich rankt sich die Reb‘ empor an dem niedrigen Fenster,
Einen umarmenden Zweig schlingt um die Hütte der Baum,

Glückliches Volk der Gefilde! Noch nicht zur Freiheit erwachet,
Teilst du mit deiner Flur fröhlich das enge Gesetz.

Deine Wünsche beschränkt der Ernten ruhiger Kreislauf,
Wie dein Tagewerk, gleich, windet dein Leben sich ab!

Aber wer raubt mir auf einmal den lieblichen Anblick?
Ein fremder Geist verbreitet sich schnell über die fremdere Flur!

Spröde sondert sich ab, was kaum noch hebend sich mischte,
Und das Gleiche nur ist‘s, was an das Gleiche sich reiht.

Stände seh ich gebildet, der Pappeln stolze Geschlechter
Ziehn in geordnerem Pomp vornehm und prächtig daher,

Regel wird alles und alles wird Wahl und allesBedeutung,
Dieses Dienergefolg meldet den Herrscher mir an.

Prangend verkündigen ihn von fern die beleuchteten Kuppeln,
Aus dem felsigren Kern hebt sich die türmende Stadt.

In die Wildnis hinaus sind des Waldes Faunen verstoßen,
Aber die Andacht leiht höheres Lehen dem Stein.

Näher gerückt ist der Mensch an den Menschen. Enger wird um ihn,
Reger erwacht, es umwälzt rascher sich in ihm die Welt.

Sieh, da entbrennen in feurigem Kampf die eifernden Kräfte,
Großes wirket ihr Streit, größeres wirket ihr Bund.

Tausend Hände belebt Ein Geist, hoch schläget in tausend
Brüsten, von einem Gefühl glühend, ein einziges Herz,

Schlägt für das Vaterland und glüht für der Ahnen Gesetze,
Hier auf dem teuren Grund ruht ihr verehrtes Gebein.

Nieder steigen vom Himmel die seligen Götter, und nehmen
In dem geweihten Bezirk festliche Wohnungen ein,

Herrliche Gaben bescherend erscheinen sie; Ceres vor allen
Bringet des Pfluges Geschenk, Hermes den Anker herbei,

Bacchus die Traube, Minerva des Ölbaums grünende Reiser,
Auch das kriegrische Roß führet Poseidon heran,

Mutter Cybele spannt an des Wagens Deichsel die Löwen,
In das gastliche Tor zieht sie als Bürgerin ein.

Heilige Steine! Aus euch ergossen sich Pflanzer der Menschheit,
Fernen Inseln des Meers sandtet ihr Sitten und Kunst,

Weise sprachen das Recht an diesen geselligen Toren,
Helden stürzten zum Kampf für die Penaten heraus.

Auf den Mauren erschienen, den Säugling im Arme, die Mütter
Blickten dem Heerzug nach, bis ihn die Ferne verschlang.

Betend stürzten sie dann vor der Götter Altären sich nieder,
Flehten um Ruhm und Sieg, flehten um Rückkehr für euch.

Ehre ward euch und Sieg, doch der Ruhm nur kehrte zurücke,
Eurer Taten Verdienst meldet der rührende Stein:

»Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest
Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.«

Ruhet sanft ihr Geliebten! Von eurem Blute begossen
Grünet der Ölbaum, es keimt lustig die köstliche Saat.

Munter entbrennt, des Eigentums froh, das freie Gewerbe,
Aus dem Schilfe des Stroms winket der bläulichte Gott.

Zischend fliegt in den Baum die Axt, es erseufzt die Dryade,
Hoch von des Berges Haupt stürzt sich die donnernde Last.

Aus dem Felsbruch wiegt sich der Stein, vom Hebel beflügelt,
In der Gebirge Schlucht taucht sich der Bergmann hinab.

Mulcibers Amboß tönt von dem Takt geschwungener Hämmer,
Unter der nervigten Faust spritzen die Funken des Stahls,

Glänzend umwindet der goldne Lein die tanzende Spindel,
Durch die Saiten des Garns sauset das webende Schiff,

Fern auf der Reede ruft der Pilot, es warten die Flotten,
Die in der Fremdlinge Land tragen den. Heimischen Fleiß,

Andre ziehn frohlockend dort ein, mit den Gaben der Ferne,
Hoch von dem ragenden Mast wehet der festliche Kranz.

Siehe da wimmeln die Märkte, der Krahn von fröhlichem Leben,
Seltsamer Sprachen Gewirr braust in das wundernde Ohr.

Auf den Stapel schüttet die Ernten der Erde der Kaufmann,
Was dem glühenden Strahl Afrikas Boden gebiert,

Was Arabien kocht, was die äußerste Thule bereitet,
Hoch mit erfreuendem Gut füllt Amalthea das Horn.

Da gebietet das Glück dem Talente die göttlichen Kinder,
Von der Freiheit gesäugt wachsen die Künste der Lust.

Mit nachahmendem Leben erfreuet der Bildner die Augen,
Und vom Meißel beseelt redet der fühlende Stein,

Künstliche Himmel ruhn auf schlanken ionischen Säulen,
Und den ganzen Olymp schließet ein Pantheon ein,

Leicht wie der Iris Sprung durch die Luft, wie der Pfeil von der Sehne
Hüpfet der Brücke Joch über den brausenden Strom.

Aber im stillen Gemach entwirft bedeutende Zirkel
Sinnend der Weise, beschleicht forschend den schaffenden Geist,

Prüft der Stoffe Gewalt, der Magnete Hassen und Lieben,
Folgt durch die Lüfte dem Klang, folgt durch den Äther dem Strahl,

Sucht das vertraute Gesetz in des Zufalls grausenden Wundern,
Sucht den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht.

Körper und Stimme leiht die Schrift dem stummen Gedanken,
Durch der Jahrhunderte Strom trägt ihn das redende Blatt.

Da zerrinnt vor dem wundernden Blick der Nebel des Wahnes,
Und die Gebilde der Nacht weichen dem tagenden Licht.

Seine Fesseln zerbricht der Mensch. Der Beglückte! Zerriß er
Mit den Fesseln der Furcht nur nicht den Zügel der Scham!

Freiheit ruft die Vernunft, Freiheit die wilde Begierde,
Von der heil‘gen Natur ringen sie lüstern sich los.

Ach, da reißen im Sturm die Anker, die an dem Ufer
Warnend ihn hielten, ihn faßt mächtig der flutende Strom,

Ins Unendliche reißt er ihn hin, die Küste verschwindet,
Hoch auf der Fluten Gebirg wiegt sich entmastet der Kahn,

Hinter Wolken erlöschen des Wagens beharrliche Sterne,
Bleibend ist nichts mehr, es irrt selbst in dem Busen der Gott.

Aus dem Gespräche verschwindet die Wahrheit, Glauben und Treue
Aus dem Leben, es lügt selbst auf der Lippe der Schwur.

In der Herzen vertraulichsten Bund, in der Liebe Geheimnis
Dringt sich der Sykophant, reißt von dem Freunde den Freund,

Auf die Unschuld schielt der Verrat mit verschlingendem Blicke,
Mit vergiftendem Biß tötet des Lästerers Zahn.

Feil ist in der geschändeten Brust der Gedanke, die Liebe
Wirft des freien Gefühls göttlichen Adel hinweg,

Deiner heiligen Zeichen, o Wahrheit, hat der Betrug sich
Angemaßt, der Natur köstlichste Stimmen entweiht,

Die das bedürftige Herz in der Freude Drang sich erfindet,
Kaum gibt wahres Gefühl noch durch Verstummen sich kund.

Auf der Tribüne prahlet das Recht, in der Hütte die Eintracht,
Des Gesetzes Gespenst steht an der Könige Thron,

Jahre lang mag, Jahrhunderte lang die Mumie dauern,
Mag das trügende Bild lebender Fülle bestehn.

Bis die Natur erwacht, und mit schweren ehernen Händen
An das hohle Gebäu rühret die Not und die Zeit,

Einer Tigerin gleich, die das eiserne Gitter durchbrochen
Und des numidischen Wald‘s plötzlich und schrecklich gedenkt,

Aufsteht mit des Verbrechens Wut und des Elends die Menschheit,
Und in der Asche der Stadt sucht die verlorne Natur.

O so öffnet euch Mauren, und gebt den Gefangenen ledig,
Zu der verlassenen Flur kehr‘ er gerettet zurück!

Aber wo bin ich? Es birgt sich der Pfad. Abschüssige Gründe
Hemmen mit gähnender Kluft hinter mir, vor mir den Schritt.

Hinter mir blieb der Gärten, der Hecken vertraute Begleitung,
Hinter mir jegliche Spur menschlicher Hände zurück.

Nur die Stoffe seh‘ ich getürmt, aus welchen das Leben
Keimet, der rohe Basalt hofft auf die bildende Hand,

Brausend stürzt der Gießbads herab durch die Rinne des Felsen
Unter den Wurzeln des Baums bricht er entrüstet sich Bahn.

Wild ist es hier und schauerlich öd‘. Im einsamen Luftraum
Hängt nur der Adler, und knüpft an das Gewölke die Welt.

Hoch herauf bis zu mir trägt keines Windes Gefieder
Den verlorenen Schall menschlicher Mühen und Lust.

Bin ich wirklich allein? In deinen Armen,
an deinem Herzen wieder, Natur, ach! und es war nur ein Traum,

Der mich schaudernd ergriff, mit des Lebens furchtbarem Bilde,
Mit dem stürzenden Tal stürzte der finstre hinab.

Reiner nehm‘ ich mein Leben von deinem reinen Altare,
Nehme den fröhlichen Mut hoffender Jugend zurück!

Ewig wechselt der Wille den Zweck und die Regel, in ewig
wiederholter Gestalt wälzen die Taten sich um.

Aber jugendlich immer, in immer veränderter Schöne
Ehrst du, fromme Natur, züchtig das alte Gesetz,

Immer dieselbe, bewahrst du in treuen Händen dem Manne,
Was dir das gaukelnde Kind, was dir der Jüngling vertraut,

Nährest an gleicher Brust die vielfach wechselnden Alter;
Unter demselben Blau, über dem nämlichen Grün

Wandeln die nahen und wandeln vereint die fernen Geschlechter,
Und die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns.
Aus: Friedrich Schiller, Gedichte Herausgegeben von Norbert Oellers Reclams Universalbibliothek Nr. 1710 (S.42-50) © 1999 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages

Spruch des Konfuzius (1)
Dreifach ist der Schritt der Zeit,
Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,
Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,
Ewig still steht die Vergangenheit.

Keine Ungeduld beflügelt
Ihren Schritt, wenn sie verweilt.
Keine Furcht, kein Zweifeln zügelt
Ihren Lauf, wenn sie enteilt.
Keine Reu, kein Zaubersegen
Kann die stehende bewegen.

Möchtest du beglückt und weise
Endigen des Lebens Reise,
Nimm die Zögernde zum Rat,
Nicht zum Werkzeug deiner Tat.
Wähle nicht die Fliehende zum Freund,
Nicht die Bleibende zum Feind.
Aus: Friedrich Schiller, Gedichte Herausgegeben von Norbert Oellers Reclams Universalbibliothek Nr. 1710 (S.51) © 1999 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages

Spruch des Konfuzius (2)
Dreifach ist des Raumes Maß.
Rastlos fort ohn‘ Unterlaß
Strebt die L ä n g e, fort ins weite
Endlos gießet sich die B r e i t e,
Grundlos senkt die T i e f e sich.

Dir ein Bild sind sie gegeben,
Rastlos vorwärts mußt du streben,
Nie ermüdet stille stehn,
Willst du die Vollendung sehn,
Mußt ins Breite dich entfalten,
Soll sich dir die Welt gestalten,
In die Tiefe mußt du steigen,
Soll sich dir das Wesen zeigen,
Nur Beharrung führt zum Ziel,
Nur die Fülle führt zur Klarheit
Und im Abgrund wohnt die Wahrheit.
Aus: Friedrich Schiller, Gedichte. Herausgegeben von Norbert Oellers Reclams Universalbibliothek Nr. 1710 (S.80)
© 1999 Philipp Reclam jun., Stuttgart . Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages

Spinoza

Hier liegt ein Eichbaum umgerissen,
Sein Wipfel tät die Wolken küssen,
Er liegt am Grund - warum?
Die Bauren hatten, hör ich reden,
Sein schönes Holz zum Baun vonnöten
Und rissen ihn deswegen um.
Schiller: [Gedichte 1776-1788], S. 73. Digitale Bibliothek Band 103: Schiller, S. 117 (vgl. Schiller-SW Bd. 1, S. 52)

Die Ideale
So willst du treulos von mir scheiden
Mit deinen holden Phantasien,
Mit deinen Schmerzen, deinen Freuden,
Mit allen unerbittlich fliehn?
Kann nichts dich, Fliehende, verweilen,
O! meines Lebens goldne Zeit?
Vergebens, deine Wellen eilen
Hinab ins Meer der Ewigkeit.

Erloschen sind die heitern Sonnen,
Die meiner Jugend Pfad erhellt,
Die Ideale sind zerronnen,
Die einst das trunkne Herz geschwellt,
Er ist dahin, der süße Glaube
An Wesen, die mein Traum gebar,
Der rauhen Wirklichkeit zum Raube,
Was einst so schön, so göttlich war.

Wie einst mit flehendem Verlangen
Pygmalion den Stein umschloß,
Bis in des Marmors kalte Wangen
Empfindung glühend sich ergoß,
So schlang ich mich mit Liebesarmen
Um die Natur, mit Jugendlust,
Bis sie zu atmen, zu erwarmen
Begann an meiner Dichterbrust,

Und, teilend meine Flammentriebe,
Die Stumme eine Sprache fand,
Mir wiedergab den Kuß der Liebe
Und meines Herzens Klang verstand;
Da lebte mir der Baum, die Rose,
Mir sang der Quellen Silberfall,
Es fühlte selbst das Seelenlose
Von meines Lebens Widerhall.

Es dehnte mit allmächtgem Streben
Die enge Brust ein kreisend All,
Herauszutreten in das Leben
In Tat und Wort, in Bild und Schall.
Wie groß war diese Welt gestaltet,
Solang die Knospe sie noch barg,
Wie wenig, ach! hat sich entfaltet,
Dies wenige, wie klein und karg!

Wie sprang, von kühnem Mut beflügelt,
Beglückt in seines Traumes Wahn,
Von keiner Sorge noch gezügelt,
Der Jüngling in des Lebens Bahn.
Bis an des Äthers bleichste Sterne
Erhob ihn der Entwürfe Flug,
Nichts war so hoch und nichts so ferne,
Wohin ihr Flügel ihn nicht trug.

Wie leicht ward er dahingetragen,
Was war dem Glücklichen zu schwer!
Wie tanzte vor des Lebens Wagen
Die luftige Begleitung her!
Die Liebe mit dem süßen Lohne,
Das Glück mit seinem goldnen Kranz,
Der Ruhm mit seiner Sternenkrone,
Die Wahrheit in der Sonne Glanz!

Doch, ach! schon auf des Weges Mitte
Verloren die Begleiter sich,
Sie wandten treulos ihre Schritte,
Und einer nach dem andern wich.
Leichtfüßig war das Glück entflogen,
Des Wissens Durst blieb ungestillt,
Des Zweifels finstre Wetter zogen
Sich um der Wahrheit Sonnenbild.

Ich sah des Ruhmes heilge Kränze
Auf der gemeinen Stirn entweiht.
Ach, allzuschnell nach kurzem Lenze,
Entfloh die schöne Liebeszeit.
Und immer stiller wards und immer
Verlaßner auf dem rauhen Steg,
Kaum warf noch einen bleichen Schimmer
Die Hoffnung auf den finstern Weg.

Von all dem rauschenden Geleite,
Wer harrte liebend bei mir aus?
Wer steht mir tröstend noch zur Seite
Und folgt mir bis zum finstern Haus?
Du, die du alle Wunden heilest,
Der Freundschaft leise, zarte Hand,
Des Lebens Bürden liebend teilest,
Du, die ich frühe sucht' und fand,

Und du, die gern sich mit ihr gattet,
Wie sie der Seele Sturm beschwört,
Beschäftigung, die nie ermattet,
Die langsam schafft, doch nie zerstört,
Die zu dem Bau der Ewigkeiten
Zwar Sandkorn nur für Sandkorn reicht,
Doch von der großen Schuld der Zeiten
Minuten, Tage, Jahre streicht. S. 38ff.

Aus: Friedrich Schiller, Gedichte. Herausgegeben von Norbert Oellers Reclams Universalbibliothek Nr. 1710 (S.178-182).© 1999 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages

Das Ideal und das Leben
Erstdruck 1795 unter dem Titel »Das Reich der Schatten«, später auch unter dem Titel »Das Reich der Formen«.
Ewigklar und spiegelrein und eben
Fließt das zephyrleichte Leben
Im Olymp den Seligen dahin.
Monde wechseln und Geschlechter fliehen,
Ihrer Götterjugend Rosen blühen
Wandellos im ewigen Ruin.
Zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden
Bleibt dem Menschen nur die bange Wahl.
Auf der Stirn des hohen Uraniden
Leuchtet ihr vermählter Strahl.

Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen,
Frei sein in des Todes Reichen,

Brechet nicht von seines Gartens Frucht.
An dem Scheine mag der Blick sieh weiden,
Des Genusses wandelbare Freuden
Rächet schleunig der Begierde Flucht.
Selbst der Styx, der neunfach sie umwindet,
Wehrt die Rückkehr Ceres Tochter nicht,
Nach dem Apfel greift sie und es bindet
Ewig sie des Orkus Pflicht.

Nur der Körper eignet jenen Mächten,
Die das dunkle Schicksal flechten,
Aber frei von jeder Zeitgewalt,
Die Gespielin seliger Naturen
Wandelt oben in des Lichtes Fluren,
Göttlich unter Göttern, die Gestalt.
Wollt ihr hoch auf ihren Flügeln schweben,
Werft die Angst des Irdischen von euch,
Fliehet aus dem engen dumpfen Leben
In des Ideales Reich!

Jugendlich, von allen Erdenmalen
Frei, in der Vollendung Strahlen
Schwebet hier der Menschheit Götterbild,
Wie des Lebens schweigende Phantome
Glänzend wandeln an dem styg‘schen Strome,
Wie sie stand im himmlischen Gefild,
Ehe noch zum traur‘gen Sarkophage
Die Unsterbliche herunter stieg.
Wenn im Lehen noch des Kampfes Waage
Schwankt, erscheinet hier der Sieg.

Nicht vom Kampf die Glieder zu entstricken,
Den Erschöpften zu erquicken,
Wehet hier des Sieges duft‘ger Kranz.
Mächtig, selbst wenn eure Sehnen ruhten,
Reißt das Leben euch in seine Fluten,
Euch die Zeit in ihren Wirbeltanz.
Aber sinkt des Mutes kühner Flügel
Bei der Schranken peinlichem Gefühl,
Dann erblicket von der Schönheit Hügel
Freudig das erflog‘ne Ziel.

Wenn es gilt, zu herrschen und zu schirmen,
Kämpfer gegen Kämpfer stürmen
Auf des Glückes, auf des Ruhmes Bahn,
Da mag Kühnheit sich an Kraft zerschlagen,
Und mit krachendem Getös die Wagen
Sich vermengen auf bestäubtem Plan.
Mut allein kann hier den Dank erringen,
Der am Ziel des Hippodromes winkt,
Nur der Starke wird das Schicksal zwingen,
Wenn der Schwächling untersinkt.

Aber der, von Klippen eingeschlossen,
Wild und schäumend sich ergossen,
Sanft und eben rinnt des Lebens Fluss
Durch der Schönheit stille Schattenlande,
Und auf seiner Wellen Silberrande
Mahlt Aurora sich und Hesperus.
Aufgelöst in zarter Wechselliebe,
In der Anmut freiem Bund vereint,
Ruhen hier die ausgesöhnten Triebe,
Und verschwunden ist der Feind.

Wenn das Tote bildend zu beseelen,
Mit dem Stoff sich zu vermählen
Tatenvoll der Genius entbrennt,
Da, da spanne sich des Fleißes Nerve,
Und beharrlich ringend unterwerfe
Der Gedanke sich das Element.
Nur dem Ernst, den keine Mühe bleichet,
Rauscht der Wahrheit tief versteckter Born,
Nur des Meisels schwerem Schlag erweichet
Sich des Marmors sprödes Korn.

Aber dringt bis in der Schönheit Sphäre,
Und im Staube bleibt die Schwere
Mit dem Stoff, den sie beherrscht, zurück.
Nicht der Masse qualvoll abgerungen,
Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen,
Steht das Bild vor dem entzückten Blick.
Alle Zweifel, alle Kämpfe schweigen
In des Sieges hoher Sicherheit,
Ausgestoßen hat es jeden Zeugen
Menschlicher Bedürftigkeit.

Wenn ihr in der Menschheit traur‘ger Blöße
Steht vor des Gesetzes Größe,
Wenn dem Heiligen die Schuld sich naht,
Da erblasse vor der Wahrheit Strahle
Eure Tugend, vor dem Ideale
Fliehe mutlos die beschämte Tat.
Kein Erschaff‘ner hat dies Ziel erflogen,
Über diesen grauenvollen Schlund
Trägt kein Nachen, keiner Brücke Bogen,
Und kein Anker findet Grund.

Aber flüchtet aus der Sinne Schranken
In die Freiheit der Gedanken,
Und die Furchterscheinung ist entflohn,
Und der ew‘ge Abgrund wird sich füllen;
Nehmt die Gottheit auf in euern Willen,
Und sie steigt von ihrem Weltenthron.

Des Gesetzes strenge Fessel bindet
Nur den Sklavensinn, der es verschmäht,
Mit des Menschen Widerstand verschwindet
Auch des Gottes Majestät.

Wenn der Menschheit Leiden euch umfangen,
Wenn dort Priams Sohn der Schlangen
Sich erwehrt mit namenlosem Schmerz,
Da empöre sich der Mensch! Es schlage
An des Himmels Wölbung seine Klage,
Und zerreiße euer fühlend Herz!
Der Natur furchtbare Stimme siege,
Und der Freude Wange werde bleich,
Und der heil‘gen Sympathie erliege
Das Unsterbliche in euch!

Aber in den heitern Regionen,
Wo die reinen Formen wohnen,
Rauscht des Jammers trüber Sturm nicht mehr.
Hier darf Schmerz die Seele nicht durchschneiden,
Keine Träne fließt hier mehr dem Leiden,
Nur des Geistes tapf‘rer Gegenwehr.
Lieblich wie der Iris Farbenfeuer
Auf der Donnerwolke duft‘gem Tau,
Schimmert durch der Wehmut düstern Schleier
Hier der Ruhe heitres Blau.

Tief erniedrigt zu des Feigen Knechte
Ging in ewigem Gefechte
Einst Alcid des Lebens schwere Bahn,
Rang mit Hydern und umarmt‘ den Leuen,
Stürzte sich, die Freunde zu befreien,
Lebend in des Totenschiffers Kahn.
Alle Plagen, alle Erdenlasten
Wälzt der unversöhnten Göttin List
Auf die will‘gen Schultern des Verhaßten,
Bis sein Lauf geendigt ist —

Bis der Gott, des Irdischen entkleidet,
Flammend sich vom Menschen scheidet,
Und des Äthers leichte Lüfte trinkt.
Froh des neuen ungewohnten Schwebens
Fließt er aufwärts und des Erdenlebens
Schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt.
Des Olympus Harmonien empfangen
Den Verklärten in Chronions Saal,
Und die Göttin mit den Rosenwangen
Reicht ihm lächelnd den Pokal.
Aus: Friedrich Schiller, Gedichte. Herausgegeben von Norbert Oellers Reclams Universalbibliothek Nr. 1710 (S.178-182)
© 1999 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages


Die Götter Griechenlands

Fassung von 1788

Da ihr noch die schöne Welt regiertet,
An der Freude leichtem Gängelband
Glücklichere Menschalter führtet,
Schöne Wesen aus dem Fabelland!
Ach! da euer Wonnedienst noch glänzte,
Wie ganz anders, anders war es da!
Da man deine Tempel noch bekränzte,
Venus Amathusia!

Da der Dichtkunst malerische Hülle
Sich noch lieblich um die Wahrheit wand! -
Durch die Schöpfung floß da Lebensfülle,
Und, was nie empfinden wird, empfand.
An der Liebe Busen sie zu drücken,
Gab man höhern Adel der Natur.
Alles wies den eingeweihten Blicken,
Alles eines Gottes Spur.

Wo jetzt nur, wie unsre Weisen sagen,
Seelenlos ein Feuerball sich dreht,
Lenkte damals seinen goldnen Wagen
Helios in stiller Majestät.
Diese Höhen füllten Oreaden,
Eine Dryas starb mit jenem Baum,
Aus den Urnen lieblicher Najaden
Sprang der Ströme Silberschaum.

Jener Lorbeer wand sich einst um Hilfe,
Tantals Tochter schweigt in diesem Stein,
Syrinx' Klage tönt' aus jenem Schilfe,
Philomelens Schmerz in diesem Hain.
Jener Bach empfing Demeters Zähre,
Die sie um Persephonen geweint,
Und von diesem Hügel rief Cythere,
Ach, vergebens! ihrem schönen Freund.

Zu Deukalions Geschlechte stiegen
Damals noch die Himmlischen herab,
Pyrrhas schöne Töchter zu besiegen,
Nahm Hyperion den Hirtenstab.
Zwischen Menschen, Göttern und Heroen
Knüpfte Amor einen schönen Bund.
Sterbliche mit Göttern und Heroen
Huldigten in Amathunt.

Betend an der Grazien Altären
Kniete da die holde Priesterin,
Sandte stille Wünsche an Cytheren
Und Gelübde an die Charitin.
[Hoher Stolz, auch droben zu gebieten,
Lehrte sie den göttergleichen Rang,
Und des Reizes heilgen Gürtel hüten,
Der den Donnrer selbst bezwang.

Himmlisch und unsterblich war das Feuer,
Das in Pindars stolzen Hymnen floß,
Niederströmte in Arions Leier,
In den Stein des Phidias sich goß.
Beßre Wesen, edlere Gestalten
Kündigten die hohe Abkunft an.
Götter, die vom Himmel niederwallten,
Sahen hier ihn wieder aufgetan.

Werter war von eines Gottes Güte,
Teurer jede Gabe der Natur.
Unter Iris' schönem Bogen blühte
Reizender die perlenvolle Flur.
Prangender erschien die Morgenröte
In Himerens rosigtem Gewand,
Schmelzender erklang die Flöte
In des Hirtengottes Hand.

Liebenswerter malte sich die Jugend,
Blühender in Ganymedas Bild,
Heldenkühner, göttlicher die Tugend
Mit Tritoniens Medusenschild.
Sanfter war, da Hymen es noch knüpfte,
Heiliger der Herzen ewges Band.
Selbst des Lebens zarter Faden schlüpfte
Weicher durch der Parzen Hand.

Das Evoë muntrer Thyrsusschwinger
Und der Panther prächtiges Gespann
Meldeten den großen Freudebringer.
Faun und Satyr taumeln ihm voran,
Um ihn springen rasende Mänaden,
Ihre Tänze loben seinen Wein,
Und die Wangen des Bewirters laden
Lustig zu dem Becher ein.

Höher war der Gabe Wert gestiegen,
Die der Geber freundlich mit genoß,
Näher war der Schöpfer dem Vergnügen,
Das im Busen des Geschöpfes floß.
Nennt der meinige sich dem Verstande?
Birgt ihn etwa der Gewölke Zelt?
Mühsam späh ich im Ideenlande,
Fruchtlos in der Sinnenwelt.

Eure Tempel lachten gleich Palästen,
Euch verherrlichte das Heldenspiel
An des Isthmus kronenreichen Festen,
Und die Wagen donnerten zum Ziel.
Schön geschlungne seelenvolle Tänze
Kreisten um den prangenden Altar,
Eure Schläfe schmückten Siegeskränze,
Kronen euer duftend Haar.

Seiner Güter schenkte man das beste,
Seiner Lämmer liebstes gab der Hirt,
Und der Freudetaumel seiner Gäste
Lohnte dem erhabnen Wirt.
Wohin tret ich? Diese traurge Stille
Kündigt sie mir meinen Schöpfer an?
Finster, wie er selbst, ist seine Hülle,
Mein Entsagen - was ihn feiern kann.

Damals trat kein gräßliches Gerippe
Vor das Bett des Sterbenden. Ein Kuß
Nahm das letzte Leben von der Lippe,
Still und traurig senkt' ein Genius
Seine Fackel. Schöne, lichte Bilder
Scherzten auch um die Notwendigkeit,
Und das ernste Schicksal blickte milder
Durch den Schleier sanfter Menschlichkeit.

Nach der Geister schrecklichen Gesetzen
Richtete kein heiliger Barbar,
Dessen Augen Tränen nie benetzen,
Zarte Wesen, die ein Weib gebar.
Selbst des Orkus strenge Richterwaage
Hielt der Enkel einer Sterblichen,
Und des Thrakers seelenvolle Klage
Rührte die Erinnyen.

Seine Freuden traf der frohe Schatten
In Elysiens Hainen wieder an;
Treue Liebe fand den treuen Gatten
Und der Wagenlenker seine Bahn;
Orpheus' Spiel tönt die gewohnten Lieder,
In Alcestens Arme sinkt Admet,
Seinen Freund erkennt Orestes wieder,
Seine Waffen Philoktet.

Aber ohne Wiederkehr verloren
Bleibt, was ich auf dieser Welt verließ,
Jede Wonne hab ich abgeschworen,
Alle Bande, die ich selig pries.
Fremde, nie verstandene Entzücken
Schaudern mich aus jenen Welten an,
Und für Freuden, die mich jetzt beglücken,
Tausch ich neue, die ich missen kann.

Höhre Preise stärkten da den Ringer
Auf der Tugend arbeitvoller Bahn:
Großer Taten herrliche Vollbringer
Klimmten zu den Seligen hinan;
Vor dem Wiederforderer der Toten
Neigte sich der Götter stille Schar.
Durch die Fluten leuchtet dem Piloten
Vom Olymp das Zwillingspaar.

Schöne Welt, wo bist du? - Kehre wieder,
Holdes Blütenalter der Natur!
Ach! nur in dem Feenland der Lieder
Lebt noch deine goldne Spur.
Ausgestorben trauert das Gefilde,
Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick,
Ach! von jenem lebenwarmen Bilde
Blieb nur das Gerippe mir zurück.

Alle jenen Blüten sind gefallen
Von des Nordes winterlichem Wehn.
Einen zu bereichern, unter allen,
Mußte diese Götterwelt vergehn.
Traurig such ich an dem Sternenbogen,
Dich, Selene, find ich dort nicht mehr;
Durch die Wälder ruf ich, durch die Wogen,
Ach! sie widerhallen leer!

Unbewußt der Freuden, die sie schenket,
Nie entzückt von ihrer Trefflichkeit,
Nie gewahr des Armes, der sie lenket,
Reicher nie durch meine Dankbarkeit,
Fühllos selbst für ihres Künstlers Ehre,
Gleich dem toten Schlag der Pendeluhr,
Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere,
Die entgötterte Natur!

Morgen wieder neu sich zu entbinden,
Wühlt sie heute sich ihr eignes Grab,
Und an ewig gleicher Spindel winden
Sich von selbst die Monde auf und ab.
Müßig kehrten zu dem Dichterlande
Heim die Götter, unnütz einer Welt,
Die, entwachsen ihrem Gängelbande,
Sich durch eignes Schweben hält.

Freundlos, ohne Bruder, ohne Gleichen,
Keiner Göttin, keiner Irdschen Sohn,
Herrscht ein andrer in des Äthers Reichen
Auf Saturnus' umgestürztem Thron.
Selig, eh sich Wesen um ihn freuten,
Selig im entvölkerten Gefild,
Sieht er in dem langen Strom der Zeiten
Ewig nur - sein eignes Bild.

Bürger des Olymps konnt ich erreichen,
Jenem Gotte, den sein Marmor preist,
Konnte einst der hohe Bildner gleichen;
Was ist neben dir der höchste Geist
Derer, welche Sterbliche gebaren?
Nur der Würmer Erster, Edelster.
Da die Götter menschlicher noch waren,
Waren Menschen göttlicher.

Dessen Strahlen mich darnieder schlagen,
Werk und Schöpfer des Verstandes! dir
Nachzuringen, gib mir Flügel, Waagen,
Dich zu wägen - oder nimm von mir,
Nimm die ernste, strenge Göttin wieder,
Die den Spiegel blendend vor mir hält;
Ihre sanftre Schwester sende nieder,
Spare jene für die andre Welt.

  Fassung von 1793 - 1800

Da ihr noch die schöne Welt regieret,
An der Freude leichtem Gängelband
Selige Geschlechter noch geführet,
Schöne Wesen aus dem Fabelland!
Ach, da euer Wonnedienst noch glänzte,
Wie ganz anders, anders war es da!
Da man deine Tempel noch bekränzte,
Venus Amathusia!

Da der Dichtung zauberische Hülle
Sich noch lieblich um die Wahrheit wand -
Durch die Schöpfung floß da Lebensfülle,
Und was nie empfinden wird, empfand.
An der Liebe Busen sie zu drücken,
Gab man höhern Adel der Natur,
Alles wies den eingeweihten Blicken,
Alles eines Gottes Spur.

Wo jetzt nur, wie unsre Weisen sagen,
Seelenlos ein Feuerball sich dreht,
Lenkte damals seinen goldnen Wagen
Helios in stiller Majestät.
Diese Höhen füllten Oreaden,
Eine Dryas lebt' in jenem Baum,
Aus den Urnen lieblicher Najaden
Sprang der Ströme Silberschaum.

Jener Lorbeer wand sich einst um Hilfe,
Tantals Tochter schweigt in diesem Stein,
Syrinx' Klage tönt' aus jenem Schilfe,
Philomelas Schmerz aus diesem Hain.
Jener Bach empfing Demeters Zähre,
Die sie um Persephonen geweint,
Und von diesem Hügel rief Cythere,
Ach umsonst! dem schönen Freund.

Zu Deukalions Geschlechte stiegen
Damals noch die Himmlischen herab,
Pyrrhas schöne Töchter zu besiegen,
Nahm der Leto Sohn den Hirtenstab.
Zwischen Menschen, Göttern und Heroen
Knüpfte Amor einen schönen Bund,
Sterbliche mit Göttern und Heroen
Huldigten in Amathunt.

Finstrer Ernst und trauriges Entsagen
War aus eurem heitern Dienst verbannt,
Glücklich sollten alle Herzen schlagen,
Denn euch war der Glückliche verwandt.
Damals war nichts heilig als das Schöne,
Keiner Freude schämte sich der Gott,
Wo die keusch errötende Kamöne,
Wo die Grazie gebot.

Eure Tempel lachten gleich Palästen,
Euch verherrlichte das Heldenspiel
An des Isthmus kronenreichen Festen,
Und die Wagen donnerten zum Ziel.
Schön geschlungne seelenvolle Tänze
Kreisten um den prangenden Altar,
Eure Schläfe schmückten Siegeskränze,
Kronen euer duftend Haar.

Das Evoë muntrer Thyrsusschwinger
Und der Panther prächtiges Gespann
Meldeten den großen Freudebringer,
Faun und Satyr taumeln ihm voran,
Um ihn springen rasende Mänaden,
Ihre Tänze loben seinen Wein,
Und des Wirtes braune Wangen laden
Lustig zu dem Becher ein.

Damals trat kein gräßliches Gerippe
Vor das Bett des Sterbenden. Ein Kuß
Nahm das letzte Leben von der Lippe,
Seine Fackel senkt' ein Genius.
Selbst des Orkus strenge Richterwaage
Hielt der Enkel einer Sterblichen,
Und des Thrakers seelenvolle Klage
Rührte die Erinnyen.

Seine Freuden traf der frohe Schatten
In Elysiens Hainen wieder an,
Treue Liebe fand den treuen Gatten
Und der Wagenlenker seine Bahn,
Linus' Spiel tönt die gewohnten Lieder,
In Alcestens Arme sinkt Admet,
Seinen Freund erkennt Orestes wieder,
Seine Pfeile Philoktet.

Höhre Preise stärkten da den Ringer
Auf der Tugend arbeitvoller Bahn,
Großer Taten herrliche Vollbringer
Klimmten zu den Seligen hinan.
Vor dem Wiederforderer der Toten
Neigte sich der Götter stille Schar;
Durch die Fluten leuchtet dem Piloten
Vom Olymp das Zwillingspaar.

Schöne Welt, wo bist du? Kehre wieder,
Holdes Blütenalter der Natur!
Ach, nur in dem Feenland der Lieder
Lebt noch deine fabelhafte Spur.
Ausgestorben trauert das Gefilde,
Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick,
Ach, von jenem lebenwarmen Bilde
Blieb der Schatten nur zurück.

Alle jene Blüten sind gefallen
Von des Nordes schauerlichem Wehn,
Einen zu bereichern unter allen,
Mußte diese Götterwelt vergehn.
Traurig such ich an dem Sternenbogen,
Dich, Selene, find ich dort nicht mehr,
Durch die Wälder ruf ich, durch die Wogen,
Ach, sie widerhallen leer!

Unbewußt der Freuden, die sie schenket,
Nie entzückt von ihrer Herrlichkeit,
Nie gewahr des Geistes, der sie lenket,
Selger nie durch meine Seligkeit,
Fühllos selbst für ihres Künstlers Ehre,
Gleich dem toten Schlag der Pendeluhr,
Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere,
Die entgötterte Natur.

Morgen wieder neu sich zu entbinden,
Wühlt sie heute sich ihr eignes Grab,
Und an ewig gleicher Spindel winden
Sich von selbst die Monde auf und ab.
Müßig kehrten zu dem Dichterlande
Heim die Götter, unnütz einer Welt,
Die, entwachsen ihrem Gängelbande,
Sich durch eignes Schweben hält.

Ja, sie kehrten heim, und alles Schöne,
Alles Hohe nahmen sie mit fort,
Alle Farben, alle Lebenstöne,
Und uns blieb nur das entseelte Wort.
Aus der Zeitflut weggerissen, schweben
Sie gerettet auf des Pindus Höhn,
Was unsterblich im Gesang soll leben,
Muß im Leben untergehn.


 

 

 


 


Die Worte des Wahns
Drei Worte hört man bedeutungschwer
Im Munde der Guten und Besten.
Sie schallen vergeblich, ihr Klang ist leer,
Sie können nicht helfen und trösten.
Verscherzt ist dem Menschen des Lebens Frucht,
So lang‘ er die Schatten zu haschen sucht.

So lang‘ er glaubt an die goldene Zeit,
Wo das Rechte, das Gute wird siegen,
Das Rechte, das Gute führt ewig Streit,
Nie wird der Feind ihm erliegen,
Und erstickst du ihn nicht in den Lüften frei,
Stets wächst ihm die Kraft auf der Erde neu.

So lang‘ er glaubt, daß das buhlende Glück
Sich dem Edeln vereinigen werde.
Dem Schlechten folgt es mit Liebesblick,
Nicht dem Guten gehöret die Erde.
Er ist ein Fremdling, er wandert aus,
Und suchet ein unvergänglich Haus.

So lang‘ er glaubt, daß dem ird‘schen Verstand
Die Wahrheit je wird erscheinen,
Ihren Schleier hebt keine sterbliche Hand,
Wir können nur raten und meinen.
Du kerkerst den Geist in ein tönend Wort,
Doch der freie wandelt im Sturme fort.

Drum edle Seele, entreiß dich dem Wahn
Und den himmlischen Glauben bewahre!
Was kein Ohr vernahm, was die Augen nicht sahn,
Es ist dennoch das Schöne, das Wahre!
Es ist nicht draußen, da sucht es der Tor,
Es ist in dir, du bringst es ewig hervor.
Aus: Friedrich Schiller, Gedichte. Herausgegeben von Norbert Oellers Reclams Universalbibliothek Nr. 1710 (S.200) © 1999 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages


Laura am Klavier
Wenn dein Finger durch die Saiten meistert -
Laura, itzt zur Statue entgeistert,
Itzt entkörpert steh ich da.
Du gebietest über Tod und Leben,
Mächtig wie von tausend Nervgeweben
Seelen fordert Philadelphia; -

Ehrerbietig leiser rauschen
Dann die Lüfte, dir zu lauschen;
Hingeschmiedet zum Gesang,
Stehn im ewgen Wirbelgang,
Einzuziehn die Wonnefülle,
Lauschende Naturen stille,
Zauberin! mit Tönen, wie
Mich mit Blicken, zwingst du sie.

Seelenvolle Harmonien wimmeln,
Ein wollüstig Ungestüm,
Aus den Saiten, wie aus ihren Himmeln
Neugeborne Seraphim;
Wie, des Chaos Riesenarm entronnen,
Aufgejagt vom Schöpfungssturm die Sonnen
Funkend fuhren aus der Finsternus,
Strömt der goldne Saitenguß.

Lieblich itzt wie über bunten Kieseln
Silberhelle Fluten rieseln, -
Majestätisch prächtig nun
Wie des Donners Orgelton,
Stürmend von hinnen itzt, wie sich von Felsen
Rauschende, schäumende Gießbäche wälzen,

Holdes Gesäusel bald,
Schmeichlerisch linde,
Wie durch den Espenwald
Buhlende Winde,

Schwerer nun und melancholisch düster,
Wie durch toter Wüsten Schauernachtgeflüster,
Wo verlornes Heulen schweift,
Tränenwellen der Cocytus schleift.

Mädchen, sprich! Ich frage, gib mir Kunde:
Stehst mit höhern Geistern du im Bunde?
Ists die Sprache, lüg mir nicht,
Die man in Elysen spricht?

Von dem Auge weg der Schleier!
Starre Riegel von dem Ohr!
Mädchen! Ha! schon atm ich freier,
Läutert mich ätherisch Feuer?
Tragen Wirbel mich empor? - -

Neuer Geister Sonnensitze
Winken durch zerrißner Himmel Ritze -
Überm Grabe Morgenrot!
Weg, ihr Spötter, mit Insektenwitze!
Weg! Es ist ein Gott - - - -
Aus: Friedrich Schiller: Gedichte 1776-1788, S. 55.
Digitale Bibliothek Band 103: Schiller


Votivtafeln
Was der Gott mich gelehrt, was mir durchs Leben geholfen
Häng‘ ich, dankbar und fromm, hier in dem Heiligtum auf.

Die verschiedne Bestimmung
Millionen beschäftigen sich, daß die Gattung bestehe,
Aber durch wenige nur pflanzet die Menschheit sich fort.
Tausend Keime zerstreuet der Herbst, doch bringet kaum einer
Früchte, zum Element kehren die meisten zurück.
Aber entfaltet sich auch nur einer, einer allein streut
Eine lebendige Welt ewiger Bildungen aus.

Zweierlei Wirkungsarten
Wirke Gutes, du nährst der Menschheit göttliche Pflanze,
Bilde Schönes, du streust Keime der göttlichen aus.

Pflicht für jeden
Immer strebe zum Ganzen und kannst du selber kein Ganzes
Werden, als dienendes Glied schließ‘ an ein Ganzes dich an.

Aufgabe
Keiner sei gleich dem andern, doch gleich sei jeder dem höchsten!
Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich.

Das eigne Ideal
Allen gehört was du denkst, dein eigen ist nur was du fühlest,
Soll er dein Eigentum sein, fühle den Gott, den du denkst.

An die Mystiker
Das ist eben das wahre Geheimnis, das allen vor Augen
Liegt, euch ewig umgibt, aber von keinem gesehn.

Mein Glaube
Welche Religion ich bekenne? Keine von allen,
Die du mir nennst! — Und warum keine? Aus Religion.

Licht und Farbe
Wohne du ewiglich Eines dort bei dem ewiglich Einen,
Farbe, du wechselnde, komm freundlich zum Menschen herab.

Genialität
Wodurch gibt sich der Genius kund? Wodurch sich der Schöpfer
Kund gibt in der Natur, in dem unendlichen All.

Klar ist der Äther und doch von unermeßlicher Tiefe,
Offen dem Aug‘, dem Verstand bleibt er doch ewig geheim.

Die Philosophien
Welche wohl bleibt von allen den Philosophien? Ich weiß nicht.
Aber die Philosophie hoff‘ ich soll ewig bestehn.
Aus: Friedrich Schiller, Gedichte Herausgegeben von Norbert Oellers Reclams Universalbibliothek Nr. 1710 (S.203ff.) © 1999 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages


Die Philosophen
Lehrling
Gut, daß ich euch, ihr Herren, in pleno beisammen hier finde,
Denn das Eine, was not, treibt mich herunter zu euch.

Aristoteles
Gleich zur Sache, mein Freund. Wir halten die Jenaer Zeitung
Hier in der Hölle und sind längst schon von allem belehrt.

Lehrling
Desto besser! So gebt mir, ich geh euch nicht eher vom Leibe,
Einen allgültigen Satz, und der auch allgemein gilt.

Erster
Cogito, ergo sum. Ich denke, und mithin so bin ich,
Ist das eine nur wahr, ist es das andre gewiß.

Lehrling
Denk ich, so bin ich! Wohl! Doch wer wird immer auch denken?
Oft schon war ich, und hab wirklich an gar nichts gedacht!

Zweiter

Weil es Dinge doch gibt, so gibt es ein Ding aller Dinge,
In dem Ding aller Ding schwimmen wir, wie wir so sind.

Dritter
Just das Gegenteil sprech ich. Es gibt kein Ding als mich selber!
Alles andre, in mir steigt es als Blase nur auf.

Vierter
Zweierlei Dinge laß ich passieren, die Welt und die Seele,
Keins weiß vom andern, und doch deuten sie beide auf eins.

Fünfter

Von dem Ding weiß ich nichts und weiß auch nichts von der Seele,
Beide erscheinen mir nur, aber sie sind doch kein Schein.

Sechster
Ich bin ich und setze mich selbst, und setz ich mich selber
Als nicht gesetzt, nun gut! hab ich ein Nicht-Ich dazu.

Siebenter

Vorstellung wenigstens ist; ein Vorgestelltes ist also,
Ein Vorstellendes auch; macht mit der Vorstellung drei!

Lehrling
Damit lock ich, ihr Herrn, noch keinen Hund aus dem Ofen,
Einen erklecklichen Satz will ich, und der auch was setzt.

Achter
Auf theoretischem Feld ist weiter nichts mehr zu finden,
Aber der praktische Satz gilt doch: Du kannst, denn du sollst!

Lehrling
Dacht ichs doch! Wissen sie nichts Vernünftiges mehr zu erwidern,
Schieben sie's einem geschwind in das Gewissen hinein.

David Hume
Rede nicht mit dem Volk, der Kant hat sie alle verwirret,
Mich frag, ich bin mir selbst auch in der Hölle noch gleich.

Rechtsfrage
Jahrelang schon bedien ich mich meiner Nase zum Riechen,
Hab ich denn wirklich an sie auch ein erweisliches Recht?

Pufendorf
Ein bedenklicher Fall! Doch die erste Possession scheint
Für dich zu sprechen, und so brauche sie immerhin fort.

Gewissensskrupel

Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung,
Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.

Entscheidung
Da ist kein anderer Rat; du mußt suchen, sie zu verachten,
Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.
Cotta’scher Verlag 1856, Schillers sämtliche Werke in zwölf Bänden. Erster Band, Die Philosophen, S.390-392

Zitate aus Schillers Dramen
Die Braut von Messina
Das größte Übel
Das Leben ist der Güter höchstes nicht,
Der Übel größtes aber ist die Schuld.

Schiller: Die Braut von Messina, Schlußsätze des Chors

Mutter Gottes
Selber die Kirche, die göttliche, stellt nicht
Schöneres dar auf dem himmlischen Thron;
Höheres bildet
Selber die Kunst nicht, die göttlich geborne,
Als die Mutter mit ihrem Sohn.
Schiller: Die Braut von Messina, 1. Aufzug, 3. Auftritt

Versöhnlichkeit
Der Siege göttlichster ist das Vergeben:
Schiller: Die Braut von Messina, 1. Aufzug, 4. Auftritt

Arglist
Arglist hat auf allen Pfaden,
Fromme Unschuld zu verraten,
Ihr betrüglich Netz gestellt.
Schiller: Die Braut von Messina, 2. Aufzug, 1. Auftritt

Demut
Schamhafte Demut ist der Reize Krone,
Denn ein Verborgenes ist sich das Schöne,
Und es erschrickt vor seiner eigenen Macht:
Schiller: Die Braut von Messina, 2. Aufzug, 2. Auftritt

Ablass
Wo Menschenkunst nicht zureicht, hat der Himmel oft geraten.
Schiller: Die Braut von Messina, 4. Aufzug, 1. Auftritt

Tod
Der Tod hat eine reinigende Kraft,
In seinem unvergänglichen Palaste
Zu echter Tugend reinem Diamant
Das Sterbliche zu läutern und die Flecken
Der mangelhaften Menschheit zu verzehren.
Schiller: Die Braut von Messina, 4. Aufzug, 9. Auftritt

Wilhelm Tell
Unschuld
Die Unschuld hat im Himmel einen Freund.
Schiller: Wilhelm Tell, 1. Aufzug, 2.Szene

Gerechtigkeit
Doch Gott ist überall, wo man das Recht verwaltet,
Und unter seinem Himmel stehen wir.
Schiller: Wilhelm Tell, 2. Aufzug, 2.Szene

Gericht

O , denket, daß ein Gott im Himmel ist,
Dem müßt ihr Rede stehn für eure Taten.
Schiller: Wilhelm Tell, 3. Aufzug, 3.Szene

Schicksal

Ihr solltet Gottes gnäd'ge Schickung preisen,
Die es so gut gelenkt.
Schiller: Wilhelm Tell, 4. Aufzug, 1.Szene

Frieden
Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben,
Wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.
Schiller: Wilhelm Tell, 4. Aufzug, 3.Szene

Ablass
Ihr müßt fort
Ins Land Italien, nach Sankt Peters Stadt!
Dort werft ihr euch dem Papste zu Füßen, beichtet
Ihm eure Schuld und löset eure Seele!
Schiller: Wilhelm Tell, 5. Aufzug, 2.Szene

Maria Stuart
Die Arbeit
macht den Gesellen.
In großes Unglück lehrt ein edles Herz
Sich endlich finden.
Schiller: Maria Stuart, 1.Aufzug, 1.Auftritt

Ablass
Die Kirche, die den Löseschlüssel hat
Für jede Schuld, der Himmel hat vergeben.
Schiller: Maria Stuart, 1.Aufzug, 1.Auftritt

Gericht
Denkt an den Wechsel alles Menschlichen!
Es leben die Götter, die den Hochmut rächen!
Schiller: Maria Stuart, 3.Aufzug, 4.Auftritt

Gottmensch
Nicht allein genug ist sich
Das Herz, ein irdisch Pfand bedarf der Glaube,
das hohe himmlische sich anzueignen:
Drum ward der Gott zum Mensch und verschloß
Die unsichtbaren himmlischen Geschenke
Geheimnisvoll in einen sichtbar'n Leib.
Schiller: Maria Stuart, 5.Aufzug, 7. Auftritt

Sakrament des Altars
Ach, die Beglückten, die das froh geteilte
Gebet versammelt in dem Haus des Herrn!
Geschmückt ist der Altar, die Kerzen leuchten,
die Glocke tönt, der Weihrauch ist gestreut,
Der Bischof steht im reinen Meßgewand,
Er faßt den Kelch, er segnet ihn, er kündet
Das hohe Wunder der Verwandlung an,
Und niederstürzt dem gegenwärt'gen Gotte
das gläubig überzeugte Volk.
Schiller: Maria Stuart, 5.Aufzug, 7. Auftritt

Kirche
Im Glauben meiner Kirche will ich sterben,
Denn der allein ist's, welcher selig macht.
Schiller: Maria Stuart, 5.Aufzug, 7. Auftritt

Die Kirche ist's, die heilige, die hohe,
die zu dem Himmel uns die Leiter baut;
Die allgemeine, die kathol'sche heißt sie,
Denn nur der Glaube aller stärkt den Glauben:
Wo Tausende anbeten und verehren.
Da wird die Glut zur Flamme, und beflügelt
Schwingt sich der Geist in alle Himmel auf.
Schiller: Maria Stuart, 5.Aufzug, 7. Auftritt

Erlöser
Mein Heiland! Mein Erlöser!
Wie du am Kreuz die Arme ausgespannt,
So breite sie jetzt aus, mich zu empfangen.
Schiller: Maria Stuart, 5.Aufzug, 9. Auftritt

Wallenstein
Vernunft
Des Menschen Taten und Gedanken, wißt,
Sind nicht wie des Meeres blind bewegte Wellen.
Schiller: Wallensteins Tod, Vers 953-954

Don Carlos
Ablass
Nur bitt' ich Eure Hoheit, eingedenk
zu sein, daß dem beängstigten Gewissen
Die Kirche eine Zuflucht aufgetan,
Wozu Monarchen keinen Schlüssel haben,
Wo selber Missetaten unterm Siegel
Des Sakramentes aufgehoben liegen -
Sie wissen, was ich meine, Prinz.
Schiller: Don Carlos, 1. Akt, 1. Auftritt

Allmacht
Und einem Gott
Kann man nur opfern - zittern - zu ihm beten.
Schiller: Don Carlos, 3. Akt, 10. Auftritt

Mensch
Da sie den Menschen aus des Schöpfers Hand
In ihrer Hände Werk verwandelten,
Und dieser neugegoßnen Kreatur
Zum Gott sich gaben - da versahen Sie's
In etwas nur: Sie blieben selbst noch Mensch -
Mensch aus des Schöpfers Hand:
Schiller: Don Carlos, 3. Akt, 10. Auftritt

Weibliche Tugend

Und etwas lebt noch in des Weibes Seele,
Das über allen Schein erhaben ist
und über alle Lästerung - es heißt
Weibliche Tugend.
Schiller: Don Carlos, 4. Akt, 1. Auftritt

Wahrheit und Schönheit
Die Wahrheit ist vorhanden für den Weisen,
Die Schönheit für ein fühlend Herz. Sie beide
Gehören füreinander.
Schiller: Don Carlos, 4. Akt, 21. Auftritt

Die Jungfrau von Orleans

Jungfrau
Eine reine Jungfrau
Vollbringt jedwedes Herrliche auf Erden,
Wenn sie der ird'schen Liebe widersteht.
Schiller: Die Jungfrau von Orleans, 1. Aufzug, 10. Auftritt

Dankbarkeit
Wer treulos sich des Dankes will entschlagen,
Dem fehlt des Lügners freche Stirne nicht.
Schiller: Die Jungfrau von Orleans, 2. Aufzug, 2. Auftritt

Die Räuber
Leiden
Und ist nicht der körperliche Schmerz, der jedes Übermaß begleitet, ein Fingerzeig des göttlichen Willens?
Schiller: Die Räuber, 1. Akt, 1. Szene

Unschuld
Meine Unschuld! meine Unschuld - Seht, es ist alles hinausgegangen, sich im friedlichen Strahl des Frühlings zu sonnen - warum ich allein die Hölle saugen aus den Freuden des Himmels?
Schiller: Die Räuber, 3. Akt, 2. Szene

Ewigkeit
Amalia: Sagt man nicht, es gebe eine bessere Welt, wo die Trauernden sich freuen und die Liebenden sich wiedererkennen?
Moor: Ja. eine Welt , wo die Schleier hinwegfallen . . .
Ewigkeit heißt ihr Name.
Schiller: Die Räuber, 4. Akt, 4. Szene

Mord
Mord! wie eine ganze Hölle von Furien um das Wort flattert.
Schiller: Die Räuber, 4. Akt, 2. Szene

Schaut her! schaut her! Die Gesetze der Welt sind Würfelspiel worden, das Band der Natur ist entzwei, die alte Zwietracht ist los, der Sohn hat seinen Vater erschlagen.
Schiller: Die Räuber, 4. Akt, 5. Szene

Erbarmen
. . . die Gottheit ist Huld und Erbarmen!
Schiller: Die Räuber, 4. Akt, 4. Szene


FRANZ.
Plötzlich traf ein ungeheurer Donner mein schlummerndes Ohr, ich taumelte bebend auf, und siehe, da war mirs, als säh ich aufflammen den ganzen Horizont in feuriger Lohe, und Berge und Städte und Wälder, wie Wachs im Ofen zerschmolzen, und eine heulende Windsbraut fegte von hinnen Meer, Himmel und Erde - da erscholls wie aus ehernen Posaunen: Erde, gib deine Toten, gib deine Toten, Meer! und das nackte Gefild begonn zu kreißen, und aufzuwerfen Schädel und Rippen und Kinnbacken und Beine, die sich zusammenzogen in menschliche Leiber, und daherströmten unübersehlich, ein lebendiger Sturm: Damals sah ich aufwärts, und siehe, ich stand am Fuß des donnernden Sina, und über mir Gewimmel und unter mir, und oben auf der Höhe des Bergs auf drei rauchenden Stühlen drei Männer, vor deren Blick flohe die Kreatur -
DANIEL. Das ist ja das leibhaft Konterfei vom Jüngsten Tage.
FRANZ. Nicht wahr? das ist tolles Gezeuge? - Da trat hervor Einer, anzusehen wie die Sternennacht, der hatte in seiner Hand einen eisernen Siegelring, den hielt er zwischen Aufgang und Niedergang und sprach: Ewig, heilig, gerecht, unverfälschbar! Es ist nur eine Wahrheit, es ist nur eine Tugend! Wehe, wehe, wehe dem zweifelnden Wurme! - da trat hervor ein Zweiter, der hatte in seiner Hand einen blitzenden Spiegel, den hielt er zwischen Aufgang und Niedergang und sprach: Dieser Spiegel ist Wahrheit; Heuchelei und Larven bestehen nicht - da erschrak ich und alles Volk, denn wir sahen Schlangen- und Tiger- und Leopardengesichter zurückgeworfen aus dem entsetzlichen Spiegel. - Da trat hervor ein Dritter, der hatte in seiner Hand eine eherne Waage, die hielt er zwischen Aufgang und Niedergang und sprach: tretet herzu, ihr Kinder von Adam - ich wäge die Gedanken in der Schale meines Zornes! und die Werke mit dem Gewicht meines Grimms! -
DANIEL. Gott erbarme sich meiner!
FRANZ. Schneebleich stunden alle, ängstlich klopfte die Erwartung in jeglicher Brust. Da war mirs, als hört ich meinen Namen zuerst genannt aus den Wettern des Berges, und mein innerstes Mark gefror in mir, und meine Zähne klapperten laut. Schnell begonn die Waage zu klingen, zu donnern der Fels, und die Stunden zogen vorüber, eine nach der andern an der links hangenden Schale, und eine nach der andern warf eine Todsünde hinein -
DANIEL. O Gott vergeb Euch!
FRANZ. Das tat er nicht! - die Schale wuchs zu einem Gebirge, aber die andere, voll vom Blut der Versöhnung hielt sie noch immer hoch in den Lüften - zuletzt kam ein alter Mann, schwer gebeuget von Gram, angebissen den Arm von wütendem Hunger, aller Augen wandten sich scheu vor dem Mann, ich kannte den Mann, er schnitt eine Locke von seinem silbernen Haupthaar, warf sie hinein in die Schale der Sünden, und siehe, sie sank, sank plötzlich zum Abgrund, und die Schale der Versöhnung flatterte hoch auf! - Da hört ich eine Stimme schallen aus dem Rauche des Felsen: Gnade, Gnade jedem Sünder der Erde und des Abgrunds! du allein bist verworfen! -
Schiller: Die Räuber, 5. Akt, 1. Szene

Siehe die Gottheit ermüdet nicht im Erbarmen, und wir armseligen Würmer gehen schlafen mit unserm Groll.

Schiller: Die Räuber, 5. Akt, 2. Szene


Gericht
Der Gedanke Gott weckt einen fürchterlichen Nachbar
auf, sein Name heißt Richter.
Schiller: Die Räuber, 5. Akt, 1. Szene


Kabale und Liebe

Verdorbenheit
Es ist was Gemeines, daß Menschen fallen und Paradiese verloren werden; aber wenn die Pest unter Engeln wütet, so rufe man Trauer aus durch die ganze Natur!
Schiller: Kabale und Liebe, 5. Akt, 7.Szene

Über Geistersehen

Der Armenier und der Magier
Eines Abends, als wir nach Gewohnheit in tiefer Maske und abgesondert auf dem St. Markusplatz spazieren gingen - es fing an, spät zu werden, und das Gedränge hatte sich verloren - bemerkte der Prinz, daß eine Maske uns überall folgte. Die Maske war ein Armenier und ging allein. Wir beschleunigten unsere Schritte und suchten sie durch öftere Veränderung unseres Weges irre zu machen - umsonst, die Maske blieb immer dicht hinter uns.

»Sie haben doch keine Intrige hier gehabt?«
sagte endlich der Prinz zu mir. »Die Ehemänner in Venedig sind gefährlich.« -

»Ich stehe mit keiner einzigen Dame in Verbindung«
, gab ich zur Antwort. -

»Wir wollen uns hier niedersetzen und deutsch sprechen«,
fuhr er fort. »Ich bilde mir ein, man verkennt uns.«

Wir setzten uns auf eine steinerne Bank und erwarteten, daß die Maske vorübergehen sollte. Sie kam gerade auf uns zu und nahm ihren Platz dicht an der Seite des Prinzen. Er zog die Uhr heraus und sagte mir laut auf französisch, indem er aufstand: »Neun Uhr vorbei. Kommen Sie. Wir vergessen, daß man uns im 'Louvre' erwartet.« Dies sagte er nur, um die Maske von unserer Spur zu entfernen.

»Neun Uhr«,
wiederholte sie in eben der Sprache nachdrücklich und langsam. »Wünschen Sie sich Glück, Prinz« (indem sie ihn bei seinem wahren Namen nannte). »Um neun Uhr ist er gestorben.« Damit stand sie auf und ging.

Wir sahen uns bestürzt an. -

»Wer ist gestorben?«
sagte endlich der Prinz nach einer langen Stille. -

»Lassen Sie uns ihr nachgehen«, sagte ich, »und eine Erklärung fordern.«

Wir durchkrochen alle Winkel des Markusplatzes - die Maske war nicht mehr zu finden. Unbefriedigt kehrten wir nach unserm Gasthof zurück. Der Prinz sagte mir unterweges nicht ein Wort, sondern ging seitwärts und allein und schien einen gewaltsamen Kampf zu kämpfen, wie er mir auch nachher gestanden hat.

Als wir zu Hause waren, öffnete er zum ersten Male wieder den Mund. »Es ist doch lächerlich«, sagte er, »daß ein Wahnsinniger die Ruhe eines Mannes mit zwei Worten erschüttern soll.«

Wir wünschten uns eine gute Nacht, und sobald ich auf meinem Zimmer war, merkte ich mir in meiner Schreibtafel den Tag und die Stunde, wo es geschehen war. Es war ein Donnerstag.

Am folgenden Abend sagte mir der Prinz: »Wollen wir nicht einen Gang über den Markusplatz machen und unsern geheimnisvollen Armenier aufsuchen? Mich verlangt doch nach der Entwickelung dieser Komödie.«

Ich wars zufrieden. Wir blieben bis eilf Uhr auf dem Platze. Der Armenier war nirgends zu sehen. Das nämliche wiederholten wir die vier folgenden Abende, und mit keinem bessern Erfolge.

Als wir am sechsten Abend unser Hotel verließen, hatte ich den Einfall - ob unwillkürlich oder aus Absicht, besinne ich mich nicht mehr -, den Bedienten zu hinterlassen, wo wir zu finden sein würden, wenn nach uns gefragt werden sollte. Der Prinz bemerkte meine Vorsicht und lobte sie mit einer lächelnden Miene. Es war ein großes Gedränge auf dem Markusplatz, als wir da ankamen. Wir hatten kaum dreißig Schritte gemacht, so bemerkte ich den Armenier wieder, der sich mit schnellen Schritten durch die Menge arbeitete und mit den Augen jemand zu suchen schien. Eben waren wir im Begriff, ihn zu erreichen, als der Baron von F** aus der Suite des Prinzen atemlos auf uns zukam und dem Prinzen einen Brief überbrachte.

»Er ist schwarz gesiegelt«, setzte er hinzu. »Wir vermuteten, daß es Eile hätte.«

Das fiel auf mich wie ein Donnerschlag. Der Prinz war zu einer Laterne getreten und fing an zu lesen.

»Mein Cousin ist gestorben«, rief er.

»Wann?«fiel ich ihm heftig ins Wort.

Er sah noch einmal in den Brief. »Vorigen Donnerstag. Abends um neun Uhr.«

Wir hatten nicht Zeit, von unserm Erstaunen zurückzukommen, so stand der Armenier unter uns.

»Sie sind hier erkannt, gnädigster Herr«,
sagte er zu dem Prinzen. »Eilen Sie nach dem 'Mohren'. Sie werden die Abgeordneten des Senats dort finden. Tragen Sie kein Bedenken, die Ehre anzunehmen, die man Ihnen erweisen will. Der Baron von F** vergaß, Ihnen zu sagen, daß Ihre Wechsel angekommen sind.« Er verlor sich in dem Gedränge.

Wir eilten nach unserm Hotel. Alles fand sich, wie der Armenier es verkündigt hatte. Drei Nobili der Republik standen bereit, den Prinzen zu bewillkommen und ihn mit Pracht nach der Assemblee zu begleiten, wo der hohe Adel der Stadt ihn erwartete. Er hatte kaum soviel Zeit, mir durch einen flüchtigen Wink zu verstehen zu geben, daß ich für ihn wach bleiben möchte.

Nachts gegen eilf Uhr kam er wieder. Ernst und gedankenvoll trat er ins Zimmer und ergriff meine Hand, nachdem er die Bedienten entlassen hatte.

»Graf«, sagte er mit den Worten Hamlets zu mir, »es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als wir in unsern Philosophien träumen.«

»Gnädigster Herr«, antwortete ich, »Sie scheinen zu vergessen, daß Sie um eine große Hoffnung reicher zu Bette gehen.« (Der Verstorbene war der Erbprinz, der einzige Sohn des regierenden ***, der alt und kränklich ohne Hoffnung eigner Succession war. Ein Oheim unsers Prinzen, gleichfalls ohne Erben und ohne Aussicht, welche zu bekommen, stand jetzt allein noch zwischen diesem und dem Throne. Ich erwähne dieses Umstandes, weil in der Folge davon die Rede sein wird.)

»Erinnern Sie mich nicht daran«,
sagte der Prinz. »Und wenn eine Krone für mich wäre gewonnen worden, ich hätte jetzt mehr zu tun, als dieser Kleinigkeit nachzudenken. - - Wenn dieser Armenier nicht bloß erraten hat - -«

»Wie ist das möglich, Prinz?« fiel ich ein. -

»So will ich Ihnen alle meine fürstlichen Hoffnungen für eine Mönchskutte abtreten.«

Den folgenden Abend fanden wir uns zeitiger als gewöhnlich auf dem Markusplatz ein. Ein plötzlicher Regenguß nötigte uns, in ein Kaffeehaus einzutreten, wo gespielt wurde. Der Prinz stellte sich hinter den Stuhl eines Spaniers und beobachtete das Spiel. Ich war in ein anstoßendes Zimmer gegangen, wo ich Zeitungen las. Eine Weile darauf hörte ich Lärmen. Vor der Ankunft des Prinzen war der Spanier unaufhörlich im Verluste gewesen, jetzt gewann er auf alle Karten. Das ganze Spiel war auffallend verändert, und die Bank war in Gefahr, von dem Pointeur, den diese glückliche Wendung kühner gemacht hatte, aufgefordert zu werden. Der Venezianer, der sie hielt, sagte dem Prinzen mit beleidigendem Ton - er störe das Glück, und er solle den Tisch verlassen. Dieser sah ihn kalt an und blieb; dieselbe Fassung behielt er, als der Venezianer seine Beleidigung französisch wiederholte. Der letztere glaubte, daß der Prinz beide Sprachen nicht verstehe, und wandte sich mit verachtungsvollem Lachen zu den übrigen: »Sagen Sie mir doch, meine Herren, wie ich mich diesem Balordo verständlich machen soll?« Zugleich stand er auf und wollte den Prinzen beim Arm ergreifen; diesen verließ hier die Geduld, er packte den Venezianer mit starker Hand und warf ihn unsanft zu Boden. Das ganze Haus kam in Bewegung.

Auf das Geräusch stürzte ich herein, unwillkürlich rief ich ihn bei seinem Namen. »Nehmen Sie sich in acht, Prinz«, setzte ich mit Unbesonnenheit hinzu, »wir sind in Venedig.«

Der Name des Prinzen gebot eine allgemeine Stille, woraus bald ein Gemurmel wurde, das mir gefährlich schien. Alle anwesenden Italiener rotteten sich zu Haufen und traten beiseite. Einer um den andern verließ den Saal, bis wir uns beide mit dem Spanier und einigen Franzosen allein fanden.

»Sie sind verloren, gnädigster Herr«,
sagten diese, »wenn Sie nicht sogleich die Stadt verlassen. Der Venezianer, den Sie so übel behandelt haben, ist reich und von Ansehen - es kostet ihm nur funfzig Zechinen, Sie aus der Welt zu schaffen.« Der Spanier bot sich an, zur Sicherheit des Prinzen Wache zu holen und uns selbst nach Hause zu begleiten. Dasselbe wollten auch die Franzosen. Wir standen noch und überlegten, was zu tun wäre, als die Türe sich öffnete und einige Bedienten der Staatsinquisition hereintraten. Sie zeigten uns eine Ordre der Regierung, worin uns beiden befohlen ward, ihnen schleunig zu folgen. Unter einer starken Bedeckung führte man uns bis zum Kanal. Hier erwartete uns eine Gondel, in die wir uns setzen mußten. Ehe wir ausstiegen, wurden uns die Augen verbunden. Man führte uns eine große steinerne Treppe hinauf und dann durch einen langen gewundenen Gang über Gewölbe, wie ich aus dem vielfachen Echo schloß, das unter unsern Füßen hallte. Endlich gelangten wir vor eine andere Treppe, welche uns sechsundzwanzig Stufen in die Tiefe hinunterführte. Hier öffnete sich ein Saal, wo man uns die Binde wieder von den Augen nahm. Wir befanden uns in einem Kreise ehrwürdiger alter Männer, alle schwarz gekleidet, der ganze Saal mit schwarzen Tüchern behangen und sparsam erleuchtet, eine Totenstille in der ganzen Versammlung, welches einen schreckhaften Eindruck machte. Einer von diesen Greisen, vermutlich der oberste Staatsinquisitor, näherte sich dem Prinzen und fragte ihn mit einer feierlichen Miene, während man ihm den Venezianer vorführte:

»Erkennen Sie diesen Menschen für den nämlichen, der Sie auf dem Kaffeehause beleidigt hat?«


»Ja«,
antwortete der Prinz.

Darauf wandte jener sich zu dem Gefangenen: »Ist das dieselbe Person, die Sie heute abend wollten ermorden lassen?«

Der Gefangene antwortete mit Ja.

Sogleich öffnete sich der Kreis, und mit Entsetzen sahen wir den Kopf des Venezianers vom Rumpfe trennen.

»Sind Sie mit dieser Genugtuung zufrieden?« fragte der Staatsinquisitor. -

Der Prinz lag ohnmächtig in den Armen seiner Begleiter. -

»Gehen Sie nun«, fuhr jener mit einer schrecklichen Stimme fort, indem er sich gegen mich wandte, »und urteilen Sie künftig weniger vorschnell von der Gerechtigkeit in Venedig.«

Wer der verborgene Freund gewesen, der uns durch den schnellen Arm der Justiz von einem gewissen Tode errettet hatte, konnten wir nicht erraten. Starr von Schrecken erreichten wir unsere Wohnung. Es war nach Mitternacht. Der Kammerjunker von Z** erwartete uns mit Ungeduld an der Treppe.
»Wie gut war es, daß Sie geschickt haben!« sagte er zum Prinzen, indem er uns leuchtete - »Eine Nachricht, die der Baron von F** gleich nachher vom Markusplatze nach Hause brachte, hatte uns wegen Ihrer in die tödlichste Angst gesetzt.«

»Geschickt hätte ich? Wann? Ich weiß nichts davon.«

»Diesen Abend nach acht Uhr. Sie ließen uns sagen, daß wir ganz außer Sorgen sein dürften, wenn Sie heute später nach Hause kämen.«

Hier sah der Prinz mich an. »Haben Sie vielleicht ohne mein Wissen diese Sorgfalt gebraucht?«

Ich wußte von gar nichts.

»Es muß doch wohl so sein, Ihro Durchlaucht«,
sagte der Kammerjunker - »denn hier ist ja Ihre Repetieruhr, die Sie zur Sicherheit mitschickten.« Der Prinz griff nach der Uhrtasche. Die Uhr war wirklich fort, und er erkannte jene für die seinige.

»Wer brachte sie?« fragte er mit Bestürzung.

»Eine unbekannte Maske, in armenischer Kleidung, die sich sogleich wieder entfernte.«


Wir standen und sahen uns an. -

»Was halten Sie davon?« sagte endlich der Prinz nach einem langen Stillschweigen. »Ich habe hier einen verborgenen Aufseher in Venedig.«

Der schreckliche Auftritt dieser Nacht hatte dem Prinzen ein Fieber zugezogen, das ihn acht Tage nötigte, das Zimmer zu hüten. In dieser Zeit wimmelte unser Hotel von Einheimischen und Fremden, die der entdeckte Stand des Prinzen herbeigelockt hatte. Man wetteiferte untereinander, ihm Dienste anzubieten, jeder suchte nach seiner Art, sich geltend zu machen. Des ganzen Vorgangs in der Staatsinquisition wurde nicht mehr erwähnt. Weil der Hof zu ** die Abreise des Prinzen noch aufgeschoben wünschte, so erhielten einige Wechsler in Venedig Anweisung, ihm beträchtliche Summen auszuzahlen. So ward er wider Willen in den Stand gesetzt, seinen Aufenthalt in Italien zu verlängern, und auf sein Bitten entschloß ich mich auch, meine Abreise noch zu verschieben.

Sobald er soweit genesen war, um das Zimmer wieder verlassen zu können, beredete ihn der Arzt, eine Spazierfahrt auf der Brenta zu machen, um die Luft zu verändern. Das Wetter war helle, und die Partie ward angenommen. Als wir eben im Begriff waren, in die Gondel zu steigen, vermißte der Prinz den Schlüssel zu einer kleinen Schatulle, die sehr wichtige Papiere enthielt. Sogleich kehrten wir um, ihn zu suchen. Er besann sich aufs genaueste, die Schatulle noch den vorigen Tag verschlossen zu haben, und seit dieser Zeit war er nicht aus dem Zimmer gekommen. Aber alles Suchen war umsonst, wir mußten davon abstehen, um die Zeit nicht zu verlieren. Der Prinz, dessen Seele über jeden Argwohn erhaben war, erklärte ihn für verloren und bat uns, nicht weiter davon zu sprechen.

Die Fahrt war die angenehmste. Eine malerische Landschaft, die mit jeder Krümmung des Flusses sich an Reichtum und Schönheit zu übertreffen schien, der heiterste Himmel, der mitten im Hornung einen Maientag bildete, reizende Gärten und geschmackvolle Landhäuser ohne Zahl, welche beide Ufer der Brenta schmücken - hinter uns das majestätische Venedig, mit hundert aus dem Wasser springenden Türmen und Masten, alles dies gab uns das herrlichste Schauspiel von der Welt. Wir überließen uns ganz dem Zauber dieser schönen Natur, unsere Laune war die heiterste, der Prinz selbst verlor seinen Ernst und wetteiferte mit uns in fröhlichen Scherzen. Eine lustige Musik schallte uns entgegen, als wir einige italienische Meilen von der Stadt ans Land stiegen. Sie kam aus einem kleinen Dorfe, wo eben Jahrmarkt gehalten wurde; hier wimmelte es von Gesellschaft aller Art. Ein Trupp junger Mädchen und Knaben, alle theatralisch gekleidet, bewillkommte uns mit einem pantomimischen Tanz. Die Erfindung war neu, Leichtigkeit und Grazie beseelten jede Bewegung. Eh der Tanz noch völlig zu Ende war, schien die Anführerin desselben, welche eine Königin vorstellte, plötzlich wie von einem unsichtbaren Arme gehalten. Leblos stand sie und alles. Die Musik schwieg. Kein Odem war zu hören in der ganzen Versammlung, und sie stand da, den Blick auf die Erde geheftet, in einer tiefen Erstarrung. Auf einmal fuhr sie mit der Wut der Begeisterung in die Höhe, blickte wild um sich her -

»Ein König ist unter uns«,
rief sie, riß ihre Krone vom Haupt und legte sie - zu den Füßen des Prinzen.

Alles, was da war, richtete hier die Augen auf ihn, lange Zeit ungewiß, ob Bedeutung in diesem Gaukelspiel wäre, so sehr hatte der affektvolle Ernst dieser Spielerin getäuscht. - Ein allgemeines Händeklatschen des Beifalls unterbrach endlich diese Stille. Meine Augen suchten den Prinzen. Ich bemerkte, daß er nicht wenig betroffen war und sich Mühe gab, den forschenden Blicken der Zuschauer auszuweichen. Er warf Geld unter die Kinder und eilte, aus dem Gewühle zu kommen.

Wir hatten nur wenige Schritte gemacht, als ein ehrwürdiger Barfüßer sich durch das Volk arbeitete und dem Prinzen in den Weg trat.

»Herr«,
sagte der Mönch, »gib der Madonna von deinem Reichtum, du wirst ihr Gebet brauchen.« Er sprach dies mit einem Tone, der uns betreten machte. Das Gedränge riß ihn weg.

Unser Gefolge war unterdessen gewachsen. Ein englischer Lord, den der Prinz schon in Nizza gesehen hatte, einige Kaufleute aus Livorno, ein deutscher Domherr, ein französischer Abbé mit einigen Damen und ein russischer Offizier gesellten sich zu uns. Die Physiognomie des letztern hatte etwas ganz Ungewöhnliches, das unsere Aufmerksamkeit auf sich zog. Nie in meinem Leben sah ich so viele Züge und so wenig Charakter, so viel anlockendes Wohlwollen mit so viel zurückstoßendem Frost in einem Menschengesichte beisammen wohnen. Alle Leidenschaften schienen darin gewühlt und es wieder verlassen zu haben. Nichts war übrig als der stille, durchdringende Blick eines vollendeten Menschenkenners, der jedes Auge verscheuchte, worauf er traf. Dieser seltsame Mensch folgte uns von weitem, schien aber an allem, was vorging, nur einen nachlässigen Anteil zu nehmen.

Wir kamen vor eine Bude zu stehen, wo Lotterie gezogen wurde. Die Damen setzten ein, wir andern folgten ihrem Beispiel; auch der Prinz forderte ein Los. Es gewann eine Tabatiere. Als er sie aufmachte, sah ich ihn blaß zurückfahren. - Da Schlüssel lag darin.

»Was ist das?«
sagte der Prinz zu mir, als wir einen Augenblick allein waren. »Eine höhere Gewalt verfolgt mich. Allwissenheit schwebt um mich. Ein unsichtbares Wesen, dem ich nicht entfliehen kann, bewacht alle meine Schritte. Ich muß den Armenier aufsuchen und muß Licht von ihm haben.«

Die Sonne neigte sich zum Untergang, als wir vor dem Lusthause ankamen, wo das Abendessen serviert war. Der Name des Prinzen hatte unsere Gesellschaft bis zu sechzehn Personen vergrößert. Außer den oben erwähnten war noch ein Virtuose aus Rom, einige Schweizer und ein Avantürier aus Palermo, der Uniform trug und sich für einen Kapitän ausgab, zu uns gestoßen. Es ward beschlossen, den ganzen Abend hier zuzubringen und mit Fackeln nach Hause zu fahren. Die Unterhaltung bei Tische war sehr lebhaft, und der Prinz konnte nicht umhin, die Begebenheit mit dem Schlüssel zu erzählen, welche eine allgemeine Verwunderung erregte. Es wurde heftig über diese Materie gestritten. Die meisten aus der Gesellschaft behaupteten dreist weg, daß alle diese geheimen Künste auf eine Taschenspielerei hinausliefen; der Abbé, der schon viel Wein bei sich hatte, forderte das ganze Geisterreich in die Schranken heraus; der Engländer sagte Blasphemien; der Musikus machte das Kreuz vor dem Teufel. Wenige, worunter der Prinz war, hielten dafür, daß man sein Urteil über diese Dinge zurückhalten müsse; währenddessen unterhielt sich der russische Offizier mit den Frauenzimmern und schien das ganze Gespräch nicht zu achten. In der Hitze des Streits hatte man nicht bemerkt, daß der Sizilianer hinausgegangen war. Nach Verfluß einer kleinen halben Stunde kam er wieder, in einen Mantel gehüllt, und stellte sich hinter den Stuhl des Franzosen. »Sie haben vorhin die Bravour geäußert, es mit allen Geistern aufzunehmen - wollen Sie es mit einem versuchen?«

»Topp!« sagte der Abbé - »wenn Sie es auf sich nehmen wollen, mir einen herbeizuschaffen.«

»Das will ich«, antwortete der Sizilianer (indem er sich gegen uns kehrte), »wenn diese Herren und Damen uns werden verlassen haben.«

»Warum das?« rief der Engländer. »Ein herzhafter Geist fürchtet sich vor keiner lustigen Gesellschaft.«

»Ich stehe nicht für den Ausgang«,
sagte der Sizilianer.

»Um des Himmels willen! Nein!« schrien die Frauenzimmer an dem Tische und fuhren erschrocken von ihren Stühlen.

»Lassen Sie Ihren Geist kommen«, sagte der Abbé trotzig; »aber warnen Sie ihn vorher, daß es hier spitzige Klingen gibt« (indem er einen von den Gästen um seinen Degen bat).

»Das mögen Sie alsdann halten, wie Sie wollen«, antwortete der Sizilianer kalt, »wenn Sie nachher noch Lust dazu haben.« Hier kehrte er sich zum Prinzen. »Gnädigster Herr«, sagte er zu diesem, »Sie behaupten, daß Ihr Schlüssel in fremden Händen gewesen - Können Sie vermuten, in welchen?«

»Nein.«


»Raten Sie auch auf niemand?«


»Ich hatte freilich einen Gedanken - -«


»Würden Sie die Person erkennen, wenn Sie sie vor sich sähen?«


»Ohne Zweifel.«

Hier schlug der Sizilianer seinen Mantel zurück und zog einen Spiegel hervor, den er dem Prinzen vor die Augen hielt.

»Ist es diese?«

Der Prinz trat mit Schrecken zurück.

»Was haben Sie gesehen?« fragte ich.

»Den Armenier.«

Der Sizilianer verbarg seinen Spiegel wieder unter dem Mantel. »War es dieselbe Person, die Sie meinen?« fragte die ganze Gesellschaft den Prinzen.

»Die nämliche.«

Hier veränderte sich jedes Gesicht, man hörte auf zu lachen. Alle Augen hingen neugierig an dem Sizilianer.

»Monsieur l'Abbé, das Ding wird ernsthaft«, sagte der Engländer; »ich riet' Ihnen, auf den Rückzug zu denken.«

»Der Kerl hat den Teufel im Leibe«
, schrie der Franzose und lief aus dem Hause, die Frauenzimmer stürzten mit Geschrei aus dem Saal, der Virtuose folgte ihnen, der deutsche Domherr schnarchte in einem Sessel, der Russe blieb wie bisher gleichgültig sitzen.

»Sie wollten vielleicht nur einen Großsprecher zum Gelächter machen«,
fing der Prinz wieder an, nachdem jene hinaus waren - »oder hätten Sie wohl Lust, uns Wort zu halten?«

»Es ist wahr«, sagte der Sizilianer. »Mit dem Abbé war es mein Ernst nicht, ich tat ihm den Antrag nur, weil ich wohl wußte, daß die Memme mich nicht beim Wort nehmen würde. - Die Sache selbst ist übrigens zu ernsthaft, um bloß einen Scherz damit auszuführen.«

»Sie räumen also doch ein, daß sie in Ihrer Gewalt ist?«


Der Magier schwieg eine lange Zeit und schien den Prinzen sorgfältig mit den Augen zu prüfen.

»Ja«, antwortete er endlich.

Die Neugierde des Prinzen war bereits auf den höchsten Grad gespannt. Mit der Geisterwelt in Verbindung zu stehen, war ehedem seine Lieblingsschwärmerei gewesen, und seit jener ersten Erscheinung des Armeniers hatten sich alle Ideen wieder bei ihm gemeldet, die seine reifere Vernunft so lange abgewiesen hatte. Er ging mit dem Sizilianer beiseite, und ich hörte ihn sehr angelegentlich mit ihm unterhandeln.

»Sie haben hier einen Mann vor sich«, fuhr er fort, »der von Ungeduld brennt, in dieser wichtigen Materie es zu einer Überzeugung zu bringen. Ich würde denjenigen als meinen Wohltäter, als meinen ersten Freund umarmen, der hier meine Zweifel zerstreute und die Decke von meinen Augen zöge - Wollen Sie sich dieses große Verdienst um mich erwerben?«

»Was verlangen Sie von mir?«
sagte der Magier mit Bedenken.

»Vor jetzt nur eine Probe Ihrer Kunst. Lassen Sie mich eine Erscheinung sehen.«


»Wozu soll das führen?«

»Dann mögen Sie aus meiner nähern Bekanntschaft urteilen, ob ich eines höhern Unterrichts wert bin.«

»Ich schätze Sie über alles, gnädigster Prinz. Eine geheime Gewalt in Ihrem Angesichte, die Sie selbst noch nicht kennen, hat mich beim ersten Anblick an Sie gebunden. Sie sind mächtiger, als Sie selbst wissen. Sie haben unumschränkt über meine ganze Gewalt zu gebieten - aber -«

»Also lassen Sie mich eine Erscheinung sehen.«

»Aber ich muß erst gewiß sein, daß Sie diese Forderung nicht aus Neugierde an mich machen. Wenn gleich die unsichtbaren Kräfte mir einigermaßen zu Willen sind, so ist es unter der heiligen Bedingung, daß ich die heiligen Geheimnisse nicht profaniere, daß ich meine Gewalt nicht mißbrauche.«

»Meine Absichten sind die reinsten. Ich will Wahrheit.«


Hier verließen sie ihren Platz und traten zu einem entfernten Fenster, wo ich sie nicht weiter hören konnte. Der Engländer, der diese Unterredung gleichfalls mit angehört hatte, zog mich auf die Seite.

»Ihr Prinz ist ein edler Mann. Ich beklage, daß er sich mit einem Betrüger einläßt.«

»Es wird darauf ankommen«, sagte ich, »wie er sich aus dem Handel zieht.«

»Wissen Sie was?« sagte der Engländer, »jetzt macht der arme Teufel sich kostbar. Er wird seine Kunst nicht auskramen, bis er Geld klingen hört. Es sind unser neune. Wir wollen eine Kollekte machen und ihn durch einen hohen Preis in Versuchung führen. Das bricht ihm den Hals und öffnet Ihrem Prinzen die Augen.«

»Ich bins zufrieden.«


Der Engländer warf sechs Guineen auf einen Teller und sammelte in der Reihe herum. Jeder gab einige Louis; den Russen besonders schien unser Vorschlag ungemein zu interessieren, er legte eine Banknote von hundert Zechinen auf den Teller - eine Verschwendung, über welche der Engländer erstaunte. Wir brachten die Kollekte dem Prinzen.

»Haben Sie die Güte«, sagte der Engländer, »bei diesem Herrn für uns fürzusprechen, daß er uns eine Probe seiner Kunst sehen lasse und diesen kleinen Beweis unsrer Erkenntlichkeit annehme.«

Der Prinz legte noch einen kostbaren Ring auf den Teller und reichte ihn dem Sizilianer. Dieser bedachte sich einige Sekunden. -

»Meine Herren und Gönner«, fing er darauf an, »diese Großmut beschämt mich. - Es scheint, daß Sie mich verkennen - aber ich gebe Ihrem Verlangen nach. Ihr Wunsch soll erfüllt werden«(indem er eine Glocke zog). »Was dieses Gold betrifft, worauf ich selber kein Recht habe, so werden Sie mir erlauben, daß ich es in dem nächsten Benediktinerkloster für milde Stiftungen niederlege. Diesen Ring behalte ich als ein schätzbares Denkmal, das mich an den würdigsten Prinzen erinnern soll.«

Hier kam der Wirt, dem er das Geld sogleich überlieferte.

»Und er ist dennoch ein Schurke«, sagte mir der Engländer ins Ohr. »Das Geld schlägt er aus, weil ihm jetzt mehr an dem Prinzen gelegen ist.«

»Oder der Wirt versteht seinen Auftrag«, sagte ein anderer.

»Wen verlangen Sie?« fragte jetzt der Magier den Prinzen.

Der Prinz besann sich einen Augenblick -

»Lieber gleich einen großen Mann«,
rief der Lord. »Fordern Sie den Papst Ganganelli. Dem Herrn wird das gleich wenig kosten.«

Der Sizilianer biß sich in die Lippen. - »Ich darf keinen zitieren, der die Weihung empfangen hat.«

»Das ist schlimm«, sagte der Engländer. »Vielleicht hätten wir von ihm erfahren, an welcher Krankheit er gestorben ist.«

»Der Marquis von Lanoy«,
nahm der Prinz jetzt das Wort, »war französischer Brigadier im vorigen Kriege und mein vertrautester Freund. In der Bataille bei Hastinbeck empfing er eine tödliche Wunde, man trug ihn nach meinem Zelte, wo er bald darauf in meinen Armen starb. Als er schon mit dem Tode rang, winkte er mich noch zu sich 'Prinz', fing er an, 'ich werde mein Vaterland nicht wiedersehen, erfahren Sie also ein Geheimnis, wozu niemand als ich den Schlüssel hat. In einem Kloster auf der flandrischen Grenze lebt eine -' - hier verschied er. Die Hand des Todes zertrennte den Faden seiner Rede; ich möchte ihn hier haben und die Fortsetzung hören.«

»Viel gefordert, bei Gott!« rief der Engländer. »Ich erkläre Sie für einen zweiten Salomo, wenn Sie diese Aufgabe lösen.« -

Wir bewunderten die sinnreiche Wahl des Prinzen und gaben ihr einstimmig unsern Beifall. Unterdessen ging der Magier mit starken Schritten auf und nieder und schien unentschlossen mit sich selbst zu kämpfen.

»Und das war alles, was der Sterbende Ihnen zu hinterlassen hatte?«

»Alles.«


»Taten Sie keine weiteren Nachfragen deswegen in seinem Vaterlande?«


»Sie waren alle vergebens.«

»Der Marquis von Lanoy hatte untadelhaft gelebt? - Ich darf nicht jeden Toten rufen.«


»Er starb mit Reue über die Ausschweifungen seiner Jugend.«


»Tragen Sie irgend etwa ein Andenken von ihm bei sich?«


»Ja.« (Der Prinz führte wirklich eine Tabatiere bei sich, worauf das Miniaturbild des Marquis in Emaille war, und die er bei der Tafel neben sich hatte liegen gehabt.)

»Ich verlange es nicht zu wissen - - Lassen Sie mich allein. Sie sollen den Verstorbenen sehen.«


Wir wurden gebeten, uns so lange in den andern Pavillon zu begeben, bis er uns rufen würde. Zugleich ließ er alle Meublen aus dem Saale räumen, die Fenster ausheben und die Läden auf das genaueste verschließen. Dem Wirt, mit dem er schon vertraut zu sein schien, befahl er, ein Gefäß mit glühenden Kohlen zu bringen und alle Feuer im Hause sorgfältig mit Wasser zu löschen. Ehe wir weggingen, nahm er von jedem insbesondere das Ehrenwort, ein ewiges Stillschweigen über das zu beobachten, was wir sehen und hören würden. Hinter uns wurden alle Zimmer auf diesem Pavillon verriegelt.

Es war nach elf Uhr, und eine tiefe Stille herrschte im ganzen Hause. Beim Hinausgehen fragte mich der Russe, ob wir geladene Pistolen bei uns hätten?

»Wozu?« sagte ich. -

»Es ist auf alle Fälle«, versetzte er. »Warten Sie einen Augenblick, ich will mich darnach umsehen.« Er entfernte sich.

Der Baron von F** und ich öffneten ein Fenster, das jenem Pavillon gegenüber sah, und es kam uns vor, als hörten wir zwei Menschen zusammen flüstern und ein Geräusch, als ob man eine Leiter anlegte. Doch war das nur eine Mutmaßung, und ich getraue mir nicht, sie für wahr auszugeben. Der Russe kam mit einem Paar Pistolen zurück, nachdem er eine halbe Stunde ausgeblieben war. Wir sahen sie ihn scharf laden. Es war beinahe zwei Uhr, als der Magier wieder erschien und uns ankündigte, daß es Zeit wäre. Ehe wir hineintraten, ward uns befohlen, die Schuhe auszuziehen und im bloßen Hemde, Strümpfen und Unterkleidern zu erscheinen. Hinter uns wurde, wie das erste Mal, verriegelt.

Wir fanden, als wir in den Saal zurückkamen, mit einer Kohle einen weiten Kreis beschrieben, der uns alle zehn bequem fassen konnte. Rings herum an allen vier Wänden des Zimmers waren die Dielen weggehoben, daß wir gleichsam auf einer Insel standen. Ein Altar, mit schwarzem Tuch behangen, stand mitten im Kreis errichtet, unter welchen ein Teppich von rotem Atlas gebreitet war. Eine chaldäische Bibel lag bei einem Totenkopf aufgeschlagen auf dem Altar, und ein silbernes Kruzifix war darauf festgemacht. Statt der Kerzen brannte Spiritus in einer silbernen Kapsel. Ein dicker Rauch von Olibanum verfinsterte den Saal, davon das Licht beinahe erstickte. Der Beschwörer war entkleidet wie wir, aber barfuß; um den bloßen Hals trug er ein Amulett an einer Kette von Menschenhaaren, um die Lenden hatte er eine weiße Schürze geschlagen, die mit geheimen Chiffern und symbolischen Figuren bezeichnet war. Er hieß uns einander die Hände reichen und eine tiefe Stille beobachten; vorzüglich empfahl er uns, ja keine Frage an die Erscheinung zu tun. Den Engländer und mich (gegen uns beide schien er das meiste Mißtrauen zu hegen) ersuchte er, zwei bloße Degen unverrückt und kreuzweise, einen Zoll hoch, über seinem Scheitel zu halten, solange die Handlung dauern würde. Wir standen in einem halben Mond um ihn herum, der russische Offizier drängte sich dicht an den Engländer und stand zunächst an dem Altar. Das Gesicht gegen Morgen gerichtet, stellte sich der Magier jetzt auf den Teppich, sprengte Weihwasser nach allen vier Weltgegenden und neigte sich dreimal gegen die Bibel. Eine halbe Viertelstunde dauerte die Beschwörung, von welcher wir nichts verstanden; nach Endigung derselben gab er denen, die zunächst hinter ihm standen, ein Zeichen, daß sie ihn jetzt fest bei den Haaren fassen sollten. Unter den heftigsten Zuckungen rief er den Verstorbenen dreimal mit Namen, und das dritte Mal streckte er nach dem Kruzifixe die Hand aus - -

Auf einmal empfanden wir alle zugleich einen Streich wie vom Blitze, daß unsere Hände auseinander flogen; ein plötzlicher Donnerschlag erschütterte das Haus, alle Schlösser klangen, alle Türen schlugen zusammen, der Deckel an der Kapsel fiel zu, das Licht löschte aus, und an der entgegenstehenden Wand über dem Kamine zeigte sich eine menschliche Figur, in blutigem Hemde, bleich und mit dem Gesicht eines Sterbenden.

»Wer ruft mich?« sagte eine hohle, kaum hörbare Stimme.

»Dein Freund«, antwortete der Beschwörer, »der dein Andenken ehret und für deine Seele betet«, zugleich nannte er den Namen des Prinzen.
Die Antworten erfolgten immer nach einem sehr großen Zwischenraum.

»Was verlangt er?« fuhr diese Stimme fort.

»Dein Bekenntnis will er zu Ende hören, das du in dieser Welt angefangen und nicht beschlossen hast.«


»In einem Kloster auf der flandrischen Grenze lebt - - -«

Hier erzitterte das Haus von neuem. Die Türe sprang freiwillig unter einem heftigen Donnerschlag auf, ein Blitz erleuchtete das Zimmer, und eine andere körperliche Gestalt, blutig und blaß wie die erste, aber schrecklicher, erschien an der Schwelle. Der Spiritus fing von selbst an zu brennen, und der Saal wurde helle wie zuvor.

»Wer ist unter uns?«
rief der Magier erschrocken und warf einen Blick des Entsetzens durch die Versammlung - »Dich habe ich nicht gewollt.«

Die Gestalt ging mit majestätischem leisem Schritt gerade auf den Altar zu, stellte sich auf den Teppich, uns gegenüber, und faßte das Kruzifix. Die erste Figur sahen wir nicht mehr.

»Wer ruft mich?« sagte diese zweite Erscheinung.

Der Magier fing an, heftig zu zittern. Schrecken und Erstaunen hatten uns gefesselt. Ich griff nach einer Pistole, der Magier riß sie mir aus der Hand und drückte sie auf die Gestalt ab. Die Kugel rollte langsam auf dem Altar, und die Gestalt trat unverändert aus dem Rauche. Jetzt sank der Magier ohnmächtig nieder.

»Was wird das?«
rief der Engländer voll Erstaunen und wollte einen Streich mit dem Degen nach ihr tun. Die Gestalt berührte seinen Arm, und die Klinge fiel zu Boden. Hier trat der Angstschweiß auf meine Stirn. Baron F** gestand uns nachher, daß er gebetet habe. Diese ganze Zeit über stand der Prinz furchtlos und ruhig, die Augen starr auf die Erscheinung gerichtet.

»Ja! Ich erkenne dich«,
rief er endlich voll Rührung aus, »du bist Lanoy, du bist mein Freund - - Woher kommst du?«

»Die Ewigkeit ist stumm. Frage mich aus dem vergangnen Leben.«


»Wer lebt in dem Kloster, das du mir bezeichnet hast?«

»Meine Tochter.«

»Wie? Du bist Vater gewesen?«

»Weh mir, daß ich es zu wenig war!«

»Bist du nicht glücklich, Lanoy?«

»Gott hat gerichtet.«


»Kann ich dir auf dieser Welt noch einen Dienst erzeigen?«

»Keinen, als an dich selbst zu denken.«

»Wie muß ich das?«

»In Rom wirst du es erfahren.«

Hier erfolgte ein neuer Donnerschlag - eine schwarze Rauchwolke erfüllte das Zimmer; als sie zerflossen war, fanden wir keine Gestalt mehr. Ich stieß einen Fensterladen auf. Es war Morgen.

Jetzt kam auch der Magier aus seiner Betäubung zurück. »Wo sind wir?« rief er aus, als er Tageslicht erblickte. Der russische Offizier stand dicht hinter ihm und sah ihm über die Schulter.

»Taschenspieler«, sagte er mit schrecklichem Blick zu ihm, »du wirst keinen Geist mehr rufen.«

Der Sizilianer drehte sich um, sah ihm genauer ins Gesicht, tat einen lauten Schrei und stürzte zu seinen Füßen.

Jetzt sahen wir alle auf einmal den vermeintlichen Russen an. Der Prinz erkannte in ihm ohne Mühe die Züge seines Armeniers wieder, und das Wort, das er eben hervorstottern wollte, erstarb auf seinem Munde. Schrecken und Überraschung hatten uns alle wie versteinert. Lautlos und unbeweglich starrten wir dieses geheimnisvolle Wesen an, das uns mit einem Blicke stiller Gewalt und Größe durchschaute. Eine Minute dauerte dies Schweigen - und wieder eine. Kein Odem war in der ganzen Versammlung.

Einige kräftige Schläge an die Tür brachten uns endlich wieder zu uns selbst. Die Tür fiel zertrümmert in den Saal, und herein drangen Gerichstdiener mit Wache.

»Hier finden wir sie ja beisammen!«
rief der Anführer und wandte sich zu seinen Begleitern. »Im Namen der Regierung!« rief er uns zu. »Ich verhafte euch.«

Wir hatten nicht so viel Zeit, uns zu besinnen; in wenig Augenblicken waren wir umringt. Der russische Offizier, den ich jetzt wieder den Armenier nenne, zog den Anführer der Häscher auf die Seite, und so viel mir diese Verwirrung zuließ, bemerkte ich, daß er ihm einige Worte heimlich ins Ohr sagte und etwas Schriftliches vorzeigte. Sogleich verließ ihn der Häscher mit einer stummen und ehrerbietigen Verbeugung, wandte sich darauf zu uns und nahm seinen Hut ab. »Vergeben Sie, meine Herren«, sagte er, »daß ich Sie mit diesem Betrüger vermengen konnte. Ich will nicht fragen, wer Sie sind - aber dieser Herr versichert mir, daß ich Männer von Ehre vor mir habe.« Zugleich winkte er seinen Begleitern, von uns abzulassen. Den Sizilianer befahl er wohl zu bewachen und zu binden. »Der Bursche da ist überreif«, setzte er hinzu. »Wir haben schon sieben Monate auf ihn gelauert.«

Dieser elende Mensch war wirklich ein Gegenstand des Jammers. Das doppelte Schrecken der zweiten Geistererscheinung und dieses unerwarteten Überfalls hatte seine Besinnungskraft überwältigt. Er ließ sich binden wie ein Kind; die Augen lagen weit aufgesperrt und stier in einem totenähnlichen Gesichte, und seine Lippen bebten in stillen Zuckungen, ohne einen Laut auszustoßen. Jeden Augenblick erwarteten wir einen Ausbruch von Konvulsionen. Der Prinz fühlte Mitleid mit seinem Zustand und unternahm es, seine Loslassung bei dem Gerichtsdiener auszuwirken, dem er sich zu erkennen gab.

»Gnädigster Herr«, sagte dieser, »wissen Sie auch, wer der Mensch ist, für welchen Sie sich so großmütig verwenden? Der Betrug, den er Ihnen zu spielen gedachte, ist sein geringstes Verbrechen. Wir haben seine Helfershelfer. Sie sagen abscheuliche Dinge von ihm aus. Er mag sich noch glücklich preisen, wenn er mit der Galeere davon kommt.«

Unterdessen sahen wir auch den Wirt nebst seinen Hausgenossen mit Stricken gebunden über den Hof führen. -

»Auch dieser?« rief der Prinz. »Was hat denn dieser verschuldet?« -

»Er war sein Mitschuldiger und Hehler«, antwortete der Anführer der Häscher, »der ihm zu seinen Taschenspielerstückchen und Diebereien behülflich gewesen und seinen Raub mit ihm geteilt hat. Gleich sollen Sie überzeugt sein, gnädigster Herr« (indem er sich zu seinen Begleitern kehrte). »Man durchsuche das ganze Haus und bringe mir sogleich Nachricht, was man gefunden hat.«

Jetzt sah sich der Prinz nach dem Armenier um - aber er war nicht mehr vorhanden; in der allgemeinen Verwirrung, welche dieser Überfall anrichtete, hatte er Mittel gefunden, sich unbemerkt zu entfernen. Der Prinz war untröstlich; gleich wollte er ihm alle seine Leute nachschicken; er selbst wollte ihn aufsuchen und mich mit sich fortreißen. Ich eilte ans Fenster; das ganze Haus war von Neugierigen umringt, die das Gerücht dieser Begebenheit herbeigeführt hatte. Unmöglich war es, durch das Gedränge zu kommen. Ich stellte dem Prinzen dieses vor:

»Wenn es diesem Armenier ein Ernst ist, sich vor uns zu verbergen, so weiß er unfehlbar die Schliche besser als wir, und alle unsere Nachforschungen werden vergebens sein. Lieber lassen Sie uns noch hier bleiben, gnädigster Prinz. Vielleicht kann uns dieser Gerichtsdiener etwas Näheres von ihm sagen, dem er sich, wenn ich anders recht gesehen habe, entdeckt hat.«


Jetzt erinnerten wir uns, daß wir noch ausgekleidet waren. Wir eilten nach unserm Zimmer, uns in der Geschwindigkeit in unsre Kleider zu werfen. Als wir zurückkamen, war die Haussuchung geschehen.

Nachdem man den Altar weggeräumt und die Dielen des Saals aufgebrochen, entdeckte man ein geräumiges Gewölbe, worin ein Mensch gemächlich aufrecht sitzen konnte, mit einer Türe versehen, die durch eine schmale Treppe nach dem Keller führte. In diesem Gewölbe fand man eine Elektrisiermaschine, eine Uhr und eine kleine silberne Glocke, welche letztere, so wie die Elektrisiermaschine, mit dem Altar und dem darauf befestigten Kruzifixe Kommunikation hatte. Ein Fensterladen, der dem Kamine gerade gegenüberstand, war durchbrochen und mit einem Schieber versehen, um, wie wir nachher erfuhren, eine magische Laterne in seine Öffnung einzupassen, aus welcher die verlangte Gestalt auf die Wand über dem Kamin gefallen war. Vom Dachboden und aus dem Keller brachte man verschiedene Trommeln, woran große bleierne Kugeln an Schnüren befestigt hingen, wahrscheinlich um das Geräusche des Donners hervorzubringen, das wir gehört hatten. Als man die Kleider des Sizilianers durchsuchte, fand man in einem Etui verschiedene Pulver, wie auch lebendigen Merkur in Phiolen und Büchsen, Phosphorus in einer gläsernen Flasche, einen Ring, den wir gleich für einen magnetischen erkannten, weil er an einem stählernen Knopfe hängen blieb, dem er von ungefähr nahegebracht worden, in den Rocktaschen ein Paternoster, einen Judenbart, Terzerole und einen Dolch. »Laß doch sehen, ob sie geladen sind!« sagte einer von den Häschern, indem er eines von den Terzerolen nahm und ins Kamin abschoß.

»Jesus Maria!«
rief eine hohle menschliche Stimme, eben die, welche wir von der ersten Erscheinung gehört hatten - und in demselben Augenblick sahen wir einen blutenden Körper aus dem Schlot herunterstürzen. -

»Noch nicht zur Ruhe, armer Geist?«
rief der Engländer, während daß wir andern mit Schrecken zurückfuhren.

»Gehe heim zu deinem Grabe. Du hast geschienen, was du nicht warst; jetzt wirst du sein, was du schienest.«

»Jesus Maria! Ich bin verwundet«,
wiederholte der Mensch im Kamine. Die Kugel hatte ihm das rechte Bein zerschmettert. Sogleich besorgte man, daß die Wunde verbunden wurde.

»Aber wer bist du denn, und was für ein böser Dämon muß dich hieher führen?«

»Ein armer Barfüßer«, antwortete der Verwundete. »Ein fremder Herr hier hat mir eine Zechine geboten, daß ich -«

»Eine Formel hersagen sollte? Und warum hast du dich denn nicht gleich wieder davongemacht?«

»Er wollte mir ein Zeichen geben, wenn ich fortfahren sollte; aber das Zeichen blieb aus, und wie ich hinaussteigen wollte, war die Leiter weggezogen.«

»Und wie heißt denn die Formel, die er dir eingelernt hat?«


Der Mensch bekam hier eine Ohnmacht, daß nichts weiter aus ihm herauszubringen war. Als wir ihn näher betrachteten, erkannten wir ihn für denselben, der sich dem Prinzen den Abend vorher in den Weg gestellt und ihn so feierlich angeredet hatte.

Unterdessen hatte sich der Prinz zu dem Anführer der Häscher gewendet.

»Sie haben uns«,
sagte er, indem er ihm zugleich einige Goldstücke in die Hand drückte, »Sie haben uns aus den Händen eines Betrügers gerettet und uns, ohne uns noch zu kennen, Gerechtigkeit widerfahren lassen. Wollen Sie nun unsere Verbindlichkeit vollkommen machen und uns entdecken, wer der Unbekannte war, dem es nur ein paar Worte kostete, uns in Freiheit zu setzen?«

»Wen meinen Sie?«
fragte der Anführer der Häscher mit einer Miene, die deutlich zeigte, wie unnötig diese Frage war.

»Den Herrn in russischer Uniform meine ich, der Sie vorhin beiseite zog, Ihnen etwas Schriftliches vorwies und einige Worte ins Ohr sagte, worauf Sie uns sogleich wieder losgaben.«

»Sie kennen diesen Herrn also nicht?« fragte der Häscher wieder. »Er war nicht von Ihrer Gesellschaft?«

»Nein«,
sagte der Prinz - »und aus sehr wichtigen Ursachen wünschte ich, näher mit ihm bekannt zu werden.«

»Näher«, antwortete der Häscher, »kenn ich ihn auch nicht. Sein Name selbst ist mir unbekannt, und heute hab ich ihn zum erstenmal in meinem Leben gesehen.«

»Wie? und in so kurzer Zeit, durch ein paar Worte konnte er so viel über Sie vermögen, daß Sie ihn selbst und uns alle für unschuldig erklärten?«


»Allerdings durch ein einziges Wort.«

»Und dieses war? - Ich gestehe, daß ich es wissen möchte.«


»Dieser Unbekannte, gnädigster Herr«
- indem er die Zechinen in seiner Hand wog - »Sie sind zu großmütig gegen mich gewesen, um Ihnen länger ein Geheimnis daraus zu machen - dieser Unbekannte war - ein Offizier der Staatsinquisition.«

»Der Staatsinquisition! - Dieser! -«


»Nicht anders, gnädigster Herr - und davon überzeugte mich das Papier, welches er mir vorzeigte.«

»Dieser Mensch, sagten Sie? Es ist nicht möglich.«


»Ich will Ihnen noch mehr sagen, gnädigster Herr. Eben dieser war es, auf dessen Denunziation ich hieher geschickt worden bin, den Geisterbeschwörer zu verhaften.«

Wir sahen uns mit noch größerm Erstaunen an.

»Da hätten wir es ja heraus«,
rief endlich der Engländer, »warum der arme Teufel von Beschwörer so erschrocken zusammenfuhr, als er ihm näher ins Gesicht sah. Er erkannte ihn für einen Spion, und darum tat er jenen Schrei und stürzte zu seinen Füßen.«

»Nimmermehr«, rief der Prinz. »Dieser Mensch ist alles, was er sein will, und alles, was der Augenblick will, daß er sein soll. Was er wirklich ist, hat noch kein Sterblicher erfahren. Sahen Sie den Sizilianer zusammensinken, als er ihm die Worte ins Ohr schrie: 'Du wirst keinen Geist mehr rufen!' Dahinter ist mehr. Daß man vor etwas Menschlichem so zu erschrecken pflegt, soll mich niemand überreden.«

»Darüber wird uns der Magier selbst wohl am besten zurechtweisen können«,
sagte der Lord, »wenn uns dieser Herr« (sich zu dem Anführer der Gerichtsdiener wendend) »Gelegenheit verschaffen will, seinen Gefangnen zu sprechen.«

Der Anführer der Häscher versprach es uns, und wir redeten mit dem Engländer ab, daß wir ihn gleich den andern Morgen aufsuchen wollten. Jetzt begaben wir uns nach Venedig zurück.

Mit dem frühesten Morgen war Lord Seymour da (dies war der Name des Engländers), und bald nachher erschien eine vertraute Person, die der Gerichtsdiener abgeschickt hatte, uns nach dem Gefängnis zu führen. Ich habe vergessen zu erzählen, daß der Prinz schon seit etlichen Tagen einen seiner Jäger vermißte, einen Bremer von Geburt, der ihm viele Jahre redlich gedient und sein ganzes Vertrauen besessen hatte. Ob er verunglückt oder gestohlen oder auch entlaufen war, wußte niemand. Zu dem letztern war gar kein wahrscheinlicher Grund vorhanden, weil er jederzeit ein stiller und ordentlicher Mensch gewesen und nie ein Tadel an ihm gefunden war.

Alles, worauf seine Kameraden sich besinnen konnten, war, daß er in der letzten Zeit sehr schwermütig gewesen und, wo er nur einen Augenblick erhaschen konnte, ein gewisses Minoritenkloster in der Giudecca besucht habe, wo er auch mit einigen Brüdern öfters Umgang gepflegt. Dies brachte uns auf die Vermutung, daß er vielleicht in die Hände der Mönche geraten sein möchte und sich katholisch gemacht hätte; und weil der Prinz über diesen Artikel damals noch sehr gleichgültig dachte, so ließ ers nach einigen fruchtlosen Nachforschungen dabei bewenden. Doch schmerzte ihn der Verlust dieses Menschen, der ihm auf seinen Feldzügen immer zur Seite gewesen, immer treu an ihm gehangen und in einem fremden Lande so leicht nicht wieder zu ersetzen war. Heute nun, als wir eben im Begriff standen auszugehen, ließ sich der Bankier des Prinzen melden, an den der Auftrag ergangen war, für einen neuen Bedienten zu sorgen.

Dieser stellte dem Prinzen einen gutgebildeten und wohlgekleideten Menschen in mittleren Jahren vor, der lange Zeit in Diensten eines Prokurators als Sekretär gestanden, Französisch und auch etwas Deutsch sprach, übrigens mit den besten Zeugnissen versehen war. Seine Physiognomie gefiel, und da er sich übrigens erklärte, daß sein Gehalt von der Zufriedenheit des Prinzen mit seinen Diensten abhängen sollte, so ließ er ihn ohne Verzug eintreten.

Wir fanden den Sizilianer in einem Privatgefängnis, wohin er, dem Prinzen zu Gefallen, wie der Gerichtsdiener sagte, einstweilen gebracht worden war, ehe er unter die Bleidächer gesetzt wurde, zu denen kein Zugang mehr offen steht. Diese Bleidächer sind das fürchterlichste Gefängnis in Venedig, unter dem Dach des St. Markuspalastes, worin die unglücklichen Verbrecher von der dörrenden Sonnenhitze, die sich auf der Bleifläche sammelt, oft bis zum Wahnwitze leiden. Der Sizilianer hatte sich von dem gestrigen Zufalle wieder erholt und stand ehrerbietig auf, als er den Prinzen ansichtig wurde.
Ein Bein und eine Hand waren gefesselt, sonst aber konnte er frei durch das Zimmer gehen. Bei unserm Eintritt entfernte sich die Wache vor die Türe.

»Ich komme«, sagte der Prinz, nachdem wir Platz genommen hatten, »über zwei Punkte Erklärung von Ihnen zu verlangen. Die eine sind Sie mir schuldig, und es wird Ihr Schade nicht sein, wenn Sie mich über den andern befriedigen.«

»Meine Rolle ist ausgespielt«,
versetzte der Sizilianer. »Mein Schicksal steht in Ihren Händen.«

»Ihre Aufrichtigkeit allein«,
versetzte der Prinz, »kann es erleichtern.«

»Fragen Sie, gnädigster Herr. Ich bin bereit zu antworten, denn ich habe nichts mehr zu verlieren.«

»Sie haben mich das Gesicht des Armeniers in Ihrem Spiegel sehen lassen. Wodurch bewirkten Sie dieses?«

»Es war kein Spiegel, was Sie gesehen haben. Ein bloßes Pastellgemälde hinter einem Glas, das einen Mann in armenischer Kleidung vorstellte, hat Sie getäuscht. Meine Geschwindigkeit, die Dämmerung, Ihr Erstaunen unterstützten diesen Betrug. Das Bild wird sich unter den übrigen Sachen finden, die man in dem Gasthof in Beschlag genommen hat.«

»Aber wie konnten Sie meine Gedanken so gut wissen und gerade auf den Armenier raten?«

»Dieses war gar nicht schwer, gnädigster Herr. Ohne Zweifel haben Sie sich bei Tische in Gegenwart Ihrer Bedienten über die Begebenheit öfters herausgelassen, die sich zwischen Ihnen und diesem Armenier ereignet hat. Einer von meinen Leuten machte mit einem Jäger, der in Ihren Diensten steht, zufälligerweise in der Giudecca Bekanntschaft, aus welchem er nach und nach so viel zu ziehen wußte, als mir zu wissen nötig war.«

»Wo ist dieser Jäger?« fragte der Prinz. »Ich vermisse ihn, und ganz gewiß wissen Sie um seine Entweichung.«

»Ich schwöre Ihnen, daß ich nicht das geringste davon weiß, gnädigster Herr. Ich selbst hab ihn nie gesehen, und nie eine andre Absicht mit ihm gehabt als die eben gemeldete.«


»Fahren Sie fort«, sagte der Prinz.

»Auf diesem Wege nun erhielt ich überhaupt auch die erste Nachricht von Ihrem Aufenthalt und Ihren Begebenheiten in Venedig, und sogleich entschloß ich mich, sie zu nützen. Sie sehen, gnädigster Herr, daß ich aufrichtig bin. Ich wußte von Ihrer vorhabenden Spazierfahrt auf der Brenta; ich hatte mich darauf versehen, und ein Schlüssel, der Ihnen von ungefähr entfiel, gab mir die erste Gelegenheit, meine Kunst an Ihnen zu versuchen.«

»Wie? So hätte ich mich also geirret? Das Stückchen mit dem Schlüssel war Ihr Werk, und nicht des Armeniers? Der Schlüssel, sagen Sie, wäre mir entfallen?«

»Als Sie die Börse zogen - und ich nahm den Augenblick wahr, da mich niemand beobachtete, ihn schnell mit dem Fuße zu verdecken. Die Person, bei der Sie die Lotterielose nahmen, war im Verständnis mit mir. Sie ließ Sie aus einem Gefäße ziehen, wo keine Niete zu holen war, und der Schlüssel lag längst in der Dose, eh sie von Ihnen gewonnen wurde.«

»Nunmehr begreif ichs. Und der Barfüßermönch, der sich mir in den Weg warf und mich so feierlich anredete?«

»War der nämliche, den man, wie ich höre, verwundet aus dem Kamine gezogen. Es ist einer von meinen Kameraden, der mir unter dieser Verhüllung schon manche gute Dienste geleistet.«

»Aber zu welchem Ende stellten Sie dieses an?«

»Um Sie nachdenkend zu machen - um einen Gemütszustand in Ihnen vorzubereiten, der Sie für das Wunderbare, das ich mit Ihnen im Sinne hatte, empfänglich machen sollte.«

»Aber der pantomimische Tanz, der eine so überraschende seltsame Wendung nahm - dieser war doch wenigstens nicht von Ihrer Erfindung?«

»Das Mädchen, welches die Königin vorstellte, war von mir unterrichtet und ihre ganze Rolle mein Werk. Ich vermutete, daß es Eure Durchlaucht nicht wenig befremden würde, an diesem Orte gekannt zu sein, und, verzeihen Sie mir, gnädigster Herr, das Abenteuer mit dem Armenier ließ mich hoffen, daß Sie bereits schon geneigt sein würden, natürliche Auslegungen zu verschmähen und nach höhern Quellen des Außerordentlichen zu spüren.«

»In der Tat«, rief der Prinz mit einer Miene zugleich des Verdrusses und der Verwunderung, indem er mir besonders einen bedeutenden Blick gab, »in der Tat«, rief er aus, »das habe ich nicht erwartet.«

»Aber«,
fuhr er nach einem langen Stillschweigen wieder fort, »wie brachten Sie die Gestalt hervor, die an der Wand über dem Kamin erschien?«

»Durch die Zauberlaterne, welche an dem gegenüberstehenden Fensterladen angebracht war, wo Sie auch die Öffnung dazu bemerkt haben werden.«

»Aber wie kam es denn, daß kein einziger unter uns sie gewahr wurde?« fragte Lord Seymour.

»Sie erinnern sich, gnädiger Herr, daß ein dicker Rauch den ganzen Saal verfinsterte, als Sie zurückgekommen waren. Zugleich hatte ich die Vorsicht gebraucht, die Dielen, welche man weggehoben, neben demjenigen Fenster anlehnen zu lassen, wo die Laterna magica eingefügt war; dadurch verhinderte ich, daß Ihnen dieser Fensterladen nicht sogleich ins Gesicht fiel. Übrigens blieb die Laterne auch solange durch einen Schieber verdeckt, bis Sie alle Ihre Plätze genommen hatten und keine Untersuchung im Zimmer mehr von Ihnen zu fürchten war.«

»Mir kam es vor«, fiel ich ein, »als hörte ich in der Nähe dieses Saals eine Leiter anlegen, als ich in dem andern Pavillon aus dem Fenster sah. War dem wirklich so?«

»Ganz recht. Eben diese Leiter, auf welcher mein Gehülfe zu dem bewußten Fenster emporkletterte, um die Zauberlaterne zu dirigieren.«

»Die Gestalt«, fuhr der Prinz fort, »schien wirklich eine flüchtige Ähnlichkeit mit meinem verstorbenen Freunde zu haben; besonders traf es ein, daß sie sehr blond war. War dieses bloßer Zufall, oder woher schöpften Sie dieselbe?«

»Eure Durchlaucht erinnern sich, daß Sie über Tische eine Dose neben sich hatten liegen gehabt, auf welcher das Porträt eines Offiziers in **scher Uniform in Emaille war. Ich fragte Sie, ob Sie von Ihrem Freunde nicht irgendein Andenken bei sich führten? worauf Sie mit Ja antworteten; daraus schloß ich, daß es vielleicht die Dose sein möchte. Ich hatte das Bild über Tische gut ins Auge gefaßt, und weil ich im Zeichnen sehr geübt, auch im Treffen sehr glücklich bin, so war es mir ein leichtes, dem Bilde diese flüchtige Ähnlichkeit zu geben, die Sie wahrgenommen haben; und um so mehr, da die Gesichtszüge des Marquis sehr ins Auge fallen.«

»Aber die Gestalt schien sich doch zu bewegen. -«

»So schien es - aber es war nicht die Gestalt, sondern der Rauch, der von ihrem Scheine beleuchtet war.
«

»Und der Mensch, welcher aus dem Schlot herabstürzte, antwortete also für die Erscheinung?«

»Eben dieser.«

»Aber er konnte ja die Fragen nicht wohl hören.«

»Dieses brauchte er auch nicht. Sie besinnen sich, gnädigster Prinz, daß ich Ihnen allen auf das strengste verbot, selbst eine Frage an das Gespenst zu richten. Was ich ihn fragen würde und er mir antworten sollte, war abgeredet; und damit ja kein Versehen vorfiele, ließ ich ihn große Pausen beobachten, die er an den Schlägen einer Uhr abzählen mußte.«

»Sie gaben dem Wirte Befehl, alle Feuer im Hause sorgfältig mit Wasser löschen zu lassen; dies geschah ohne Zweifel -«


»Um meinen Mann im Kamine außer Gefahr des Erstickens zu setzen, weil die Schornsteine im Hause ineinander laufen und ich vor Ihrer Suite nicht ganz sicher zu sein glaubte.«

»Wie kam es aber«, fragte Lord Seymour, »daß Ihr Geist weder früher noch später da war, als Sie ihn brauchten?«

»Mein Geist war schon eine gute Weile im Zimmer, ehe ich ihn zitierte; aber solange der Spiritus brannte, konnte man diesen matten Schein nicht sehen. Als meine Beschwörungsformel geendigt war, ließ ich das Gefäß, worin der Spiritus flammte, zusammenfallen, es wurde Nacht im Saal, und jetzt erst wurde man die Figur an der Wand gewahr, die sich schon längst darauf reflektiert hatte.«

»Aber in eben dem Moment, als der Geist erschien, empfanden wir alle einen elektrischen Schlag. Wie bewirkten Sie diesen?«

»Die Maschine unter dem Altar haben Sie entdeckt. Sie sahen auch, daß ich auf einem seidnen Fußteppich stand. Ich ließ sie in einem halben Mond um mich herumstehen und einander die Hände reichen; als es nahe dabei war, winkte ich einem von Ihnen, mich bei den Haaren zu fassen. Das Kruzifix war der Konduktor, und Sie empfingen den Schlag, als ich es mit der Hand berührte.«

»Sie befahlen uns, dem Grafen von O** und mir«,
sagte Lord Seymour, »zwei bloße Degen kreuzweise über Ihrem Scheitel zu halten, so lange die Beschwörung dauern würde. Wozu nun dieses?«

»Zu nichts weiter, als um Sie beide, denen ich am wenigsten traute, während des ganzen Aktus zu beschäftigen. Sie erinnern sich, daß ich Ihnen ausdrücklich einen Zoll hoch bestimmte; dadurch, daß Sie diese Entfernung immer in acht nehmen mußten, waren Sie verhindert, Ihre Blicke dahin zu richten, wo ich sie nicht gerne haben wollte. Meinen schlimmsten Feind hatte ich damals noch gar nicht ins Auge gefaßt.«

»Ich gestehe«, rief Lord Seymour, »daß dies vorsichtig gehandelt heißt - aber warum mußten wir ausgekleidet sein?«

»Bloß um der Handlung eine Feierlichkeit mehr zu geben und durch das Ungewöhnliche Ihre Einbildungskraft zu spannen.«

»Die zweite Erscheinung ließ Ihren Geist nicht zum Worte kommen«, sagte der Prinz. »Was hätten wir eigentlich von ihm erfahren sollen?«

»Beinahe dasselbe, was Sie nachher gehört haben. Ich fragte Eure Durchlaucht nicht ohne Absicht, ob Sie mir auch alles gesagt, was Ihnen der Sterbende aufgetragen, und ob Sie keine weitern Nachfragen wegen seiner in seinem Vaterlande getan; dieses fand ich nötig, um nicht gegen Tatsachen anzustoßen, die der Aussage meines Geistes hätten widersprechen können. Ich fragte gewisser Jugendsünden wegen, ob der Verstorbene untadelhaft gelebt; und auf die Antwort gründete ich alsdann meine Erfindung.«

»Über diese Sache«, fing der Prinz nach einigem Stillschweigen an, »haben Sie mir einen befriedigenden Aufschluß gegeben. Aber ein Hauptumstand ist noch zurück, worüber ich Licht von Ihnen verlange.«

»Wenn es in meiner Gewalt steht, und -«

»Keine Bedingungen! Die Gerechtigkeit, in deren Händen Sie sind, dürfte so bescheiden nicht fragen. Wer war dieser Unbekannte, vor dem wir Sie niederstürzen sahen? Was wissen Sie von ihm? Woher kennen Sie ihn? Und was hat es für eine Bewandtnis mit dieser zweiten Erscheinung?«

»Gnädigster Prinz -«

»Als Sie ihm näher ins Gesicht sahen, stießen Sie einen lauten Schrei aus und stürzten nieder. Warum das? Was bedeutete das?«


»Dieser Unbekannte, gnädigster Prinz -« Er hielt inne, wurde sichtbarlich unruhiger und sah uns alle in der Reihe herum mit verlegenen Blicken an. - »Ja bei Gott, gnädigster Prinz, dieser Unbekannte ist ein schreckliches Wesen.«

»Was wissen Sie von ihm? Wie steht er mit Ihnen in Verbindung? - Hoffen Sie nicht, uns die Wahrheit zu verhehlen.« -

»Dafür werd ich mich wohl hüten - denn wer steht mir dafür, daß er nicht in diesem Augenblick unter uns stehet?«

»Wo? Wer?« riefen wir alle zugleich und schauten uns halb lachend, halb bestürzt im Zimmer um. - »Das ist ja nicht möglich!«

»O! diesem Menschen - oder wer er sein mag - sind Dinge möglich, die noch weit weniger zu begreifen sind.«


»Aber wer ist er denn? Woher stammt er? Armenier oder Russe? Was ist das Wahre an dem, wofür er sich ausgibt?«

»Keines von allem, was er scheint. Es wird wenige Stände, Charaktere und Nationen geben, davon er nicht schon die Maske getragen. Wer er sei? Woher er gekommen? Wohin er gehe? weiß niemand. Daß er lang in Aegypten gewesen, wie viele behaupten, und dort aus einer Pyramide seine verborgene Weisheit geholt habe, will ich weder bejahen noch verneinen. Bei uns kennt man ihn nur unter dem Namen des Unergründlichen. Wie alt, zum Beispiel, schätzen Sie ihn?«

»Nach dem äußern Anschein zu urteilen, kann er kaum vierzig zurückgelegt haben.«

»Und wie alt, denken Sie, daß ich sei?«

»Nicht weit von funfzig.«


»Ganz recht - und wenn ich Ihnen nun sage, daß ich ein Bursche von siebenzehn Jahren war, als mir mein Großvater von diesem Wundermann erzählte, der ihn ungefähr in ebendem Alter, worin er jetzt zu sein scheint, in Famagusta gesehen hat. -«

»Das ist lächerlich, unglaublich und übertrieben.«

»Nicht um einen Zug. Hielten mich diese Fesseln nicht ab, ich wollte Ihnen Bürgen stellen, deren ehrwürdiges Ansehen Ihnen keinen Zweifel mehr übriglassen würde. Es gibt glaubwürdige Leute, die sich erinnern, ihn in verschiedenen Weltgegenden zu gleicher Zeit gesehen zu haben. Keines Degens Spitze kann ihn durchbohren, kein Gift kann ihm etwas anhaben, kein Feuer sengt ihn, kein Schiff geht unter, worauf er sich befindet. Die Zeit selbst scheint an ihm ihre Macht zu verlieren, die Jahre trocknen seine Säfte nicht aus, und das Alter kann seine Haare nicht bleichen. Niemand ist, der ihn Speise nehmen sah, nie ist ein Weib von ihm berührt worden, kein Schlaf besucht seine Augen; von allen Stunden des Tages weiß man nur eine einzige, über die er nicht Herr ist, in welcher niemand ihn gesehen, in welcher er kein irdisches Geschäft verrichtet hat.«

»So?«
sagte der Prinz. »Und was ist dies für eine Stunde?«

»Die zwölfte in der Nacht. Sobald die Glocke den zwölften Schlag tut, gehört er den Lebendigen nicht mehr. Wo er auch sein mag, er muß fort, welches Geschäft er auch verrichtet, er muß es abbrechen. Dieser schreckliche Glockenschlag reißt ihn aus den Armen der Freundschaft, reißt ihn selbst vom Altare und würde ihn auch aus dem Todeskampf rufen. Niemand weiß, wo er dann hingehet, noch was er da verrichtet. Niemand wagt es, ihn darum zu befragen, noch weniger, ihm zu folgen; denn seine Gesichtszüge ziehen sich auf einmal, sobald diese gefürchtete Stunde schlägt, in einen so finstern und schreckhaften Ernst zusammen, daß jedem der Mut entfällt, ihm ins Gesicht zu blicken oder ihn anzureden. Eine tiefe Todesstille endigt dann plötzlich das lebhafteste Gespräch, und alle, die um ihn sind, erwarten mit ehrerbietigem Schaudern seine Wiederkunft, ohne es nur zu wagen, sich von der Stelle zu heben oder die Türe zu öffnen, durch die er gegangen ist.«

»Aber«, fragte einer von uns, »bemerkt man nichts Außerordentliches an ihm bei seiner Zurückkunft?«

»Nichts, als daß er bleich und abgemattet aussieht, ungefähr wie ein Mensch, der eine schmerzhafte Operation ausgestanden, oder eine schreckliche Zeitung erhält. Einige wollen Blutstropfen auf seinem Hemde gesehen haben; dieses aber lasse ich dahingestellt sein.«

»Und man hat es zum wenigsten nie versucht, ihm diese Stunde zu verbergen, oder ihn so in Zerstreuung zu verwickeln, daß er sie übersehen mußte?«

»Ein einziges Mal, sagt man, überschritt er den Termin. Die Gesellschaft war zahlreich, man verspätete sich bis tief in die Nacht, alle Uhren waren mit Fleiß falsch gerichtet, und das Feuer der Unterredung riß ihn dahin. Als die gesetzte Stunde da war, verstummte er plötzlich und wurde starr, alle seine Gliedmaßen verharrten in derselben Richtung, worin dieser Zufall sie überraschte, seine Augen standen, sein Puls schlug nicht mehr, alle Mittel, die man anwendete, ihn wieder zu erwecken, waren fruchtlos; und dieser Zustand hielt an, bis die Stunde verstrichen war. Dann belebte er sich plötzlich von selbst wieder, schlug die Augen auf und fuhr in der nämlichen Silbe fort, worin er war unterbrochen worden. Die allgemeine Bestürzung verriet ihm, was geschehen war, und da erklärte er mit einem fürchterlichen Ernst, daß man sich glücklich preisen dürfte, mit dem bloßen Schrecken davongekommen zu sein. Aber die Stadt, worin ihm dieses begegnet war, verließ er noch an demselben Abend auf immer. Der allgemeine Glaube ist, daß er in dieser geheimnisvollen Stunde Unterredungen mit seinem Genius halte. Einige meinen gar, er sei ein Verstorbener, dem es verstattet sei, dreiundzwanzig Stunden vom Tage unter den Lebenden zu wandeln; in der letzten aber müsse seine Seele zur Unterwelt heimkehren, um dort ihr Gericht auszuhalten. Viele halten ihn auch für den berühmten Apollonius von Tyana, und andre gar für den Jünger Johannes, von dem es heißt, daß er bleiben würde bis zum letzten Gericht.« S. 8-49
Aus: Friedrich Schiller, Der Geisterseher. Aus den Memoiren des Grafen von O** Herausgegeben von Mathias Mayer
Reclams Universalbibliothek Nr. 7435 © 1996 Philipp Reclam jun., Stuttgart

Die schwarze Decke
»Zukunft! Ewige Ordnung! - Nehmen wir hinweg, was der Mensch aus seiner eigenen Brust genommen und seiner eingebildeten Gottheit als Zweck, der Natur als Gesetz untergeschoben hat - was bleibt uns dann übrig? - Was mir vorherging und was mir folgen wird, sehe ich als zwei schwarze und undurchdringliche Decken an, die an beiden Grenzen des menschlichen Lebens herunterhangen und welche noch kein Lebender aufgezogen hat. Schon viele hundert Generationen stehen mit der Fackel davor und raten, was etwa dahinter sein möchte. Viele sehen ihren eigenen Schatten, die Gestalten ihrer Leidenschaft, vergrößert auf der Decke der Zukunft sich bewegen und fahren schaudernd vor ihrem eigenen Bilde zusammen. Dichter, Philosophen und Staatenstifter haben sie mit ihren Träumen bemalt, lachender oder finstrer, wie der Himmel über ihnen trüber oder heiterer war; und von weitem täuschte die Perspektive. Auch manche Gaukler nützten diese allgemeine Neugier und setzten durch seltsame Vermummungen die gespannten Phantasien in Erstaunen. Eine tiefe Stille herrscht hinter dieser Decke, keiner, der einmal dahinter ist, antwortet hinter ihr hervor; alles, was man hörte, war ein hohler Widerschall der Frage, als ob man in eine Gruft gerufen hätte. Hinter diese Decke müssen alle, und mit Schaudern fassen sie sie an, ungewiß, wer wohl dahinter stehe und sie in Empfang nehmen werde; quid sit id, quod tantum perituri vident (was das sei, was nur die sehen, die im Untergange sind).

Freilich gab es auch Ungläubige darunter, die behaupteten, daß diese Decke die Menschen nur narre und daß man nichts beobachtet hätte, weil auch nichts dahinter sei; aber um sie zu überweisen, schickte man sie eilig dahinter.«

»Ein rascher Schluß war es immer, wenn sie keinen bessern Grund hatten, als weil sie nichts sahen.«

»Sehen Sie nun, lieber Freund, ich bescheide mich gern, nicht hinter diese Decke blicken zu wollen - und das Weiseste wird doch wohl sein, mich von aller Neugier zu entwöhnen. Aber indem ich diesen unüberschreitbaren Kreis um mich ziehe und mein ganzes Sein in die Schranken der Gegenwart einschließe, wird mir dieser kleine Fleck desto wichtiger, den ich schon über eiteln Eroberungsgedanken zu vernachlässigen in Gefahr war. Das, was Sie den Zweck meines Daseins nennen, geht mich jetzt nichts mehr an. Ich kann mich ihm nicht entziehen, ich kann ihm nicht nachhelfen; ich weiß aber und glaube fest, daß ich einen solchen Zweck erfüllen muß und erfülle. Ich bin einem Boten gleich, der einen versiegelten Brief an den Ort seiner Bestimmung trägt. Was er enthält, kann ihm einerlei sein - er hat nichts als sein Botenlohn dabei zu verdienen.« S. 114f.
Aus: Friedrich Schiller, Der Geisterseher. Aus den Memoiren des Grafen von O** Herausgegeben von Mathias Mayer
Reclams Universalbibliothek Nr. 7435 © 1996 Philipp Reclam jun., Stuttgart

Das philosophische Gespräch aus dem Geisterseher
»Wenn alles vor mir und hinter mir versinkt - die Vergangenheit im traurigen Einerlei wie ein Reich der Versteinerung hinter mir liegt - wenn die Zukunft mir nichts bietet - wenn ich meines Daseins ganzen Kreis im schmalen Raume der Gegenwart beschlossen sehe - wer verargt es mir, daß ich dieses magre Geschenk der Zeit, feurig und unersättlich wie ein Freund, den ich zum letzten Male sehe, in meine Arme schließe? Wenn ich mit diesem flüchtigen Gute zu wuchern eile, wie der achtzigjährige Greis mit seiner Tiare? - O ich hab ihn schätzen lernen den Augenblick! Der Augenblick ist unsre Mutter, und wie eine Mutter laßt uns ihn lieben!«

'Gnädigster Herr, sonst glaubten Sie an ein bleibenderes Gut -'

»O machen Sie, daß mir das Wolkenbild halte, und ich will meine glühenden Arme darum schlagen. Was für Freude kann es mir geben, Erscheinungen zu beglücken, die morgen dahin sein werden wie ich? - Ist nicht alles Flucht um mich herum? Alles stößt sich und drängt seinen Nachbar weg, aus dem Quell des Daseins einen Tropfen eilends zu trinken und lechzend davonzugehn. Jetzt in dem Augenblick, wo ich meiner Kraft mich freue, ist schon ein werdendes Leben an meine Verwesung angewiesen. Zeigen Sie mir ein Wesen, das dauert, so will ich tugendhaft sein.«

'Was hat denn die wohltätigen Empfindungen verdrängt, die einst der Genuß und die Richtschnur Ihres Lebens waren? Saaten für die Zukunft zu pflanzen, einer hohen, ewigen Ordnung zu dienen -'

»Dienen! Dienen gewiß, so gewiß als der unbedeutendste Mauerstein der Symmetrie des Palastes, die auf ihm ruhet! Aber auch als ein mitbefragtes, mitgenießendes Wesen? Lieblicher, gutherziger Wahn des Menschen! deine Kräfte willst du ihr widmen? Kannst du sie ihr denn weigern? Was du bist und was du besitzest, bist du ja nur, besitzest du nur für sie. Hast du gegeben, was du geben kannst, und was du allein ihr geben konntest, so bist du auch nicht mehr, deine Gebrechlichkeit spricht dir das Urteil, und sie ist es auch, die es vollziehet. Aber wer ist denn diese Natur, diese Ordnung, wider welche ich klage? Immerhin! Möchte sie, wie der Griechen Saturn, ihre eigenen Kinder verzehren, wäre sie selbst nur, überlebte sie auch nur die vergangne Sekunde! - Ein unermeßlicher Baum steht sie da im unermeßlichen Raume. Die Weisheit und die Tugend ganzer Generationen rinnen wie Säfte in seinen Röhren, Jahrtausende und die Nationen, die darin Geräusch machten, fallen wie welke Blüten, wie verdorrte Blätter von seinen Zweigen, die er mit innrer unvergänglicher Zeugungskraft aus dem Stamme treibt. Kannst du von ihr verlangen, was sie selbst nicht besitzet? Du eine Furche, die der Wind in die Meeresfläche bläst, deines Daseins Spur darin zu sichern verlangen?«

'Diese trostlose Behauptung widerlegt schon die Weltgeschichte. Die Namen Lykurg, Sokrates, Aristides haben ihre Werke überdauert.'

»Und der nützliche Mann, der den Pflug zusammensetzte - wie hieß der? Trauen sie einer Belohnerin, die nicht gerecht ist? Sie leben in der Geschichte, wie Mumien in Balsam, um mit ihrer Geschichte etwas später zu vergehen.«

'Und dieser Trieb zur ewigen Fortdauer? Kann oder darf ihre Notwendigkeit verschwenden? Durfte in der Kraft etwas sein, dem nichts in der Wirkung entspräche?'

»O in dieser Wirkung eben liegt alles. Verschwenden? Steigt nicht auch der Wasserstrahl in der Kaskade mit einer Kraft in die Höhe, die ihn durch einen unendlichen Raum schleudern könnte? Aber schon im ersten Moment seines Aufsprunges zieht die Schwerkraft an ihm drücken tausend Luftsäulen auf ihn, die ihn, früher oder später, in einem höhern oder niedrigern Bogen zur mütterlichen Erde zurücktreiben? Um so spät zu fallen, mußte er mit dieser üppigen Kraft aufsteigen - gerade eine elastische Kraft, wie der Trieb zur Unsterblichkeit, gehörte dazu, wenn sich die Menschenerscheinung gegen die herandrückende Notwendigkeit Raum machen sollte. Ich gebe mich überwunden, liebster Freund, wenn Sie mir dartun, daß dieser Trieb zur Unsterblichkeit im Menschen nicht ebenso vollkommen mit dem zeitlichen Zweck seines Daseins aufgehe, als seine sinnlichsten Triebe. Freilich verführt uns unser Stolz, Kräfte, die wir nur für, nur durch die Notwendigkeit haben, gegen sie selbst anzuwenden, aber hätten wir wohl diesen Stolz, wenn sie nicht auch von ihm Vorteile zöge? Wäre sie ein vernünftiges Wesen, sie müßte sich unsrer Philosophien ohngefähr ebenso freuen, wie sich ein weiser Feldherr an dem Mutwillen seiner kriegerischen Jugend ergötzet, der ihm Helden im Gefechte verspricht.«

'Der Gedanke diente nur der Bewegung? Das Ganze wäre tot und die Teile lebten? Der Zweck wäre so gemein und die Mittel so edel?'


»Zweck überhaupt hätten wir nie sagen sollen. Um in Ihre Vorstellungsart einzutreten, entlehne ich diesen Begriff von der moralischen Welt, weil wir hier gewohnt sind, die Folgen einer Handlung ihren Zweck zu nennen. In der Seele selbst geht zwar der Zweck dem Mittel voran; wenn ihre innern Wirkungen aber in äußre übergehen, so kehrt sich diese Ordnung um, und das Mittel verhält sich zu dem Zwecke wie die Ursache zu ihrer Wirkung. In diesem letzten Sinne durfte ich mich uneigentlich dieses Ausdrucks bedienen, der aber auf unsere jetzige Untersuchung keinen störenden Einfluß haben darf. Setzen Sie statt Mittel und Zweck Ursache und Wirkung - wo bleibt der Unterschied von gemein und edel? Was kann an der Ursache edel sein, als daß sie ihre Wirkung erfüllet? Edel und gemein bezeichnen nur das Verhältnis, in welchem ein Gegenstand gegen ein gewisses Prinzipium in unserer Seele stehet - es ist also ein Begriff, der nur innerhalb unsrer Seele, nicht außerhalb derselben anzuwenden ist. Sehen Sie aber, wie Sie schon als erwiesen annehmen, was wir erst durch unsre Schlüsse herausbringen sollen? Warum anders nennen Sie den Gedanken im Gegensatz von der Bewegung edel, als weil Sie das denkende Wesen schon als den Mittelpunkt voraussetzen, dem Sie die Folgenreihe der Dinge unterordnen? Treten Sie in meine Gedankenreihe, so wird diese Rangordnung verschwinden, der Gedanke ist Wirkung und Ursache der Bewegung und ein Glied der Notwendigkeit, wie der Pulsschlag, der ihn begleitet.«

'Nimmermehr werden Sie diesen paradoxen, unnatürlichen Satz durchsetzen. Beinahe überall können wir mit unserm Verstande den Zweck der physischen Natur bis in den Menschen verfolgen. Wo sehen wir sie auch nur einmal diese Ordnung umkehren und den Zweck des Menschen der physischen Welt unterwerfen? Und wie wollen Sie diese auswärtige Bestimmung mit dem Glückseligkeitstriebe vereinigen, der alle seine Bestrebungen einwärts gegen ihn selbst richtet?'

»Lassen Sie uns doch versuchen. Um mich kürzer zu fassen, muß ich mich wieder Ihrer Sprache bedienen. Setzen wir also, daß moralische Erscheinungen nötig waren, wie Licht und Schall nötig waren, so mußten Wesen vorhanden sein, die diesem besondern Geschäfte zugebildet waren, so wie Äther und Luft gerade so und nicht anders beschaffen sein mußten, um derjenigen Anzahl von Schwingungen fähig zu sein, die uns die Vorstellung von Farbe und Wohlklang geben. Es mußten also Wesen existieren, die sich selbst in Bewegung setzen, weil die moralische Erscheinung auf der Freiheit beruhet; was also bei Luft und Äther, bei dem Mineral und der Pflanze die ursprüngliche Form leistet, mußte hier von einem innern Prinzipium erhalten werden, gegen welches sich die Beweggründe oder die bewegenden Kräfte dieses Wesens ohngefähr ebenso verhielten, als die bewegenden Kräfte der Pflanze gegen den beständigen Typus ihres Baues. Wie sie das bloß organische Wesen durch eine unveränderliche Mechanik lenkt, so mußte sie das denkendempfindende Wesen durch Schmerz und Vergnügen bewegen.«

'Ganz richtig.'

»Wir sehen sie also in der moralischen Welt ihre bisherige Ordnung verlassen, ja sogar mit sich selbst in einen anscheinenden Streit geraten. In jedem moralischen Wesen legt sie ein neues Zentrum an, einen Staat im Staate, gleichsam als hätte sie ihren allgemeinen Zweck ganz aus den Augen verloren. Gegen dieses Zentrum müssen sich alle Tätigkeiten dieses Wesens mit einem Zwange neigen, wie sie ihn in der physischen Welt durch die Schwerkraft ausübt. Dieses Wesen ist auf die Art in sich selbst gegründet, ein wahres und wirkliches Ganze, durch diesen Fall zu seinem Zentrum dazu gebildet, ebenso wie der Planet der Erde durch die Schwerkraft zur Kugel ward, und als Kugel fortdauret. Bis hieher scheint sie sich selbst ganz vergessen zu haben.
Aber wir haben gehört, daß dieses Wesen nur vorhanden ist, um die moralischen Erscheinungen hervorzubringen, deren sie bedurfte; die Freiheit dieses Wesens, oder sein Vermögen, sich selbst zu bewegen, mußte also dem Zweck unterworfen werden, zu welchem sie es bestimmte. Wollte sie also über die Wirkungen Meister bleiben, die es leistete, so mußte sie sich des Prinzipiums bemächtigen, wornach sich das moralische Wesen beweget. Was konnte sie daher anders tun, als ihren Zweck mit diesem Wesen an das Prinzipium anschließen, wodurch es regiert wird, oder mit andern Worten, seine zweckmäßige Tätigkeit zur notwendigen Bedingung seiner Glückseligkeit machen?«


'Das begreif ich.'


»Erfüllt also das moralische Wesen die Bedingungen seiner Glückseligkeit, so tritt es ebendadurch wieder in den Plan der Natur ein, dem es durch diesen abgesonderten Plan entzogen zu sein schien, ebenso wie der Erdkörper durch den Fall seiner Teile zu ihrem Zentrum fähig gemacht wird, die Ekliptik zu beschreiben. Durch Schmerz und Vergnügen erfährt also das moralische Wesen jedesmal nur die Verhältnisse seines gegenwärtigen Zustandes zu dem Zustande seiner höchsten Vollkommenheit, welcher einerlei ist mit dem Zwecke der Natur. Diesen Weiser hat und bedarf das organische Wesen nicht, weil es sich durch sich selbst dem Zustand seiner Vollkommenheit weder nähern noch von ihm entfernen kann. Jenes also hat vor diesem den Genuß seiner Vollkommenheit, d.i. Glückseligkeit, voraus, mit dieser aber auch die Warnung, wenn es davon abweicht, oder das Leiden. Hätte eine elastische Kugel das Bewußtsein ihres Zustandes, so würde der Fingerdruck, der ihr eine flache Form aufdringt, sie schmerzen, so würde sie mit einem Gefühle von Wollust zu ihrer schönsten Rundung zurückkehren.«

'Ihre elastische Kraft dient ihr statt jenes Gefühles.'


»Aber ebensowenig Ähnlichkeit die schnelle Bewegung, die wir Feuer nennen, mit der Empfindung des Brennens oder die kubische Form eines Salzes mit seinem bittern Geschmacke hat, ebensowenig Ähnlichkeit hat das Gefühl, das wir Glückseligkeit nennen, mit dem Zustand unsrer innern Vollkommenheit, den es begleitet, oder mit dem Zweck der Natur, dem es dienet. Beide, möchte man sagen, seien durch eine ebenso willkürliche Koexistenz mit einander verbunden, wie der Lorbeerkranz mit einem Siege, wie ein Brandmal mit einer ehrlosen Handlung.«

'So scheint es.'


»Der Mensch also brauchte kein Mitwisser des Zwecks zu sein, den die Natur durch ihn ausführt. Mochte er immerhin von keinem andern Prinzipium wissen, als dem, wodurch er in seiner kleinen Welt sich regiert, mochte er sogar im lieblichen, selbstgefälligen Wahn die Verhältnisse dieser seiner kleinen Welt der großen Natur als Gesetze unterlegen - dadurch daß er seiner Struktur dienet, sind ihre Zwecke mit ihm gesichert.«

'Und kann etwas vortrefflicher sein, als daß alle Teile des großen Ganzen nur dadurch den Zweck der Natur befördern, daß sie ihrem eignen getreu bleiben, daß sie nicht zu der Harmonie beitragen wollen dürfen, sondern daß sie es müssen. Diese Vorstellung ist so schön, so hinreißend, daß man schon dadurch allein bewogen wird -'

»sie einem Geiste zu gönnen, wollen Sie sagen? weil der selbstsüchtige Mensch seinem Geschlechte gern alles Gute und Schöne zutragen möchte, weil er den Schöpfer so gern in seiner Familie haben möchte. Geben Sie dem Kristalle das Vermögen der Vorstellung, sein höchster Weltplan wird Kristallisation, seine Gottheit die schönste Form von Kristall sein. Und mußte dies nicht so sein? Hielt nicht jede einzelne Wasserkugel so getreu und fest an ihrem Mittelpunkte, so würde sich nie ein Weltmeer bewegt haben.«

'Aber wissen Sie auch, gnädigster Prinz, daß Sie bisher nur gegen sich selbst bewiesen haben? Wenn es wahr ist, wie Sie sagen, daß der Mensch nicht aus seinem Mittelpunkte weichen kann, woher Ihre eigene Anmaßung, den Gang der Natur zu bestimmen? Wie können Sie es dann unternehmen, die Regel festsetzen zu wollen, nach der sie handelt?'

»Nichts weniger. Ich bestimme nichts, ich nehme ja nur hinweg, was die Menschen mit ihr verwechselt haben, was sie aus ihrer eignen Brust genommen und durch prahlerische Titel aufgeschmünkt haben. Was mir vorherging und was mir folgen wird, sehe ich als zwei schwarze undurchdringliche Decken an, die an beiden Grenzen des menschlichen Lebens herunterhängen und welche noch kein Lebender aufgezogen hat. Schon viele hundert Generationen stehen mit der Fackel davor und raten und raten, was etwa dahinter sein möchte. Viele sehen ihren eigenen Schatten, die Gestalten ihrer Leidenschaft, vergrößert auf der Decke der Zukunft sich bewegen und fahren schaudernd vor ihrem eigenen Bilde zusammen. Dichter, Philosophen und Staatenstifter haben sie mit ihren Träumen bemalt, lachender oder finstrer, wie der Himmel über ihnen trüber oder heiterer war; und von weitem täuschte die Perspektive. Auch manche Gaukler nutzten diese allgemeine Neugier und setzten durch seltsame Vermummungen die gespannten Phantasien in Erstaunen. Eine tiefe Stille herrscht hinter dieser Decke, keiner, der einmal dahinter ist, antwortet hinter ihr hervor; alles was man hörte, war ein hohler Widerhall der Frage, als ob man in eine Gruft gerufen hätte. Hinter diese Decke müssen alle, und mit Schaudern fassen sie sie an, ungewiß, wer wohl dahinter stehe und sie in Empfang nehmen werde; quid sit id, quod tantum morituri vident. Freilich gab es auch Ungläubige darunter, die behaupteten, daß diese Decke die Menschen nur narre, und daß man nichts beobachtet hätte, weil auch nichts dahinter sei; aber um sie zu überweisen, schickte man sie eilig dahinter.«

'Ein rascher Schluß war es immer, wenn sie keinen bessern Grund hatten, als weil sie nichts sahen.'

»Sehen Sie nun, lieber Freund, ich bescheide mich gern, nicht hinter diese Decke blicken zu wollen - und das Weiseste wird doch wohl sein, mich von aller Neugier zu entwöhnen. Aber indem ich diesen unüberschreitbaren Kreis um mich ziehe und mein ganzes Sein in die Schranken der Gegenwart einschließe, wird mir dieser kleine Fleck desto wichtiger, den ich schon über eiteln Eroberungsgedanken zu vernachlässigen in Gefahr war. Das, was Sie den Zweck meines Daseins nennen, geht mich jetzt nichts mehr an. Ich kann mich ihm nicht entziehen, ich kann ihm nichts nachhelfen, ich weiß aber und glaube fest, daß ich einen solchen Zweck erfüllen muß und erfülle. Aber das Mittel, das ihre Natur erwählt hat, um ihren Zweck mit mir zu erfüllen, ist mir desto heiliger - es ist alles, was mein ist, meine Moralität nämlich, meine Glückseligkeit. Alles übrige werde ich niemals erfahren. Ich bin einem Boten gleich, der einen versiegelten Brief an den Ort seiner Bestimmung trägt. Was er enthält, kann ihm einerlei sein - er hat nichts als sein Botenlohn dabei zu verdienen.« [...]

'Gnädigster Prinz', fing ich von neuem an, 'hab ich Sie auch recht verstanden? Der letzte Zweck des Menschen ist nicht im Menschen, sondern außer ihm? Er ist nur um seiner Folgen willen vorhanden.'

»Lassen Sie uns diesen Ausdruck vermeiden, der uns irreführt. Sagen Sie, er ist da, weil die Ursachen seines Daseins da waren und weil seine Wirkungen existieren, oder, welches ebensoviel sagt, weil die Ursachen, die ihm vorhergingen, eine Wirkung haben mußten, und die Wirkungen, die er hervorbringt, eine Ursache haben müssen.«

'Wenn ich ihm also einen Wert beilegen will, so kann ich diesen nur nach der Menge und Wichtigkeit der Wirkungen abwägen, deren Ursache er ist?'

»Nach der Menge seiner Wirkungen. Wichtig nennen wir eine Wirkung bloß, weil sie eine größre Menge von Wirkungen nach sich ziehet. Der Mensch hat keinen andern Wert als seine Wirkungen.«

'Derjenige Mensch also, in welchem der Grund mehrerer Wirkungen enthalten ist, wäre der vortrefflichere Mensch?'


»Unwidersprechlich.«


'Wie? So ist zwischen dem Guten und Schlimmen kein Unterschied mehr! So ist die moralische Schönheit verloren!'


»Das fürcht ich nicht. Wäre das, so wollte ich sogleich gegen Sie verloren geben. Das Gefühl des moralischen Unterschiedes ist mir eine weit wichtigere Instanz als meine Vernunft - und nur alsdann fing ich an, an die letztere zu glauben, da ich sie mit jenem unvertilgbarem Gefühle übereinstimmend fand. Ihre Moralität bedarf einer Stütze, die meinige ruht auf ihrer eigenen Achse.«

'Lehrt uns nicht die Erfahrung, daß oft die wichtigsten Rollen durch die mittelmäßigsten Spieler gespielt werden, daß die Natur die heilsamsten Revolutionen durch die schädlichsten Subjekte vollbringt? Ein Mahomed, ein Attila, ein Aurangzeb sind so wirksame Diener des Universums, als Gewitter, Erdbeben, Vulkane kostbare Werkzeuge der physischen Natur. Ein Despot auf dem Thron, der jede Stunde seiner Regierung mit Blut und Elend bezeichnet, wäre also ein weit würdigeres Glied ihrer Schöpfung, als der Feldbauer in seinen Ländern, weil er ein wirksameres ist - ja was das Traurigste ist, er wäre eben durch das vortrefflicher, was ihn zum Gegenstande unsers Abscheues macht, durch die größre Summe seiner Taten, die alle fluchwürdig sind - er hätte in eben dem Grade einen größern Anspruch auf den Namen eines vortrefflichen Menschen, als er unter die Menschheit herabsinkt. Laster und Tugend -'

»Sehen Sie«, rief der Prinz mit Verdrusse, »wie Sie sich von der Oberfläche hintergehen lassen, und wie leicht Sie mir gewonnen geben! Wie können Sie behaupten, daß ein verwüstendes Leben ein tätiges Leben sei? Der Despot ist das unnützlichste Geschöpf in seinen Staaten, weil er durch Furcht und Sorge die tätigsten Kräfte bindet und die schöpferische Freude erstickt. Sein ganzes Dasein ist eine fürchterliche Negative; und wenn er gar an das edelste, heiligste Leben greift und die Freiheit des Denkens zerstöret - hunderttausend tätige Menschen ersetzen in einem Jahrhunderte nicht, was ein Hildebrand, ein Philipp von Spanien in wenig Jahren verwüsteten. Wie können Sie diese Geschöpfe und Schöpfer der Verwesung durch Vergleichung mit jenen wohltätigen Werkzeugen des Lebens und der Fruchtbarkeit ehren!«

'Ich gestehe die Schwäche meines Einwurfs - aber setzen wir anstatt eines Philipps einen Peter den Großen auf den Thron, so können Sie doch nicht leugnen, daß dieser in seiner Monarchie wirksamer sei, als der Privatmann bei dem nämlichen Maß von Kräften und aller Tätigkeit, deren er fähig ist. Das Glück ist es also doch, was nach Ihrem Systeme die Grade der Vortrefflichkeit bestimmt, weil es die Gelegenheiten zum Wirken verteilet!'

»Der Thron wäre also nach Ihrer Meinung vorzugsweise eine solche Gelegenheit? Sagen Sie mir doch - wenn der König regieret, was tut der Philosoph in seinen Reichen?«

'Er denkt.'


»Und was tut der König, wenn er regieret?«

'Er denkt.'


»Und wenn der wachsame Philosoph schläft, was tut der wachsame König?«


'Er schläft.'

»Nehmen Sie zwei brennende Kerzen, eine davon stehe in einer Bauerstube, die andre soll in einem prächtigen Saale einer fröhlichen Gesellschaft leuchten. Was werden sie beide?«

'Sie werden leuchten. Aber eben das spricht für mich - Beide Kerzen, nehmen wir an, brennen gleich lang und gleich helle, und verwechselte man ihre Bestimmung, so würde niemand einen Unterschied merken. Warum soll die eine darum vortrefflicher sein, weil der Zufall sie begünstigte, in einem glänzenden Saal Pracht und Schönheit zu zeigen, warum soll die andre schlechter sein, weil der Zufall sie dazu verdammte, in einer Bauernhütte Armut und Kummer sichtbar zu machen? Und doch folgte dies notwendig aus Ihrer Behauptung?'

»Beide sind gleich vortrefflich, aber beide haben auch gleichviel geleistet?«

'Wie ist das möglich? Da die in dem weiten Saale soviel mehr Licht ausgegossen hat als die andre? Da sie soviel mehr Vergnügen verbreitet hat als die andre?'

»Erwägen Sie nur, daß hier nur von der ersten Wirkung die Rede ist, nicht von der ganzen Kette. Nur die nächstfolgende Wirkung gehört der nächstvorhergegangenen Ursache; nur so viele Teile der Lichtmaterie, als sie unmittelbar berührte, setzte die brennende Kerze in Schwung. Und was sollte nun die eine vor der andern voraushaben? Können Sie aus einem jeden Zentralpunkt nicht gleich viel Strahlen ziehen? Ebensoviel aus Ihrem Augensterne als aus dem Mittelpunkt der Erde? Entwöhnen Sie sich doch, die großen Massen, die der Verstand nur als solche Ganze zusammenfaßt, in der wirklichen Welt auch als solche existierende Ganze vorauszusetzen. Der Feuerfunke, der in ein Pulvermagazin fällt, einen Turm in die Luft sprengt und hundert Häuser verschüttet, hat darum doch nur ein einziges Körnchen gezündet.«


'Sehr gut, aber -'

»Wenden wir dieses auf moralische Handlungen an. Wir gehen spazieren, und zwei Bettler sollen uns begegnen. Ich gebe dem einen ein Stock Geld, Sie dem andern ein gleiches; der meinige betrinkt sich von dem Gelde und begeht in diesem Zustande eine Mordtat, der Ihrige kauft einem sterbenden Vater eine Stärkung und fristet ihm damit das Leben. Ich hätte also durch eben die Handlung, wodurch Sie Leben gaben, Leben geraubet? - Nichts weniger. Die Wirkung meiner Tat hört mit ihrer Unmittelbarkeit, so wie die Ihrige, auf, meine Wirkung zu sein.«

'Wenn aber mein Verstand diese Folgenreihe übersiehet und nur diese Übersicht mich zu der Tat bestimmt - wenn ich dem Bettler dieses Geld gab, um einem sterbenden Vater das Leben damit zu fristen, so sind doch alle diese Folgen mein, wenn sie so eintreffen, wie ich sie mir dachte.'

»Nichts weniger. Vergessen Sie nur nie, daß eine Ursache nur eine Wirkung haben kann. Die ganze Wirkung, die Sie hervorbrachten, war, das Geldstück aus Ihrer Hand in die Hand des Bettlers zu bringen. Dies ist von dieser ganzen langen Kette von Wirkungen die einzige, die auf Ihre Rechnung kommt. Die Arznei wirkte als Arznei u.s.f. - Sie scheinen verwundert. Sie glauben, daß ich Paradoxe behaupte, ein einziges Wort könnte uns vielleicht miteinander verständigen, aber wir wollen es lieber durch unsre Schlüsse finden.«

'Aus dem Bisherigen, sehe ich wohl, folgt, daß eine gute Tat an ihrer schlimmen Wirkung nicht schuld ist und eine schlimme Tat nicht an ihrer vortrefflichen. Aber zugleich folgt auch daraus, daß weder die gute an ihrer guten Wirkung, noch die schlimme an ihrer schlimmen schuld ist, und daß also beide in ihren Wirkungen ganz gleich sind. - Sie müßten denn die seltenen Fälle ausnehmen wollen, wo die unmittelbare Wirkung zugleich auch die abgezweckte ist.'

»Eine solche unmittelbare gibt es gar nicht, denn zwischen jede Wirkung, die der Mensch außer sich hervorbringt, und deren innre Ursache oder den Willen, wird sich eine Reihe gleichgültiger einschieben, wenn es auch nichts als Muskularbewegung wäre. Sagen Sie also dreist, daß beide in ihren Wirkungen durchaus moralisch einerlei, d.i. gleichgültig sind. - Und wer wird dieses leugnen wollen? Der Dolchstich, der das Leben eines Heinrichs IV. und eines Domitians endigt, sind beide ganz die nämliche Handlung.«

'Recht, aber die Motive -'

»Die Motive also bestimmen die moralische Handlung. Und woraus bestehen die Motive?«


'Aus Vorstellungen.'

»Und was nennen Sie Vorstellungen?«


'Innre Handlungen oder Tätigkeiten des denkenden Wesens, die äußern Tätigkeiten korrespondieren.'


»Eine moralische Handlung ist also eine Folge innrer Tätigkeiten, welche äußern Veränderungen korrespondieren?«


'Ganz richtig.'

»Wenn ich also sage, die Begebenheit ABC ist eine moralische Handlung, so heißt dies soviel als, der Reihe äußrer Veränderungen, welche diese Begebenheit ABC ausmachen, ist eine Reihe innrer Veränderungen abc vorhergegangen?«

'So ist es.'


»Die Handlungen abc waren also bereits beschlossen, als die Handlungen ABC anfingen.«


'Notwendig.'


»Wenn also ABC auch nicht angefangen hätte, so wäre abc darum nicht weniger gewesen. War nun die Moralität in abc enthalten, so blieb sie auch, wenn wir ABC ganz vertilgen.«

'Ich verstehe Sie, gnädigster Herr - und so wäre dasjenige, was ich für das erste Glied in der Kette gehalten, das letzte darin gewesen. Als ich dem Bettler das Geld gab, war meine moralische Handlung schon ganz vorbei, schon ihr ganzer Wert oder Unwert entschieden.'

»So mein ichs. Trafen die Folgen ein, wie Sie sie dachten, d.i. folgte ABC auf abc, so war es nichts weiter als eine gelungene gute Handlung. In diesem äußern Strome hat der Mensch nichts mehr zu sagen, ihm gehört nichts als seine eigene Seele. Sie sehen daraus aufs neue, daß der Monarch nichts dem Privatmanne voraus hat, denn auch er ist so wenig Herr jenes Stromes als dieser; auch bei ihm ist das ganze Gebiet seiner Wirksamkeit bloß innerhalb seiner eigenen Seele.«

'Aber dadurch wird nichts verändert, gnädigster Herr; denn auch die böse Handlung hat ihre Motive wie die gute, d.i. ihre innern Tätigkeiten, und nur um dieser Motive willen nennen wir sie ja böse. Setzen Sie also den Zweck und den Wert des Menschen in die Summe seiner Tätigkeiten, so sehe ich immer noch nicht, wie Sie die Moralität aus seinem Zwecke herausbringen, und meine vorigen Einwürfe kehren zurück.'

»Lassen Sie uns hören. Schlimm oder gut, sind wir übereingekommen, seien Prädikate, die eine Handlung erst in der Seele erlange.«

'Das ist erwiesen.'


»Lassen wir also zwischen die äußere Welt und das denkende Wesen eine Scheidewand fallen, so erscheint uns die nämliche Handlung außerhalb derselben gleichgültig, innerhalb derselben nennen wir sie schlimm oder gut.«

'Richtig.'

»Moralität ist also eine Beziehung, die nur innerhalb der Seele, außer ihr nie gedacht werden kann, so wie z.B. die Ehre eine Beziehung ist, die dem Menschen nur innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zukommen kann.«

'Ganz recht.'


»Sobald wir uns eine Handlung als in der Seele vorhanden denken, so erscheint sie uns als die Bürgerin einer ganz andern Welt, und nach ganz andern Gesetzen müssen wir sie richten. Sie gehört einem eigenen Ganzen zu, das seinen Mittelpunkt in sich selbst hat, aus welchem alles fließt, was es gibt, gegen welchen alles strömt, was es empfänget. Dieser Mittelpunkt oder dieses Prinzipium ist, wie wir vorhin übereingekommen sind, nichts anders als der inwohnende Trieb, alle seine Kräfte zum Wirken zu bringen, oder, was ebensoviel sagt, zur höchsten Kundmachung seiner Existenz zu gelangen. In diesen Zustand setzen wir die Vollkommenheit des moralischen Wesens, so wie wir eine Uhr vollkommen nennen, wenn alle Teile, woraus der Künstler sie zusammensetzte, der Wirkung entsprechen, um derentwillen er sie zusammensetzte, wie wir ein musikalisches Instrument vollkommen nennen, wenn alle Teile desselben an seiner höchsten Wirkung den höchsten Anteil nehmen, dessen sie fähig und um dessentwillen sie vereinigt sind. Das Verhältnis nun, in welchem die Tätigkeiten des moralischen Wesens zu diesem Prinzipium stehen, bezeichnen wir mit dem Namen der Moralität; und eine Handlung ist moralisch gut oder moralisch böse, je nachdem sie sich jenem nähert oder von ihm entfernet, es befördert oder hindert. Sind wir darüber einig?«

'Vollkommen.'

»Da nun jenes Prinzipium kein andres ist als die vollständigste Tätigkeit aller Kräfte im Menschen, so ist eine gute Handlung, wobei mehr Kräfte tätig waren, eine schlimme, wobei weniger tätig waren?«

'Hier, gnädigster Herr, lassen Sie uns innehalten. Diesem nach käme eine kleine Wohltat, die ich reiche, in der moralischen Rangordnung sehr tief unter das jahrlange Komplott der Bartholomäusnacht zu stehen, oder die Verschwörung des Cueva gegen Venedig.'

Der Prinz verlor hier die Geduld. »Wann werd ich Ihnen doch begreiflich machen können«, fing er an, »daß die Natur kein Ganzes kenne? Stellen Sie zusammen, was zusammen gehört. War jenes Komplott eine Handlung, oder nicht vielmehr eine Kette von hunderttausenden? - und von hunderttausend mangelhaften, gegen welche Ihre kleine Wohltat noch immer im Vorteile stehet. Der Trieb der Menschenliebe schlief bei allen, der bei der Ihrigen tätig war. Aber wir kommen ab. Wo blieb ich?«

'Eine gute Handlung sei, wobei mehr Kräfte tätig waren, und umgekehrt.'

»Und dadurch also, daß weniger Kräfte bei ihr tätig waren, wird eine schlimme Handlung schlimm, und so umgekehrt?«


'Ganz begreiflich.'

»Bei einer schlimmen Handlung wird also nur verneinet, was bei einer guten bejahet wird?«

'So ists.'

»Ich kann also nicht sagen, es gehörte ein böses Herz dazu, diese Tat zu begehen, so wenig als ich sagen kann, es gehörte ein Kind und nicht ein Mann dazu, diesen Stein aufzuheben?«

'Sehr wahr. Ich sollte vielmehr sagen, es mußte soviel gutes Herz fehlen, um diese Tat zu begehen.'


»Laster ist also nur die Abwesenheit von Tugend, Torheit die Abwesenheit von Verstand, ein Begriff ohngefähr wie Schatten oder Stille?«


'Ganz richtig.'

»Sowenig also, als man logisch-richtig sagen kann, es ist Leere, Stille, Finsternis vorhanden, sowenig gibt es ein Laster im Menschen und überhaupt also in der ganzen moralischen Welt?«

'Das ist einleuchtend.'


»Wenn es also kein Laster im Menschen gibt, so ist alles, was in ihm tätig ist, Tugend, d.i. es ist gut, ebenso wie alles tönt, was nicht still ist, alles Licht hat, was nicht im Schatten steht?«

'Das folgt.'


»Jede Handlung also, die der Mensch begeht, ist also dadurch, daß es eine Handlung ist, etwas Gutes?«

'Nach allem Vorhergegangenen.'


»Und wenn wir eine schlimme Handlung von einem Menschen sehen, so ist diese Handlung gerade das einzige Gute, was wir in diesem Augenblick an ihm bemerken.«

'Das klingt sonderbar.'

»Lassen Sie uns ein Gleichnis zu Hülfe nehmen. Warum nennen wir einen trüben, neblichten Wintertag einen traurigen Anblick? Ist es darum, weil wir eine Schneelandschaft an sich selbst widrig finden? Nichts weniger, könnte man sie in den Sommer verpflanzen, sie würde seine Schönheit erheben. Wir nennen ihn traurig, weil dieser Schnee und dieser Nebelduft nicht dasein könnten, wenn eine Sonne geschienen hätte, sie zu zerteilen, weil sie mit den ungleich größern Reizen des Sommers unvereinbar sind. Der Winter ist uns also ein Übel, nicht weil ihm alle Genüsse mangeln, sondern weil er größere ausschließt.«

'Vollkommen anschaulich.'

»Ebenso mit moralischen Wesen. Wir verachten einen Menschen, der aus dem Treffen fliehet und dem Tode dadurch entgeht, nicht, weil uns der wirksame Trieb der Selbsterhaltung mißfiele, sondern weil er diesem Triebe weniger würde nachgegeben haben, wenn er die herrliche Eigenschaft des Mutes besessen hätte. Ich kann die Herzhaftigkeit, die List des Räubers bewundern, der mich bestiehlt, aber ihn selbst nenne ich lasterhaft, weil ihm die ungleich schönere Eigenschaft der Gerechtigkeit mangelt. So kann mich eine Unternehmung in Erstaunen setzen, die der Ausbruch einer jahrlang verhaltenen tätigen Rachsucht ist, aber ich nenne sie verabscheuungswürdig, weil sie mir einen Menschen zeigt, der ganze Jahre leben konnte, ohne seinen Mitmenschen zu lieben. Ich schreite mit Unwillen über ein Schlachtfeld hinweg, nicht weil so viele Leben hier verwesen - Pest und Erdbeben hätten noch mehr tun können, ohne mich gegen sich aufzubringen - auch nicht weil ich die Kraft, die Kunst, den Heldenmut nicht vortrefflich fände, die diese Krieger zu Boden streckten - sondern weil mir dieser Anblick so viele tausend Menschen ins Gedächtnis bringt, denen die Menschlichkeit fehlte.«

'Vortrefflich.'

»Dasselbe gilt von den Graden der Moralität. Eine sehr künstliche, sehr fein ersonnene, mit Beharrlichkeit verfolgte, mit Mut ausgeführte Bosheit hat etwas Glänzendes an sich, das schwache Seelen oft zur Nachahmung reizt, weil man so viele große und schöne Kräfte in ihrer ganzen Fülle dabei wirksam findet. Und doch nennen wir diese Handlung schlimmer als eine ähnliche bei einem geringeren Maß von Geist, und strafen sie strenger, weil sie uns jenen Mangel der Gerechtigkeit in ihrer größern Motivenreihe häufiger erkennen läßt. Wird sie vollends noch an einem Wohltäter verübet, so empört sie darum unser ganzes Gefühl, weil die Gelegenheiten, den Trieb der Liebe in Bewegung zu setzen, in diesem Falle häufiger waren, und wir also die Entdeckung, daß dieser Trieb unwirksam geblieben, häufiger dabei wiederholen.«

'Klar und einleuchtend.'


»Auf unsre Frage zurückzukommen. Sie geben mir also zu, daß es nicht die Tätigkeiten der Kräfte sind, die das Laster zum Laster machen, sondern ihre Untätigkeit.«

'Vollkommen.'


»Die Motive sind aber solche Tätigkeiten; es ist also unrichtig geredet, eine Handlung ihrer Motive wegen lasterhaft zu nennen. Nichts weniger! Ihre Motive sind das einzige Gute, das sie hat, sie ist nur böse um derjenigen willen, die ihr mangeln.«

'Unwidersprechlich.'


»Aber wir hätten diesen Beweis noch kürzer führen können. Würde der Lasterhafte aus diesen Motiven handeln, wenn sie ihm nicht einen Genuß gewährten? Genuß allein ist es, was moralische Wesen in Bewegung setzt; und nur das Gute, wissen wir ja, kann Genuß gewähren.«

'Ich bin befriedigt. Aus dem Bisherigen folgt unwidersprechlich, daß z.B. ein Mensch von hellem Geist und wohlwollendem Herzen nur darum ein besserer Mensch ist als ein andrer von ebensoviel Geist und einem minder wohltätigen Herzen, weil er sich dem Maximum innrer Tätigkeit mehr nähert. Aber eine andre Bedenklichkeit steigt in mir auf. Geben Sie einem Menschen die Eigenschaften des Verstandes, des Muts, der Tapferkeit u.s.f. in einem vorzüglich hohen Grade, und lassen Sie ihm nur die einzige Eigenschaft, die wir gutes Herz nennen, mangeln - werden Sie ihn einem andern vorziehen, der jene Eigenschaften in einem niedrigern Grade, dies Letztere aber in seinem größten Umfang besitzet? Unstreitig ist jener ein weit tätigerer Mensch als dieser, und da nach Ihnen die Tätigkeit der Kräfte den moralischen Preis bestimmet, so würde also Ihr Urteil für ihn ausfallen, und mit dem gewöhnlichen Urteil der Menschen in einem Widerspruche sich befinden.'

»Es würde ohnfehlbar sehr übereinstimmend damit sein. Ein Mensch, dessen Verstandeskräfte in einem hohen Grade tätig sind, wird ebenso gewiß auch ein vortreffliches Herz besitzen, als er das, was er an sich selbst liebet, an einem andern nicht hassen kann. Wenn die Erfahrung dagegen zu streiten scheint, so hat man entweder zu freigebig von seinem Verstande, oder von moralischer Güte zu eingeschränkt geurteilt. Ein großer Geist mit einem empfindenden Herzen steht in der Ordnung der Wesen ebenso hoch über dem geistreichen Bösewicht, als der Dummkopf mit einem weichen, man sagt besser, weichlichen Herzen unter diesem stehet.«

'Aber ein Schwärmer und einer von der heftigen Art ist doch offenbar ein tätigeres Wesen als ein Alltagsmensch mit phlegmatischem Blut und beschränkten Sinnen?'

»Bei einem noch so phlegmatischen, beschränkten Alltagsmenschen kommt doch jede Kraft zum Wirken, weil keine von der andern verdrängt wird. Er ist ein Mensch in gesundem Schlafe; der Schwärmer ist einem Phrenetischrasenden gleich, der sich in wütenden Konvulsionen wirft, wenn die Lebenskraft bereits in den äußersten Arterien aufhört. - Haben Sie noch eine Einwendung?«

'Ich bin mit Ihnen überzeugt, daß die Moralität des Menschen in dem Mehr oder Weniger seiner innern Tätigkeit enthalten ist.'

»Erinnern Sie sich nun«, fuhr der Prinz fort, »daß wir diese ganze Untersuchung im geschlossenen Bezirk der menschlichen Seele angestellt haben, daß wir sie von der äußern Reihe der Dinge durch eine Scheidewand getrennt, und innerhalb dieses nie überschrittenen Kreises den ganzen Bau der Moralität aufgeführt haben. Wir haben zugleich gefunden, daß seine Glückseligkeit vollkommen mit seiner moralischen Vortrefflichkeit aufgehe, daß ihm also für die letztere ebensowenig etwas zu fordern bleibe, daß ihm auf eine erst zu erreichende Vollkommenheit ebensowenig ein Genuß voraus zugeteilt werden könne, als daß eine Rose, die heute blühet, erst im folgenden Jahre dadurch schön sei, als daß ein Mißgriff auf dem Klavier erst in das nächstkommende Spiel seinen Mißlaut einmischen kann. Es wäre ebenso denkbar, daß der Glanz der Sonne in den heutigen Mittag und ihre Wärme in den folgenden fiele, als daß die Vortrefflichkeit des Menschen in diese Welt und seine Glückseligkeit in die andre fallen könnte - Ist Ihnen dieses erwiesen?«

'Ich weiß nichts dagegen zu antworten.'


»Das moralische Wesen ist also in sich selbst vollendet und beschlossen, wie das, welches wir zum Unterschied davon das organische nennen, beschlossen durch seine Moralität, wie dieses durch seinen Bau, und diese Moralität ist eine Beziehung, die von dem, was außer ihm vorgeht, durchaus unabhängig ist.«

'Dies ist erwiesen.'

»Es umgebe mich also, was da wolle, der moralische Unterschied bleibt.«


'Ich ahnde, wo Sie hinauswollen, aber -'

»Es sei also ein vernünftig geordnetes Ganze, eine unendliche Gerechtigkeit und Güte, eine Fortdauer der Persönlichkeit, ein ewiger Fortschritt - aus der moralischen Welt läßt sich dieses wenigstens nicht mit größerer Bündigkeit erweisen, als aus der physischen. Um vollkommen zu sein, um glücklich zu sein, bedarf das moralische Wesen keiner neuen Instanz mehr - und wenn es eine erwartet, so kann sich diese Erwartung wenigstens nicht mehr auf eine Forderung gründen. Was mit ihm werde, muß ihm für seine Vollkommenheit gleichviel sein, so wie es der Rose - um schön zu sein - gleichviel sein muß, ob sie in einer Wüste oder in fürstlichen Gärten, ob dem Busen eines lieblichen Mädchens oder dem verzehrenden Wurm entgegen blühet.«

'Paßt diese Vergleichung?'


»Vollkommen; denn ich sage hier ausdrücklich, um schön zu sein, dort, um glücklich zu sein - nicht, um vorhanden zu sein! Dies letzte gehört für eine neue Untersuchung, und ich will das Gespräch nicht verlängern.«

'Ich kann Sie doch noch nicht ganz losgeben, gnädigster Prinz. Sie haben - und mir deucht unumstößlich - bewiesen, daß der Mensch nur moralisch sei, insofern er in sich selbst tätig sei - aber Sie behaupteten vorhin, daß er nur Moralität habe, um außer sich zu wirken.'

»Sagen Sie, nur außer sich wirksam sei, weil er Moralität hat. Ihre Damit verwirren uns. Ich kann Ihre Zwecke nicht leiden.«

'Hier kommt es auf eins. Es hieße also, daß er nur insofern den Grund der meisten Wirkungen außer sich enthalte, insofern er den höchsten Grad seiner Moralität erreiche. Und diesen Beweis sind Sie mir noch schuldig.'

»Können Sie ihn aus dem Bisherigen nicht selbst führen? Der Zustand der höchsten innern Wirksamkeit seiner Kräfte, ist es nicht derselbe, in welchem er auch die Ursache der meisten Wirkungen außer sich sein kann?«

'Sein kann, aber nicht sein muß - denn haben Sie nicht selbst zugestanden, daß eine unwirksam gebliebene gute Tat ihrem moralischen Wert nichts benehme?'

»Nicht bloß zugestanden, sondern als höchst notwendig festgesetzt! - Wie schwer sind Sie doch von einer irrigen Vorstellung zurückzubringen, die sich einmal Ihrer bemächtigt hat. Dieser anscheinende Widerspruch, daß die äußern Folgen einer moralischen Tat für ihren Wert höchst gleichgültig seien, und daß der ganze Zweck seines Daseins dennoch nur in seinen Folgen nach außen liege, verwirrt Sie immer. Nehmen Sie an, ein großer Virtuose spiele vor einer zahlreichen aber rohen Gesellschaft, ein Stümper komme dazwischen und entführe ihm seinen ganzen Hörsaal - welchen werden Sie für den Nützlicheren erklären?«

'Den Virtuosen, versteht sich, denn derselbe Künstler wird ein andermal feinere Ohren ergötzen.'


»Und würde er dieses wohl, wenn er die Kunst nicht besäße, die damals verloren ging, und die er damals übte?«

'Schwerlich.'

»Und wird sein Nebenbuhler jemals diejenige Wirkung hervorbringen, die er hervorbrachte?«

'Diejenige nicht, aber -'


»Aber vielleicht eine größre bei seinem größern Haufen wollen Sie sagen? Können Sie im Ernste zweifelhaft sein, ob ein Künstler, der einen Kreis fühlender Menschen und geistreicher Kenner zu bezaubern gewußt hat, mehr getan habe, als jener Stümper in seinem ganzen Leben? Daß eine Empfindung vielleicht, die er erweckte, in einer feinen Seele sich zu Taten erhöhte, die nachher für eine Million nützlich wurden? Daß sie sich vielleicht als das einzige noch fehlende Glied an eine wichtige Kette anschloß und einem herrlichen Vorhaben die Krone aufsetzte? - Auch jener Stümper, das räume ich ein, kann fröhliche Menschen machen - auch der Mensch, der seine moralische Krone verlor, wird noch wirken, ebenso wie eine Frucht, an welcher die Fäulnis nagt, noch ein Mahl für Vögel und Würmer sein kann, aber sie wird nie mehr gewürdigt, einen reizenden Mund zu berühren.«

'Lassen Sie aber jenen Künstler in einer Wüste spielen, dort leben und sterben. Ich darf sagen, seine Kunst belohnt ihn; auch wo kein Ohr seine Töne auffängt, ist er sein eigner Hörer und genießt in den Harmonien, die er hervorbringt, die noch herrlichere Harmonie seines Wesens. Dies dürfen Sie aber nicht sagen. Ihr Künstler muß Hörer haben, oder er ist umsonst dagewesen.'

»Ich verstehe Sie - aber Ihr gegebener Fall kann nie stattfinden. Kein moralisches Wesen ist in einer Wüste, wo es lebet und webet, berührt es ein umgrenzendes All. Die Wirkung, die es leistet, wär es auch nur diese einzige, wissen wir, konnte nur dieses Wesen und kein anderes leisten, und es konnte diese Wirkung nur vermöge seiner ganzen Beschaffenheit leisten. Wenn unser Virtuose auch nur einmal zum Spielen gelangte, so gestehen Sie mir doch ein, daß er gerade dieser Künstler sein mußte, der er war, daß er, um dieses zu sein, gerade durch so viele Grade der Übung und Kunstfertigkeit gegangen sein mußte, als er wirklich durchwandert hatte, und daß also sein ganzes vorhergegangenes Künstlerleben an diesem Augenblick des Triumphes teilnimmt. War jener erste Brutus zwanzig Jahre unnützlich, weil er zwanzig Jahre den Blödsinnigen spielte? Seine erste Tat war die Gründung einer Republik, die noch jetzt als die größte Erscheinung in der Weltgeschichte dasteht. Und so wäre es denkbar, daß meine Notwendigkeit oder Ihre Vorsehung einen Menschen ein ganzes Menschenalter lang schweigend einer Tat zubereitet hätte, die sie ihm erst in seiner letzten Stunde abfordert.«

'So scheinbar dieses klingt - mein Herz kann sich nicht an die Idee gewöhnen, daß alle Kräfte, alle Bestrebungen des Menschen nur für seinen Einfluß in dieser Zeitlichkeit arbeiten sollen. Der große patriotische erfahrene Staatsmann, der heute vom Ruder gestürzt wird, trägt alle seine erworbenen Kenntnisse, seine geübten Kräfte, seine zeitigenden Plane in sein vergeßnes Privatleben hinein, worin er stirbt. Vielleicht hatte er nur noch den letzten Stein an die Pyramide zu setzen, die hinter ihm zusammenstürzt, die seine Nachfolger ganz von dem untersten Steine wieder anfangen müssen. Mußte er in funfzig Lebensjahren, mußte er während seiner anstrengenden Reichsverwaltung nur für die untätige Stille seines Privatlebens sammeln? Daß er durch diese Verwaltung seine Wirkung erfüllt habe, dürfen Sie mir nicht antworten. Wenn der Einfluß in diese Welt die ganze Bestimmung des Menschen erschöpft, so muß sein Dasein zugleich mit seiner Wirkung auf hören.'

»Ich verweise Sie an das sprechende Beispiel der physischen Natur, von der Sie mir doch einräumen müssen, daß sie nur für die Zeitlichkeit arbeite. Wie viele Keime und Embryonen, die sie mit soviel Kunst und Sorgfalt zum künftigen Leben zusammensetzte, werden wieder in das Elementenreich aufgelöst, ohne je zur Entwicklung zu gedeihen. - Warum setzte sie sie zusammen? In jedem Menschenpaare schläft, wie in dem ersten, ein ganzes Menschengeschlecht, warum ließ sie aus soviel Millionen nur ein einziges werden? So gewiß sie auch diese verderbenden Keime verarbeitet, so gewiß werden auch moralische Wesen, bei denen sie einen höhern Zweck zu verlassen schien, früher oder später in denselbigen eintreten. Ergründen zu wollen, wie sie eine einzelne Wirkung durch die ganze Kette fortpflanzt, würde eine kindische Anmaßung verraten. Oft, sehen wir, läßt sie den Faden einer Tat, einer Begebenheit plötzlich fallen, den sie drei Jahrtausende nachher ebenso plötzlich wieder aufnimmt, versenkt in Kalabrien die Künste und Sitten des achtzehnten Jahrhunderts, um sie vielleicht im dreißigsten dem verwandelten Europa wieder zu zeigen, ernährt viele Menschenalter lang gesunde Nomadenhorden auf den tartarischen Steppen, um sie einst dem ermattenden Süden als frisches Blut zuzusenden, wie sie auf ihrem physischen Gange das Meer über Hollands und Seelands Küsten wirft, um vielleicht eine Insel im fernen Amerika zu entblößen. Aber auch im Einzelnen und im Kleinen fehlt es an solchen Winken nicht ganz. Wie oft tut die Mäßigkeit eines Vaters, der längst nicht mehr ist, an einem genievollen Sohne Wunder, wie oft ward ein ganzes Leben vielleicht nur gelebt, um eine Grabschrift zu verdienen, die in die Seele eines späten Nachkömmlings einen Feuerstrahl werfen soll! - Weil vor Jahrhunderten ein verscheuchter Vogel auf seinem Fluge einige Samenkörner da niederfallen ließ, blüht für ein landendes Volk auf einem wüsten Eiland eine Ernte - und ein moralischer Keim ging in einem so fruchtbaren Erdreich verloren!«

'O bester Prinz! Ihre Beredsamkeit begeistert mich zum Kampfe gegen Sie selber. Soviel Vortrefflichkeit können Sie Ihrer fühllosen Notwendigkeit gönnen, und wollen nicht lieber einen Gott damit glücklich machen? Sehen Sie in der ganzen Schöpfung umher. Wo irgend nur ein Genuß bereitet liegt, finden Sie ein genießendes Wesen - und dieser unendliche Genuß, dieses Mahl von Vollkommenheit, sollte durch die ganze Ewigkeit leerstehen!'

»Sonderbar!«
sagte der Prinz nach einer tiefen Stille. »Worauf Sie und andere ihre Hoffnungen gründen, eben das hat die meinigen umgestürzt - eben diese geahndete Vollkommenheit der Dinge. Wäre nicht alles so in sich beschlossen, säh ich auch nur einen einzigen verunstaltenden Splitter aus diesem schönen Kreise herausragen, so würde mir das die Unsterblichkeit beweisen. Aber alles, alles, was ich sehe und bemerke, fällt zu diesem sichtbaren Mittelpunkt zurück, und unsre edelste Geistigkeit ist eine so ganz unentbehrliche Maschine, dieses Rad der Vergänglichkeit zu treiben.«

'Ich begreife Sie nicht, gnädigster Prinz. Ihre eigne Philosophie spricht Ihnen das Urteil, wahrlich, Sie sind dem reichen Manne gleich, der bei allen seinen Schätzen darbet. Sie gestehen, daß der Mensch alles in sich schließe, um glücklich zu sein, daß er seine Glückseligkeit nur allein durch das erhalten könne, war er besitzet, und Sie selbst wollen die Quelle Ihres Unglücks außer sich suchen. Sind Ihre Schlüsse wahr, so ist es ja nicht möglich, daß Sie auch nur mit einem Wunsche über diesen Ring hinausstreben, in welchem Sie den Menschen gefangen halten.'

»Das eben ist das Schlimme, daß wir nur moralisch vollkommen, nur glückselig sind, um brauchbar zu sein, daß wir unsern Fleiß, aber nicht unsre Werke genießen. Hunderttausend arbeitsame Hände trugen die Steine zu den Pyramiden zusammen - aber nicht die Pyramide war ihr Lohn. Die Pyramide ergötzte das Auge der Könige, und die fleißigen Sklaven fand man mit dem Lebensunterhalt ab. Was ist man dem Arbeiter schuldig, wenn er nicht mehr arbeiten kann, oder nichts mehr für ihn zu arbeiten sein wird? Was dem Menschen, wenn er nicht mehr zu brauchen ist?«

'Man wird ihn immer brauchen.'


»Auch immer als ein denkendes Wesen?«
S. 161-193
Aus: Friedrich Schiller, Der Geisterseher. Aus den Memoiren des Grafen von O** Herausgegeben von Mathias Mayer
Reclams Universalbibliothek Nr. 7435 © 1996 Philipp Reclam jun., Stuttgart