Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768 – 1834)

Deutscher Philosoph und evangelischer Theologe, der nach Privatunterricht bei den Eltern eine Ausbildung und Erziehung am Pädagogium der Herrnhuter Brüdergemeine und ihrem Seminar in Barby/Elbe erhielt, mit dem Ziel Herrnhutischer Prediger zu werden. Die zensierte Beschränktheit des Lehrplans, in dem nicht nur alle philosophischen und wissenschaftlichen Neuerungen, sondern auch alle nicht religiös fundierte Literatur ausgeschlossen waren, stieß ihn ab. Er verließ deshalb die Gemeine und rang dem Vater die Zustimmung zu einem Universitätsstudium der Philosophie, der Theologie und der alten Sprachen in Halle ab. Während seiner Tätigkeit als reformierter Prediger an der Charité in Berlin (1796-1802) kam Schleiermacher in engeren Kontakt mit den Romantikern, insbesondere mit Friedrich Schlegel, von denen er viele Anregungen erhielt, die in seine - in dieser Zeit entstandenen - »Reden« und »Monologen« einflossen. Von 1802-1804 ging er als Hofprediger nach Stolpe, 1804-1807 war er als Universitätsprediger und Professor für Theologie in Halle tätig. Nach seiner Rückkehr nach Berlin im Jahre 1807 nahm er Beziehungen zu Wilhelm von Humboldt auf, mit dem er die Gründung der Universität betrieb. 1810 wird er Professor an der neuen Universität, seit 1811 Mitglied und seit 1814 Sekretär der Akademie der Wissenschaften. 1829 konfirmierte er Bismarck. Mit Erfolg setzte Schleiermacher sich für den königlichen Plan einer Union der evangelischen Kirchen ein. Seine Schrift »Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern« (1799) ist das wirkungsmächtige Plädoyer für eine persönliche reale Erfahrung von Religion, die als das »unentbehrliche Dritte« zu Denken und Handeln hinzukommen muss. Wie kein anderer hat seine pantheistische Sichtweise des Universums die evangelische Theologie des 19. wie des 20. Jahrhunderts beeinflusst. Nicht vergessen werden sollte Schleiermacher’s einfühlsame Übertragung von Platon’s Werken in die deutsche Sprache.

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Inhaltsverzeichnis
Aus dem Briefwechsel zwischen Schleiermacher und seinem Vater
Ein Sonett Friedrich Schlegels über die »Reden«.
Über die Religion - Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern
Das Wesen der Religion gründet sich in der Anschauung und dem Gefühl des Universums
Jede ursprüngliche Anschauung des Universums ist Offenbarung
Religion ist auch ohne Gott möglich
Der Mensch ist das Urbild Gottes
Das Universum als Einheit in der Vielheit
Sehnsucht nach Unsterblichkeit
Unsterblichkeit der Religion


Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen



Aus dem Briefwechsel zwischen Schleiermacher und seinem Vater über die Änderung seiner Glaubensauffassung
Barby, den 21. Januar 1787
(Schleiermacher an Vater)
Zärtlich geliebter Vater! Zwar spät, aber doch nicht minder aufrichtig, nicht minder feurig kommt diesmal mein Glückwunsch zum neuen Jahr. Je älter man wird, bester Vater, je mehr man dem Lauf der Dinge auf dieser Welt zusieht, desto mehr wird man überzeugt, dass man aus Furcht, was Böses zu wünschen, lieber nichts von alle dem wünschen soll, was man insgeheim sich und anderen zu wünschen pflegt; alles ist unter den Umständen Glück, unter anderen Unglück; aber Ruhe und Gelassenheit des Herzens unter allen Umständen, das ist es, was ich Ihnen wünsche, und – was kann einem Vater wohl lieber sein als das – Freude zu erleben an seinen Kindern. Je mehr ich Ihnen dieses, als Ihr Sohn, aus vollem kindlichen Herzen wünsche, desto mehr Überwindung kostet es mich, desto mehr greift es das Innerste meiner Seele an, daß ich Ihnen gleich etwas melden soll, was Ihre Hoffnung auf die Erfüllung dieses Wunsches so sehr wankend machen muß. Ich gestand Ihnen in meinem letzten Briefe meine Unzufriedenheit über meine eingeschränkte Lage, ich sagte Ihnen, wie leicht sie Religionszweifel, die bei jungen Leuten zu unseren Zeiten so leicht entstehen, befördern könne, und suchte Sie dadurch auf die Nachricht vorzubereiten, daß der Fall bei mir eingetreten sei; aber ich erreichte meinen Zweck nicht. Sie glaubten mich durch Ihre Antwort beruhigt, und ich schwieg unverantwortlicherweise sechs ganzer Monate, weil ich es nicht übers Herz bringen konnte, Sie aus diesem Irrtum zu reißen.

Der Glaube ist ein Regale [Königsrecht] der Gottheit,
schrieben Sie mir. Ach, bester Vater, wenn Sie glauben, dass ohne diesen Glauben keine, wenigstens nicht die Seligkeit in jenem, nicht die Ruhe in diesem Leben ist, als bei demselben, und das glauben Sie ja, o so bitten Sie Gott, daß er ihn mir schenke, denn für mich ist er jetzt verloren.

Ich kann nicht glauben, da
ss der ewiger wahrer Gott war, der sich selbst nur der Menschensohn nannte; ich kann nicht glauben, dass sein Tod keine stellvertretende Versöhnung war, weil er es selbst nie ausdrücklich gesagt hat, und weil ich nicht glauben kann, daß sie nötig gewesen; denn Gott könne die Menschen, die Er offenbar nicht zur Vollkommenheit, sondern nur zum Streben nach derselben geschaffen hat, unmöglich darum ewig strafen wollen, weil sie nicht vollkommen geworden sind.

Ach, bester Vater, der tiefe durchdringende Schmerz, den ich beim Schreiben dieses Briefes empfinde, hindert mich, Ihnen die Geschichte meiner Seele in Absicht auf meine Meinungen und alle meine starken Gründe für dieselben umständlich zu erzählen, aber ich bitte Sie inständig, halten Sie die nicht für vorübergehende, nicht tief gewurzelte Gedanken; fast ein Jahr haften sie bei mir, und ein langes angestrengtes Nachdenken hat mich dazu bestimmt. Ich bitte Sie, enthalten Sie mir ihre stärksten Gründe zur Widerlegung derselben nicht vor, aber, aufrichtig zu gestehen, glaub’ ich nicht, dass Sie mich jetzt überzeugen werden.

So ist sie denn heraus, diese Nachricht, die Sie so sehr erschrecken muss. Denken Sie sich ganz in meine Seele hinein bei meiner – ich kann mit gutem Gewissen das Zeugnis geben, und ich weiß, Sie sind selbst davon überzeugt – bei meiner sehr großen zärtlichen kindlichen Liebe zu einem so guten Vater wie Sie, dem ich alles zu danken habe und der mich so herzlich liebt; vielleicht können Sie sich einigermaßen vorstellen, was mich diese Zeilen gekoste haben. Sie sind nun geschrieben mit zitternder Hand und mit Tränen, aber ich würde sie auch jetzt noch nicht fortschicken, wenn mich nicht meine Vorgesetzten dazu veranlasst und mir gewissermaßen aufgetragen hätten, es Ihnen zu schreiben. Trösten Sie sich, liebster Vater, ich weiß, Sie sind lange in der Lage gewesen, in der ich bin; Zweifel stürmten ehemals ebenso auf Sie los, als jetzt auf mich, und doch sind Sie noch der geworden, der Sie jetzt sind; denken Sie, hoffen Sie, glauben Sie, dass es mir ebenso gehen könne, und
seien Sie versichert, daß ich mich, solange ich auch nicht mit ihnen eines Glaubens bin, doch immer befleißigen werde ein rechtschaffener und nützlicher Mensch zu werden, und das ist doch die Hauptsache. […]

Mit Wehmut küsse ich Ihnen, bester Vater, die Hände und bitte Sie, alles von der besten Seite anzusehen und reiflich zu überlegen, und mir noch fernerhin, so sehr es Ihnen möglich ist, Ihre väterliche, mir unschätzbare Liebe zu schenken, als Ihrem bekümmerten, Sie innig verehrenden Sohn. S.3ff.

Anhalt, den 8.Februar 1787
(Antwort des Vaters)
O Du unverständiger Sohn! wer hat Dich bezaubert, daß Du der Wahrheit nicht gehorchest? welchem Christus Jesus vor die Augen gemalet war und nun von Dir gekreuzigt wird. Du liefest fein, wer hat Dich aufgehalten, der Wahrheit nicht zu gehorchen? Solch Ueberreden ist nicht von dem, der Dich berufen hat; aber ein wenig Sauerteig versäuert den ganzen Teig. Das nämliche Verderben Deines Herzens, welches vor vier Jahren Dir bange machte, daß Du mit demselben in der Welt werdest ganz verloren gehen, und Dich damals zur Gemeine hintrieb, ach! davon hast Du leider noch immer etwas bei Dir geheget, das hat nun Dein ganzes Wesen durchsäuert und treibt Dich wieder aus der Gemeine. Ach, mein Sohn! wie tief beugst Du mich! welche Seufzer pressest Du aus meiner Seele! und wenn Abgeschiedene einige Notiz von uns nehmen, o welch grausamer Störer der Ruhe Deiner seligen Mutter bist Du dann jetzt, da selbst Deine Dir fremde Stiefmutter mit mir Dich beweint.

So gehe denn in die Welt, deren Ehre Du suchst. Siehe, ob Deine Seele von ihren Trebern kann satt werden, da sie die göttliche Erquickung verschmähet, welche Jesus allen nach ihm dürstenden Herzen schenket. Hast Du denn nie ein Tröpflein Balsam aus seinen Wunden gekostet? und ist das alles Trug und Heuchelei gewesen, was Du geschrieben und zu empfinden so oft beteuerst hast? War es aber die Wahrheit, o so wird’s mächtig an jenem Tage wider Dich zeugen, wo Du nicht umkehrst zu Deinem ewigen Erbarmer. Ev. Joh. Kap. 12 V.48-50. Hebr. Kap. 6, V.4-6.

Ach! in welche Verblendung hat das Verderben Deines Herzens Dich gestürzt! Du glaubst in der Welt den Weg zu finden, um zu der Gemeine, in welcher Du warst – (denn leider mit Deinem Herzen bist Du nicht mehr da) – wieder zurückzukehren; und ebenso widersprechend sind Deine Einwendungen, die Du stark nennst; ja so stark und mächtig ist der Eigendünkel und Stolz Deines Herzens, aber nicht Deine Einwürfe, welche sogar ein Kind umzustoßen vermag. Du wähnst, Jesus habe nie selbst gesagt, daß er Gottes Sohn oder, welches eins ist, der wahre ewige Gott sei, da doch der Hohepriester wegen dieses seines Bekenntnisses, welches er und alle Juden für eine Gotteslästerung hielten, ihn zum Tode verdammte. Du wähnst, der Mensch sei von Gott wohl zum Streben nach Vollkommenheit, aber nicht zur Vollkommenheit selbst erschaffen; also hat Gott den Menschen im Zorn und zu seinem ewigen Unglück geschaffen, indem er ihm eine Erkenntnis von etwas und Streben nach etwas gegeben und eingepflanzt hat, was doch der Mensch in alle Ewigkeit zu erreichen nicht fähig ist. Aber nicht das, was Du Vollkommenheit nennst, sondern Gottes Verherrlichung ist der erste und letzte Zweck aller seiner Offenbarungen und Werke; er ist die Liebe, und wer in dem Genuß seiner Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm; dieser Spruch müsse Dich belehren, daß Gott, da er einig ist, auch nur einen Zweck haben könne, der nämlich, daß seine Liebe, sein Lob und seine Verherrlichung unsre jetzige und künftige Seligkeit werde und ewig bleibe und er allein alles in allem sei. Soll aber Gottes Verherrlichung zugleich unsere Seligkeit sein (denn nur ein Zweck kann stattfinden), so muß ja seine Liebe, sein Lob und seine Verherrlichung unser einziges und ewiges Interesse werden, so daß wir daran selbst unsre ewige Freude und die Erfüllung unsrer Wünsche in alle Ewigkeit finden. Denn nur das kann Seligkeit uns werden, was wir selbst dafür halten und wünschen. Soll aber die Seligkeit, die Gott in seiner Liebe uns bereitet hat, auch das einige Objekt unsrer Wünsche und demnach auch uns wahrhafte Seligkeit werden, so siehst du ja wohl, lieber Sohn, daß unsre Herzen dazu erst ganz umgestimmt werden und wir aus der Vielheit in die Einheit und von der Liebe des Fleisches und unsres Ich zu der Liebe des Liebenswürdigsten zurückkehren müssen.

Darum nun hat Gott uns also zuvor geliebet, daß er seines eingebornen Sohnes nicht verschonete, sondern ihn für uns dahin gab – damit, wenn wir durch die Kraft seines Geistes das glauben können, daß sich der wahre Gott für unsere verlorene Menschen gegeben in den Tod, dadurch in unseren erstorbenen Herzen ein neues Leben erzeuget, ein Feuer dankbarer Liebe, gänzlicher Ergebung und Gottes-Verherrlichung, das ewig brennen soll, entzündet werden möge. Von diesem Glauben nun als der Quelle solcher Liebe und Gottes-Verherrlichung habe ich Dir geschrieben, daß sie eine Regale der Gottheit sei, und das mit allem Recht, damit nicht und auch nicht in dem allergeringsten Teil dem Geschöpf, sondern Gott allein die Ehre unsrer ganzen Seligkeit jetzt und ewig gebracht werde. Denn darum hat Er alles unter dem Unglauben beschlossen, damit Er sich aller erbarme. Ist es Dir nun, mein lieber Sohn, um diesen alleinseligmachenden Glauben von ganzem Herzen zu tun, so suche, so erbitte ihn auf Deinen Knien von dem großen Gott und Schöpfer, der als Mensch am Kreuz für Dich geblutet hat, als ein pur lauteres Geschenk seiner Erbarmung; ist es dir aber um Deine eigene Ehre zu tun, verschmähst Du den Gott Deiner Väter und willst hingehen und fremden Göttern dienen, nun, so wähle, was Du tun willst; ich aber und mein Haus wollen dem Herrn, der uns erkauft hat, dienen.

Ach, mein Herz zittert unter der bangen Ahnung, daß die liebreichen Warnungen eines für Dein Wohl zärtlich besorgten Vaters, daß meine, ja sogar Deine eigenen Erfahrungen, ohne Frucht sein werden; denn die Verblendung Deines Sinnes, womit es dem Gott dieser Welt leider! an Dir gelungen ist, die ist, wie Dein Brief zeugt, schon zu groß; nur Du, mein Gott und Heiland! Kannst diesem armen Blinden die Augen öffnen. Ach! erbarme Dich seiner um Deines teuren Verdienstes willen und was Du schon davon ihm selbst hast zu teil werden lassen, damit das nicht vergeblich an ihm sein, nicht an jenem Tage wider ihn zeugen möge!

Und nun mein Sohn! den ich mit Tränen an meine beklommenes Herz drücke, ach! mit herzzerschneidender Wehmut entlass` ich Dich und entlassen muß ich Dich – da Du den Gott Deines Vaters nicht mehr anbetest, - nicht mehr vor einem Altar mit ihm niederkniest, - aber noch einmal, mein Sohn, ehr wir voneinander scheiden, - ach, sage mir doch: was hat denn der arme , sanftmütige und von Herzen demütige Jesus Dir getan, daß Du nun seiner Erquickung, seinem Gottes-Frieden entsagest? war Dir denn nicht wohl bei Ihm, wenn Du Deine Not, den Jammer Deines Herzens Ihm klagtest? Und nun willst Du für die Gottes-Langmut und Geduld, mit der Dich trug, Ihn verleugnen? den Schwur brechen, den Du so oft vor ihm tatest: bei Dir Jesu will ich bleiben? warum willst Du von Ihm gehen, - hast Du keine Lebens-Worte von ihm vernommen?

Doch ich muß eilen, um Dich zu entlassen; - aber Gott allein weiß es, mit welchem Herzen. Ach! nicht mit jenen Tränen der Freude und Herzens-Zerflossenheit, mit welchem Du selbst vor drei Jahren der Welt entsagtest und dem Herrn und seiner Gemeine Dich widmetest. O! diese, sowie die Tränen der Freude und Dankbarkeit über dem, was der Herr an Dir tat, welche so oft den Augen Deiner zärtlich-treuen Mutter entronnen – das Flehen der Gemeine, womit sie Dich in ihren Schoß aufnahm – und dann die Tränen der tiefsten Wehmut, die Du jetzt Deinem Vater auspressest – ach! vergiß sie nicht mein Sohn! Laß sie Dir, wo Du auch hingehest, ein stetes Denkmal vor Deinen Augen sein. Ist es aber möglich (und warum sollte es nicht? denn bei Gott ist ja kein Ding unmöglich), so gib der Bitte Deines Dich flehenden Vaters Gehör: Kehre wieder! ach, mein Sohn, kehre wieder! Menschliche Tugend ist nicht Vollkommenheit, sondern vom Wege des Irrtums eiligst zurückkehren. O, du Menschen-Hüter Herr Jesu! führe du selbst Dein verirrtes Schäflein zurücke! Tue es zu Deines Namens Verherrlichung! Amen! […]

Ich kann nichts mehr hinzufügen, als daß ich mit tief gebeugtem und beklommenen Herzen bin Dein mit der Liebe des herzlichsten Mitleids Dich lebender Vater. S.10ff.

Ohne Datum, vermutlich Ende Februar/Anfang März 1787
(Antwort des Sohnes)
Bester, geliebtester Vater! O, könnten Sie sich den traurigen, jammervollen Zustand Ihres armen Sohnes recht vorstellen! Ich war schon mehr als unglücklich: aber Ihr Brief hat meine Elend noch mehr als verdoppelt. Ich verkenne darin keineswegs Ihr zärtliches Vaterherz, das auch noch Ihren abtrünnigen Sohn noch liebt und alle Mittel versucht, ihn auf seinen vorigen Weg zurückzubringen. Aber kann wohl etwas Unglückseligeres gedacht werden für einen Sohn, der seinen Vater so innig liebt und verehrt, als diese Lage? O, wie viel bittere Tränen sind auf ihn aus meinen Augen geflossen! wie viel schlaflose Nächte, wie viel freudenlose Tage hat mich nicht die Erinnerung an Ihren Kummer, den ich ebenso sehr fühle, als Sie es immer nur können, gekostet! Es martert mich, daß ich die unglückliche Ursache davon bin, und es doch nicht in meiner Gewalt steht, ihn zu heben. O, wie oft habe ich gewünscht, noch eben so herzlich und fest an Ihrem Glauben hängen zu können, als vorher; denn ich hing fest daran; was ich zu empfinden vorgab, war nicht Heuchelei, ich empfand es wirklich; aber es war nichts als natürliche Wirkung meiner veränderten Lage und der Neuheit der Sache.

Aber, bester Vater, ich bitte Sie um alles, sehen Sie nicht alles von der schlimmsten Seite, suchen Sie nicht in allem das Gegenteil von dem, was Sie denken. Sie sagen, die Verherrlichung Gottes sei der erste Zweck, und ich, Vollkommenheit der Geschöpfe; ist dies nicht am Ende einerlei? erwächst nicht dem Schöpfer desto mehr Verherrlichung aus seiner Schöpfung, je vollkommener, je glücklicher seine Geschöpfe sind? Auch ich halte ja Verherrlichung Gottes, das Bestreben, ihm immer wohlgefälliger zu werden, für das Erste; auch ich würde mich für einen fühllosen, unglückseligen Menschen halten, wenn ich nicht die innigste Liebe kindlicher Dankbarkeit gegen diesen über alles guten Gott fühlte, der mir bei allen bedauernswürdigen Zufällen, die mich jetzt treffen zu wollen scheinen, doch so überwiegend viel Gutes erzeigt. Warum, bester Vater, sagen Sie, ich bete nicht Ihren Gott an, ich wolle fremden Göttern dienen? ist es nicht Ein Gott, der Sie und mich erschaffen hat und erhält und den wir beide verehren? warum können wir nicht mehr vor einem Altar niederknien und zu unserem gemeinschaftlichen Vater beten? O, wie unglücklich bin ich doch! wofür sehen sie Ihren armen Sohn an? ich habe Zweifel gegen die Versöhnungslehre und die Gottheit Christi und Sie sehen mich an als einen Verleugner Gottes! und diese Zweifel sind noch dazu so natürlich aus meiner Lage entstanden. Wie konnte ich aufs bloße Wort glauben, daß an allen den Einwürfen unserer Theologen, die von kritischen, exegetischen und philosophischen Gründen unterstützt sein sollen, nichts gar nichts sei? wie konnte ich es vermeiden, darüber nachzudenken, und ach, daß das Resultat meines Nachdenkens darüber so kläglich für mich ist! Ist denn ein Widerspruch darin, daß ich Zweifel, die offenbar durch meine Lage veranlaßt wurden, durch Veränderung derselben zu heben hoffe und wünsche?

O, bester Vater, wüßten Sie, wie aufrichtig ich es hierin meine; es ist nicht Lust zur Welt, was mir den Wunsch, die Gemeine zu verlassen, eingab (der jetzt, wenn er auch nicht mein Wunsch wäre, traurige Notwendigkeit sein würde), sondern Ueberzeugung, daß ich in derselben nie meine Zweifel würde fahren lassen können. Denn ich kann selbst nicht untersuchen, inwiefern neuere Einwürfe ungegründet sind, weil ich nichts dergleichen lesen darf, und man ließ sich hier nicht einmal damit ein, mir meine eigenen Zweifel zu widerlegen. Auch Ihre Widerlegung meiner Zweifel über die Gottheit Christi hat mich nicht überzeugt. Es kommt ja immer darauf, was man damals für einen Begriff mit den griechischen Worten ???? ???? verband. Daß man wenigstens nicht immer den [Begriff] der Einheit mit dem göttlichen Wesen meinte, sieht man daraus, daß die Apostel diese Worte auch häufig von den Christen brauchen. Daß der Hohepriester es für eine Gotteslästerung erklärte, kann ebenso wenig beweisen, denn er erlaubte sich die niedrigsten Mittel, um etwas auf Christum zu bringen.

Glauben Sie, geliebtester Vater, daß Versetzung in eine freiere Lage, wo ich mich selbst von Grund und Ungrund der Sachen überzeugen kann, das beste, das einzige Mittel ist, mich zurückzubringen. Lassen Sie mich den Trost mitnehmen, daß ich noch Ihrer väterlichen Liebe genieße, daß mich Ihr Gebet begleitet, und daß Sie von Ihrem Sohn noch immer hoffen, daß er, wenn auch nicht zur Gemeine – denn ich muß gestehen, in der Lehre und Einrichtung derselben ist manches, was mir kaum je wieder gefallen wird, z. B. das Los – doch zur Gewißheit im wahren Christentum zurückkehren wird; denn das fühle ich sehr wohl, daß ein Zweifler nie die völlige Ruhe eines überzeugten Christen genießen kann. […]

Erlauben sie, Ihnen ehrerbietig die Hände zu küssen und Sie nochmals angelegentlich mit Wehmut um die Fortdauer Ihrer Liebe zu bitten Ihrem armen bekümmerten Sohn. S.15ff.
Aus: Schleiermacher / Briefe, Verlegt bei Eugen Diederichs, Jena 1906

Ein Sonett Friedrich Schlegels über die »Reden«.
Es sieht der Musen Freund die offene Pforte
des großen Tempels sich auf Säulen heben.
Und wo Pilaster ruhn und Kuppeln streben,
naht er getrost dem kunstgeweihten Orte.

Drin ertönt Musik dem Frager Zauberworte,
daß er geheiligt fühlt unendliches Leben,
und muß im schönen Kreise ewig schweben,
vergißt der Fragen leicht und armer Worte.

Doch plötzlich scheint’s, als wollten Geister gerne
den schon Geweihten höh’re Weihe zeigen,
getäuscht die Fremden lassen in der Blöße;

Der Vorhang reißt und die Musik muß schweigen,
der Tempel auch verschwand, und in der Ferne

zeigt sich die alte Sphinx in Riesengröße. S.47f.
Aus: Religionskundliche Quellenhefte. Herausgeben von Prof. D. H. Lietzmann und Akademiedirektor Dr. K. Weidel
Heft 29, Schleiermacher von Dr. Karl Weidel Verlag von B. G. Teubner, Leipzig und Berlin

Über die Religion
Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern
Das Wesen der Religion gründet sich in der Anschauung und und dem Gefühl des Universums
Was als das Erste und Letzte gegeben wird, ist nicht immer das Wahre und Höchste. Wüßtet Ihr doch nur zwischen den Zeilen zu lesen! Alle heilige Schriften sind wie die bescheidenen Bücher, welche vor einiger Zeit in unserem bescheidenen Vaterlande gebräuchlich waren, die unter einem dürftigen Titel wichtige Dinge abhandelten. Sie kündigen freilich nur Metaphysik und Moral an und gehen gern am Ende in das zurück, was sie angekündigt haben, aber Euch wird zugemutet, diese Schale zu spalten. So liegt auch der Diamant in einer schlechten Masse gänzlich verschlossen, aber wahrlich nicht, um verborgen zu bleiben, sondern um desto sicherer gefunden zu werden. Proselyten zu machen aus den Ungläubigen, das liegt sehr tief im Charakter der Religion; wer die seinige mitteilt, kann gar keinen andern Zweck haben, und so ist es in der Tat kaum ein frommer Betrug, sondern eine schickliche Methode, bei dem anzufangen und um das besorgt zu scheinen, wofür der Sinn schon da ist, damit gelegentlich und unbemerkt sich das einschleiche, wofür er erst aufgeregt werden soll. Es ist, da alle Mitteilung der Religion nicht anders als rhetorisch sein kann, eine schlaue Gewinnung der Hörenden, sie in so guter Gesellschaft einzuführen. Aber dieses Hilfsmittel hat seinen Zweck nicht nur erreicht, sondern überholt, indem selbst Euch unter dieser Hülle ihr eigentliches Wesen verborgen geblieben ist. Darum ist es Zeit, die Sache einmal beim andern Ende zu ergreifen und mit dem schneidenden Gegensatz anzuheben, in welchen sich die Religion gegen Moral und Metaphysik befindet. Das war es, was ich wollte. Ihr habt mich mit Euerem gemeinen Begriff gestört; er ist abgetan, hoffe ich, unterbrecht mich nun nicht weiter.

Sie entsagt hiermit, um den Besitz ihres Eigentums anzutreten, allen Ansprüchen auf irgend etwas, was jenen angehört, und gibt alles zurück, was man ihr aufgedrungen hat. Sie begehrt nicht, das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht, aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen. So ist sie beiden in allem entgegengesetzt, was ihr Wesen ausmacht, und in allem, was ihre Wirkungen charakterisiert. Jene sehen im ganzen Universum nur den Menschen als Mittelpunkt aller Beziehungen, als Bedingung alles Seins und Ursach‘ alles Werdens; sie will im Menschen nicht weniger als in allen andern Einzelnen und Endlichen das Unendliche sehen, dessen Abdruck, dessen Darstellung. Die Metaphysik geht aus von der endlichen Natur des Menschen, und will aus ihrem einfachsten Begriff und aus dem Umfang ihrer Kräfte und ihrer Empfänglichkeit mit Bewußtsein bestimmen, was das Universum für ihn sein kann und wie er es notwendig erblicken muß.

Die Religion lebt ihr ganzes Leben auch in der Natur, aber in der unendlichen Natur des Ganzen, des Einen und Allen;
was in dieser alles Einzelne und so auch der Mensch gilt und wo alles und auch er treiben und bleiben mag in dieser ewigen Gärung einzelner Formen und Wesen, das will sie in stiller Ergebenheit im Einzelnen anschauen und ahnden. Die Moral geht vom Bewußtsein der Freiheit aus, deren Reich will sie ins Unendliche erweitern und ihr alles un-terwürfig machen; die Religion atmet da, wo die Freiheit selbst schon wieder Natur geworden ist, jenseits des Spiels seiner besondern Kräfte und seiner Personalität faßt sie den Menschen und sieht ihn aus dem Gesichtspunkte, wo er das sein muß, was er ist, er wolle oder wolle nicht. So behauptet sie ihr eigenes Gebiet und ihren eigenen Charakter nur dadurch, daß sie aus dem der Spekulation sowohl als aus dem der Praxis gänzlich herausgeht, und indem sie sich neben beide hinstellt, wird erst das gemeinschaftliche Feld vollkommen ausgefüllt und die menschliche Natur von dieser Seite vollendet. Sie zeigt sich Euch als das notwendige und unentbehrliche Dritte zu jenen beiden, als ihr natürliches Gegenstück, nicht geringer an Würde und Herrlichkeit, als welches von ihnen Ihr wollt. Spekulation und Praxis haben zu wollen ohne Religion ist verwegener Übermut, es ist freche Feindschaft gegen die Götter, es ist der unheilige Sinn des Prometheus, der feigherzig stahl, was er in ruhiger Sicherheit hätte fordern und erwarten können. Geraubt nur hat der Mensch das Gefühl seiner Unendlichkeit und Gottähnlichkeit, und es kann ihm als unrechtes Gut nicht gedeihen, wenn er nicht auch seiner Beschränktheit sich bewußt wird, der Zufälligkeit seiner ganzen Form, des geräuschlosen Verschwindens seines ganzen Daseins im Unermeßlichen. Auch haben die Götter von je an diesen Frevel gestraft.

Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Ohne diese, wie kann sich die erste über den gemeinen Kreis abenteuerlicher und hergebrachter Formen erheben, wie kann die andere etwas Besseres werden als ein steifes und mageres Skelett? Oder warum vergißt über alles Wirken nach außen und aufs Universum hin Euere Praxis am Ende eigentlich immer den Menschen selbst zu bilden? Weil Ihr ihn dem Universum entgegengesetzt und ihn nicht als einen Teil desselben und als etwas Heiliges aus der Hand der Religion empfangt. Wie kommt sie zu der armseligen Ein-förmigkeit, die nur ein einziges Ideal kennt und dieses überall unterlegt? Weil es Euch an dem Grundgefühl der unendlichen und lebendigen Natur fehlt, deren Symbol Mannigfaltigkeit und Individualität ist. Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Grenzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden müssen. Nur so kann es innerhalb dieser Grenzen selbst unendlich sein und eigen gebildet werden, und sonst verliert Ihr alles in der Gleichförmigkeit eines allgemeinen Begriffs. Warum hat Euch die Spekulation so lange statt eines Systems Blendwerke und statt der Gedanken Worte gegeben, warum war sie nichts als ein leeres Spiel mit Formeln, die immer anders wiederkamen und denen nie etwas entsprechen wollte? Weil es an Religion gebrach, weil das Gefühl des Unendlichen sie nicht beseelte und die Sehnsucht nach ihm und die Ehrfurcht vor ihm ihre feinen, luftigen Gedanken nicht nötigte, eine festere Konsistenz anzunehmen, um sich gegen diesen gewaltigen Druck zu erhalten. Vom Anschauen muß alles ausgehen, und wem die Begierde fehlt, das Unendliche an¬zuschauen, der hat keinen Prüfstein und braucht freilich auch keinen, um zu wissen, ob er etwas Ordentliches darüber gedacht hat.

Und wie wird es dem Triumph der Spekulation ergehen, dem vollendeten und gerundeten Idealismus, wenn Religion ihm nicht das Gegengewicht hält und ihn einen höhern Realismus ahnden läßt als den, welchen er so kühn und mit so vollem Recht sich unterordnet? Er wird das Universum vernichten, indem er es zu bilden scheint, er wird es herabwürdigen zu einer bloßen Allegorie, zu einem nichtigen Schattenbilde unserer eignen Beschränktheit. Opfert mit mir ehrerbietig eine Locke den Manen des heiligen, verstoßenen Spinoza! Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe, in heiliger Unschuld und tiefer Demut spiegelte er sich in der ewigen Welt, und sah zu, wie auch er ihr liebenswürdigster Spiegel war; voller Religion war er und voll heiligen Geistes; und darum steht er auch da, allein und unerreicht, Meister in seiner Kunst, aber erhaben über die profane Zunft, ohne Jünger und ohne Bürgerrecht.

Anschauen des Universums, ich bitte, befreundet Euch mit diesem Begriff, er ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion, woraus Ihr je-den Ort in derselben finden könnt, woraus sich ihr Wesen und ihre Grenzen aufs genaueste bestimmen lassen. Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluß des Angeschaueten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem letzteren seiner Natur gemäß aufgenommen, zusammengefaßt und begriffen wird. Wenn die Ausflüsse des Lichtes nicht — was ganz ohne Euere Veranstaltung ge¬schieht — Euer Organ berührten, wenn die kleinsten Teile der Körper die Spitzen Eurer Finger nicht mechanisch oder chemisch affizierten, wenn der Druck der Schwere Euch nicht einen Widerstand und eine Grenze Eurer Kraft offenbarte, so würdet Ihr nichts anschauen und nichts wahrnehmen, und was Ihr also anschaut und wahrnehmt, ist nicht die Natur der Dinge, sondern ihr Handeln auf Euch. Was Ihr über jene wißt oder glaubt, liegt weit jenseits des Gebiets der Anschauung. So die Religion; das Universum ist in einer ununterbrochenen Tätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblick. Jede Form, die es hervorbringt, jedes Wesen, dem es nach der Fülle des Lebens ein abgesondertes Dasein gibt, jede Begebenheit, die es aus seinem reichen, immer fruchtbaren Schoße herausschüttet, ist ein Handeln desselben auf uns; und so alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion; was aber darüber hinaus will und tiefer hineindringen in die Natur und Substanz des Ganzen, ist nicht mehr Religion und wird, wenn es doch noch dafür angesehen sein will, unvermeidlich zurücksinken in leere Mythologie.

So war es Religion, wenn die Alten, die Beschränkungen der Zeit und des Raumes vernichtend, jede eigentümliche Art des Lebens durch die ganze Welt hin als das Werk und Reich eines allgegenwärtigen Wesens ansahen; sie hatten eine eigentümliche Handelsweise des Universums in ihrer Einheit angeschaut und bezeichneten so diese Anschauung; es war Religion, wenn sie für jede hilfreiche Begebenheit, wobei die ewigen Gesetze der Welt sich im Zufälligen auf eine einleuchtende Art offenbarten, den Gott, dem sie angehörte, mit einem eigenen Beinamen begabten und einen eignen Tempel ihm bauten; sie hatten eine Tat des Universums aufgefaßt und bezeichneten so ihre Individualität und ihren Charakter.

Es war Religion, wenn sie sich über das spröde eiserne Zeitalter der Welt voller Risse und Unebenen erhoben und das goldene wieder suchten im Olymp unter dem lustigen Leben der Götter; so schauten sie an die immer rege, immer lebendige und heitere Tätigkeit der Welt und ihres Geistes, jenseits alles Wechsels und alles scheinbaren Übels, das nur aus dem Streit endlicher Formen hervorgehet. Aber wenn sie von den Abstammungen dieser Götter eine wunderbare Chronik halten oder wenn ein späterer Glaube uns eine lange Reihe von Emanationen und Erzeugungen vorführt, das ist leere Mythologie. Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion, es drückt ihre Beziehung auf ein unendliches Ganzes aus, aber über dem Sein dieses Gottes vor der Welt und außer der Welt grübeln mag in der Metaphysik gut und nötig sein, in der Religion wird auch das nur leere Mythologie, eine weitere Ausbildung desjenigen, was nur Hilfsmittel der Darstellung ist, als ob es selbst das Wesentliche wäre, ein völliges Herausgehen aus dem eigentümlichen Boden. Anschauung ist und bleibt immer etwas Einzelnes, Abgesondertes, die unmittelbare Wahrnehmung, weiter nichts; sie zu verbinden und in ein Ganzes zusammenzustellen ist schon wieder nicht das Geschäft des Sinnes, sondern des abstrakten Denkens. So die Religion; bei den unmittelbaren Erfahrungen vom Dasein und Handeln des Universums, bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen bleibt sie stehen; jede derselben ist ein für sich bestehendes Werk ohne Zusammenhang mit andern oder Abhängigkeit von ihnen; von Ableitung und Anknüpfung weiß sie nichts, es ist unter allem, was ihr begegnen kann, das, dem ihre Natur am meisten widerstrebt. Nicht nur eine einzelne Tatsache oder Handlung, die man ihre ursprüngliche und erste nennen könnte, sondern alles ist in ihr unmittelbar und für sich wahr.
S.34ff. […]

Das neue Rom, das gottlose, aber konsequente, schleudert Bannstrahlen und stößt Ketzer aus; das alte, wahrhaft fromm und religiös im hohen Stil, war gastfrei gegen jeden Gott, und so wurde es der Götter voll. Die Anhänger des toten Buchstabens, den die Religion auswirft, haben die Welt mit Geschrei und Getümmel erfüllt, die wahren Beschauer des Ewigen waren immer ruhige Seelen, entweder allein mit sich und dem Unendlichen oder, wenn sie sich umsahen, jedem, der das große Wort nur verstand, seine eigne Art gern vergönnend. Mit diesem weiten Blick und diesem Gefühl des Unendlichen sieht sie aber auch das an, was außer ihrem eigenen Gebiete liegt, und enthält in sich die Anlage zur unbeschränktesten Vielseitigkeit im Urteil und in der Betrachtung, welche in der Tat anderswoher nicht zu nehmen ist. Lasset irgend etwas anders den Menschen beseelen — ich schließe die Sittlichkeit nicht aus noch die Philosophie und berufe mich vielmehr ihretwegen auf Eure eigne Erfahrung —, sein Denken und sein Streben, worauf es auch gerichtet sei, zieht einen engen Kreis um ihn, in welchem sein Höchstes eingeschlossen liegt und außer welchem ihm alles gemein und unwürdig erscheint. Wer nur systematisch denken und nach Grundsatz und Absicht handeln und dies und jenes ausrichten will in der Welt, der umgrenzt unvermeidlich sich selbst und setzt immerfort dasjenige sich entgegen zum Gegenstande des Widerwillens, was sein Tun und Treiben nicht fördert. Nur der Trieb, anzuschauen, wenn er aufs Unendliche gerichtet ist, setzt das Gemüt in unbeschränkte Freiheit, nur die Religion rettet es von den schimpflichsten Fesseln der Meinung und der Begierde. Alles, was ist, ist für sie notwendig, und alles, was sein kann, ist ihr ein wahres, unentbehrliches Bild des Unendlichen; wer nur den Punkt findet, woraus seine Beziehung auf dasselbe sich entdecken läßt. Wie verwerflich auch etwas in andern Beziehungen oder an sich selbst sei, in dieser Rücksicht ist es immer wert zu sein und aufbewahrt und betrachtet zu werden. Einem frommen Gemüte macht die Religion alles heilig und wert, sogar die Unheiligkeit und die Gemeinheit selbst, alles, was es faßt und nicht faßt, was in dem System seiner eige¬nen Gedanken liegt und mit seiner eigentümlichen Handelsweise übereinstimmt oder nicht; sie ist die einzige und geschworne Feindin aller Pedanterie und aller Einseitigkeit. —

Endlich, um das allgemeine Bild der Religion zu vollenden, erinnert Euch, daß jede Anschauung ihrer Natur nach mit einem Gefühl verbunden ist. Euere Organe vermitteln den Zusammenhang zwischen dem Gegenstande und Euch, derselbe Einfluß des letztern, der Euch sein Dasein offenbaret, muß sie auf mancherlei Weise erregen und in Eurem innern Bewußtsein eine Veränderung hervorbringen. Dieses Gefühl, das Ihr freilich oft kaum gewahr werdet, kann in andern Fällen zu einer solchen Heftigkeit heranwachsen, daß Ihr des Gegenstandes und Euerer selbst darüber vergeßt, Euer ganzes Nervensystem kann so davon durchdrungen werden, daß die Sensation lange allein herrscht und lange noch nachklingt und der Wirkung anderer Eindrücke widersteht; aber daß ein Handeln in Euch hervorgebracht, die Selbsttätigkeit Eures Geistes in Bewegung gesetzt wird, das werdet Ihr doch nicht den Einflüssen äußerer Gegenstände zuschreiben? Ihr werdet doch gestehen, daß das weit außer der Macht auch der stärksten Gefühle liege und eine ganz andere Quelle haben müsse in Euch. So die Religion; dieselben Handlungen des Universums, durch welche es sich Euch im Endlichen offenbart, bringen es auch in ein neues Verhältnis zu Eurem Gemüt und Eurem Zustand; indem Ihr es anschauet, müßt Ihr notwendig von mancherlei Gefühlen ergriffen werden. Nur daß in der Religion ein anderes und festeres Verhältnis zwischen der Anschauung und dem Gefühl stattfindet und nie jene so sehr überwiegt, daß dieses beinahe verlöscht wird. Im Gegenteil ist es wohl ein Wunder, wenn die ewige Welt auf die Organe unseres Geistes so wirkt wie die Sonne auf unser Auge, wenn sie uns so blendet, daß nicht nur in dem Augenblick alles übrige verschwindet, sondern auch noch lange nachher alle Gegenstände, die wir betrachten, mit dem Bilde derselben bezeichnet und von ihrem Glanz übergossen sind? So wie die besondere Art, wie das Universum sich Euch in Euren Anschauungen darstellt, das Eigentümliche Eurer individuellen Religion ausmacht, so bestimmt die Stärke dieser Gefühle den Grad der Religiosität. Je gesunder der Sinn, desto schärfer und bestimmter wird er jeden Eindruck auffassen, je sehnlicher der Durst, je unaufhaltsamer der Trieb, das Unendliche zu ergreifen, desto mannigfaltiger wird das Gemüt selbst überall und ununterbrochen von ihm ergriffen werden, desto vollkommner werden diese Eindrücke es durchdringen, desto leichter werden sie immer wieder erwachen und über alle andere die Oberhand behalten. So weit geht an dieser Seite das Gebiet der Religion, ihre Gefühle sollen uns besitzen, wir sollen sie aussprechen, festhalten, darstellen; wollt Ihr aber darüber hinaus mit ihnen, sollen sie eigentliche Handlungen veranlassen und zu Taten antreiben, so befindet Ihr Euch auf einem fremden Gebiet; und haltet Ihr dies dennoch für Religion, so seid Ihr, wie vernünftig und löblich Euer Tun auch aussehe, versunken in unheilige Superstition. Alles eigentliche Handeln soll moralisch sein und kann es auch, aber die religiösen Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleiten; er soll alles mit Religion tun, nichts aus Religion.
S.45ff. […]


Jede ursprüngliche Anschauung des Universums ist Offenbarung
Was heißt Offenbarung? Jede ursprüngliche und neue Anschauung des Universums ist eine, und Jeder muß doch wohl am besten wissen, was ihm ursprünglich und neu ist, und wenn etwas von dem, was in ihm ursprünglich war, für Euch noch neu ist, so ist seine Offenbarung auch für Euch eine, und ich will Euch raten, sie wohl zu erwägen. Was heißt Eingebung? Es ist nur der religiöse Name für Freiheit. Jede freie Handlung, die eine religiöse Tat wird, jedes Wiedergeben einer religiösen Anschauung, jeder Ausdruck eines religiösen Gefühls, der sich wirklich mitteilt, so daß auch auf andre die Anschauung des Universums übergeht, war auf Eingebung geschehen; denn es war ein Handeln des Universums durch den Einen auf die Andern. Jedes Antizipieren der andern Hälfte einer religiösen Begebenheit, wenn die eine gegeben ist, ist eine Weissagung, und es war sehr religiös von den alten Hebräern, die Göttlichkeit eines Propheten nicht darnach abzumessen, wie schwer das Weissagen war, sondern ganz einfältig nach dem Ausgang; denn eher kann man nicht wissen, ob sich einer auf die Religion versteht, bis man sieht, ob er die religiöse Ansicht grade dieses bestimmten Dinges, welches ihn affizierte, auch richtig gefaßt hat. — Was sind Gnadenwirkungen? Alle religiösen Gefühle sind übernatürlich, denn sie sind nur insofern religiös, als sie durchs Universum unmittelbar gewirkt sind, und ob sie religiös sind in Jemand, das muß er doch am besten beurteilen. Alle diese Begriffe sind, wenn die Religion einmal Begriffe haben soll, die ersten und wesentlichsten; sie bezeichnen auf die eigentümlichste Art das Bewußtsein eines Menschen von seiner Religion; sie sind um so wichtiger deswegen, weil sie nicht nur etwas bezeichnen, was allgemein sein darf in der Religion, sondern gerade dasjenige, was allgemein sein muß in ihr. Ja, wer nicht eigne Wunder sieht auf seinem Standpunkt zur Betrachtung der Welt, in wessen Innern nicht eigene Offenbarungen aufsteigen, wenn seine Seele sich sehnt, die Schönheit der Welt einzusaugen und von ihrem Geiste durchdrungen zu werden, wer nicht hie und da mit der lebendigsten Überzeugung fühlt, daß ein göttlicher Geist ihn treibt und daß er aus heiliger Eingebung redet und handelt, wer sich nicht wenigstens — denn dies ist in der Tat der geringste Grad — seiner Gefühle als unmittelbarer Einwirkungen des Universums bewußt ist und etwas Eignes in ihnen kennt, was nicht nachgebildet sein kann, sondern ihren reinen Ursprung aus seinem Innersten verbürgt, der hat keine Religion. Glauben, was man gemeinhin so nennt, annehmen, was ein Anderer getan hat, nachdenken und nachfühlen wollen, was ein Anderer gedacht und gefühlt hat, ist ein harter und unwürdiger Dienst, und statt das Höchste in der Religion zu sein, wie man wähnt, muß er grade abgelegt werden, von Jedem, der in ihr Heiligtum dringen will. Ihn haben und behalten wollen beweiset, daß man der Religion unfähig ist; ihn von andern fordern zeigt, daß man sie nicht versteht. Ihr wollt überall auf Euren eignen Füßen stehn und Euren eignen Weg gehn, aber dieser würdige Wille schrecke Euch nicht zurück von der Religion. Sie ist kein Sklavendienst und keine Gefangenschaft; auch hier sollt Ihr Euch selbst angehören, ja dies ist sogar die einzige Bedingung, unter welcher Ihr ihrer teilhaftig werden könnt. Jeder Mensch, wenige Auserwählte ausgenommen, bedarf allerdings eines Mittlers, eines Anführers, der seinen Sinn für Religion aus dem ersten Schlummer wecke und ihm eine erste Richtung gebe, aber dies soll nur ein vorübergehender Zustand sein; mit eignen Augen soll dann jeder sehen und selbst einen Beitrag zutage fördern zu den Schätzen der Religion, sonst verdient er keinen Platz in ihrem Reich und erhält auch keinen. Ihr habt recht, die dürftigen Nachbeter zu verachten, die ihre Religion ganz von einem Andern ableiten oder an einer toten Schrift hängen, auf sie schwören und aus ihr beweisen. Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion, ein Denkmal, daß ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so großen Wert auf den toten Buchstaben legen, der nur ein schwacher Abdruck von ihm sein kann? Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte. Und ebendiese Eure Verachtung gegen die armseligen und kraftlosen Verehrer der Religion, in denen sie aus Mangel an Nahrung vor der Geburt schon gestorben ist, ebendiese beweiset mir, daß in Euch selbst eine Anlage ist zur Religion, und die Achtung, die Ihr allen ihren wahren Helden immer erzeiget, wie sehr Ihr Euch auch auflehnt gegen die Art, wie sie gemißbraucht und durch Götzendienst geschändet worden, bestätigt mich in dieser Meinung. — Ich habe Euch gezeigt, was eigentlich Religion ist, habt Ihr irgend etwas darin gefunden, was Eurer und der höchsten menschlichen Bildung unwürdig wäre? Müßt Ihr Euch nicht nach den ewigen Gesetzen der geistigen Natur um so ängstlicher nach dem Universum sehnen und nach einer selbstgewirkten Vereinigung mit ihm streben, je mehr ihr durch die bestimmteste Bildung und Individualität in ihm gesondert und isoliert seid, und habt Ihr nicht oft diese heilige Sehnsucht als etwas Unbekanntes gefühlt? Werdet Euch doch, ich beschwöre Euch, des Rufs Eurer innersten Natur bewußt, und folgt ihm. Verbannet die falsche Scham vor einem Zeitalter, welches nicht Euch bestimmen, sondern von Euch bestimmt und gemacht werden soll! Kehret zu demjenigen zurück, was Euch, gerade Euch, so nahe liegt und wovon die gewaltsame Trennung doch unfehlbar den schönsten Teil Eurer Existenz zerstört.

Religion ist auch ohne Gott möglich
Es scheint mir aber, als ob Viele unter Euch nicht glaubten, daß ich mein gegenwärtiges Geschäft hier könne endigen wollen, als ob Ihr dennoch der Meinung wäret, es könne vom Wesen der Religion nicht gründlich geredet worden sein, wo von der Unsterblichkeit gar nicht und von der Gottheit so gut als nichts gesagt worden ist. Erinnert Euch doch, ich bitte Euch, wie ich mich von Anfang an dagegen erklärt habe, daß dies nicht die Angel und Hauptstücke der Religion seien; erinnert Euch, daß, als ich die Umrisse derselben zeichnete, ich auch den Weg angedeutet habe, auf welchem die Gottheit zu finden ist; was verliert Ihr also noch, und warum soll ich einer religiösen Anschauungsart mehr tun als den übrigen? Damit Ihr aber nicht denket, ich fürchte mich, ein ordentliches Wort über die Gottheit zu sagen, weil es gefährlich werden will, davon zu reden, bevor eine zu Recht und Gericht beständige Definition von Gott und Dasein ans Licht gebracht und im deutschen Reich sanktioniert worden ist, oder damit ihr nicht auf der andern Seite glaubt, ich spiele einen frommen Betrug und wolle, um Allen Alles zu werden, mit scheinbarer Gleichgültigkeit dasjenige herabsetzen, was für mich von ungleich größerer Wichtigkeit sein muß, als ich gestehen will, so will ich Euch noch einen Augenblick Rede stehen und Euch deutlich zu machen suchen, daß für mich die Gottheit nichts anders sein kann als eine einzelne religiöse Anschauungsart, von der, wie von jeder andern, die übrigen unabhängig sind, und daß auf meinem Standpunkt und nach meinen Euch bekannten Begriffen der Glaube: »kein Gott, keine Religion«, gar nicht stattfinden kann, und auch von der Unsterblichkeit will ich Euch unverhohlen meine Meinung sagen.

Der Mensch ist das Urbild Gottes

Zuerst saget mir doch, was meinen sie von der Gottheit und was wollt Ihr damit meinen, denn jene rechtskräftige Definition ist doch noch nicht vorhanden, und es liegt am Tage, daß die größten Verschiedenheiten darüber statthaben. Den mehrsten ist offenbar Gott nichts anderes als der Genius der Menschheit. Der Mensch ist das Urbild ihres Gottes, die Menschheit ist ihr alles, und nach demjenigen, was sie für ihre Ereignisse und Führungen halten, bestimmen sie die Gesinnungen und das Wesen ihres Gottes. Nun aber habe ich Euch deutlich genug gesagt, daß die Menschheit nicht mein Alles ist, daß meine Religion nach einem Universum strebt, wovon sie mit allem was ihr angehört, nur ein unendlich kleiner Teil, nur eine einzelne vergängliche Form ist: kann also ein Gott, der nur der Genius der Menschheit wäre, das höchste meiner Religion sein? Es mag dichterischere Gemüter geben, und ich gestehe ich glaube, daß diese höher stehen, denen Gott ein von der Menschheit gänzlich unterschiedenes Individuum, ein einziges Exemplar einer eigenen Gattung ist, und wenn sie mir die Offenbarungen zeigen, durch welche sie einen solchen Gott kennen - einen oder mehrere, ich verachte in der Religion nichts so sehr als die Zahl - so soll er mir eine erwünschte Entdeckung sein, und gewiß werden sich aus dieser Offenbarung in mir mehrere entwickeln; aber ich strebe nach noch mehr Gattungen außer und über der Menschheit als nach einer, und jede Gattung mit ihrem Individuum ist dem Universum untergeordnet: kann also Gott in diesem Sinne für mich etwas anders sein als eine einzelne Anschauung? Doch dies mögen nur unvollständige Begriffe von Gott sein, laßt uns gleich zu dem höchsten gehen, zu dem von einem höchsten Wesen, von einem Geist des Universums, der es mit Freiheit und Verstand regiert, so ist doch auch von dieser Idee die Religion nicht abhängig. Religion haben, heißt das Universum anschauen, und auf der Art, wie Ihr es anschauet, auf dem Prinzip, welches Ihr in seinen Handlungen findet, beruht der Wert Eurer Religion. Wenn Ihr nun nicht leugnen könnt, daß sich die Idee von Gott zu jeder Anschauung des Universums bequemt, so müßt Ihr auch zugeben, daß eine Religion ohne Gott besser sein kann, als ein andre mit Gott.

Das Universum als Einheit in der Vielheit
Das Universum stellt sich in seinen Handlungen dem rohen Menschen, der nur eine verwirrte Idee vom Ganzen und Unendlichen hat und nur einen dunkeln Instinkt, als eine Einheit dar, in der nichts Mannigfaltiges zu unterscheiden ist, als ein Chaos, gleichförmig in der Verwirrung, ohne Abteilung, Ordnung und Gesetz, woraus nichts Einzelnes gesondert werden kann, als indem es willkürlich abgeschnitten wird in Zeit und Raum. Ohne den Drang, es zu beseelen, repräsentiert ihm ein blindes Geschick den Charakter des Ganzen; mit diesem Drang wird sein Gott ein Wesen ohne bestimmte Eigenschaften, ein Götze, ein Fetisch, und wenn er mehrere annimmt, so sind sie durch nichts zu unterscheiden als durch die willkürlich gesetzten Grenzen ihres Gebiets. Auf einer andern Stufe der Bildung stellt sich das Universum dar als eine Vielheit ohne Einheit, als ein unbestimmtes Mannigfaltiges heterogener Elemente und Kräfte, deren beständiger und ewiger Streit seine Erscheinungen bestimmt. Nicht ein blindes Geschick bezeichnet seinen Charakter, sondern eine motivierte Notwendigkeit, in welcher die Aufgabe liegt, nach Grund und Zusammenhang zu forschen, mit dem Bewußtsein, ihn nie finden zu können. Wird zu diesem Universum die Idee eines Gottes gebracht, so zerfällt sie natürlich in unendlich viele Teile, jede dieser Kräfte und Elemente, in denen keine Einheit ist, wird besonders beseelt, Götter entstehen in unendlicher Anzahl, unterscheidbar durch verschiedene Objekte ihrer Tätigkeit, durch verschiedene Neigungen und Gesinnungen. Ihr müßt zugeben, daß diese Anschauung des Universums unendlich würdiger ist als jene, werdet Ihr nicht auch gestehen müssen, daß derjenige, der sich bis zu ihr erhoben hat, aber sich ohne die Idee von Göttern vor der ewigen und unerreichbaren Notwendigkeit beugt, dennoch mehr Religion hat als der rohe Anbeter eines Fetisches? Nun laßt uns höher steigen, dahin, wo alles Streitende sich wieder vereinigt, wo das Universum sich als Totalität, als Einheit in der Vielheit, als System darstellt und so erst seinen Namen verdient; sollte nicht der, der es so anschaut als Eins und Alles, auch ohne die Idee eines Gottes mehr Religion haben als der gebildetste Polytheist? Sollte nicht Spinoza ebensoweit über einem frommen Römer stehen als Lukrez über einem Götzendiener? Aber das ist die alte Inkonsequenz, das ist das schwarze Zeichen der Unbildung, daß sie die am weitesten verwerfen, die auf einer Stufe mit ihnen stehen, nur auf einem andern Punkt derselben! welche von diesen Anschauungen des Universums ein Mensch sich zueignet, das hängt ab von seinem Sinn fürs Universum, das ist der eigentliche Maßstab seiner Religiosität, ob er zu seiner Anschauung einen Gott hat, das hängt ab von der Richtung seiner Phantasie. In der Religion wird das Universum angeschaut, es wird gesetzt als ursprünglich handelnd auf den Menschen. Hängt nun Eure Phantasie an dem Bewußtsein Eurer Freiheit, so daß sie es nicht überwinden kann, dasjenige, was sie als ursprünglich wirkend denken soll, anders als in der Form eines freien Wesens zu denken, wohl, so wird sie den Geist des Universums personifizieren, und Ihr werdet einen Gott haben; hängt sie am Verstande, so daß es Euch immer klar vor Augen steht, Freiheit habe nur Sinn im Einzelnen und fürs Einzelne, wohl, so werdet Ihr eine Welt haben und keinen Gott. Ihr, hoffe ich, werdet es für keine Lästerung halten, daß Glaube an Gott abhängt von der Richtung der Phantasie; Ihr werdet wissen, daß Phantasie das Höchste und Ursprünglichste ist im Menschen und außer ihr alles nur Reflexion über sie; Ihr werdet es wissen, daß Eure Phantasie es ist, welche für Euch die Welt erschafft, und daß Ihr keinen Gott haben könnt ohne Welt. Auch wird er dadurch niemanden ungewisser werden, noch wird sich jemand von der fast unabänderlichen Notwendigkeit, ihn anzunehmen, um desto besser losmachen, weil er darum weiß, woher ihm diese Notwendigkeit kommt. In der Religion also steht die Idee von Gott nicht so hoch, als Ihr meint, auch gab es unter wahrhaft religiösen Menschen nie Eiferer, Enthusiasten oder Schwärmer für das Dasein Gottes; mit großer Gelassenheit haben sie das, was man Atheismus nennt, neben sich gesehn, und es hat immer etwas gegeben, was ihnen irreligiöser schien als dieses. Auch Gott kann in der Religion nicht anders vorkommen als handelnd, und göttliches Leben und Handeln des Universums hat noch niemand geleugnet, und mit dem seienden und gebietenden Gott hat sie nichts zu schaffen, so wie ihr Gott den Physikern und Moralisten nichts frommt, deren traurige Mißverständnisse dies eben sind und immer sein werden. Der handelnde Gott der Religion kann aber unsere Glückseligkeit nicht verbürgen; denn ein freies Wesen kann nicht anders wirken wollen auf ein freies Wesen, als nur, daß es sich ihm zu erkennen gebe, einerlei ob durch Schmerz oder Lust. Auch kann er uns zur Sittlichkeit nicht reizen, denn er wird nicht anders betrachtet als handelnd, und auf unsre Sittlichkeit kann nicht gehandelt, und kein Handeln auf sie kann gedacht werden.

Sehnsucht nach Unsterblichkeit
Was aber die Unsterblichkeit betrifft, so kann ich nicht bergen, die Art, wie die meisten Menschen sie nehmen, und ihre Sehnsucht darnach ist ganz irreligiös, dem Geist der Religion gerade zuwider, ihr Wunsch hat keinen andern Grund als die Abneigung gegen das, was das Ziel der Religion ist. Erinnert Euch, wie in ihr alles darauf hinstrebt, daß die scharf abgeschnittnen Umrisse unsrer Persönlichkeit sich erweitern und sich allmählich verlieren sollen ins Unendliche, daß wir durch das Anschauen des Universums soviel als möglich eins werden sollen mit ihm; sie aber sträuben sich gegen das Unendliche, sie wollen nicht hinaus, sie wollen nichts sein als sie selbst und sind ängstlich besorgt um ihre Individualität. Erinnert Euch, wie es das höchste Ziel der Religion war, ein Universum jenseits und über der Menschheit zu entdecken, und ihre einzige Klage, daß es damit nicht recht gelingen will auf dieser Welt; Jene aber wollen nicht einmal die einzige Gelegenheit ergreifen, die ihnen der Tod darbietet, um über die Menschheit hinauszukommen; sie sind bange, wie sie sie mitnehmen werden jenseits dieser Welt, und streben höchstens nach weiteren Augen und besseren Gliedmaßen. Aber das Universum spricht zu ihnen, wie geschrieben steht: wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es erhalten, und wer es erhalten will, der wird es verlieren. Das Leben, was sie erhalten wollen, ist ein erbärmliches, denn wenn es ihnen um die Ewigkeit ihrer Person zu tun ist, warum kümmern sie sich nicht ebenso ängstlich um das, was sie gewesen sind, als um das, was sie sein werden, und was hilft ihnen das Vorwärts, wenn sie doch nicht rückwärts können? Über die Sucht nach einer Unsterblichkeit, die keine ist, und über die sie nicht Herren sind, verlieren sie die, welche sie haben könnten und das sterbliche Leben dazu mit Gedanken, die sie vergeblich ängstigen und quälen. Versucht doch aus Liebe zum Universum, Euer Leben aufzugeben. Strebt darnach schon hier, Eure Individualität zu vernichten und im Einen und Allen zu leben, strebt darnach, mehr zu sein als Ihr selbst, damit Ihr wenig verliert, wenn Ihr Euch verliert; und wenn Ihr so mit dem Universum, soviel Ihr hier davon findet, zusammengeflossen seid und eine größere und heiligere Sehnsucht in Euch entstanden ist, dann wollen wir weiterreden über die Hoffnungen, die uns der Tod gibt, und über die Unendlichkeit, zu der wir uns durch ihn unfehlbar emporschwingen.

Unsterblichkeit der Religion
Das ist meine Gesinnung über diese Gegenstände. Gott ist nicht Alles in der Religion, sondern Eins, und das Universum ist mehr; auch könnt Ihr ihm nicht glauben willkürlich oder weil Ihr ihn brauchen wollt zu Trost und Hülfe, sondern weil ihr müßt. Die Unsterblichkeit darf kein Wunsch sein, wenn sie nicht erst eine Aufgabe gewesen ist, die Ihr gelöst habt. Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion.
Aus: Friedrich Schleiermacher, Über die Religion, Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Mit einem Nachwort von Carl Heinz Ratschow
Reclams Universalbibliothek Nr. 8313 (S. 79-89) © 1969 Philipp Reclam jun., Stuttgart Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlags

Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen
Gliederung
Einleitung
§§ 1-8 Begriff der Theologie.
§§ 9-13 Theorie und Praxis in der Theologie.
§§ 14-17 Theologische Bildungsziele.
§§ 18-20 Begriff der theologischen Enzyklopädie.
§§ 21-23 Theologie und Philosophie.
§§ 24-31 Gliederung der Theologie.

I. Philosophische Theologie.
Einleitung.
§§ 32-42 Die Grundprobleme der philosophischen Theologie: Bestimmung des Wesens des Christentums (Apologetik) n. Kritik seiner empirischen Trübungen (Polemik).
A. Grundsätze der Apologetik.
§§ 43-48 Die Grundbegriffe der Apologetik.
§§ 49-53 Zur Methode der Apologetik.
B. Grundsätze der Polemik
§§ 54-58 Die Grundbegriffe der Polemik.
§§ 59-62 Zur Methode der Polemik.
§§ 63-68 Schlussbetrachtungen zur philosophischen Theologie.

II. Historische Theologie.
Einleitung.
§§ 69-70 Begriff der historischen Theologie.
§§ 71-80 Geschichtsphilosophische Grundbegriffe (Epochen n. Perioden).
§§ 81-85 Gliederung der historischenTheologie.
§§ 86-102 Methodische Vorbemerkungen in Bezug auf die Hauptzweige der historischen Theologie.
A. Exegese.
§§ 103-109 Umfang und Begriff des Kanons.
§§ 110-124 Über höhere und niedere Kritik.
§§ 125-131 Über die sprachlichen Grundlagen der Bibelwissenschaft.
§§ 132-139 Idee und Prinzipien der biblischen Hermeneutik.
§§ 140-148 Allgemeine Schlussbemerkungen.
B. Kirchengeschichte.
§§ 149-159 Die allgemeinen Prinzipien der Geschichtswissenschaft.
§§ 160-165 Die allgemeine Aufgabe der Kirchengeschichte.
§§ 166-176 Die Außenseite der Kirchengeschichte (Kirchengeschichte im engeren Sinne; Verfassungsgeschichte).
§§ 177-183 Die Innenseite der Kirchengeschichte (Dogmengeschichte).
§§ 184-194 Zur Methode des kirchenhistorischen Studiums.
C. Dogmatik und Statistik
§ 195 Einleitung.
1. Dogmatik
§§ 196-202 Begriff und Aufgabe der Dogmatik
§§ 203-208 Orthodoxie und Heterodogie.
§§ 209-212 Der kirchliche Charakter der Dogmatik.
§§ 213-217 Der wissenschaftliche Charakter der Dogmatik.
§§ 218-222 Zur Methode des dogmatischen Studiums.
§§ 223-231 Glaubens- und Sittenlehre.
2. Statistik.
§§ 232-241 Begriff und Aufgabe der Statistik.
§§ 242-248 Zur Methode des statistischen Studiums.
§§ 249-250 Folgerungen.
§§ 251-256 Schlussbetrachtungen zur historischen Theologie.

III. Praktische Theologie.
§§ 257-266 Die Grundprobleme der praktischen Theologie.
§§ 267-276 Disposition der praktischen Theologie.
A. Kirchendienst.
§§ 277-279 Gliederung des Kirchendienstes.
§§ 280-289 Die erbauende Tätigkeit.
§§ 290-306 Die leitende Tätigkeit.
§§ 291-302 Seelsorge.
§§ 303-306 Organisation des Gemeindelebens.
§§ 307-308 Epilog.
B. Kirchenregiment.
§§ 309-314 Prolegomena.
Die kirchliche Autorität
§§ 315-317 Kirchendienst.
§§ 318-327 Kirchengesetzgebung.
Die freie Geistesmacht.
§§ 328-329 Einleitung.
§§ 330-331 Der akademische Lehrer.
§§ 332-334 Der theologische Schriftsteller.
§§ 335-338 Schlussbetrachtungen zur praktischen Theologie.

Einleitung
Begriff der Theologie (§§ 1-8)
§ 1. Die Theologie in dem Sinne, in welchem das Wort hier immer genommen wird, ist eine positive Wissenschaft; deren Teile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise, d. h. eine bestimmte Gestaltung des Gottesbewusstseins; die der christlichen also durch die Beziehung auf das Christentum.
Eine positive Wissenschaft überhaupt ist nämlich ein solcher Inbegriff wissenschaftlicher Elemente, welche ihre Zusammengehörigkeit nicht haben, als ob sie einen vermöge der Idee der Wissenschaft notwendigen Bestandteil der wissenschaftlichen Organisation bildeten, sondern nur, sofern sie zur Lösung einer praktischen Aufgabe erforderlich sind. - Wenn man aber ehedem eine rationale Theologie in der wissenschaftlichen Organisation mit aufgeführt hat: so bezieht sich zwar diese auch auf den Gott unseres Gottesbewusstseins, ist aber als spekulative Wissenschaft von unserer Theologie gänzlich verschieden.

§ 2.
Jeder bestimmten Glaubensweise wird sich in dem Maß, als sie sich mehr durch Vorstellungen, als durch symbolische Handlungen mitteilt, und als sie zugleich geschichtliche Bedeutung und Selbständigkeit gewinnt, eine Theologie anbilden, die aber für jede Glaubensweise, weil mit der Eigentümlichkeit derselben zusammenhängend, sowohl der Form als dem Inhalt nach, eine andere sein kann.
Nur in dem Maße, weil in einer Gemeinschaft von geringem Umfang kein Bedürfnis einer eigentlichen Theologie entsteht, und weil bei einem Übergewicht symbolischer Handlungen die rituale Technik, welche die Deutung derselben enthält, nicht leicht den Namen einer Wissenschaft verdient.

§ 3. Die Theologie eignet nicht allen, welche und sofern sie zu einer bestimmten Kirche gehören, sondern nur dann sofern sie an der Kirchenleitung teilhaben; so dass der Gegensatz zwischen solchen und der Masse und das Hervortreten der Theologie sich gegenseitig bedingen.
Der Ausdruck Kirchen leitung ist hier im weitesten Sinne zu nehmen, ohne dass an irgendeine bestimmte Form zu denken wäre.

§ 4. Je mehr sich die Kirche fortschreitend entwickelt, und über je mehr Sprach- und Bildungsgebiete sie sich verbreitet, um desto vielteiliger organisiert sich auch die Theologie; weshalb denn die christliche die ausgebildetste ist.
Denn je mehr beides der Fall ist, um desto mehr Differenzen, sowohl der Vorstellung, als der Lebensweise, hat die Theologie zusammenzufassen, und auf desto mannigfaltigeres Geschichtliche zurückzugehen.

§ 5. Die christliche Theologie ist sonach der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und ..Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d. h. ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist.
Dieses nämlich ist die in § 1 aufgestellte Beziehung; denn der christliche Glaube an und für sich bedarf eines solchen Apparates nicht, weder zu seiner Wirksamkeit in der einzelnen Seele, noch auch in den Verhältnissen des geselligen Familienlebens.

§ 6. Dieselben Kenntnisse wenn sie ohne Beziehung auf das Kirchenregiment erworben und besessen werden, hören. auf theologische zu sein, und fallen jede der Wissenschaft anheim, der sie ihrem Inhalte nach angehören.
Diese Wissenschaften sind dann der Natur der Sache nach die Sprachkunde und Geschichtskunde, die Seelenlehre und Sittenlehre, nebst den von dieser ausgehenden Disziplinen der allgemeinen Kunstlehre und der Religionsphilosophie.

§ 7. Vermöge dieser Beziehung verhält sich die Mannigfaltigkeit der Kenntnisse zu dem Willen, bei der Leitung der Kirche wirksam zu sein, wie der Leib zur Seele.
Ohne diesen Willen geht die Einheit der Theologie verloren, und ihre Teile zerfallen in die verschiedenen Elemente.

§ 8. Wie aber nur durch das Interesse am Christentum jene verschiedenartigen Kenntnisse zu einem solchen Ganzen verknüpft werden: so kann auch das Interesse am Christentum nur durch Aneignung jener Kenntnisse sich in einer zweckmäßigen Tätigkeit äußern.
Eine Kirchenleitung kann zufolge § 2 nur von einem sehr entwickelten geschichtlichen Bewusstsein ausgehen, aber auch nur durch ein klares Wissen um die Verhältnisse der religiösen Zustände zu allen übrigen recht gedeihlich werden.

Theorie und Praxis in der Theologie (§§ 9-13)
§ 9. Denkt man sich religiöses Interesse und wissenschaftlichen Geist im höchsten Grade und im möglichsten Gleichgewicht für Theorie und Ausübung vereint: so ist dies die Idee eines Kirchenfürsten.
Diese Benennung für das theologische Ideal ist freilich nur angemessen, wenn die Ungleichheit unter den Mitgliedern der Kirche groß ist, und zugleich ein Einfluss auf eine große Region der Kirche möglich. Sie scheint aber passender, als der schon für einen besonderen Kreis gestempelte Ausdruck Kirchenvater, und schließt übrigens nicht im mindesten die Erinnerung an ein amtliches Verhältnis in sich.

§ 10. Denkt man sich das Gleichgewicht aufgehoben: so ist derjenige, welcher mehr das Wissen um das Christentum in sich ausgebildet hat, ein Theologe im engeren Sinn; derjenige hingegen, welcher mehr die Tätigkeit für das Kirchenregiment in sich ausbildet, ein Kleriker.
Diese natürliche Sonderung tritt bald mehr, bald weniger äußerlich hervor; je mehr aber, um desto weniger kann die Kirche ohne eine lebendige Wechselwirkung zwischen beiden bestehen. - Übrigens wird im weiteren Verfolg der Ausdruck Theologe in der Regel in dem weiteren, beide Richtungen umfassenden Sinne genommen.

§ 11. Jedes Handeln mit theologischen Kenntnissen als solchen, von welcher Art es auch sei, gehört immer in das Gebiet der Kirchenleitung; und wie auch über die Tätigkeit in der Kirchenleitung, sei es mehr konstruierend oder mehr regelgebend, gedacht werde, so gehört diese Denken immer in das Gebiet des Theologen im engeren Sinn.
Auch die wissenschaftliche Wirksamkeit des Theologen muss auf die Förderung des Wohles der Kirche abzwecken, und ist also klerikalisch; und alle technischen Vorschriften auch über die eigentlich klerika¬lischen Tätigkeiten gehören in den Kreis der theologischen Wissenschaften.

§ 12. Wenn demzufolge alle wahren Theologen an der Kirchenleitung teilnehmen, und alle, die in dem Kirchenregiment wirksam sind, auch in der Theologie leben, so muss ungeachtet der einseitigen Richtung beider doch beides, kirchliches Interesse und wissenschaftlicher Geist, in jedem vereint sein.
Denn wie im entgegengesetzten Falle der Gelehrte kein Theologe mehr wäre, sondern nur theologische Elemente in dem Geist ihrer besonderen Wissenschaft bearbeitete: so wäre auch die Tätigkeit des Klerikers keine kunstgerechte oder auch nur besonnene Leitung, sondern lediglich eine verworrene Einwirkung.

§ 13. Jeder, der sich zur leitenden Tätigkeit in der Kirche berufen findet, bestimmt sich seine Wirkungsart nach Maßgabe, wie eines von jenen beiden Elementen in ihm überwiegt.
Ohne einen solchen inneren Beruf ist niemand in Wahrheit weder Theologe noch Kleriker; aber keine von beiden Wirkungsarten hängt irgend davon ab, dass das Kirchenregiment die Basis eines besonderen bürgerlichen Standes ist.

Theologische Bildungsziele (§§ 14-17)
§ 14. Niemand kann die theologischen Kenntnisse in ihrem ganzen Umfange vollständig innehaben, teils weil jede Disziplin im einzelnen ins Unendliche entwickelt werden kann, teils weil die Verschiedenheit der Disziplinen eine Mannigfaltigkeit von Talenten erfordert, welche einer nicht leicht in gleichem Grade besitzt.
Jene Entwicklungsfähigkeit zur unendlichen Vereinzelung gilt sowohl von allem, was geschichtlich ist und mit Geschichtlichem zusammenhängt, als auch von allen Kunstregeln in Bezug auf die Mannigfaltigkeit der Fälle, welche vorkommen können.

§ 15. Wollte sich jedoch deshalb jeder gänzlich, auf Einen Teil der Theologie beschränken: so wäre das Ganze weder in einem, noch in allen zusammen.
Letzteres nicht, weil bei einer solchen Art von Verteilung kein Zusammenwirken der einzelnen von verschiedenen Fächern, ja streng genommen auch nicht einmal eine Mitteilung unter ihnen stattfinden könnte.

§ 16. Daher ist, die Grundzüge aller theologischen Disziplinen inne zu haben, die Bedingung, unter welcher auch nur eine einzelne derselben in theologischem Sinn und Geist kann behandelt werden.
Denn nur so, wenn jeder neben seiner besonderen Disziplin auch das Ganze auf allgemeine Weise umfasst, kann Mitteilung zwischen allen und jedem stattfinden, und nur so jeder vermittelst seiner Hauptdisziplin eine Wirksamkeit auf das Ganze ausüben.

§ 17. Ob jemand eine einzelne Disziplin, und was für eine, zur Vollkommenheit zu bringen strebt, das wird bestimmt vornehmlich durch die Eigentümlichkeit seines Talentes, zum Teil aber auch durch seine Vorstellung von dem dermaligen Bedürfnis der Kirche.
Der glückliche Fortgang der Theologie überhaupt hängt großenteils davon ab, dass sich zu jeder Zeit ausgezeichnete Talente für dasjenige finden, dessen Fortbildung am meisten Not tut. Immer aber können diejenigen am vielseitigsten wirksam sein, welche die meisten Disziplinen in einer gewissen Gleichmäßigkeit umfassen, ohne in einer einzelnen eine besondere Virtuosität anzustreben; wogegen diejenigen, die sich nur einem Teile widmen, am meisten als Gelehrte leisten können.

Begriff der theologischen Enzyklopädie (§§ 18-20)
§ 18. Unerlässlich ist daher jedem Theologen zuerst eine richtige Anschauung von dem Zusammenhang der verschie¬denen Teile der Theologie unter sich, und dem eigentümlichen Wert eines jeden für den gemeinsamen Zweck. Demnächst .Kenntnis von der innern Organisation jeder Disziplin und denjenigen Hauptstücken derselben, welche das Wesentlichste sind für den ganzen Zusammenhang. Ferner Bekanntschaft mit den Hilfsmitteln, um sich jede jedes Mal erforderliche Kenntnis sofort zu verschaffen. Endlich Übung und Sicherheit in der Anwendung der notwendigen Vorsichtsichtsmaßregeln, um dasjenige aufs beste und richtigste zu benutzen, was andere geleistet haben.
Die beiden ersten Punkte werden häufig unter dem Titel theologische Enzyklopädie verbunden, auch wohl noch der dritte, nämlich die theologische Bücherkunde, in dieselbe Pragmatie hineingezogen. Der vierte ist ein Teil der kritischen Kunst, welcher nicht als Disziplin ausge¬arbeitet ist, und über welchen sich überhaupt nur wenige Regeln mitteilen lassen, so dass er fast nur durch natürliche Anlage und Übung erworben werden kann.

§ 19. Jeder, der sich eine einzelne Disziplin in ihrer Vollständigkeit aneignen will, muss sich die Reinigung und Ergänzung dessen, was in ihr schon geleistet ist, zum Ziel setzen.
Ohne ein solches Bestreben wäre er auch bei der vollständigsten Kenntnis doch nur ein Träger der Überlieferung, welches die am meisten untergeordnete und am wenigsten bedeutende Tätigkeit ist.

§ 20. Die enzyklopädische Darstellung, welche hier gegeben werden soll, bezieht sich nur auf das erste von den oben (§ 18) nachgewiesenen allgemeinen Erfordernissen; nur dass sie zugleich die einzelnen Disziplinen auf dieselbe Weise behandelt, wie das Ganze.
Eine solche Darstellung pflegt man eine formale Enzyklopädie zu nennen; wogegen diejenigen, welche materielle genannt werden, mehr von dem Hauptinhalt der einzelnen Disziplinen einen kurzen Abriss geben, mit der Darstellung ihrer Organisation aber es weniger genau nehmen. - Insofern die Enzyklopädie ihrer Natur nach die erste Einleitung in das theologische Studium ist, gehört allerdings dazu auch die Technik der Ordnung, nach welcher bei diesem Studium zu verfahren ist, oder was man gewöhnlich Methodologie nennt. Allein was sich hievon nicht von selbst aus der Darstellung des inneren Zusammenhanges ergibt, das ist bei dem Zustand unserer Lehranstalten sowohl, als unserer Literatur, zu sehr von Zufälligkeiten abhängig, als dass es lohnen könnte, auch nur einen besonderen Teil unserer Disziplin daraus zu bilden.

Theologie und Philosophie (§§ 21-23)
§ 21. Es gibt kein Wissen um das Christentum, wenn man, anstatt sowohl das Wesen desselben in seinem Gegensatz gegen andere Glaubensweisen und Kirchen, als auch das Wesen der Frömmigkeit und der frommen Gemeinschaften im Zusammenhang mit den übrigen Tätigkeiten des menschlichen Geistes zu verstehen, sich nur mit einer empirischen Auffassung begnügt.
Dass das Wesen des Christentums mit einer Geschichte zusammenhängt, bestimmt nur die Art dieses Verstehens näher, kann aber der Aufgabe selbst keinen Eintrag tun.

§ 22. Wenn fromme Gemeinschaften nicht als Verirrungen angesehen werden sollen: so muss das Bestehen solcher Vereine als ein für die Entwicklung des menschlichen Geistes notwendiges Element nachgewiesen werden können.
Das erste ist noch neuerlich in den Betrachtungen über das Wesen des Protestantismus geschehen. Die Frömmigkeit selbst ebenso ansehen ist der eigentliche Atheismus.

§ 23. Die weitere Entwicklung des Begriffs frommer Gemeinschaften muss auch ergeben, auf welche Weise und in welchem Maße die eine von der andern verschieden sein kann, imgleichen, wie sich auf diese Differenzen das Eigentümliche der geschichtlich gegebenen Glaubensgenossenschaften bezieht. Und hiezu ist der Ort in der Religionsphilosophie.
Der letztere Name, in diesem freilich noch nicht ganz gewöhnlichen Sinne gebraucht, bezeichnet eine Disziplin, welche sich in Bezug auf die Idee der Kirche zur Ethik ebenso verhält, wie eine andere, die sich auf die Idee des Staates, und noch eine andere, die sich auf die Idee der Kunst bezieht.

Gliederung der Theologie (§§ 24-31)
§ 24. Alles, was dazu gehört, um von diesen Grundlagen aus sowohl das Wesen des Christentums, wodurch es eine eigentümliche Glaubensweise ist, zur Darstellung zu bringen, als auch die Form der christlichen Gemeinschaft und zugleich die Art, wie beides sich wieder teilt und differentiiert, dieses alles zusammen bildet den Teil der christlichen Theologie, welchen wir die philosophische Theologie nennen.
Die Benennung rechtfertigt sich teils aus dem Zusammenhang der Aufgabe mit der Ethik, teils aus der Beschaffenheit ihres Inhaltes, indem sie es großenteils mit Begriffsbestimmungen zu tun hat. - Eine solche Disziplin ist aber als Einheit noch nicht aufgestellt oder anerkannt, weil das Bedürfnis derselben, so wie sie hier gefasst ist, erst aus der Aufgabe, die theologischen Wissenschaften zu organisieren, entsteht. Der Stoff derselben ist aber schon in ziemlicher Vollständigkeit be¬arbeitet zufolge praktischer Bedürfnisse, welche aus verschiedenen Zeitumständen erwuchsen.

§ 25. Der Zweck ist sowohl extensiv als intensiv zusammenhaltend und anbildend; und das Wissen um diese Tätigkeit bildet sich zu einer Technik, welche wir, alle verschiedenen Zweige derselben zusammenfassend, mit dem Namen der praktischen Theologie bezeichnen.
Auch diese Disziplin ist bisher sehr ungleich bearbeitet. In großer Fülle nämlich, was die Geschäftsführung im Einzelnen betrifft; hingegen was die Leitung und Anordnung im Großen betrifft, nur sparsam, ja in disziplinarischem Zusammenhange nur für einzelne Teile.

§ 26. Die Kirchenleitung erfordert aber auch die Kenntnis des zu leitenden Ganzen in seinem jedesmaligen Zustande., welcher, da das Ganze ein geschichtliches ist, nur als Ergebnis der Vergangenheit begriffen werden kann; und diese Auffassung in ihrem ganzen Umfang ist die historische Theologie im weiteren Sinne des Wortes.
Die Gegenwart kann nicht als Keim einer dem Begriff mehr entsprechenden Zukunft richtig behandelt werden, wenn nicht erkannt wird, wie sie sich aus der Vergangenheit entwickelt hat.

§ 27. Wenn die historische Theologie jeden Zeitpunkt in seinem wahren Verhältnis zu der Idee des Christentums darstellt: so ist sie zugleich nicht nur die Begründung der praktischen, sondern auch die Bewährung der philosophischen Theologie.
Beides natürlich um so mehr, je mannigfaltigere Entwicklungen schon vorliegen. Daher war die Kirchenleitung anfangs mehr Sache eines richtigen Instinkts, und die philosophische Theologie manifestierte sich nur in wenig kräftigen Versuchen.

§ 28. Die historische Theologie ist sonach der eigentliche Körper des theologischen Studiums, welcher durch die philosophische Theologie mit der eigentlichen Wissenschaft, und durch die praktische mit dem tätigen christlichen Leben zusammenhängt.
Die historische Theologie schließt auch den praktischen Teil geschichtlich in sich, indem die richtige Auffassung eines jeden Zeitraums auch bekunden muss, nach was für leitenden Vorstellungen die Kirche während desselben regiert worden. Und wegen des im § 27 aufgezeigten Zusammenhanges muss sich ebenso auch die philosophische Theologie in der historischen abspiegeln.

§ 29. Wenn die .philosophische Theologie, als Disziplin gehörig ausgebildet wäre, könnte das ganze theologische Studium mit derselben beginnen. Jetzt hingegen können die einzelnen Teile derselben nur fragmentarisch mit dem Studium der historischen Theologie gewonnen werden; aber auch dieses nur, wenn das Studium der Ethik vorangegangen ist, welche wir zugleich als die Wissenschaft der Prinzipien der Geschichte anzusehen haben.
Ohne die fortwährende Beziehung, auf ethische Sätze kann auch das Studium der historischen Theologie nur unzusammenhängende Vorübung sein und muss in geistlose Überlieferung ausarten; woher sich großenteils der oft so verworrene Zustand der theologischen Disziplinen und der gänzliche Mangel an Sicherheit in der Anwendung derselben auf die Kirchenleitung erklärt.

§ 30. Nicht nur die noch fehlende Technik für die Kirchenleitung kann nur aus der Vervollkommnung der historischen Theologie durch die philosophische hervorgehen, sondern selbst die gewöhnliche Mitteilung der Regeln für die einzelne Geschäftsführung kann nur als mechanische Vorschrift wirken, wenn ihr nicht das Studium der historischen Theologie vorangegangen ist.
Aus der übereilten Beschäftigung mit dieser Technik entsteht die Oberflächlichkeit in der Praxis, und die Gleichgültigkeit gegen wissenschaftliche Fortbildung.

§ 31. In dieser Trilogie, philosophische, historische und praktische Theologie, ist das ganze theologische Studium beschlossen; und die natürlichste Ordnung für diese Darstellung ist unstreitig die, mit der philosophischen Theologie zu beginnen und mit der praktischen zu schließen.
Bei welchem Teile wir auch anfangen wollten: so würden wir immer wegen des gegenseitigen Verhältnisses, in welchem sie miteinander stehen, manches aus den andern voraussetzen müssen.

Erster Teil.
Von der philosophischen Theologie.
Einleitung.
Die Grundprobleme der philosophischen Theologie: Bestimmung des Wesens des Christentums (Apologetik) u. Kritik seiner empirischen Trübungen (Polemik) (§§ 32-42)
§ 32. Da das eigentümliche Wesen des Christentums sich ebensowenig rein wissenschaftlich konstruieren lässt, als es bloß ein empirisch aufgefasst werden kann: so lässt es sich nur kritisch bestimmen. (vgl. § 23) durch Gegeneinanderhalten dessen, was im Christentum geschichtlich gegeben ist, und der Gegensätze, vermöge deren fromme Gemeinschaften können voneinander verschieden sein.
Sowenig sich die Eigentümlichkeit einzelner Menschen konstruieren lässt, wenngleich allgemeine Rubriken für charakteristische Verschiedenheiten angegeben werden können: ebensowenig auch die Eigentümlichkeit solcher zusammengesetzter oder moralischer Persönlichkeiten.

§ 33. Die philosophische Theologie kann daher ihren Ausgangspunkt nur über dem Christentum in dem logischen Sinne des Wortes nehmen, d h. in dem allgemeinen Begriff der frommen oder Glaubensgemeinschaft.
Zufolge des Vorigen nämlich kann überhaupt jede bestimmte Glaubensform und Kirche nur vermittelst ihrer Verhältnisse des Neben- und Nacheinanderseins zu andern richtig verstanden werden; und dieser Ausgangspunkt ist insofern für alle analogen Disziplinen anderer Theologien derselbe, indem alle auf denselben höheren Begriff und auf eine Teilbarkeit desselben zurückgehen müssen, um jene Verhältnisse darzulegen.

§ 34. Wie sich irgend ein geschichtlich gegebener Zustand des Christentums zu der Idee desselben verhält, das bestimmt sich nicht allein durch den Inhalt dieses Zustandes, sondern auch durch die Art, wie er geworden ist.
Beides ist allerdings durcheinander bedingt, indem verschieden beschaffene Zustände aus demselben früheren nur können durch einen verschiedenen Prozess hervorgegangen sein, und ebenso umgekehrt. Um so sicherer aber kann bald mehr das eine, bald mehr das andere zur Auffindung jenes Verhältnisses benutzt werden. Und dass in einem lebendigen und geschichtlichen Ganzen nicht alle Zustände sich zu der Idee desselben gleich verhalten, versteht sich von selbst.

§ 35.
Da die Ethik als Wissenschaft der Geschichtsprinzipien auch die Art des Werdens eines geschichtlichen Ganzen nur auf allgemeine Weise darstellen kann: so lässt sich ebenfalls nur kritisch durch Vergleichung der dort aufgestellten allgemeinen Differenzen mit dem geschichtlich Gegebenen ausmitteln, was in der Entwicklung des Christentums reiner Ausdruck seiner Idee ist, und was hingegen als Abweichung hiervon, mithin als Krankheitszustand, angesehen werden muss.
Krankheitszustände gibt es in geschichtlichen Individuen nicht minder, als in organischen; von untergeordneten Differenzen in der Entwicklung kann hier nicht die Rede sein.

§ 36. So oft das Christentum sich in eine Mehrheit von Kirchengemeinschaften teilt, welche doch auf denselben Namen, christliche zu sein, Ansprüche machen: so entstehen dieselben Aufgaben auch in Beziehung auf sie; und es gibt dann, außer der allgemeinen, für jede von ihnen noch eine besondere philosophische Theologie.
Offenbar befinden wir uns in diesem Fall; denn wenn auch jede von diesen besonderen Gemeinschaften alle anderen für krankhaft gewordene Teile erklärte: so müssten doch von unserem Ausgangspunkt (s. § 83) aus schon zum Behuf der ersten Aufgabe die Ansprüche aller jenem kritischen Verfahren anheimfallen. Unsere besondere philosophische Theologie ist daher protestantisch.

§ 37. Da die beiden hier - in § 32 und 35 - gestellten Aufgaben den Zweck der philosophischen Theologie erschöpfen: so ist diese ihrem wissenschaftlichen Gehalt nach Kritik, und sie gehört der Natur ihres Gegenstandes nach der geschichtskundlichen Kritik an.
In der Lösung dieser Aufgaben ist nämlich alles enthalten, was der historischen Theologie sowohl, als der praktischen, in ihrer Beziehung zur Kirchenleitung zum Grunde legen muss.

§ 38. Als theologische Disziplin muss der philosophischen Theologie ihre Form bestimmt werden durch ihre Beziehung auf die Kirchenleitung.
Das gilt natürlich auch von jeder speziellen philosophischen Theologie.

§ 39. Wie jeder in seiner Kirchengemeinschaft nur ist vermöge seiner Überzeugung von der Wahrheit der sich darin fortpflanzenden Glaubensweise: so muss die erhaltende Richtung der Kirchenleitung auch die Abzweckung haben, diese Überzeugung durch Mitteilung zur Anerkenntnis zu bringen. Hiezu bilden aber die Untersuchungen über das eigentümliche Wesen des Christentums und ebenso des Protestantismus die Grundlage, welche daher den apologetischen Teil der philosophischen Theologie ausmachen, jene der allgemeinen christlichen, diese der besonderen des Protestantismus.
Bei dieser Benennung ist an keine andere Verteidigung zu denken, als welche von der Anfeindung der Gemeinschaft abhalten will. Das Bestreben, auch andere in diese Gemeinschaft hineinzuziehen, ist eine klerikalische, allerdings aus der Apologetik schöpfende Ausübung; und eine Technik für dasselbe, die aber kaum anfängt sich zu bilden, wäre der zunächst auf der Apologetik beruhende Teil der praktischen Theologie.

§ 40. Da jeder nach Maßgabe der Stärke und Klarheit seiner Überzeugung, auch. Missfallen haben muss an den in seiner Gemeinschaft entstandenen krankhaften Abweichungen: so muss die Kirchenleitung, vermöge ihrer intensiv zusammenhaltenden Richtung (§ 25), zunächst die Abzweckung haben, diese Abweichungen als solche zum Bewusstsein zu bringen. Dies kann nur vermöge richtiger Darstellung von dem Wesen des Christentums und so auch des Protestantismus geschehen, welche daher in dieser Anwendung den polemischen Teil der philosophischen Theologie bilden, jene der allgemeinen, diese der besonderen protestantischen.
Die klerikalische Praxis, welche auf die Beseitigung der Krankheitszustände ausgeht, hat hier ihre Prinzipien; und die Technik derselben wäre der zunächst auf die Polemik zurückgehende Teil der praktischen Theologie.

§ 41. So wie die Apologetik ihre Richtung ganz nach außen nimmt, so die Polemik die ihrige durchaus nach innen.
Die weit gewöhnlicher so genannte, nach außen gekehrte besondere Polemik der Protestanten, z. B. gegen die Katholiken, und ebenso die allgemeine der Christen gegen die Juden oder auch die Deisten und Atheisten, ist ebenfalls eine im weiteren Sinne des Wortes klerikalische Ausübung, welche einerseits mit unserer Disziplin nichts gemein hat, andererseits auch schwerlich von einer wohl bearbeiteten praktischen Theologie als heilsam dürfte anerkannt werden. Man könnte allerdings behaupten, diese Ausübung müsse nur nicht als eine protestantische angesehen werden, sondern als eine allgemein christliche, so habe sie ihre Richtung auch nach innen. Allein dann ginge sie auch nicht, wie es doch immer gemeint ist, gegen den Katholizismus im ganzen, sondern nur gegen dasjenige darin, was nicht seiner eigentümlichen Form angehört, sondern als Krankheitszustand des Christentums zu betrachten ist.

§ 42. Da nun die philosophische Theologie keine weiteren Aufgaben enthält: so ist im folgenden zu handeln von der Organisation der Apologetik und der Polemik, und zwar der allgemeinen christlichen sowohl, als der besonderen protestantischen.
Entweder also zuerst von der allgemeinen philosophischen Theologie in ihren beiden Teilen, und dann ebenso von der besonderen; oder zuerst von der Apologetik, der allgemeinen und besonderen, und dann ebenso von der Polemik. Die letztere Anordnung ist vorgezogen worden.

Erster Abschnitt.
Grundsätze der Apologetik.
Die Grundbegriffe der Apologetik (§§ 43-48)
§ 43. Da der Begriff frommer Gemeinschaften oder der Kirche sich nur in einem Inbegriff nebeneinander bestehender und aufeinander folgender geschichtlicher Erscheinungen verwirklicht, welche in jenem Begriff eins, unter sich aber verschieden sind: so muss auch von dem Christentum durch Darlegung sowohl jener Einheit, als dieser Differenz nachgewiesen werden, dass es in jenen Inbegriff gehört. Dies geschieht mittelst Aufstellung und Gebrauchs der Wechselbegriffe des Natürlichen und Positiven.
Die Aufstellung dieser Begriffe, wovon jener das Gemeinsame aller, dieser die Möglichkeit verschiedener eigentümlicher Gestaltungen desselben aussagt, gehört eigentlich der Religionsphilosophie an; daher dieselben auch gleich gültig sind für die Apologetik jeder frommen Gemeinschaft. Könnte nun auf diese Weise auf die Religionsphilosophie bezogen werden; so bliebe für die christliche Apologie hievon nur übrig, was der folgende Paragraph enthält.

§ 44. Auf den Begriff des Positiven zurückgehend, muss dann für das eigentümliche Wesen des Christentums eine Formel aufgestellt und mit Beziehung auf das Eigentümliche anderer frommen Gemeinschaften unter jenen Begriff subsumiert werden.
Dies ist zwar die Grundaufgabe der Apologetik; aber je mehr eine solche Formel nur durch ein kritisches Verfahren (vgl. § 32) gefunden werden kann, um desto mehr kann sie sich erst im Gebrauch vollständig bewähren.

§ 45.
Das Christentum muss seinen Anspruch auf abgesondertes geschichtliches Dasein auch geltend machen durch die Art und Weise seiner Entstehung; und- dieses geschieht durch Beziehung auf die Begriffe Offenbarung, Wunder und Eingebung.
Je mehr auf ursprüngliche Tatsachen zurückgehend, desto größeres Anrecht auf Selbständigkeit, und umgekehrt; wie dasselbe auch bei anderen Arten der Gemeinschaft stattfindet.

§ 46. Wie aber die geschichtliche, Darstellung der Idee der Kirche auch als fortlaufende Reihe anzusehen ist: so muss ungeachtet des §§ 48 und 44 Gesagten doch auch die geschichtliche Stetigkeit in der Folge des Christentums auf das Judentum und Heidentum nachgewiesen, werden, welches durch Anwendung der Begriffe Weissagung und Vorbild geschieht.
Das rechte Maß in Feststellung und Gebrauch dieser Begriffe ist vielleicht die höchste Aufgabe der Disziplin; und je vollkommener gelöst, desto festere Grundlage hat die von außen anbildende Ausübung.

§ 47. Da die christliche Kirche, wie jede geschichtliche Erscheinung, ein sich Veränderndes ist: so muss auch nachgewiesen werden, wie durch diese Veränderungen die Einheit des Wesens dennoch nicht gefährdet wird. Diese Untersuchung umfasst die Begriffe Kanon und Sakrament.
Die Apologetik hat es mit den dogmatischen Theorien über beide nicht zu tun; indem diese hier nicht antizipiert werden können. Beide Tatsachen aber beziehen sich ihrem Begriff nach auf die Stetigkeit des Wesentlichen im Christentume, der erste, wie sie sich in der Produktion der Vorstellung, der andere, wie sie sich in der Überlieferung der Gemeinschaft ausspricht.

§ 48. Wie der Begriff' der Kirche sich wissenschaftlich nur ergibt im Zusammenhang (vgl. § 22) mit denen aller andern aus dem Begriff der Menschheit sich entwickelnden Organisationen gemeinsamen Lebens: so muss nun auch von der christlichen Kirche nachgewiesen werden, dass sie ihrem eigentümlichen Wesen nach mit allen jenen Organisationen zusammen bestehen kann, welches sich aus richtiger Erörterung der Begriffe Hierarchie und Kirchengewalt ergeben muss.
Vorzüglich kommen hier in Betracht der Staat und die Wissenschaft. Denn niemanden könnte zugemutet werden, die Gültigkeit des Christentums anzuerkennen, wenn es durch sein Wesen einem von diesen entgegenstrebte. Die Aufgabe ist daher um so vollständiger gelöst, je bestimmter gezeigt werden kann, dass diese inneren Institutionen der Kirche ihrem Begriffe nach nur die unabhängige Entwicklung derselben im Zusammenhang mit Staat und Wissenschaft bezwecken, nicht aber die gleich unabhängige Entwicklung jener zu stören meinen. Alles hierüber in die praktische Theologie Gehörige bleibt hier ausgeschlossen.

Zur Methode der Apologetik (§§ 49-53)
§ 49. Je mehr in allen diesen Untersuchungen auf beides Bezug genommen wird, sowohl darauf, dass das Christentum als organische Gemeinschaft bestehen will, als auch darauf, dass es sich vorzüglich durch den Gedanken darstellt und mitteilt (vgl. § 2), um desto mehr müssen sie den Grund zu der Überzeugung legen, dass auch von Anfang an (vgl. § 44) das Wesen des Christentums richtig ist aufgefasst worden.
Wenn sich doch in allem, was sich auf Lehre und Verfassung bezieht, dasselbe Wesen des Christentums übereinstimmend mit der Formel ausspricht: so ist dies die beste Bewährung für diese.

§ 50.
Befindet sich die Kirche in einem Zustande der Teilung, so muss die spezielle Apologetik einer jeden Kirchenpartei, mithin jetzt auch die protestantische, denselben Gang einschlagen, wie die allgemeine.
Denn die Aufgabe ist dieselbe, und das Verhältnis jeder einzelnen Kirchenpartei zu den übrigen gleich dem des Christentums zu den andern verwandten Glaubensgemeinschaften. Die in § 47 geforderte Nachweisung führt auf die Begriffe von Konfession und Ritus, und bei der in § 48 beschriebenen kommt es vorzüglich auf das Verhältnis zum Staat an.

§ 51. Auch die allgemeine christliche Apologetik wird in diesem Fall, von der Ansicht jeder besonderen Gestaltung des Christentums affiziert, sich in jeder eigentümlich gestalten.
Dies wird allerdings um desto weniger der Fall sein, je strenger aus der Erörterung alles Dogmatische ausgeschieden wird. Niemals aber darf es so weit gehen, dass jede nur sich selbst als Christentum zur Anerkenntnis bringen will, die andern aber als unchristlich darstellt. Wofür schon durch die Scheidung der allgemeinen und besondern Apologetik gesorgt werden soll.

§ 52. Da mehrere im Gegensatz miteinander stehende christliche Kirchengemeinschaften sich nur bilden konnten aus einem Zustande des Ganzen, in welchem kein Gegensatz ausgesprochen war: so hat sich jede um so mehr gegen den Vorwurf der Anarchie oder der Korruption zu verteidigen, als auch jede wieder geneigt ist, von sich selbst zu behaupten, dass sie an den ursprünglichen Zustand anknüpfe.
Weder war im ursprünglichen Christentum ein Gegensatz ausgesprochen, noch kann jemals ein Gegensatz an die Stelle eines anderen treten, ohne dass jener vorher verschwunden wäre.

§ 53. Da eben deshalb jeder Gegensatz dieser Art innerhalb des Christentums auch dazu bestimmt erscheint, wieder zu verschwinden: so wird die Vollkommenheit der speziellen Apologetik darin bestehen, dass sie divinatorisch auch die Formen für dieses Verschwinden mit in sich schließt.
Eine prophetische Tendenz soll hierdurch der speziellen Apologetik keineswegs beigelegt werden. Aber je richtiger in dieser Beziehung das eigentümliche Wesen des Protestantismus aufgefasst ist, um desto haltbarere Gründe wird die spezielle Apologetik darbieten, um falsche Unionsversuche abzuwehren, da jeder auf der Voraussetzung beruht, der Gegensatz sei schon in einem gewissen Grade verschwunden.

Zweiter Abschnitt.
A. Grundsätze der Polemik.
Die Grundbegriffe der Polemik (§§ 54-58)
§ 54. Krankhafte Erscheinungen eines geschichtlichen Organismus (vgl. § 35) können teils in zurücktretender Lebenskraft gegründet sein, teils darin, dass sich beigemischtes Fremdartige in demselben für sich organisiert.
Es ist nicht nötig, hierbei auf die Analogie mit dem animalischen Organismus zurückzugehen; derselbe Typus kann auch schon an den Krankheiten der Staaten zur Anschauung gebracht werden.

§ 55. Da der Trieb, die christliche Frömmigkeit zum Gegenstand einer Gemeinschaft zu machen, nicht notwendig in gleichem Verhältnis steht mit der Stärke dieser Frömmigkeit selbst: so kann bald mehr das eine von beiden geschwächt sein und zurücktreten, bald mehr das andere.
Beides in der höchsten Vollkommenheit vereinigt, bildet freilich den normalen Gesundheitszustand der Kirche, der aber während ihres geschichtlichen Verlaufs nirgends vorausgesetzt werden kann. Eben daraus aber, dass dieser Gesundheitszustand nur als die vollständige Einheit jenes Zwiefachen beschrieben werden kann, folgt schon, dass einseitige Abweichungen nach beiden Seiten hin möglich sind.

§ 56. Diejenigen Zustände, durch welche sich vorzüglich offenbart, dass die christliche Frömmigkeit selbst krankhaft geschwächt ist, werden unter dem Namen Indifferentismus zusammengefasst; und die Aufgabe ist daher, zu bestimmen, wo das, was als eine solche Schwächung erscheint, wirklich beginnt, krankhaft zu sein, und in wie mancherlei Gestalten dieser Zustand sich darstellt.
Es ist die gewöhnliche Bedeutung dieses Ausdrucks, Gleichgültigkeit in Bezug auf das eigentümliche Gepräge der christlichen Frömmigkeit darunter zu verstehen; wobei allerdings noch Frömmigkeit ohne bestimmtes Gepräge stattfinden kann. - Außerdem aber werden häufig Zustände auf Rechnung einer solchen Schwäche geschrieben, die ganz anders zu erklären sind. - Dass bei wirklichem Iudifferentismus auch der christliche Gemeinschaftstrieb geschwächt sein muss, ist natürlich; dies ist aber dann nur Folge der Krankheit, nicht Ursache derselben.

§ 57. Diejenigen Zustände, welche vornehmlich auf geschwächten Gemeinschaftsbetrieb deuten, werden durch den Namen Separatismus bezeichnet, welcher also ebenfalls in seinen Grenzen und seiner Gliederung genauer zu bestimmen ist.
Genauer, als gewöhnlich geschieht, ist zu unterscheiden zwischen eigentlichem Separatismus und Neigung zum Schisma; zumal jener, ungeachtet seiner gänzlichen Negativität, oft den Schein von dieser annimmt. Offenbar ist, dass der Gemeinschaftstrieb, wenn er in seiner vollen Stärke vorhanden ist, auch alle Glieder durchdringen muss. Er ist also desto mehr geschwächt, je mehrere sich bewusst und absichtlich ausschließen, ungeachtet sie dieselbe christliche Frömmigkeit zu besitzen behaupten.

§ 58. Da das eigentümliche Wesen des Christentums sich vorzüglich ausspricht einerseits in der Verfassung: so kann sich in der Kirche auch Fremdartiges organisieren, teils in der Lehre als Ketzerei, Häresis, teils in der Verfassung als Spaltung, Schisma; und beides ist daher in seinen Grenzen und Gestaltungen zu bestimmen.
In den meisten Fällen, jedoch nicht notwendig, wird, wenn sich eine abweichende Lehre verbreitet, daraus auch eine besondere Gemeinschaft entstehen; allein diese ist als bloße Folge jenes Zustandes nicht eigentliche Spaltung. Ebenso wird sich innerhalb einer Spaltung großenteils, jedoch nicht notwendig, auch abweichende Lehre entwickeln; allein diese braucht deshalb nicht häretisch zu sein.

Zur Methode der Polemik (§§ 59-62)
§ 59. Alle hier aufgestellten Begriffe können weder bloß empirisch gefunden, noch rein wissenschaftlich abgeleitet werden, sondern nur durch das hier überall vorherrschende kritische Verfahren festgestellt; weshalb sie sich durch den Gebrauch immer mehr bewähren müssen, um ganz zuverlässig zu werden.
In Bezug auf Spaltung und Ketzerei muss wegen der großen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen dies Verfahren auf einer Klassifikation beruhen, welche sich dadurch bewährt, dass die vorhandenen Erscheinungen mit Leichtigkeit darunter subsumiert werden können. In Bezug auf Indifferentismus und Separatismus bewährt es sich desto mehr, je mehr es hindert, dass nicht durch allzu große Strenge für krankhaft erklärt werde, was noch gesund ist, und umgekehrt.

§ 60. Was als krankhaft aufgestellt wird davon muss nachgewiesen werden, teils seinem Inhalte nach, dass es dem Wesen des Christentums, wie sich dieses in Lehre und Verfassung ausgedrückt hat, widerspricht oder es auflöst, teils seiner Entstehung nach, dass es nicht mit der von den Grundtatsachen des Christentums ausgehenden Entwicklungsweise zusammenhängt.
Je mehr beides zusammentrifft und sich gegenseitig erklärt, um desto sicherer erscheint die Bestimmung.

§ 61. In Zeiten, wo die christliche Kirche geteilt ist, hat jede spezielle Polemik einer besonderen christlichen Kirchengemeinschaft denselben Weg zu verfolgen, wie die allgemeine.
Die Sachverhältnisse sind dieselben. Nur dass einerseits in solchen Zeiten natürlich Indifferentismus und Separatismus ursprünglich in den partiellen Kirchengemeinschaften einheimisch sind, und nur insofern allgemeine Übel werden, als sie sich in mehreren nebeneinander bestehenden christlichen Gemeinschaften gleichmäßig vorfinden, andererseits aber, was nur dem eigentümlichen Wesen einer partiellen Gemeinschaft widerspricht, nie sollte durch den Ausdruck häretisch oder schismatisch bezeichnet werden.

§ 62. Da die ersten Anfänge einer Ketzerei allemal als Meinungen einzelner auftreten, und die einer Spaltung als Verbrüderungen einzelner; eine neue partielle Kirchengemeinschaft aber auch nicht füglich anders, als ebenso, zuerst erscheinen kann: so müssen die Grundsätze der Polemik, wenn vollkommen ausgebildet, Mittel an die Hand geben, um schon an solchen ersten Elementen zu unterscheiden, ob sie in krankhafte Zustände ausgehen werden, oder ob sie den Keim zur Entwicklung eines neuen Gegensatzes in sich schließen.
Wie überhaupt dieser Satz gleichlautend ist mit § 53, so ist auch hier dasselbe wie dort zu bemerken, in Bezug nämlich auf solche Toleranz gegen das Krankhafte einerseits, und andererseits auf Beantwortung der billigen Freiheit für dasjenige, was sich neu zu differentiieren im Begriff steht.

Schlussbetrachtungen über die philosophische Theologie. (§§ 63-68)
§ 63. Beide Disziplinen. Apologetik und Polemik, wie sie sich gegenseitig ausschließen, bedingen sich auch gegenseitig.
Sie schließen sich aus durch ihren entgegengesetzten Inhalt (vgl. § 39 und 40) und durch ihre entgegengesetzte Richtung (vgl. § 41). Sie bedingen sich gegenseitig, weil Krankhaftes in der Kirche nur erkannt werden kann in Bezug auf eine bestimmte Vorstellung von dem eigentümlichen Wesen des Christentums, und weil zugleich bei den Untersuchungen, durch weiche diese Vorstellung begründet wird, auch die krankhaften Erscheinungen vorläufig mit unter das Gegebene aufgenommen werden müssen, welches bei dem kritischen Verfahren zum Grunde gelegt werden muss.

§ 64. Beide Disziplinen können daher nur durcheinander und miteinander zu vollkommener Entwicklung gelangen.
Eben deshalb nur durch Annäherung und nur nach mancherlei Umgestaltungen. Vgl. § 51, indem das dort Gesagte auch für die Polemik gilt.

§ 65. Die philosophische Theologie setzt zwar den Stoff der historischen als bekannt voraus, begründet aber selbst erst, die eigentlich geschichtliche Anschauung des Christentums.
Jener Stoff ist das Gegebene (vgl. § 32), welches sowohl den Untersuchungen über das eigentümliche Wesen des Christentums, als auch denen über den Gegensatz des Gesunden und Krankhaften (vgl. § 35) zum Grunde liegt. Das Resultat dieser Untersuchungen bestimmt aber erst den Entwicklungswert der einzelneu Momente, mithin die geschichtliche Anschauung des ganzen Verlaufs.

§ 66. Die philosophische Theologie und die praktische stehen auf der einen Seite gemeinschaftlich der historischen gegenüber, auf der andern Seite aber auch eine der andern?
Jenes, weil die beiden ersten unmittelbar auf die Ausübung gerichtet sind, die historische Theologie aber rein auf die Betrachtung. Denn wenngleich Apologetik und Polemik allerdings Theorien sind, von denen man apologetische und polemische Leistungen wohl zu unterscheiden hat: so vollenden sie doch erst in diesen ihre Bestimmung, und werden nur um dieser willen aufgestellt. - Beide aber stehen einander gegenüber, teils als Erstes und Letztes, indem die philosophische Theologie erst den Gegenstand fixiert, den die praktische zu behandeln hat, teils weil die philosophische sich an rein wissenschaftliche Konstruktionen anschließt, die praktische hingegen in das Gebiet des Besonderen und Einzelnen als Technik eingreift.

§ 67. Da die philosophische Theologie eines jeden wesentlich die Prinzipien seiner gesamten theologischen Denkungsart in sich schließt: so muss auch jeder Theologe sie ganz für sich selbst produzieren.
Hierdurch soll keineswegs irgend einem Theologen benommen werden, sich zu einer von einem anderen herrührenden Darstellung der philosophischen Theologie zu bekennen; nur muss sie von Grund ans als klare und feste Überzeugung angeeignet sein. Vornehmlich aber wird gefordert, dass die philosophische Theologie in jedem ganz und vollständig sei, ohne für diesen Teil den in §§ 14-17 gemachten Unterschied zu berücksichtigen; weil nämlich hier alles grundsätzlich ist, und jedes auf das genaueste mit allem zusammenhängt. Dass aber alle theologischen Prinzipien in diesem Teile des Ganzen ihren Ort haben, geht aus § 65 und 66 unmittelbar hervor.

§ 68. Beide Disziplinen der philosophischen Theologie sehen ihrer Ausbildung noch entgegen.
Die Tatsache begreift sich zum Teil schon aus den hier aufgestellten Verhältnissen. Teils auch bezog man einerseits die Apologetik zu genau und ausschließend auf die eigentlich apologetischen Leistungen, zu denen sich die Veranlassungen nur von Zeit zu Zeit ergaben, wogegen die hierher gehörigen Sätze nicht ohne bedeutenden Nachteil für die klare Übersicht des ganzen Studiums in den Einleitungen zur Dogmatik ihren Ort fanden. Erst in der neuesten Zeit hat man angefangen, sie in ihrer allgemeineren Abzweckung und ihrem wahren Umfange nach wieder besonders zu bearbeiten. Die Polemik andererseits hatte, vorzüglich weil man ihre Richtung verkannte, schon seit geraumer Zeit aufgehört, als theologische Disziplin bearbeitet und überliefert zu werden.

Zweiter Teil.
Von der historischen Theologie.
Einleitung.
Begriff der historischen Theologie (§§ 69-70)
§ 69. Die historische Theologie (vgl. § 26) ist ihrem Inhalte nach ein Teil der neueren Geschichtskunde; und als solchem sind ihr alle natürlichen Glieder dieser Wissenschaft koordiniert.
Sie gehört vorläufig der innern Seite der Geschichtskunde, der neueren Bildungs- und Sittengeschichte an, in welcher das Christentum offenbar eine eigene Entwicklung eingeleitet hat. Denn dasselbe nur als eine reine Quelle von Verkehrtheiten und Rückschritten darstellen, ist eine veraltete Ansicht.

§ 70. Als theologische Disziplin ist die geschichtliche Kenntnis des Christentums zunächst die unnachlässliche Bedingung alles besonnenen Einwirkens auf die weitere Fortbildung derselben, und in diesem Zusammenhange sind ihr dann die übrigen Teile der Geschichtskunde nur dienend untergeordnet.
Hieraus ergibt sich schon, wie verschieden das Studium und die Behandlungsweise derselben Masse von Tatsachen ausfallen, wenn sie ihren Ort in unserer theologischen Disziplin haben, und wenn in der allgemeinen Geschichtskunde, ohne dass jedoch die Grundsätze der geschichtlichen Forschung aufhörten, für beide Gebiete dieselben zu sein.

Geschichtsphilosophische Grundbegriffe (Epochen u. Perioden) (§§ 71-80)
§ 71. Was in einem geschichtlichen Gebiet als einzelner Moment hervortritt, kann entweder als plötzliches Entstehen angesehen werden, oder als allmähliche Entwicklung und weitere Fortbildung
In dem Gebiete des einzelnen Lebens ist jeder Anfang ein plötzliches Entstehen, von da an aber alles andere nur Entwicklung. Auf dem eigentlich geschichtlichen Gebiet aber, dem des gemeinsamen Lebens, ist beides einander nicht streng entgegengesetzt, und nur des Mehr und Minder wegen wird der eine Moment auf diese, der andere auf die entgegengesetzte Weise betrachtet.

§ 72. Der Gesamtverlauf eines jeden geschichtlichen Ganzen ist ein mannigfaltiger Wechsel von Momenten beiderlei Art.
Nicht als ob es an und für sich unmöglich wäre, dass ein ganzer Verlauf als fortgehende Entwicklung von einem Anfangspunkte aus angesehen werden könnte. Allein wir dürfen nur entweder die Kraft selbst auch als ein Mannigfaltiges ansehen können, dessen Elemente nicht alle gleichzeitig zur Erscheinung kommen, oder wir dürfen nur in der Entwicklung selbst Differenzen schnellerer und langsamerer Fortschreitung wahrnehmen können, und nicht leicht wird eines von beiden fehlen, so sind wir schon genötigt, Zwischenpunkte von dem entgegengesetzten Charakter anzunehmen.

§ 73.
Eine Reihe von Momenten, in denen ununterbrochen die ruhige Fortbildung überwiegt, stellt einen geordneten Zustand dar und bildet eine geschichtliche Periode; eine Reihe von solchen, in denen das plötzliche Entstehen überwiegt, stellt eine zerstörende Umkehrung der Verhältnisse dar und bildet eine geschichtliche Epoche.
Je länger der letztere Zustand dauerte, um desto weniger würde die Selbigkeit des Gegenstandes festgehalten werden können, weil aller Gegensatz zwischen Bleibendem und Wechselndem aufhört. Daher je länger der Gegenstand als einer und derselbe feststeht, um desto mehr überwiegen die Zustände der ersten Art.

§ 74. Jedes geschichtliche Ganze lässt sich nicht nur als Einheit betrachten, sondern auch als ein Zusammengesetztes, dessen verschiedene Elemente, wenngleich nur in untergeordnetem Sinn und in fortwährender Beziehung aufeinander, jedes seinen eignen Verlauf haben.
Solche Unterscheidungen bieten sich überall unter irgend einer Form dar; und sie werden mit desto größerem Recht hervorgehoben, je mehr der eine Teil zu ruhen scheint, während der andere sich bewegt, und also beide relativ unabhängig voneinander erscheinen.

§ 75. Es gibt daher, um das unendliche Materiale eines geschichtlichen Verlaufs zu übersichtlicher Anschaulichkeit zusammenzufassen, ein zwiefaches Verfahren. Entweder man teilt den ganzen Verlauf nach Maßgabe der sich ergebenden revolutionären Zwischenpunkte in mehrere Perioden, und fasst in jeder alles, was sich an dem Gegenstande begeben hat, zusammen; oder man teilt den Gegenstand der Breite nach, so dass sich mehrere parallele Reihen ergeben, und verfolgt den Verlauf einer jeden besonders durch die ganze Zeitlänge.
Natürlich lassen sich auch beide Einteilungen verbinden, indem man die eine der andern unterordnet, so dass entweder jede Periode in parallele Reihen geteilt, oder jede Hauptreihe für sich wieder in Perioden zerschnitten wird. Das darstellende Verfahren ist desto unvollkommener, je mehr bei diesen Einteilungen willkürlich verfahren wird, oder je mehr man dabei wenigstens nur Äußerlichkeiten zum Grunde legt.

§ 76. Ein geschichtlicher Gegenstand postuliert überwiegend die erste Teilungsart, je weniger unabhängig voneinander seine verschiedenen Glieder sich fortbilden, und je stärker dabei revolutionäre Entwicklungsknoten hervorragen; und wenn umgekehrt, dann die andere.
Denn in letzterem Falle ist eine ursprüngliche Gliederung vorherrschend, im ersten eine starke Differenz im Charakter verschiedener Zeiten.

§ 77. Je stärker in einem geschichtlichen Verlauf der Gegensatz zwischen Perioden und Epochen hervortritt, um desto schwieriger ist es in Darstellung der letzteren, aber desto leichter in der der ersteren, die verschiedenen Elemente (§ 74) voneinander zu sondern.
Denn in Zeiten der Umbildung ist alle Wechselwirkung lebendiger und alles einzelne abhängiger von einem gemeinsamen Impuls; wogegen der ruhige Verlauf das Hervortreten der Gliederung begünstigt.

§ 78. Da nicht nur im Allgemeinen der Gesamtverlauf aller menschlichen Dinge, sondern auch in diesem die ganze Folge von Äußerungen einer und derselben Kraft Ein Ganzes bildet: so kann jedes Hervortreten eines kleineren geschichtlichen Ganzen auf zwiefache Weise angesehen werden, einmal als Entstehen eines Neuen, noch nicht Dagewesenen, dann aber auch als Ausbildung eines schon irgendwie Vorhandenen.
Dies erhellt schon aus § 71. Was während des Zeitverlaufs in Bezug auf alles schon neben ihm Fortlaufende allerdings als ein Neues zu betrachten ist, kann doch mit irgend einem früheren Moment auf genauere Weise, als mit allen übrigen zusammengehören.

§ 79. So kann auch der Verlauf des Christentums auf der einen Seite behandelt werden als eine einzelne Periode eines Zweiges der religiösen Entwicklung; dann aber auch als ein besonder[e]s geschichtliches Ganzes, das als ein Neues entsteht, und abgeschlossen für sich in einer Reihe durch Epochen getrennter Perioden verläuft.
Dass hier ausdrücklich nur von einem Zweige der religiösen Entwicklung die Rede ist, geht auf § 74 zurück, Wie man die große Mannigfaltigkeit religiöser Gestaltungen auch gruppiere, immer werden einige auch zum Christentum ein solches näheres Verhältnis haben, dass sie eine Gruppe mit demselben bilden können.

§ 80.
Die historische Theologie, wie sie sich als theologische Disziplin ganz auf das Christentum bezieht, kann sich nur die letzte Behandlungsweise aneignen.
Man vergleiche §§ 69 und 70. Außerdem aber könnte der christliche Glaube nicht sein, was er ist, wenn die Grundtatsache desselben nicht ausschließend als ein Ursprüngliches gesetzt wird.

Gliederung der historischen Theologie (§§ 81-85)
§ 81. Von dem konstitutiven Prinzip der Theologie aus den geschichtlichen Stoff des Christentums betrachtet, steht in dem unmittelbarsten Bezug auf die Kirchenleitung die geschichtliche Kenntnis des gegenwärtigen Momentes, als aus welchem der künftige soll entwickelt werden. Diese mithin bildet einen besonderen Teil der historischen Theologie.
Um richtig und angemessen sowohl auf Gesundes und Krankes einzuwirken, als auch zurückgebliebene Glieder nachzufördern, und um aus fremden Gebieten Anwendbares für das eigene zu benutzen.

§ 82. Da aber die Gegenwart nur verstanden werden kann als Ergebnis der Vergangenheit: so ist die Kenntnis des gesamten früheren Verlaufs ein zweiter Teil der historischen Theologie.
Dies ist nicht so zu verstehen, als ob dieser Teil etwa eine Hilfswissenschaft wäre für jenen ersten; sondern beide verhalten sich auf dieselbe Weise zur Kirchenleitung, und sind einander nicht untergeordnet, sondern beigeordnet.

§ 83. Je mehr ein geschichtlicher Verlauf in der Verbreitung begriffen ist, so dass die innere Lebenseinheit je weiter hin, desto mehr nur im Zusammenstoß mit andern Kräften erscheint: um desto mehr haben diese auch teil an den einzelnen Zuständen; so dass nur in den frühesten das eigentümliche Wesen am reinsten zur Anschauung kommt.
Auch das gilt ebenso von allen verwandten geschichtlichen Erscheinungen, und ist der eigentliche Grund, warum so viele Völker missverständlich die früheste Periode des Lebens der Menschheit als die Zeit der höchsten Vollkommenheit ansehen.

§ 84. Da nun auch das christliche Leben immer zusammengesetzter und verwickelter geworden ist, der letzte Zweck seiner Theologie aber darin besteht, das eigentümliche Wesen desselben in jedem künftigen Augenblick reiner darzustellen: so hebt sich natürlich die Kenntnis des Urchristentums als ein dritter besonderer Teil der historischen Theologie hervor.
Allerdings ist auch das Urchristentum schon in dem Gesamtverlauf mit enthalten; allein ein anderes ist, es als eine Reihe von Momenten zu behandeln, und ein anderes, nur dasjenige zur Betrachtung zu ziehen, auch aus verschiedenen Momenten, woraus der reine Begriff des Christentums dargestellt werden kann.

§ 85. Die historische Theologie ist in diesen drei Teilen, Kenntnis des Urchristentums, Kenntnis von dem Gesamtverlauf des Christentums, und Kenntnis von seinem Zustand in dem gegenwärtigen Augenblick, vollkommen beschlossen.
Nur ist nicht die Ordnung, in welcher wir sie abgeleitet haben, auch die richtige für das Studium selbst. Sondern die Kenntnis des Urchristentums als zunächst der philosophischen Theologie sich anschließend, ist das erste, und die Kenntnis des gegenwärtigen Augenblicks, als unmittelbar den Übergang in die praktische Theologie bildend, ist das letzte.

Methodische Vorbemerkungen in Bezug auf die Hauptzweige der historischen Theologie
(§§ 86-102)
§ 86. Wie für jeden Teil der Geschichtskunde alles Hilfswissenschaft ist, was die Kenntnis des Schauplatzes und der äußeren Verhältnisse des Gegenstandes erleichtert, und was zum Verstehen der Monumente aller Art gehört: so zieht auch die historische Theologie zunächst die übrigen Teile desselben Geschichtsgebietes (vgl. § 40), dann aber noch alles, was zum Verständnis der Dokumente gehört, als Hilfswissenschaft herbei.
Diese Hilfskenntnisse sind mithin teils historisch im engeren Sinn, teils geographisch, teils philologisch.

§ 87. Das Urchristentum ist in Bezug auf jene normale Behandlung desselben gegen den weiteren geschichtlichen Verlauf nicht füglich anders abzugrenzen, als dass unter jenem der Zeitraum verstanden wird, worin Lehre und Gemeinschaft in ihrer Beziehung aufeinander erst wurden, und noch nicht in ihrer Abschließung schon waren.
Auch diese Bestimmung jedoch könnte leicht zu weit ausgedehnt werden, weil Lehre und Gemeinschaft in Bezug aufeinander immer im Werden begriffen bleiben; und eine feste Grenze entsteht zunächst nur, wenn man jede Zeit ausschließt, in der es schon Differenz der Gemeinschaft um einer Differenz der Lehre willen gab. Aber auch zu enge Schranken könnte man unserer Bestimmung geben, wenn man davon ausgeht, dass schon seit dem Pfingsttage eine abgeschlossene Gemeinschaft bestand; und eine angemessene Erweiterung entsteht nur, wenn man bevorwortet, die eigentlich christliche Gemeinschaft sei erst abgeschlossen worden, als mit Bewusstsein und allgemeiner Anerkennung Juden und Heiden in derselben vereint waren, und Ähnliches gilt auch von der Lehre. So treffen beide Bestimmungen ziemlich zusammen mit der mehr äußerlichen des Zeitalters der unmittelbaren Schüler Christi.

§ 88. Da die für den angegebenen Zweck auszusondernde Kenntnis des Urchristentums nur aus den christlichen Dokumenten, die in diesem Zeitraum der christlichen Kirche entstanden sind, kann gewonnen werden, und ganz auf dem richtigen Verständnis dieser Schriften beruht: so führt diese Abteilung der historischen Theologie auch insbesondere den Namen der exegetischen Theologie.
Da auch in den andern beiden Abteilungen das Meiste auf Auslegung beruht: so ist die Benennung allerdings willkürlich, aber doch wegen des eigentümlichen Wertes dieser Schriften leicht zu rechtfertigen.

§ 89. Da wegen des genauen Zusammenhanges mit der philosophischen Theologie, als dem Ort aller Prinzipien, jeder seine Auslegung selbst bilden muss: so gibt es auch hier nur weniges, was man sich von den Virtuosen (vgl. §§ 17 und 19) kann geben lassen.
Vorzüglich nur dasjenige, was zur Auslegung aus den Hilfswissenschaften herbeigezogen werden muss.

§ 90. Die Kenntnis von dem weiteren Verlauf des Christentums kann entweder als Ein Ganzes aufgestellt werden, oder auch geteilt in die Geschichte des Lehrbegriffs und in die Geschichte der Gemeinschaft.
Weil nämlich die Geschichte des Lehrbegriffs nichts anderes ist, als die Entwicklung der religiösen Vorstellungen der Gemeinschaft. Sowohl die Vereinigung von beiden, als auch die Geschichte der Gemeinschaft besonders dargestellt, führt den Namen Kirchengeschichte; so wie die des Lehrbegriffs besonders den Namen Dogmengeschichte.

§ 91. Sowohl beide Zweige zusammen, als auch jeder für sich allein, stellen, der Länge nach betrachtet, einen ununterbrochenen Fluss dar, in welchem jedoch vermittelst der Begriffe von Perioden und Epochen (vgl. § 73) Entwicklungsknoten gefunden werden können, um die Unterschiede zu fixieren zwischen solchen Punkten, welche durch eine Epoche geschieden sind, und also verschiedenen Perioden angehören, sowie auch zwischen solchen, die zwar innerhalb derselben zwei Epochen liegen, so jedoch, dass der eine mehr das Ergebnis der ersten enthält, der andere mehr als eine Vorbereitung der zweiten erscheint.
Denkt man sich dazwischen noch Punkte, welche in einer Periode das Größte der Entwicklung ihrer Anfangsepoche enthalten, aber noch den Nullpunkt der Schlussepoche darstellen: so gibt dieses, durch beide Zweige und durch alle Perioden durchgeführt, ein Netz der wertvollsten Momente.

§ 92. Da der Gesamtverlauf des Christentums eine Unendlichkeit von Einzelheiten darbietet: so ist hier am meisten Spielraum für den Unterschied zwischen dem Gemeinbesitz und dem Besitz der Virtuosen.
Jenes Netz bis zu einem Analogon von Stetigkeit im Umriss vollzogen, ist das Minimum, welches jeder besitzen muss; die Erforschung und Ausführung des einzelnen ist, auch unter viele verteilt, ein unerschöpfliches Gebiet.

§ 93. Nicht jeder Moment eignet sich gleich gut dazu, als ein in sich zusammenhängendes Ganze dargestellt zu werden; sondern am meisten der Kulminationspunkt einer Periode, am wenigsten ein Punkt während einer Epoche oder in der Nähe derselben.
Während einer Umkehrung kann immer nur einzelnes abgesondert, und nicht leicht anders, als in der Form des Streites zur Erörterung kommen. Nahe an einer Epoche kann zwar das Bedürfnis einer zusammenhängenden Darstellung sich schon regen, die Versuche können aber nicht anders, als unvollständig ausfallen. Dies zeigt sich auch, sowohl in den ersten Anfängen der Kirche nach der apostolischen Zeit, als auch bei uns in den ersten Zeiten der Reformation.

§ 94. In solchen Zeiten, wo der Aufgabe genügt werden kann, sondert sich dann von selbst Darstellung der Lehre und Darstellung des gesellschaftlichen Zustandes.
Denn wenn sich auch dasselbe eigentümliche Wesen der Kirche oder einer partiellen Kirchengemeinschaft in beiden ausspricht: so hängen doch beide von zu verschiedenen Koeffizienten ab, als dass nicht ihre Veränderungen und also auch der momentane Zustand beider ziemlich unabhängig voneinander sein sollte.

§ 95. Die Darstellung des gesellschaftlichen Zustandes der Kirche in einem gegebenen Moment ist die Aufgabe der kirchlichen Statistik.
Erst seit kurzem ist dieser Gegenstand in gehöriger Anordnung disziplinarisch behandelt worden, daher auch, sowohl was Stoff, als was Form betrifft, noch vieles zu leisten übrig ist.

§ 96.
Die Aufgabe bleibt, auch wenn eine Trennung obwaltet, für alle einzelnen Kirchengemeinschaften doch wesentlich dieselbe.
Jede wird dann freilich ein besonderes Interesse haben, ihren eignen Zustand auf das genaueste zu kennen, und insofern wird eine Ungleichheit eintreten, die aber auch eintritt, wenn die Kirche ungeteilt ist. Es kann aber nur großen Nachteil bringen, wenn die Lenkenden einer einzelnen Kirchengemeinschaft nicht mit dem Zustande des andern der Wahrheit nach bekannt sind.

§ 97. Die zusammenhängende Darstellung der Lehre, wie sie zu einer gegebenen Zeit, sei es nun in der Kirche im Allgemeinen, wann nämlich keine Trennung obwaltet, sonst aber in einer einzelnen Kirchenpartei, geltend ist, bezeichnen wir durch den Ausdruck Dogmatik oder dogmatische Theologie.
Der Ausdruck Lehre ist hier in seinem ganzen Umfang genommen. Die Bezeichnung systematische Theologie, deren man sich für diesen Zweig immer noch häufig bedient, und welche mit Recht vorzüglich hervorhebt, dass die Lehre nicht soll als ein Aggregat von einzelnen Satzungen vorgetragen werden, sondern der Zusammenhang ins Licht gesetzt, verbirgt doch auf der anderen Seite zum Nachteil der Sache nicht nur den historischen Charakter der Disziplin, sondern auch die Abzweckung derselben auf die Kirchenleitung, woraus vielfältige Missverständnisse entstehen müssen.

§ 98. In Zeiten, wo die Kirche geteilt ist, kann nur jede Partei selbst ihre Lehre dogmatisch behandeln.
Weder wenn eine Theologie der einen Partei die Lehren anderer im Zusammenhang nebeneinander behandeln wollte, würde Unparteilichkeit und Gleichheit zu erreichen sein, da nur der eine Zusammenhang für ihn Wahrheit ist, der andere aber nicht; noch auch, wenn er nur die seinige znsammenhängend behandeln, und nur die Abweichungen der andern an gehöriger Stelle beibringen wollte, weil diese dann doch aus ihrem natürlichen Zusammenhang herausgerissen würden. Das erste geschieht dennoch, was die Hauptpunkte betrifft, unter dem Namen der Symbolik, das andere unter dem der komparativen Dogmatik.

§ 99. Beide Disziplinen, Statistik und Dogmatik, sind ebenfalls unendlich, und stehen also, was den Unterschied zwischen dem Gemeinbesitz und dem Gebiet der Virtuosität betrifft, der zweiten Abteilung gleich.
Von der kirchlichen Statistik leuchtet dies ein. Aber auch im Gebiet der Dogmatik ist nicht nur jede einzelne Lehre fast ins Unendliche bestimmbar, sondern auch ihre Darstellung in Bezug auf abweichende Vorstellungsarten anderer Zeiten und Örter ist ein Unendliches.

§ 100. Jeder muss sich, sowohl was die Kenntnis des Gesamtverlaufs, als auch, was die des vorliegenden Momentes betrifft, seine geschichtliche Anschauung selbst bilden.
Sonst würde auch die auf beiden gleichmäßig beruhende Tätigkeit in der Kirchenleitung keine selbsttätige sein.

§ 101. Müssen hiezu geschichtliche Darstellungen gebraucht werden, welche nie frei sein können von eigentümlichen Ansichten und Urteilen des Darstellenden: so muss auch jeder die Kunst besitzen, aus denselben das Materiale für seine eigene Bearbeitung möglichst rein auszuscheiden.
Auch dieses gilt für die Dogmatik und Statistik nicht minder als für die Kirchengeschichte.

§ 102. Historische Kritik ist, wie für das gesamte Gebiet der Geschichtskunde, so auch für die historische Theologie das allgemeine und unentbehrliche Organon.
Sie steht als vermittelnde Kunstfertigkeit den materiellen Hilfswissenschaften gegenüber.

Erster Abschnitt.
Die exegetische Theologie.
Umfang und Begriff des Kanons (§§ 103-109)
§ 103. Nicht alle christliche Schriften aus dem Zeitraum des Urchristentums sind schon deshalb Gegenstände der exegetischen Theologie, sondern nur, sofern sie dafür gehalten werden, zu der ursprünglichen, mithin (vgl. § 83) für alle Zeiten normalen Darstellung des Christentums beitragen zu können.
Es liegt in der Natur der Sache und ist auch vollkommen begründet, dass es gleich anfangs auch unvollkommene, mithin zum Teil falsche Auffassung - also auch Darstellung - des eigentümlich christlichen Glaubens gegeben hat.

§ 104. Die Sammlung dieser das Normale in sich tragenden Schriften bildet den neutestamentischen Kanon der christlichen Kirche.
Das richtige Verständnis von diesem ist mithin die einzige wesentliche Aufgabe der exegetischen Theologie, und die Sammlung selbst ihr einziger ursprünglicher Gegenstand.

§ 105. In den neutestamentischen Kanon gehören wesentlich sowohl die normalen Dokumente von der Wirksamkeit Christi, an und mit seinen Jüngern, als auch die von der gemeinsamen Wirksamkeit seiner Jünger zur Begründung des Christentums.
[...] Einen Unterschied in Bezug auf kanonische Dignität zwischen diesen beiden Bestandteilen festzusetzen, ist an und für sich kein Grund vorhanden. Welches doch gewissermaßen der Fall sein würde, wenn man behauptete, beide verhielten sich zu einander, wie Entstehung und Fortbildung, noch mehr, wenn man der sich selbst überlassenen Wirksamkeit der Jünger die normale Dignität absprechen dürfte.

§ 106. Da weder die Zeitgrenze des Urchristentums, noch das Personale desselben genau bestimmt werden kann: so kann auch die äußere Grenzbestimmung des Kanon nicht vollkommen fest sein.
Für beides gemeinschaftlich, Zeit und Personen, ließe sich zwar eine feste Formel für das Kanonische aufstellen; sie würde aber doch zu keiner sicheren Unterscheidung über das Vorhandene führen, wegen der über die Persönlichkeit mehrerer einzelner Schriftsteller obwaltenden Ungewissheit.

§ 107. Diese Unsicherheit ist ein Schwanken der Grenze zwischen dem Gebiet der Schriften apostolischer Väter und dem Gebiet der kanonischen Schriften.
Denn das Zeitalter der apostolischen Väter liegt zwischen dem, in welchem der Kanon erst anfing, zu werden, und dem, in welchem er schon abgesondert bestand. Und der Ausdruck Apostolische Väter ist hier in solchem Umfange zu verstehen, dass die Unsicherheit den ersten Teil des Kanon ebenso trifft, wie den zweiten.

§ 108. Da auch der Begriff der normalen Dignität nicht kann auf unwandelbar feste Formeln gebracht werden: so lässt sich auch aus innern Bestimmungsgründen der Kanon nicht vollkommen sicher umschreiben.
Wenn wir zum normalen Charakter der einzelnen Sätze auf der einen Seite die vollkommene Reinheit rechnen, auf der andern die Fülle der daraus zu entwickelnden Folgerungen und Anwendungen: so haben wir nicht Ursache, die erste anderswo, als nur in Christo schlechthin, anzunehmen, und müssen zugeben, dass auch auf die zweite bei allen andern die natürliche Unvollkommenheit hemmend einwirken konnte.

§ 109. Christliche Schriften aus der kanonischen Zeit, welchen wir die normale Dignität absprechen, bezeichnen wir durch den Ausdruck Apokryphen, und der Kanon ist also auch gegen diese nicht vollkommen fest begrenzt.
Die meisten neutestamentischen Apokryphen führen diesen Namen freilich nur, weil sie dafür genommen wurden, oder dafür gelten wollten, der kanonischen Zeit anzugehören. Der Ausdruck selbst ist in dieser Bedeutung willkürlich, und würde besser mit einem andern vertauscht.

Über höhere und niedere Kritik (§§ 110-124)
§ 110. Die protestantische Kirche muss Anspruch darauf machen, in der genaueren Bestimmung des Kanon noch immer begriffen zu sein; und dies ist die höchste exegetisch-theologische Aufgabe für die höhere Kritik.
Der neutestamentische Kanon hat seine jetzige Gestalt erhalten durch, wenngleich nicht genau anzugebende, noch in einem einzelnen Akt nachzuweisende Entscheidung der Kirche, welcher wir ein über alle Prüfung erhobenes Ansehen nicht zugestehen, und daher berechtigt sind, an das frühere Schwanken neue Untersuchungen anzuknüpfen. Die höchste Aufgabe ist diese, weil es wichtiger ist zu entscheiden, ob eine Schrift kanonisch ist oder nicht, als ob sie diesem oder einem andern Verfasser angehört, wobei sie immer noch kanonisch sein kann.

§ 111. Die Kritik hat beiderlei Untersuchungen anzustellen, ob nicht im Kanon Befindliches genau genommen unkanonisch, und ob nicht außer demselben Kanonisches unerkannt vorhanden sei.
Noch neuerlich ist eine Untersuchung der letzten Art im Gange gewesen; die von der ersten haben eigentlich nie aufgehört.

§ 112. Beide Aufgaben gelten nicht nur für ganze Bücher, sondern auch für einzelne Abschnitte und Stellen derselben.
Ein unkanonisches Buch kann neue kanonische Stellen enthalten; so wie das meiste, was einem kanonischen Buch von späterer Hand eingeschoben ist, Unkanonisches sein wird.

§ 113. Wie die höhere Kritik ihre Aufgabe großenteils nur durch Annäherung löset, und es keinen andern Maßstab gibt für die Tüchtigkeit eines Ausspruches, als die Kongruenz der innern und äußern Zeichen: so kommt es auch hier nur darauf an, wie bestimmt äußere Zeichen darauf hindeuten, dass ein fragliches Stück entweder dem späteren Zeitraum der apostolischen Väter oder dem vom Mittelpunkt der Kirche entfernten Gebiet der apokryphischen Behandlung angehöre, und innere darauf, dass es nicht in genauem Zusammenhang mit dem Wesentlichen der kanonischen Darstellung aufgefasst und gedacht sei.
Solange noch beiderlei Zeichen gegeneinander streiten, oder in jeder Gattung einige auf dieser, andere aber auf jener Seite stehen, ist keine kritische Entscheidung möglich. - Dass hier unter dem Mittelpunkt der Kirche weder irgend eine Räumlichkeit, noch auch eine amtliche Würde zu verstehen sei, sondern nur die Vollkommenheit der Gesinnung und Einsicht, bedarf wohl keiner Erörterung.

§ 114. Die Kritik könnte beiderlei ausgemittelt und mit vollkommner Sicherheit, was kanonisch sei, und was nicht, neu und anders bestimmt haben, ohne dass deshalb notwendig wäre, den Kanon selbst anders einzurichten.
Notwendig wäre es nicht, weil das Unkanonische doch als solches kann anerkannt werden, wenn es auch seine alte Stelle behält, und ebenso das erwiesen Kanonische, wenn es auch außerhalb des Kanons bliebe. Zulässig aber müsste es dann sein, den Kanon in zweierlei Gestalt zu haben, in der geschichtlich überlieferten und in der kritisch ausgemittelten.

§ 115. Dasselbe gilt von der Stellung der alttestamentischen Bücher in unserer Bibel.
Dass der jüdische Kodex keine normale Darstellung eigentümlich christlicher Glaubenssätze enthalte, wird wohl bald allgemein anerkannt sein. Deshalb aber ist nicht nötig - wiewohl es auch zulässig bleiben muss - von dem altkirchlichen Gebrauch abzuweichen, der das Alte Testament mit dem Neuen zu einem Ganzen als Bibel vereinigt.

§ 116. Die Vervielfältigung der neutestamentischen Bücher aus ihren Urschriften musste denselben Schicksalen unterworfen sein, wie die aller andern alten Schriften.
Der Augenschein hat alle Vorurteile, welche hierüber ehedem geherrscht haben, längst schon zerstört.

§ 117. Auch die übergroße Menge und Verschiedenheit unserer Exemplare von den meisten dieser Bücher gewährt keine Sicherheit dagegen, dass nicht dennoch die ursprüngliche Schreibung an einzelnen Stellen kann verloren gegangen sein.
Denn dieser Verlust kann sehr zeitig, ja schon bei der ersten Abschrift erfolgt sein, und zwar möglicherweise auch so, dass dies nicht wieder gut gemacht werden konnte.

§ 118. Die definitive Aufgabe der niederen Kritik, die ursprüngliche Schreibung überall möglichst genau und auf die überzeugendste Weise auszumitteln, ist auf dem Gebiet der exegetischen Theologie ganz dieselbe wie anderwärts.
Die Ausdrücke niedere und höhere Kritik werden hier hergebrachtermaßen gebraucht, ohne weder ihre Angemessenheit rechtfertigen, noch ihre Abgrenzung gegeneinander genauer bestimmen zu wollen.

§ 119. Der neutestamentische Kritiker hat also auch, so wie die Pflicht, denselben Regeln zu folgen, so auch das Recht auf den Gebrauch derselben Mittel.
Weder kann es daher verboten sein, im Fall der Not (vgl. § 117) Vermutungen zu wagen, noch kann es besondere Regeln geben, die nicht aus den gemeinsamen müssten abgeleitet werden können.

§ 120. In demselben Maß, als die Kritik ihre Aufgabe löst, muss sich auch eine genaue und zusammenhängende Geschichte des neutestamentischen Textes ergeben und umgekehrt, so dass eines dem andern zur Probe und Gewährleistung dient.
Selbst was auf dem Wege der Vermutung Richtiges geleistet wird, muss sich auf Momente der Textgeschichte berufen können, und umgekehrt müssen auch wieder schlagende Verbesserungen die Geschichte des Textes erläutern.

§ 121. Für die theologische Abzweckung der Beschäftigung mit dem Kanon hat die Wiederherstellung des Ursprünglichen nur da unmittelbaren Wert, wo der normale Gehalt irgendwie beteiligt ist.
Keineswegs aber soll dies etwa auf so genannte dogmatische Stellen beschränkt werden, sondern sich auf alles erstrecken, was für solche auf irgend eine Weise als Parallele oder Erläuterung gebraucht werden kann.

§ 122. Dies begründet den, da die kritische Aufgabe ein Unendliches ist, hier notwendig aufzustellenden Unterschied zwischen dem, was von jedem Theologen zu fordern ist, und dem Gebiet der Virtuosität.
Die Forderung gilt eigentlich nur für den protestantischen Theologen; denn der römisch-katholische hat streng genommen das Recht, zu verlangen, dass ihm die Vulgata, ohne dass eine kritische Aufgabe übrig bleibe, geliefert werde.

§ 123. Da jeder Theologe - auch im weiteren Sinne des Wortes - um der Auslegung willen (vgl. § 89) in den Fall kommen kann (vgl. § 121), auch einer kritischen Überzeugung zu bedürfen: so muss jeder, um sich die Arbeiten der Virtuosen selbsttätig anzueignen und zwischen ihren Resultaten zu wählen, sowohl die hier zur Anwendung kommenden kritischen Grundsätze und Regeln inne haben, als auch eine allgemeine Kenntnis von den wichtigsten kritischen Quellen und ihrem Wert.
Eine notdürftige Anleitung hiezu findet sich teils in den Prolegomenen der kritischen Ausgaben, teils wird sie auch unter jenem Mancherlei mitgegeben, welches man Einleitung ins N. Test. zu nennen pflegt.

§ 124. Von jedem Virtuosen der neutestamentischen Kritik ist alles zu fordern, was dazu gehört, sowohl den Text vollständig und folgerecht überall nach gleichen Grundsätzen zu konstituieren, als auch einen kritischen Apparat richtig und zweckmäßig anzuordnen.
Dies sind rein philologische Aufgaben. Es ist aber nicht leicht zu denken, dass ein Philologe ohne Interesse am Christentum seine Kunst daran wenden sollte, sie für das Neue Testament zu lösen, da dieses an sprachlicher Wichtigkeit hinter andern Schriften weit zurücksteht. Sollte es indes jemals der Theologie an solchen Virtuosen fehlen: so gäbe es auch keine Sicherheit mehr für dasjenige, was für die theologische Abzweckung dieses Studiums geleistet werden muss.

Über die sprachlichen Grundlagen der Bibelwissenschaft (§§ 125-131)
§ 125. Bei allem Bisherigen (§§ 116-124) liegt die Voraussetzung zum Grunde, dass eigene Auslegung nur derjenige bilden kann, welcher mit dem Kanon in seiner Grundsprache umgeht.
Die kritische Aufgabe hätte sonst nur einen Wert für den Übersetzer, und zwar auch nur in dem § 121 beschriebenen Umfang.

§ 126. Da auch die meisterhafteste Übersetzung nicht vermag die Irrationalität der Sprachen aufzuheben: so gibt es kein vollkommenes Verständnis einer Rede oder Schrift anders als in ihrer Ursprache.
Unter Irrationalität wird nur dieses Bekannte verstanden, dass weder ein materielles Element, noch ein formelles der einen Sprache ganz in einem der andern aufgeht. Daher kann eine Rede oder Schrift vermittelst einer Übersetzung, mithin auch die Übersetzung selbst als solche, nur demjenigen vollkommen verständlich sein, der sie auf die Grundsprache zurückzuführen weiß.

§ 127. Die Ursprache der neutestamentischen Bücher ist die griechische; vieles (nach § 121) Wichtige aber ist teils unmittelbar als Übersetzung aus dem Aramäischen anzusehen, teils hat das Aramäische mittelbaren Einfluss darauf geübt.
Die früheren Behauptungen, dass einzelne Bücher ursprünglich aramäisch geschrieben seien, sind schwerlich mehr zu berücksichtigen. Vieles aber von dem, was als Rede oder Gespräch aufbewahrt worden, ist ursprünglich aramäisch gesprochen. Der mittelbare Einfluss ist die unter dem Namen des Hebräismus bekannte Sprachmodifikation.

§ 128. Schon die vielfältigen direkten und indirekten, in neutestamentischen Büchern auf alttestamentische genommenen Beziehungen machen eine genauere Bekanntschaft mit diesen Büchern, also auch in ihrer Grundsprache, notwendig.
Umso mehr, als diese sich zum Teil auf sehr wichtige Sätze beziehen, worüber die Auslegung selbst gebildet sein muss, mithin auch. ein richtiges Urteil über das Verhältnis der gemeinen griechischen Übersetzung des Alten Testaments zur Grundsprache unerlässlich ist.

§ 129. Je geringer die Verbreitung und die Produktivität einer Mundart ist, um desto weniger ist sie anders, als im Zusammenhange mit allen ihr verwandten ganz verständlich. Welches, auf das Hebräische angewendet, für das vollkommenste Verständnis des Kanon auch eine hinreichende Kenntnis aller semitischen Dialekte in Anspruch nimmt.
Von jeher ist daher auch das Arabische und Rabbinische für die Erklärung der Bibel zugezogen worden.

§ 130.
Diese Forderung, welche vielerlei der Abzweckung unserer theologischen Studien unmittelbar ganz Fremdes in sich schließt, ist indes nur an diejenigen zu stellen, welche es in der exegetischen Theologie zur Meisterschaft bringen wollen, und zwar in dieser bestimmten Beziehung.
Von dieser rein philologischen Richtung gilt dasselbe, was zu § 124 gesagt worden ist.

§ 131. Jedem Theologen aber ist aus dem Gebiet der Sprachkunde zuzumuten eine gründliche Kenntnis der griechischen, vornehmlich prosaischen Sprache in ihren verschiedenen Entwicklungen, die Kenntnis beider alttestamentischen Grundsprachen, und vermittelst derselben eine klare Anschauung von dem Wesen und Umfang des neutestamentischen Hebräismus; endlich, um die Arbeiten der Virtuosen zu benutzen, außer einer Bekanntschaft mit der Literatur des ganzen Faches, besonders ein selbstgebildetes Urteil über das Zuviel und Zuwenig, das Natürliche und das Erkünstelte in der Anwendung des Orientalischen.
Denn hierin ist aus Liebhaberei von den einen, aus Vorurteil von den andern, immer wieder nach beiden Seiten hin gefehlt worden.

Ideen und Prinzipien der biblischen Hermeneutik (§§ 132-139)
§ 132. Das vollkommne Verstehen einer Rede oder Schrift ist eine Kunstleistung, und erheischt eine Kunstlehre oder Technik, welche wir durch den Ausdruck Hermeneutik bezeichnen.
Kunst, schon in einem engeren Sinne, nennen wir jede zusammengesetzte Hervorbringung, wobei wir uns allgemeiner Regeln bewusst sind, deren Anwendung im einzelnen nicht wieder auf Regeln gebracht werden kann. Mit Unrecht beschränkt man gewöhnlich den Gebrauch der Hermeneutik nur auf größere Werke oder schwierige Einzelheiten. Die Regeln können nur eine Kunstlehre bilden, wenn sie aus der Natur des ganzen Verfahrens genommen sind, und also auch das ganze Verfahren umfassen.

§ 133. Eine solche Kunstlehre ist nur vorhanden, sofern die Vorschriften ein auf unmittelbar aus der Natur des Denkens und der Sprache klaren Grundsätzen beruhendes System bilden.
So lange die Hermeneutik noch als ein Aggregat von einzelnen, wenn auch noch so feinen und empfehlenswerten Beobachtungen, allgemeinen und besonderen, behandelt wird, verdient sie den Namen einer Kunstlehre noch nicht.

§ 134.
Die protestantische Theologie kann keine Vorstellung vom Kanon aufnehmen, welche bei der Beschäftigung mit demselben die Anwendung dieser Kunstlehre ausschlösse.
Denn dies könnte nur geschehen, wenn man irgendwie ein wunderbar inspiriertes vollkommenes Verständnis desselben annähme.

§ 135. Die neutestamentischen Schriften sind sowohl des inneren Gehaltes, als der äußeren Verhältnisse wegen von besonders schwieriger Auslegung.
Das erste, weil die Mitteilung eigentümlicher, sich erst entwickelnder religiöser Vorstellungen in der abweichenden Sprachbehandlung nichtnationaler Schriftsteller zum großen Teil aus einer minder gebildeten Sphäre sehr leicht missverstanden werden kann. Letzteres weil die Umstände und Verhältnisse, welche den Gedankengang modifizieren, uns großenteils unbekannt sind, und erst aus den Schriften selbst müssen erraten werden.

§ 136. Sofern nun der neutestamentische Kanon vermöge der eigentümlichen Abzweckung der exegetischen Theologie als Ein Ganzes soll behandelt werden, an und für sich betrachtet aber jede einzelne Schrift ein eignes Ganze ist, kommt noch die besondere Aufgabe hinzu, diese beiden Behandlungsweisen gegeneinander auszugleichen und miteinander zu vereinigen.
Die gänzliche Ausschließung des einen oder andern dieser Standpunkte, wie sie aus entgegengesetzten theologischen Einseitigkeiten folgt, hat zu allen Zeiten Irrtümer und Verwirrungen in das Geschäft der Auslegung gebracht.

§ 137. Die neutestamentische Spezialhermeneutik kann nur aus genaueren Bestimmungen der allgemeinen Regeln in Bezug auf die eigentümlichen Verhältnisse des Kanon bestehen.
Sie kann um so mehr nur allmählich zu der strengeren Form einer Kunstlehre ausgebildet werden, als sie zu einer Zeit gegründet wurde, wo auch die allgemeine Hermeneutik nur noch als eine Sammlung von Observationen bestand.

§ 138. Die Kunstlehre der Auslegung kann auf zweifache Weise gestaltet werden, ist aber in jeder Fassung der eigentliche Mittelpunkt der exegetischen Theologie.
Die allgemeine Hermeneutik kann entweder ganz hervortreten, so dass das Spezielle nur als Korollarien erscheint, oder umgekehrt kann das Spezielle zusammenhängend organisiert und auf die allgemeinen Grundsätze dann nur zurückgewiesen werden. - Die Ausübung ist zwar allerdings durch Sprachkunde und Kritik bedingt; aber die Grundsätze selbst haben den entschiedensten Einfluss, sowohl auf die Operationen der Kritik, als auch auf die feineren Wahrnehmungen in der Sprachkunde.

§ 139. Daher gibt es auch hier nichts, weshalb sich einer auf andere verlassen dürfte: sondern jeder muss sich der möglichsten Meisterschaft befleißigen.
Je mehr der Gegenstand schon bearbeitet ist, um desto weniger darf sich diese gerade in neueren Auslegungen zeigen wollen.

Allgemeine Schlussbemerkungen (§§ 140-148)
§ 140. Keine Schrift kann vollkommen verstanden werden, als nur im Zusammenhang mit dem gesamten Umfang von Vorstellungen, aus welchem sie hervorgegangen ist, und vermittelst der Kenntnis aller Lebensbeziehungen, sowohl der Schriftsteller, als derjenigen, für welche sie schrieben.
Denn jede Schrift verhält sich zu dem Gesamtleben, wovon sie ein Teil ist, wie ein einzelner Satz zu der ganzen Rede oder Schrift.

§ 141. Der geschichtliche Apparat zur Erklärung des Neuen Testamentes umfasst daher die Kenntnis des älteren und neueren Judentums, sowie die Kenntnis des geistigen und bürgerlichen Zustandes in den Gegenden, in welchen und für welche die neutestamentischen Schriften verfasst wurden.
Daher sind die altteatamentischen Bücher zugleich das allgemeinste Hilfsbuch zum Verständnis des Neuen Testamentes, nächstdem die alttestamentischen und neutestamentischen Apokryphen, die späteren jüdischen Schriftsteller überhaupt, sowie die Geschichtsschreiber und Geographen dieser Zeit und Gegend. Alle diese wollen ebenfalls in ihrer Grundsprache kritisch und nach den hermeneutischen Regeln gebraucht werden.

§ 142. Viele von diesen Hilfsquellen sind bis jetzt noch weder in möglichster Vollständigkeit, noch mit der gehörigen Vorsicht gebraucht worden.
Beides gilt besonders von den gleichzeitigen und späteren jüdischen Schriften.

§ 143. Dieser Gesamtapparat nimmt also noch auf lange Zeit die Tätigkeit vieler Theologen in Anspruch, um die bisherigen Arbeiten der Meister dieses Fachs zu berichtigen und zu ergänzen.
Von einer andern Seite gehen diese Arbeiten in die Apologetik zurück, indem die Gegner des Christentums sich immer wieder die Aufgabe stellen, es ganz ans dem, was schon gegeben war, und zwar nicht immer als Fortschritt und Verbesserung, zu erklären. Hierher gehört aber nur die reine und vollständige Zubereitung des geschichtlichen Materials.

§ 144. Was sich hievon zum Gemeinbesitz eignet, wird, teils unter dem Titel jüdischer und christlicher Altertümer, teils mit vielerlei anderem verbunden, in der so genannten Einleitung zum Neuen Testament mitgeteilt.
In der letzteren, die überhaupt wohl einer Umgestaltung bedürfte, wird noch manches vermisst, was doch vorzüglich nach § 141 hierher gehört, weil man es zur Lesung des Neuen Testamentes mitbringen muss. - Was sich jeder von den Virtuosen dieses Fachs geben lassen kann, findet sich teils in Sammlungen aus einzelnen Quellen, teils in Kommentaren zu den einzelnen neutestamentischen Büchern.

§ 145. Die Hauptaufgabe der exegetischen Theologie ist noch keineswegs als vollkommen aufgelöst anzusehen.
Selbst wenn man abrechnet, dass es einzelne Stellen gibt, die teils nie werden mit vollkommener Sicherheit berichtigt, teils nie zu allgemeiner Befriedigung erklärt werden.

§ 146. Auch für die hierher gehörigen Hilfskenntnisse besteht die doppelte Aufgabe fort, das Materiale immer mehr zu vervollständigen, und von dem Verarbeiteten immer mehr in Gemeinbesitz zu verwandeln.
Schon das erste Studium unter der Anleitung der Meister muss nicht nur den Grund zu dem letzten legen, und vermittelst desselben die Ausübung der Kunstlehre gemäß beginnen, sondern auch die verschiedenen einzelnen Gebiete in Bezug auf die darin noch zu erwerbende Meisterschaft wenigstens aufschließen.

§ 147. Eine fortgesetzte Beschäftigung mit dem neutestamentischen Kanon, welche nicht durch eigenes Interesse am Christentum motiviert wäre, könnte nur gegen denselben gerichtet sein.
Denn die rein philologische und historische Ausbeute, die der Kanon verspricht, ist nicht reich genug, um zu einem solchen zu reizen. Aber auch die Untersuchungen der Gegner (vgl. § 143) sind sehr förderlich geworden und werden es auch in Zukunft werden.

§ 148.
Jede Beschäftigung mit dem Kanon ohne philologischen Geist und Kunst muss sich in den Grenzen des Gebietes der Erbauung halten; denn in dem der Theologie könnte sie nur durch pseudodogmatische Tendenz Verwirrung anrichten.
Denn ein reines und genaues Verstehenwollen kann bei einem solchen Verfahren nicht zum Grunde liegen.

Zweiter Abschnitt.
Die historische Theologie im engeren Sinn oder die Kirchengeschichte.
Die allgemeinen Prinzipien der Geschichtswissenschaft (§§ 149-159)
§ 149. Die Kirchengeschichte im weiteren Sinne (vgl. § 90) ist das Wissen um die gesamte Entwicklung des Christen¬tums, seitdem es sich als geschichtliche Erscheinung festgestellt hat.
Was dasselbe abgesehen hievon nach außen hin gewirkt hat, gehört nicht mit in dieses Gebiet.

§ 150. Jede geschichtliche Masse lässt sich auf der einen Seite ansehen als Ein untrennbares werdendes Sein und Tun, auf der andern als ein Zusammengesetztes aus unendlich vielen einzelnen Momenten. Die eigentlich geschichtliche Betrachtung ist das Ineinander von beiden.
Das eine ist nur der eigentümliche Geist des Ganzen, in seiner Beweglichkeit angeschaut, ohne dass sich bestimmte Tatsachen sondern; das andere nur die Aufzählung der Zustände in ihrer Verschiedenheit, ohne dass sie in der Identität des Impulses zusammengefasst werden. Die geschichtliche Betrachtung ist beides, das Zusammenfassen eines Inbegriffs von Tatsachen in Ein Bild des Innern, und die Darstellung des Innern in dem Auseinandertreten der Tatsachen.

§ 151. So ist auch jede Tatsache nur eine geschichtliche Einzelheit, sofern beides identisch gesetzt wird, das Äußere, Veränderung im Zugleichseienden, und das Innere, Funktion der sich bewegenden Kraft.
Das Innere ist in diesem Ausdruck als Seele gesetzt, das Äußere als Leib, das Ganze mithin als ein Leben.

§ 152.
Das Wahrnehmen und Im-Gedächtnis-Festhalten der räumlichen Veränderungen ist eine fast nur mechanische Verrichtung, wogegen die Konstruktion einer Tatsache, die Verknüpfung des Äußeren und Inneren zu einer geschichtlichen Anschauung, als eine freie geistige Tätigkeit anzusehen ist.
Daher auch, was mehrere ganz als dasselbe wahrgenommen, sie doch als Tatsache verschieden auffassen.

§ 153. Die Darstellung der räumlichen Veränderungen als solcher in ihrer Gleichzeitigkeit und Folge ist nicht Geschichte, sondern Chronik; und eine solche von der christlichen Kirche könnte sich nicht als eine theologische Disziplin geltend machen.
Denn sie gäbe von dem Gesamtverlauf dasjenige nicht, was in einer Beziehung zur Kirchenleitung steht.

§ 154. Nur der Stetigkeit wegen müssen auch in die geschichtliche Auffassung solche Ereignisse mit aufgenommen werden, die eigentlich nicht als geschichtliche Elemente anzusehen sind.
Dahin gehört der Wechsel der Personen, welche an ausgezeichneten Stellen wirksam waren, wenn auch ihre persönliche Eigentümlich¬keit keinen merklichen Einfluss auf ihre öffentlichen Handlungen gehabt hat.

§ 155. Die geschichtliche Auffassung ist ein Talent, welches sich in jedem durch das eigne geschichtliche Leben, wiewohl in verschiedenem Grade, entwickelt, niemals aber jener mechanischen Fertigkeit ganz entbehren kann.
Wie im gemeinen Leben, so auch im wissenschaftlichen Gebiet verfälscht ein aufgeregtes selbstisches Interesse, mithin auch jedes Parteiwesen, am meisten den geschichtlichen Blick.

§ 156. Zu dem geschichtlichen Wissen um das nicht Selbsterlebte gelangt man auf zwiefachem Wege, unmittelbar, aber mühsam zusammenschauend, durch die Benutzung der Quellen, leicht, aber nur mittelbar, durch den Gebrauch geschichtlicher Darstellungen.
Nicht leicht wird es auf irgend einem geschichtlichen Gebiet möglich sein, auf dem der Kirchengeschichte aber gewiss nicht, der letzteren zu entraten.

§ 157. Quellen im engeren Sinn nennen wir Denkmäler und Urkunden, welche dadurch für eine Tatsache zeugen, dass sie selbst einen Teil derselben ausmachen.
Geschichtliche Darstellungen von Augenzeugen sind in diesem strengeren Sinn schon nicht mehr Quellen. Doch verdienen sie den Namen um so mehr, je mehr sie sich der Chronik nähern, und ganz anspruchslos nur das Wahrgenommene wiedergeben.

§ 158. Aus geschichtlichen Darstellungen kann man nur zu einer eigenen geschichtlichen Auffassung gelangen, indem man das von dem Schriftsteller Hineingetragene ausscheidet.
Dies wird erleichtert, wenn man mehrere Darstellungen derselben Reihe von Tatsachen vergleichen kann, um so mehr, wenn sie aus verschiedenen Gesichtspunkten genommen sind.

§ 159. Zu dem Wissen um einen Gesamtzustand, wie er ein Bild des Inneren (vgl. § 150) darstellt, gelangt man nur durch beziehende Verknüpfung einer Masse von zusammen¬gehörigen Einzelheiten.
Dies ist daher die größte, alles andere voraussetzende und in sich schließende Leistung der geschichtlichen Auffassungsgabe.

Die allgemeine Aufgabe der Kirchengeschichte
(§§ 160-165)
§ 160. Die Kirchengeschichte im weiteren Sinn (vgl. § 90) soll als theologische Disziplin vorzüglich dasjenige, was aus der eigentümlichen Kraft des Christentums hervorgegangen ist, von dem, was teils in der. Beschaffenheit der in Bewegung gesetzten Organe, teils in der Einwirkung fremder Prinzipien seinen Grund hat, unterscheiden, und beides in seinem Hervortreten und Zurücktreten zu messen suchen.
Nur war es eine sehr verfehlte Methode, um deswillen die Darstellung selbst zu teilen in die der günstigen und der ungünstigen Ereignisse.

§ 161. Von dem ersten Eintritt des Christentums an, also auch schon in der Zeit des Urchristentums, kann man verschiedene, selbst wieder mannigfaltig teilbare Funktionen dieses neuen wirksamen Prinzips unterscheiden, und auch in der geschichtlichen Darstellung voneinander sondern.
Auch dies gilt allgemein von allen bedeutenden geschichtlichen Erscheinungen, von allen religiösen Gemeinschaften nicht nur, sondern auch von den bürgerlichen.

§ 162. Keine von diesen Funktionen aber ist in ihrer Entwicklung ohne ihre Beziehung auf die anderen vollkommen zu verstehen; und jeder als ein relatives Ganze auszusondernde Zeitteil wird nur durch die Gegenseitigkeit ihrer Einwirkungen aufeinander, was er ist.
Denn die lebendige Kraft ist in jedem Momente ganz gesetzt, und kann daher nur ergriffen werden in der gegenseitigen Bedingtheit aller verschiedenen Funktionen.

§ 163.
Der Gesamtverlauf des Christentums kann also nur vollständig aufgefasst werden durch die. vielseitige Kombination beider Verfahrungsarten, indem jede, was der andern auf einem Punkte gefehlt hat, auf einem andern ergänzen muss.
Während wir nur die eine Funktion verfolgen, bleibt uns die Anschauung des Gesamtlebens aus den Augen gerückt, und wir müssen uns vorbehalten, diese nachzuholen. Während wir die gleichzeitigen Züge zu Einem Bilde zusammenschauen, vermögen wir nicht die einzelnen Elemente genau zu schätzen, und müssen uns vorbehalten, sie an dem gleichartigen Früheren und Späteren zu messen.

§ 164. Je mehr man die verschiedenen Funktionen bei der geschichtlichen Betrachtung ins Einzelne und Kleine zerspaltet, desto öfter muss man Punkte zwischeneinschieben, welche das getrennt Gewesene wieder vereinigen. Je größer die parallelen Massen genommen werden, desto länger kann man die Betrachtung der einzelnen ununterbrochen fortsetzen.
Die Perioden können also desto größer und müssen desto kleiner sein, je größere oder kleinere Funktionen man behandelt.

§ 165. Die wichtigsten Epochenpunkte indes sind immer solche, die nicht nur für alle Funktionen des Christentums den gleichen Wert haben, sondern auch für die geschichtliche Entwicklung außer der Kirche bedeutend sind.
Da die Erscheinung des Christentums selbst zugleich ein weltgeschichtlicher Wendepunkt ist: so kommen diesem andere auch nur in dem Maße nahe, als sie ihm hierin gleichen.

Die Außenseite der Kirchengeschichte (Kirchengeschichte im engeren Sinne; Verfassungsgeschichte) (§§ 166-176)
§ 166. Die Bildung der Lehre, oder das sich zur Klarheit bringende fromme Selbstbewusstsein, und die Gestaltung des gemeinsamen Lebens, oder der sich in jedem durch alle und in allen durch jeden befriedigende Gemeinschaftstrieb sind die beiden sich am leichtesten sondernden Funktionen in der Entwicklung des Christentums.
Dies gibt sich dadurch zu erkennen, dass auf der einen Seite große Veränderungen vor sich gehen, während auf der andern alles beim Alten bleibt, und für die eine Seite ein Zeitpunkt bedeutend ist als Entwicklungsknoten, der für die andere bedeutungslos erscheint.

§ 167.
Die Bildung des kirchlichen Lebens wird vorzüglich mitbestimmt (vgl. § 160) durch die politischen Verhältnisse und den gesamten geselligen Zustand; die Entwicklung der Lehre hingegen durch den gesamten wissenschaftlichen Zustand, und vorzüglich durch die herrschenden Philosopheme.
Dieses Mitbestimmtwerden ist natürlich und unvermeidlich, bedingt mithin nicht schon an und für sich krankhafte Zustände, enthält aber allerdings den Grund ihrer Möglichkeit. - Allgemeinere epochemachende Punkte, welche von einer neuen Entwicklung der Erkenntnis ausgehen, werden sich in der christlichen Kirche auch am meisten in der Geschichte der Lehre, solche hingegen, welche von Entwicklungen des bürgerlichen Zustandes ausgehen, werden sich auch am meisten in dem kirchlichen Leben kundgeben.

§ 168. Auf der Seite des kirchlichen Lebens sondern sich wiederum am leichtesten die Entwicklung des Kultus, d. h. der öffentlichen Mitteilungsweise religiöser Lebensmomente, und die Entwicklung der Sitte, d. h. des gemeinsamen Gepräges, welches der Einfluss des christlichen Prinzips den verschiedenen Gebieten des Handelns aufdrückt.
Der Kultus verhält sich zu der Sitte, wie das beschränktere Gebiet der Kunst im engeren Sinne zu dem unbestimmteren des geselligen Lebens überhaupt.

§ 169. Die Entwicklung des Kultus wird vorzüglich mitbestimmt durch die Beschaffenheit der dazu geeigneten, in der Gesellschaft vorhandenen Darstellungsmittel, und durch deren Verteilung in der Gesellschaft. Die Fortbildung der christlichen Sitte hingegen durch den Entwicklungs- und Verteilungszustand der geistigen Kräfte überhaupt.
Nämlich was das erste betrifft, so beruht die Mitteilung oder der Umlauf religiöser Erregungen, welcher nach denselben bewirkt werden soll, lediglich auf der Darstellung. Was das andere betrifft, so ruhen in diesem Zustand alle Motive, deren sich die religiöse Gesinnung bemächtigen soll.

§ 170. Beide aber, Sitte und Kultus, sind in ihrer Fortbildung auch so sehr aneinander gebunden, dass, wenn sie in dem Maß von Bewegung oder Ruhe zu sehr voneinander ab weichen, entweder der Kultus das Ansehen gewinnt, in leere Gebräuche oder Aberglauben ausgeartet zu sein, während das christliche Leben sich in der Sitte bewährt, oder umgekehrt ruht auf der herrschenden Sitte der Schein, dass sie, während die christliche Frömmigkeit sich durch den Kultus erhält, nur das Ergebnis fremder Motive darstelle.
In dieser verschiedenen Beurteilungsweise bekundet sich ein mit jener Ungleichmäßigkeit zusammenhängender innerer Gegensatz unter den Gliedern der Gemeinschaft.

§ 171. Je plötzlicher auf einem von beiden Gebieten bedeutende Veränderungen eintreten, nm desto mehreren Reaktionen sind sie ausgesetzt; wogegen nur die langsameren sich als gründlich bewähren.
Das erste versteht sich indes nur von solchen Veränderungen, die nicht zugleich auch mehrere Gebiete umfassen. Dergleichen werden daher leicht voreilig als epochemachende Punkte angesehen, da doch oft wenig Wirkungen von ihnen zurückbleiben.

§ 172. Langsame Veränderungen können nicht als fortlaufende Reihe aufgefasst, sondern nur an einzeln hervorzuhebenden Punkten zur Anschauung gebracht werden, welche die Fortschritte von einer Zeit zur andern darstellen.
Auch diese aber dürfen nicht willkürlich gewählt werden, sondern sie müssen, wenn auch nur in untergeordnetem Sinn, eine Ähnlichkeit haben mit epochemachenden Punkten.

§ 173. Die geschichtliche Auffassung ist auf diesem Gebiet desto vollkommener, je bestimmter das Verhältnis des christlichen Impulses zu der sittlichen und künstlerischen Konstitution der Gesellschaft vor Augen tritt, und je überzeugender, was der gesunden Entwicklung des religiösen Prinzips angehört, von dem Schwächlichen und Krankhaften geschieden wird.
Denn dadurch wird den Ansprüchen der Kirchenleitung an eine christliche Geschichtskunde genügt.

§ 174.
Die kirchliche Verfassung kann zumal in der evangelischen Kirche, wo es ihr an aller äußeren Sanktion fehlt, nur als dem Gebiet der Sitte angehörig betrachtet werden.
Dieser Satz liegt, recht verstanden, jenseits aller über das evangelische Kirchenrecht noch obwaltenden Streitigkeiten, und spricht nur den wesentlichen Unterschied zwischen bürgerlicher und kirchlicher Verfassung aus.

§ 175. Diejenigen größeren Entwicklungsknoten, welche außer der Kirche auch das bürgerliche Leben affizieren, werden sich in der Kirche am unmittelbarsten und stärksten in der Verfassung offenbaren.
Weil doch kein anderer Teil der christlichen Sitte so sehr (vgl. § 167) mit den politischen Verhältnissen zusammenhängt.

§ 176. Die kirchliche Verfassung ist am meisten dazu geeignet, dass sich an ihre Entwicklung die geschichtliche Darstellung des gesamten christlichen Lebens anreihe.
Denn sie hat den unmittelbarsten Einfluss auf den Kultus, verdankt ihre Haltung dem Gesamtzustand der Sitte, und ist zugleich der Ausdruck von dem Verhältnis der religiösen Gemeinschaft zur bürgerlichen.

Die Innenseite der Kirchengeschichte (Dogmengeschichte) (§§ 177-183)
§ 177. Der Lehrbegriff entwickelt sich einerseits durch die fortgesetzt auf das christliche Selbstbewusstsein in seinen verschiedenen Momenten gerichtete Betrachtung, andrerseits durch das Bestreben, den Ausdruck dafür immer übereinstimmender und genauer festzustellen.
Beide Richtungen hemmen sich gegenseitig, indem die eine nach außen geht, die andere nach innen. Daher charakterisieren sich verschiedene Zeiten durch das Übergewicht der einen oder der andern.

§ 178. Die Ordnung, in welcher hiernach die verschiedenen Punkte der Lehre hervortreten und die Hauptmassen der didaktischen Sprache sich gestalten, muss im großen wenigstens begriffen werden können aus dem eigentümlichen Wesen des Christentums.
Denn es wäre widernatürlich, wenn Vorstellungen, die diesem am nächsten verwandt sind, sich zuletzt entwickeln sollten.

§ 179. Nur in einem krankhaften Zustande der Kirche können einzelne persönliche oder gar außerkirchliche Verhältnisse einen bedeutenden Einfluss auf den Gang und die Ergebnisse der Beschäftigung mit dem Lehrbegriff ausüben.
Wenn dies dennoch nicht selten der Fall gewesen ist: so haben doch zumal neuere Geschichtsschreiber weit mehr, als der Wahrheit gemäß ist, auf Rechnung solcher Verhältnisse geschrieben.

§ 180. Je weniger die Entwicklung des Lehrbegriffs frei bleiben kann von Schwanken und Zwiespalt: um desto mehr tritt auch das Bestreben hervor, teils die Übereinstimmung eines Ausdrucks mit den Äußerungen des Urchristentums nachzuweisen, teils ihn auf anderweitig zugestandene, nicht aus dem christlichen Glauben erzeugte Sätze, die dann Philosopheme sein werden, zurückzuführen.
Beides würde, wiewohl später und nicht in demselben Maße, geschehen, wenn auch kein Streit obwaltet; denn zu jenem treibt schon der christliche Gemeingeist, zu dem andern das Bedürfnis, sich von der Zusammenstimmung des zur Klarheit gekommenen frommen Selbstbewusstseins und der spekulativen Produktion zu überzeugen.

§ 181. Nur in einem krankhaften Zustande kan
n beides so gegeneinander treten, dass die einen nicht wollen über die urchristlichen Äußerungen hinaus die Lehre bestimmen, die andern philosophische Sätze in die christliche Lehre einführen, ohne auch nur durch Beziehung auf den Kanon nachweisen zu wollen, dass sie auch dem christlichen Bewusstsein angehören.
Jene wirken hemmend auf die Entwicklung der Lehre, diese trüben und verfälschen ebenso das Prinzip derselben.

§ 182. Die Änderungen, welche das Verhältnis beider Richtungen erleidet, zu kennen, gehört wesentlich zum Verständnis der Entwicklung der Lehre.
Nur zu oft erhält man durch Verabsäumung solcher Momente nur eine Chronik statt der Geschichte, und die theologische Abzweckung der Disziplin geht ganz verloren.

§ 183. Eben so wichtig ist, Kenntnis zu nehmen von dem Verhältnis in den Bewegungen der theoretischen Lehren und der praktischen Dogmen, und, wo sie weit auseinander gehen, ist es natürlich, die eigentliche Dogmengeschichte zu trennen von der Geschichte der christlichen Sittenlehre.
Im ganzen ist allerdings die eigentliche Glaubenslehre durch vielfältigere und heftigere Bewegungen gebildet worden; doch darf die entgegengesetzte Richtung um so weniger übersehen werden.

Zur Methode des kirchengeschichtlichen Studiums (§§ 184-194)
§ 184. Bedenken wir, wieviel Hilfskenntnisse erfordert werden, um diese verschiedenen Zweige der Kirchengeschichte zu verfolgen: so ist dieses Gebiet offenbar ein unendliches, und postuliert einen großen Unterschied zwischen dem, was jeder inne haben muss, und dem, was (vgl. § 92) nur durch die Vereinigung aller Virtuosen gegeben ist.
Zu diesen Hilfskenntnissen gehört, wenn alles im Zusammenhang verstanden werden soll, die gesamte irgend zeitverwandte Geschichtskunde, und, wenn alles aus den Quellen entnommen werden soll, das ganze betreffende philologische Studium und vornehmlich die diplomatische Kritik.

§ 185. Im allgemeinen kann nur gesagt werden, dass aus diesem unendlichen Umfang jeder Theologe dasjenige inne haben muss, was mit seinem selbständigen Anteil an der Kirchenleitung znsammen hängt.
Diese dem Anschein nach sehr beschränkte Formel setzt aber voraus, dass jeder außer seiner bestimmten lokalen Tätigkeit auch einen allgemeinen, wenn gleich in seinen Wirkungen nicht bestimmt nachzuweisenden Einfluss auszuüben strebt.

§ 186. Wie nun der jedesmalige Zustand, aus welchem ein neuer Moment entwickelt werden soll, nur aus der gesamten Vergangenheit zu begreifen ist, zunächst aber doch der letzten epochemachenden Begebenheit angehört: so ist die richtige Anschauung von dieser, durch alle früheren Hauptrevolutionen nach Maßgabe ihres Zusammenhanges mit derselben deutlich gemacht, das erste Haupterfordernis.
Dass hier keine besondere Rücksicht darauf genommen werden kann, ob der gegenwärtige Moment schon mehr die künftige Epoche vorbereitet, liegt am Tage; denn dies selbst muss zunächst aus seinem Verhältnis zur letzten beurteilt werden.

§187. Damit aber dieses nicht eine Reihe einzelner Bilder ohne Zusammenhang bleibe, müssen sie verbunden werden durch das nicht dürftig ausgefüllte Netz (vgl. § 91) der Hauptmomente aus jedem kirchengeschichtlichen Zweige in jeder Periode.
Und dieses muss als Fundament selbständiger Tätigkeit auch ein womöglich aus verschiedenartigen Darstellungen Zusammengeschautes sein.

§ 188. Zu einer lebendigen, auch als Impuls kräftigen, geschichtlichen Anschauung gedeiht aber auch dieses nur, wenn der ganze Verlauf zugleich (vgl. § 150) als die Darstellung des christlichen Geistes in seiner Bewegung aufgefasst, mithin alles auf Ein Inneres bezogen wird.
Erst unter dieser Form kann die Kenntnis des Gesamtvorlaufs auf die Kirchenleitung einwirken.

§ 189. Jede lokale Einwirkung erfordert eine genauere und, nach Maßgabe des Zusammenhanges mit der Gegenwart, der Vollständigkeit annähernde Kenntnis dieses besonderen Gebietes.
Die Regel modifiziert sich von selbst nach dem Umfang der Lokalität, indem die kleinste einer einzelnen Gemeine oft in dem Fall ist, eine besondere Geschichte nicht zu haben, sondern nur als Teil eines größeren Ganzen gelten zu können.

190. Jeder muss auch wenigstens an einem kleinen Teil der Geschichte sich im eigenen Aufsuchen und Gebrauch der Quellen üben.
Sei es nun, dass er nur beim Studium genau und beharrlich auf die Quellen zurückgehe, oder dass er selbständig aus den Quellen zusammensetze. Sonst möchte einem schwerlich auch nur so viel historische Kritik zu Gebote stehen, als zum richtigen Gebrauch abweichender Darstellungen erfordert wird.

§ 191. Eine über diesen Maßstab hinausgehende Beschäftigung mit der Kirchengeschichte muss neue Leistungen beabsichtigen.
Nichts ist unfruchtbarer, als eine Anhäufung von geschichtlichem Wissen, welches weder praktischen Beziehungen dient, noch sich anderen in der Darstellung hingibt.

§ 192. Diese können sowohl auf Berichtigung oder Vervollständigung des Materials, als auch auf größere Wahrheit und Lebendigkeit der Darstellung gehen.
Die Mängel in allen diesen Beziehungen sind noch leicht zu erklären.

§ 193. Das kirchliche Interesse und das wissenschaftliche können bei der Beschäftigung mit der Kirchengeschichte nicht in Widerspruch miteinander geraten.
Da wir uns bescheiden, für andere keine Regeln zu geben, beschränken wir den Satz auf unsere Kirche, welcher, als einer forschenden und sich selbst fortbildenden Gemeinschaft, auch die vollkommenste Unparteilichkeit nicht zum Nachteil gereichen, sondern nur förderlich sein kann. Darum darf auch das lebhafteste Interesse der evangelischen Theologen an seiner Kirche doch weder seiner Forschung, noch seiner Darstellung Eintrag tun. Und ebensowenig ist zu fürchten, dass die Resultate der Forschung das kirchliche Interesse schwächen werden; sie können ihm im schlimmsten Fall nur den Impuls geben, zur Beseitigung der erkannten Unvollkommenheiten mitzuwirken.

§ 194. Die kirchengeschichtlichen Arbeiten eines jeden müssen teils aus seiner Neigung hervorgehen, teils durch die Gelegenheiten bestimmt werden, die sich ihm darbieten.
Ein lebhaftes theologisches Interesse wird immer die erste den letzten zuzuwenden, oder für erstere auch die letztere herbeizuschaffen wissen.

Dritter Abschnitt.
Die geschichtliche Kenntnis von dem gegenwärtigen Zustande des Christentums

Einleitung
§ 195. Wir haben es hier zu tun (vgl. § 94-97) mit der dogmatischen Theologie, als der Kenntnis der jetzt in der evangelischen Kirche geltenden Lehre, und mit der kirchlichen Statistik, als der Kenntnis des gesellschaftlichen Zustandes in allen verschiedenen Teilen der christlichen Kirche.
Der hier der dogmatischen Theologie angewiesene Ort, welche sonst auch unter dem Namen der systematischen Theologie eine ganz andere Stelle einnimmt, muss sich selbst vermittelst der weiteren Ausführung rechtfertigen. Hier ist nur nachzuweisen, dass die beiden genannten Disziplinen die Überschrift in ihrem ganzen Umfang erschöpfen. Dies erhellt daraus, dass es eigentlich in der Kirche, wie sie ganz Gemeinschaft ist, nichts zu erkennen gibt, was nicht ein Teil ihres gesellschaftlichen Zustandes wäre. Die Lehre ist nur aus diesem, weil ihre Darstellung einer eigentümlichen Behandlung fähig und bedürftig ist, herausgenommen. Dies konnte allerdings mit anderen Teilen des gesellschaftlichen Zustandes auch geschehen; solche sind aber noch nicht als theologische Disziplinen besonders bearbeitet. Kann aber in Zeiten, wo die Kirche geteilt ist, (nach § 98) nur jede einzelne Kirchengemeinschaft ihre eigene Lehre dogmatisch bearbeiten: so fragt sich, wie kommt der evangelische Theologe zur Kenntnis der in andern christlichen Kirchengemeinschaften geltenden Lehre, und welchen Ort kann unsere Darstellung dazu anweisen? Am unmittelbarsten durch die dogmatischen Darstellungen, welche sie selbst davon geben, die aber für ihn mir geschichtliche Berichte werden. Der Ort aber in unserer Darstellung ist die bis auf den gegenwärtigen Moment verfolgte Geschichte der christlichen Lehre, für welche jene Darstellungen die echten Quellen sind. Aber auch die Statistik kann bei jeder Gemeinschaft einen besonderen Ort haben für die Lehre derselben.

I. Die dogmatische Theologie.
Begriff und Aufgabe der Dogmatik (§§ 196-202)
§ 196. Eine dogmatische Behandlung der Lehre ist weder möglich ohne eigne Überzeugung, noch ist notwendig, dass alle, die sich auf dieselbe Periode derselben Kirchengemeinschaft beziehen, unter sich übereinstimmen.
Beides könnte man daraus schließen wollen, dass sie es nur (vgl. §§ 97 und 98) mit der zur gegebenen Zeit geltenden Lehre zu tun habe. Allein wer von dieser nicht überzeugt ist, kann zwar über dieselbe, und auch über die Art, wie der Zusammenhang darin gedacht wird, Bericht erstatten, aber nicht diesen Zusammenhang durch seine Aufstellung bewähren. Nur dieses letzte aber macht die Behandlung zu einer dogmatischen; jenes ist nur eine geschichtliche, wie einer und derselbe sie bei gehöriger Kenntnis auf die gleiche Weise von allen Systemen geben kann. - Die gänzliche Übereinstimmung aber ist in der evangelischen Kirche deshalb nicht notwendig, weil auch zu derselben Zeit bei uns Verschiedenes nebeneinander gilt. Alles nämlich ist als geltend anzusehen, was amtlich behauptet und vernommen wird, ohne amtlichen Widerspruch zu erregen. Die Grenzen dieser Differenz sind daher allerdings nach Zeit und Umständen weiter und enger gesteckt.

§ 197. Weder eine bewährende Aufstellung eines Inbegriffs von überwiegend abweichenden und nur die Überzeugung des einzelnen ausdrückenden Sätzen würden wir eine Dogmatik nennen, noch auch eine solche, die in einer Zeit auseinander gehender Ansichten nur dasjenige aufnehmen wollte, worüber gar kein Streit obwaltet.
Das erste wird niemand in Abrede stellen. Aber auch die von da ausgehende Streitfrage, ob Lehrbücher wirklich für dogmatische gelten können, welche über die geltende Lehre nur geschichtlich berichten, bewährend aber nur Sätze aufstellen, gegen welche amtlicher Einspruch erhoben werden könnte, gereicht noch unserm Begriff zur Bestätigung. - Eine lediglich irenische Zusammenstellung wird großenteils so dürftig und unbestimmt ausfallen, dass es nicht nur, um eine Bewährung hervorzubringen, überall an den Mittelgliedern fehlen wird, sondern auch an der nötigen Schärfe der Begriffsbestimmung, um der Darstellung Vertrauen zu verschaffen.

§ 198. Die dogmatische Theologie hat für die Leitung der Kirche zunächst den Nutzen, zu zeigen, wie mannigfaltig und bis auf welchen Punkt das Prinzip der laufenden Periode sich nach allen Seiten entwickelt hat und wie sich dazu die der Zukunft anheim fallenden Keime verbesserter Gestaltungen verhalten. Zugleich gibt sie der Ausübung die Norm für den volksmäßigen Ausdruck, um die Rückkehr alter Verwirrungen zu verhüten und neuen zuvorzukommen.
Dieses Interesse der Ausübung fällt lediglich in die erhaltende Funktion der Kirchenleitung, und ursprünglich hievon ist die allmähliche Bildung der Dogmatik ausgegangen. Die Teilung des ersten erklärt sich aus dem, was über den Gehalt eines jeden Momentes im Allgemeinen (vgl. § 91) gesagt ist.

§ 199. In jedem für sich darstellbaren Moment (vgl. § 93) tritt das, was in der Lehre aus der letztvorangegangenen Epoche herrührt, als das am meisten kirchlich Bestimmte auf, dasjenige aber, wodurch mehr der folgenden Bahn gemacht wird, als von einzelnen ausgehend.
Das erste nicht nur mehr kirchlich bestimmt, als das letzte, sondern auch mehr, als das aus früheren Perioden mit Herübergenommene; das letztere um so mehr nur auf einzelne zurückzuführen, je weniger noch eine neue Gestaltung sich bestimmt ahnden lässt.

§ 200.
Alle Lehrpunkte, welche durch das die Periode dominierende Prinzip entwickelt sind, müssen unter sich zusammenstimmen; wogegen alle andern, solange man von ihnen nur sagen kann, dass sie diesen Ausgangspunkt nicht haben, als unzusammenhängende Vielheit erscheinen.
Das dominierende Prinzip kann aber selbst verschieden aufgefasst sein, und daraus entstehen mehrere in sich zusammenhangende, aber voneinander verschiedene dogmatische Darstellungen, welche, und vielleicht nicht mit Unrecht, auf gleiche Kirchlichkeit Anspruch machen. - Wenn die heterogenen vereinzelten Elemente zusammengehen, geben sie sich entweder als eine neue Auffassung des schon dominierenden Prinzips zu erkennen, oder sie verkündigen die Entwicklung eines neuen.

§ 201. Wie zur vollständigen Kenntnis des Zustandes der Lehre nicht nur dasjenige gehört, was in die weitere Fortbildung wesentlich verflochten ist, sondern auch das, was, wenn es auch als persönliche Ansicht nicht unbedeutend war, doch als solche wieder verschwindet: so muss auch eine umfassende dogmatische Behandlung alles in ihrer Kirchengemeinschaft gleichzeitig Vorhandene verhältnismäßig berücksichtigen.
Der Ort hierzu muss sich immer finden, wenn in dem Bestreben, den aufgestellten Zusammenhang zu bewähren, Vergleichungen und Parallelen nicht versäumt werden.

202. Eine dogmatische Darstellung ist desto vollkommener, je mehr sie neben dem Assertorischen auch divinatorisch ist.
In jenem zeigt sich die Sicherheit der eigenen Ansicht; in diesem die Klarheit in der Auffassung des Gesamtzustandes.

Orthodoxie und Heterodoxie (§§ 203-208)
§ 203. Jedes Element der Lehre, welches in dem Sinne konstruiert ist, das bereits allgemein Anerkannte zusamt den natürlichen Folgerungen daraus festzuhalten, ist orthodox; jedes in der Tendenz Konstruierte, den Lehrbegriff beweglich zu erhalten und anderen Auffassungsweisen Raum zu machen, ist heterodox.
Es scheint zu eng, wenn man diese Ausdrücke ausschließlich auf das Verhältnis der Lehrmeinungen zu einer aufgestellten Norm beziehen will; derselbe Gegensatz kann auch stattfinden, wo es eine solche nicht gibt. Nach obiger Erklärung kann vielmehr aus der orthodoxen Richtung erst das Symbol hervorgehen, und so ist es oft genug geschehen. Was aber fremd scheinen kann an dieser Erklärung, ist, dass sie gar nicht auf den Inhalt der Sätze an und für sich zurückgeht; und doch rechtfertigt sich auch dieses leicht bei näherer Betrachtung.

§ 204. Beide sind, wie für den geschichtlichen Gang des Christentums überhaupt, so auch für jeden bedeutenden Moment als solchen, gleich wichtig.
Wie es bei aller Gleichförmigkeit doch keine wahre Einheit gäbe ohne die ersten: so bei aller Verschiedenheit doch keine bewusste freie Beweglichkeit ohne die letzten.

§ 205. Es ist falsche Orthodoxie, auch dasjenige in der dogmatischen Behandlung noch festhalten zu wollen; was in der öffentlichen kirchlichen Mitteilung schon ganz antiquiert ist, und auch durch den wissenschaftlichen Ausdruck keinen bestimmten Einfluss auf andere Lehrstücke ausübt.
Eine solche Bestimmung muss offenbar wieder beweglich gemacht, und die Frage auf den Punkt zurückgeführt werden, wo sie vorher stand.

§ 206.
Es ist falsche Heterodoxie, auch solche Formeln in der dogmatischen Behandlung anzufeinden, welche in der kirchlichen Mitteilung ihren wohlbegründeten Stützpunkt haben, und deren wissenschaftlicher Ausdruck auch ihr Verhältnis zu andern christlichen Lehrstücken nicht verwirrt.
Hierdurch wird also die knechtische Bequemlichkeit keineswegs gerechtfertigt, welche alles, woran sich viele erbauen, stehen lassen will, wenn es sich auch mit den Grundlehren unseres Glaubens nicht verträgt.

§ 207.
Eine dogmatische Darstellung für die evangelische Kirche wird beiderlei Abweichungen vermeiden, und ungeachtet der von uns in Anspruch genommenen Beweglichkeit des Buchstaben doch können in allen Hauptlehrstücken orthodox sein; aber auch, ungeachtet sie sich nur an das Geltende hält, doch an einzelnen Orten auch Heterodoxes in Gang bringen müssen.
Das hier Aufgestellte wird, wenn diese Disziplin sich von ihrem Begriff aus gleichmäßig entwickelt, immer das natürliche Verhältnis beider Elemente sein, und sich nur ändern müssen, wenn lange Zeit eines von beiden Extremen geherrscht hat.

§ 208. Jeder auf einseitige Weise neuernde oder das Alte verherrlichende Dogmatiker ist nur ein unvollkommenes Organ der Kirche, und wird von einem falsch heterodoxen Standpunkt aus auch die sachgemäßeste Orthodoxie für falsche erklären, und von einem falsch orthodoxen aus auch die leiseste und unvermeidlichste Heterodoxie als zerstörende Neuerung bekriegen.
Diese Schwankungen sind es vornehmlich, welche bis jetzt fast immer verhinderten, dass die dogmatische Theologie der evangelischen Kirche sich nicht in einer ruhigen Fortschreitung entwickeln konnte.

Der kirchliche Charakter der Dogmatik (§§ 209-212)
§ 209. Jeder in die dogmatische Zusammenstellung aufgenommene Lehrsatz muss die Art, wie er bestimmt ist, bewähren, teils durch unmittelbare oder mittelbare Zurückführung seines Gehaltes auf den neutestamentischen Kanon, teils durch die Zusammenstimmung des wissenschaftlichen Ausdrucks mit der Fassung verwandter Sätze.
Alle Sätze aber, auf welche in diesem Sinn zurückgegangen wird, unterliegen derselben Regel; so dass es hier keine andere Unterordnung gibt, als dass diejenigen Sätze am wenigsten beider Operationen bedürfen, für welche der volksmäßige, der schriftmäßige und der wissenschaftliche Ausdruck am meisten identisch sind, so dass jeder Glaubensgenosse sie gleich an der Gewissheit seines unmittelbaren frommen Selbstbewusstseins bewährt. - Diese Unterscheidung wird wohl zurückbleiben von der, wie sie gewöhnlich gefasst wurde, schon als antiquiert zu betrachtenden, von Fundamentartikeln und anderen.

§ 210.
Wenn sich die Behandlung des Kanon bedeutend ändert, muss sich auch die Art der Bewährung einzelner Lehrsätze ändern, ungeachtet ihr Inhalt unverändert derselbe bleibt.
Das orthodoxe dogmatische Interesse darf niemals den exegetischen Untersuchungen in den Weg treten oder sie beherrschen; aber das Wegfallen einzelner so genannter Beweisstellen ist auch an und für sich kein Zeugnis gegen die Richtigkeit eines geltenden Lehrsatzes. Wogegen fortgeltende kanonische Bewährung einem Lehrsatz Sicherheit gewähren muss gegen die heterodoxe Tendenz.

§ 211.
Für Sätze, welche den eigentümlichen Charakter der gegenwärtigen Periode bestimmt aussprechen, kann das Zurückführen auf das Symbol die Stelle der kanonischen Bewährung vertreten, wenn wir uns die damals geltende Auslegung noch aneignen können.
In diesen Fällen wird es auch ratsam sein, die Übereinstimmung mit dem Symbol hervorzuheben, um diese Sätze bestimmter von anderen (vgl. §§ 199, 200, 203) zu unterscheiden. Dasselbe gilt aber keineswegs für Sätze, welche aus früheren Perioden durch reine Wiederholung in das Symbol der laufenden herüber genommen sind.

§ 212.
Da der eigentümliche Charakter der evangelischen Kirchenlehre unzertrennlich ist von dem durch den Ausgang der Reformation erst fixierten Gegensatz zwischen der evangelischen und römischen Kirche: so ist auch jeder auf unsere Symbole zurückzuführende Satz nur insofern vollständig bearbeitet, als er den Gegensatz gegen die korrespondierenden Sätze der römischen Kirche in sich trägt.
Denn weder ein Satz, in Beziehung auf welchen der Gegensatz unsererseits schon wieder aufgehoben wäre, noch einer, dem dieser Gegensatz fremd wäre, könnte hinreichende Bewährung in der Beziehung auf das Symbol finden.

Der wissenschaftliche Charakter des Dogmatik (§§ 213-217)
§ 213. Der streng didaktische Ausdruck, welcher durch die Zusammengehörigkeit der einzelnen Formeln dem dogmatischen Verfahren seine wissenschaftliche Haltung gibt, ist abhängig von dem jedesmaligen Zustand der philosophischen Disziplinen.
Teils wegen des logischen Verhältnisses der Formeln zu einander, teils weil viele Begriffsbestimmungen auf psychologische und ethische Elemente zurückgehen.

§ 214. Das dialektische Element des Lehrbegriffs kann sich an jedes philosophische System anschließen, welches nicht das religiöse Element, entweder überhaupt, oder in der besonderen Form, welcher das Christentum zunächst angehören will, durch seine Behauptungen ausschließt oder ableugnet.
Daher alle entschieden materialistischen und sensualistischen Systeme, die man aber wohl schwerlich für wahrhaft philosophisch gelten lassen wird - und alle eigentlich atheistischen werden auch diesen Charakter haben - nicht für die dogmatische Behandlung zu brauchen sind. Noch engere Grenzen im Allgemeinen zu ziehen, ist schwierig.

§ 215.
Einzelne Lehren können daher sowohl in gleichzeitigen dogmatischen Behandlungen verschieden gefasst sein, als auch zu verschiedenen Zeiten verschieden lauten, während in beiden Fällen ihr religiöser Gehalt keine Verschiedenheit, darbietet.
Wegen Verschiedenheit der gleichzeitig bestehenden oder aufeinander folgenden Schulen und ihrer Terminologien. Solche Differenzen werden aber auch nur durch Missverständnis Gegenstand eines dogmatischen Streites.

§ 216. Ebenso kann ein Schein von Ähnlichkeit entstehen zwischen Sätzen, deren religiöser Gehalt dennoch mehr oder weniger verschieden ist.
Nicht nur kann sich im einzelnen die Differenz verschiedener theologischer Schulen derselben Kirche verbergen hinter der Identität der wissenschaftlichen Terminologie, sondern auch protestantische und katholische Sätze, zumal bei einiger Entfernung von den symbolischen Hauptpunkten, können gleichbedeutend erscheinen.

§ 217. Die protestantische dogmatische Behandlung muss danach streben, das Verhältnis eines jeden Lehrstücks zu dem unsere Periode beherrschenden Gegensatz zum klaren Bewusstsein zu bringen.
Dies ist ein nur auf diesem Wege zu befriedigendes Bedürfnis der Kirchenleitung, in welches unrichtige Vorstellungen von dem Zustande dieses Gegensatzes, ob und wo er durch Annäherung beider Teile schon im Verschwinden begriffen sei, oder umgekehrt, ob und wo er sich erst bestimmter zu entwickeln anfange, die schwierigsten Verwirrungen hervorbringen muss.

Zur Methode des dogmatischen Studiums (§§ 218-222)
§ 218. Die dogmatische Theologie ist in ihrem ganzen Umfang ein Unendliches, und bedarf einer Scheidung des Gebietes besonderer Virtuosität und des Gemeinbesitzes.
Dieser bezieht sich aber natürlich nur auf den Umfang des zu verarbeitenden Stoffes, nicht auf die Sicherheit und Stärke der Überzeugung, oder auf die Art, wie diese gewonnen wird.

§ 219. Von jedem evangelischen Theologen ist zu verlangen, dass er im Bilden einer eignen Überzeugung begriffen sei über alle eigentlichen Örter des Lehrbegriffs, nicht nur so, wie sie sich aus den Prinzipien der Reformation an sich und im Gegensatz zu den römischen Lehrsätzen entwickelt haben, sondern auch, sofern sich Neues gestaltet hat, dessen für den Moment wenigstens geschichtliche Bedeutung nicht zu übersehen ist.
Unter einem Ort verstehe ich einen solchen Satz oder Inbegriff von Sätzen, welche teils im Kanon und Symbol einen bestimmten Sitz haben, teils nicht übergangen werden können, ohne dass andere von demselben Umfang und Wert dunkel und unverständlich werden. - Der Ausdruck »Im Bilden der Überzeugung begriffen sein« schließt keineswegs einen skeptischen Zustand ein, sondern nur das dem Geist unserer Kirche wesentliche innere Empfänglichbleiben für neuere Untersuchungen, insofern teils die Behandlung des Kanon sich ändern, teils eine andere Quelle für den dogmatischen Sprachgebrauch sich eröffnen kann. Auch bezieht diese Forderung sich zunächst nicht auf den Glauben, so wie er ein Gemeingut der Christen ist, sondern auf die streng didaktische Fassung der Aussagen über denselben.

§ 220.
Das dogmatische Studium muss daher beginnen mit der Auffassung und Prüfung einer oder mehrerer streng zusammenhängender Darstellungen des kirchlich Festgestellten,als weiterer Ausbildung der ihrer Natur nach nur fragmentarischen Symbole.
Dogmengeschichte muss dabei, wenn auch nur so, wie auch der Laie die Grundzüge davon innehaben kann, notwendig vorausgesetzt werden. - Man unterscheide übrigens und stelle zusammen solche Darstellungen, welche ihre Sätze überwiegend aus dem symbolischen Buchstaben entwickeln, und solche, welche dem Geist der Symbole treu zu bleiben behaupten, wenn sie auch ihren Buchstaben ebenfalls der Kritik unterwerfen.

§ 221. In Bezug auf das Neue, aus dem Symbol nicht Verständliche, muss, inwiefern es in dieses Gebiet gehöre, zunächst die Betrachtung entscheiden, ob mehreres auf einengemeinsamen Ursprung zurückweist und eine gemeinsame Abzweckung verrät.
Denn je mehr dies der Fall ist, um desto sicherer kann ein geschichtliches Eingreifen solcher Ansichten vermutet werden.

§ 222. Genaue Kenntnis aller gleichzeitigen Behandlungsweisen und schwebenden Streitfragen, sowie aller gewagten Meinungen, und festes Urteil über Grund und Wert dieser Formen [Formeln?] und Elemente bilden das Gebiet der dogmatischen Virtuosität.
Das feste Urteil ist zu verstehen mit Vorbehalt der frischen Empfänglichkeit (vgl. § 218), die dem Meister nicht minder notwendig ist, als dem Anfänger. - Unter gewagten Meinungen sind nicht nur die ephemeren Erscheinungen launenhafter und ungeordneter Persönlichkeiten zu verstehen, sondern auch alles, was als eigentlich krankhaft auf antichristliche oder mindestens antievangelische Impulse zu reduzieren ist und Gegenstand der polemischen Ausübung wird.

Glaubens- und Sittenlehre (§§ 223-231)
§ 223. In der bisherigen Darstellung ist auf die jetzt überwiegend übliche Teilung der dogmatischen Theologie in die Behandlung der theoretischen Seite des Lehrbegriffs, oder die Dogmatik im engeren Sinn, und in die Behandlung der praktischen Seite, oder die christliche Sittenlehre, um so weniger Rücksicht genommen, als diese Trennung nicht als wesentlich angesehen werden kann; wie sie denn auch weder überhaupt, noch in der evangelischen Kirche etwas Ursprüngliches ist.
Weder die Bezeichnungen theoretisch und praktisch, noch die Ausdrücke Glaubens- und Sittenlehre sind völlig genau. Denn die christlichen Lebensregeln sind auch theoretische Sätze, als Entwicklungen von dem christlichen Begriff des Guten; und sie sind nicht minder Glaubenssätze, wie die eigentlich dogmatischen, da sie es mit demselben christlich frommen Selbstbewusstsein zu tun haben, nur so, wie es sich als Antrieb kundgibt. - Wenn nun gleich nicht geleugnet werden kann, dass die vereinigte Behandlung beider einer in vieler Hinsicht unvollkommenen Periode der theologischen Wissenschaften angehört: so lässt sich doch eine fortschreitende Verbesserung auch dieses Gebietes sehr wohl ohne eine solche Trennung denken.

§ 224. Wenn die Trennung beiderlei Sätzen den Vorteil gewährt, leichter in ihrer Zusammengehörigkeit aufgefasst zu werden: so hat sie der christlichen Sittenlehre noch den besonderen Vorteil gebracht, dass sie nun eine ausführlichere Behandlung erfährt.
Das letztere ist indes nicht wesentlich eine Folge der Trennung. Denn es lässt sich auch eine vereinigte Behandlung denken in umgekehrtem Verhältnis, als wirklich früher stattgefunden hat; und dann würde derselbe Vorteil auf Seiten der Dogmatik gewesen sein. Dem ersten steht gegenüber, dass eine wohlgeordnete, lebendige Vereinigung beider eine vorzügliche Sicherheit dagegen zu gewähren scheint, dass die eigentlichen dogmatischen Sätze nicht so leicht sollten in geistlose Formeln, noch die ethischen in bloß äußerliche Vorschriften ausarten können.

§ 225. Aus der Teilung des Gebietes kann sehr leicht die Meinung entstehen, als ob bei ganz verschiedener Auffassung der Glaubenslehre doch die Sittenlehre auf dieselbige Weise könnte aufgefasst werden und umgekehrt.
Dieser Irrtum ist in unser kirchliches Gemeinwesen schon sehr tief eingedrungen, und ihm kann nur von der wissenschaftlichen Behandlung ans wirksam entgegengearbeitet werden.

§ 226. Die Teilung findet eine große Rechtfertigung sowohl darin, dass die Bewährung aus dem Kanon und Symbol sich bedeutend anders gestaltet bei den ethischen Sätzen, als bei den dogmatischen, als auch darin, dass die Terminologie für die einen und die andern aus verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten herstammt.
Wir haben zwar in dieser Beziehung die theologischen Wissenschaften überhaupt auf die Ethik und die von ihr abhängigen Disziplinen zurückgeführt; betrachten wir aber die dogmatische Theologie insbesondere, so rührt doch die Terminologie der eigentlichen Glaubenslehre großenteils aus der philosophischen Wissenschaft her, die unter dem Namen rationaler Theologie ihren Ort in der Metaphysik hatte, wogegen die christliche Sittenlehre überwiegend nur aus der Pflichtenlehre der philosophischen Ethik schöpfen kann.

§ 227. Die Trennung beider Disziplinen hat auch ein verkehrtes eklektisches Verfahren erzeugt, indem man meinte, ohne Nachteil bei der christlichen Sittenlehre auf eine andere philosophische Schule zurückgehen zu dürfen, als bei der Glaubenslehre.
Man darf sich nur die Möglichkeit einer ungeteilten Behandlung der dogmatischen Theologie vergegenwärtigt haben, um dies schlechthin unstatthaft zu finden.

§ 228.
Die abgesonderte Behandlung ist desto sachgemäßer, je ungleichförmiger auf beiden Seiten der Verlauf der Periode in Bezug auf die Entwicklung des Prinzips und die Spannung des Gegensatzes entweder wirklich gewesen ist, oder je weniger gleichmäßig doch die wissenschaftliche Betrachtung dem wirklichen Verlauf gefolgt ist.
Man würde vielleicht mit Unrecht behaupten, dass in Bezug auf die Sittlichkeit selbst der Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus minder entwickelt sei, als in Bezug auf den Glauben; aber dass er in unsern christlichen Sittenlehren bei weitem nicht so ausgearbeitet ist, als in unserer Dogmatik, scheint unleugbar.

§ 229. Viele Bearbeitungen der christlichen Sittenlehre lassen unleugbar von dem Typus einer theologischen Disziplin nur wenig durchschimmern, und sind von philosophischen Sittenlehren wenig zu unterscheiden.
Dass dies von dem nachteiligsten Einfluss auf die Kirchenleitung sein muss, leuchtet ein. Bei einer ungeteilten Behandlung könnte sich für die sittenlehrigen Sätze ein solches Resultat nicht gestalten, es müsste denn auch die Glaubenslehre ihren Charakter verleugnen.

§ 230. Die abgesonderte Behandlung beider Zweige der dogmatischen Theologie wird desto unverfänglicher sein, je vollständiger alles von §§ 196-216 Gesagte auch auf die christliche Sittenlehre angewendet wird, und je mehr man in jeder von beiden Disziplinen den Zusammenhang mit der andern durch einzelne Andeutungen wiederherstellt.
Das erste kann hier nicht besonders ausgeführt werden; die Möglichkeit des letzten erhellt aus dem zu § 224 Gesagten.

§ 231. Wünschenswert bleibt immer, dass auch die ungeteilte Behandlung sich von Zeit zu Zeit wieder geltend mache.
Nur bei einer sehr großen Ausführlichkeit möchte dies kaum möglich sein, ohne dass die Masse alle Form verlöre.

II. Die kirchliche Statistik.

Begriff und Aufgabe der Statistik (§§ 232-241)
§ 232. In dem Gesamtzustand einer kirchlichen Gesellschaft unterscheiden wir die innere Beschaffenheit und die äußeren Verhältnisse, und in der ersten wieder den Gehalt, der sich darin nachweisen lässt, und die Form, in welcher sie besteht.
Manches scheint allerdings eben so leicht unter die eine, als unter die andere Hauptabteilung gebracht werden zu können, immer aber doch in einer andern Beziehung, so dass dies der Richtigkeit der Einteilung keinen Eintrag tut.

§ 233. Die Aufgabe umfasst in Zeiten, wo die christliche Kirche nicht äußerlich eines ist, alle einzelnen Kirchengemeinschaften.
Jede ist dann für sich zu betrachten, und die Verhältnisse einer jeden zu den übrigen finden von selbst ihren Ort in der zweiten Hälfte. - Aber auch wenn einzelne Kirchengemeinschaften nicht bestimmt voneinander geschieden wären, würden doch einzelne Teile der Kirche sich sowohl ihrer inneren Beschaffenheit, als ihren Verhältnissen nach so sehr von andern unterscheiden, dass Einteilungen dennoch müssten gemacht werden.

§ 234. Der Gehalt einer kirchlichen Gemeinschaft in einem gegebenen Zeitpunkt beruht auf der Stärke und Gleichmäßigkeit, womit der eigentümliche Gemeingeist derselben die ganze ihr zugehörige Masse durchdringt.
Zunächst also und im Allgemeinen der Gesundheitszustand derselben in Bezug auf Indifferentismus und Separatismus (vgl. §§ 56 u. 57). Dieser wird aber erkannt einerseits aus den Entwicklungsexponenten des Lehrbegriffs mit Rücksicht auf die Einstimmigkeit oder Mannigfaltigkeit der Resultate und auf das Interesse der Gemeinde an dieser Funktion, andererseits aus dem Einfluss des kirchlichen Gemeingeistes auf die übrigen Lebensgebiete, und aus der Manifestation desselben in dem gottesdienstlichen Leben.

§ 235. Je größere Differenzen sich hierüber in weit verbreiteten Kirchengemeinschaften vorfinden, um desto zweckwidriger ist es, bei bloßen Durchschnittsangaben sich zu begnügen.
Das Lehrreichste für die Kirchenleitung würde verloren gehen, wenn nicht die am meisten verschiedenen Massen in Bezug auf die wichtigsten in Betracht kommenden Punkte miteinander verglichen würden.

§ 236. Das Wesen der Form, unter welcher eine Kirchengemeinschaft besteht, oder ihrer Verfassung, beruht auf der Art, wie die Kirchenleitung organisiert ist, und auf dem Verhältnis der Gesamtheit zu denen, welche an der Kirchenleitung teilnehmen, oder zu dem Klerus im weiteren Sinn.
Die große Mannigfaltigkeit der Verfassungen macht es notwendig, sie unter gewisse Hauptgruppen zu verteilen, wobei aber Vorsicht zu treffen ist, sowohl, dass man nicht zu viel Gewicht auf die Analogie mit den politischen Formen lege, als auch, dass man nicht über den allgemeinen Charakteren die spezifischen Differenzen übersehe.

§ 237. Die Darstellung der innern Beschaffenheit ist desto vollkommner, je mehr Mittel sie darbietet, den Einfluss der Verfassung auf den inneren Zustand, und umgekehrt, richtig zu schätzen.
Denn dies hängt mit der größten Aufgabe der Kirchenleitung zusammen, und ohne diese Beziehung bleiben alle hierher gehörigen Angaben nur tote Notizen, wie alle statistischen Zahlen ohne geistvolle Kombination.

§ 238.
Die äußeren Verhältnisse einer Kirchengemeinschaft, die nur Verhältnisse zu andern Gemeinschaften sein können, sind teils die zu gleichartigen, nämlich sowohl die des Christentums unds einzelner christlichen Gemeinschaften zu den außerchristlichen, als auch die der christlichen Kirchengemeinschaften zu einander, teils die zu ungleichartigen, und hierunter vornehmlich zu der bürgerlichen Gesellschaft und zur Wissenschaft im ganzen Umfang des Wortes.
Wir betrachten die letzte als eine Gemeinschaft schon deshalb, weil die Sprache alle wissenschaftliche Mitteilung bedingt, und jede doch ein besonderes Gemeinschaftsgebiet bildet, so dass die Verhältnisse derselben Kirchengemeinschaft ganz verschieden sein können in verschiedenen Sprachgebieten.

§ 239. Jede Kirchengemeinschaft steht mit den sie berührenden in einem Verhältnis der Mitteilung sowohl, als der Gegenwirkung, welche auf das mannigfaltigste können abgestuft sein vom Maximum des einen zum Minimum des andern bis umgekehrt.
Unter Berührung soll nicht etwa nur lokales Zusammenstoßen verstanden werden, sondern jede Art von Verkehr. Gegenwirkung aber ist, auch abgesehen von aller nach außen gehenden Polemik, teils durch das gemeinsame Zurückgehen auf den Kanon, teils durch die von außen anbildende Tätigkeit, die nicht als gänzlich fehlend angesehen werden kann, bedingt.

§ 240. Das Verhältnis kirchlicher Gemeinschaften zu eigentümlichen Ganzen des Wissens schwankt zwischen den beiden Einseitigkeiten: der, wenn die Kirche kein Wissen gelten lassen will, als dasjenige, welches sie sich zu ihrem besondern Zweck aneignen, mithin auch selbst hervorbringen kann, und der, wenn das objektive Bewusstsein die Wahrheit des Selbstbewusstseins in Anspruch nehmen will.
Denn auf diesen beiden Punkten schließen beide Gemeinschaften einander aus. Zwischen beiden in der Mitte liegt als gemeinsamer Annäherungspunkt ein gegenseitiges tätiges Anerkennen beider. Die Aufgabe ist, ins Licht zu setzen, wie sich ein bestehendes Verhältnis zu diesen Hauptpunkten stellt.

§ 241. Das Gleiche gilt von dem Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Nur dass man hier, wo sich bestimmtere Formeln [Formen?] entwickeln, leichter sieht, teils wie nicht leicht ein gegenseitiges Anerkennen stattfindet, ohne doch ein kleines Übergewicht auf die eine oder andere Seite zu legen, teils wie zumal das evangelische Christentum seine Ansprüche bestimmt begrenzt.
Dass eine Theorie über dieses Verhältnis nicht hierher gehört, versteht sich von selbst. Viele aber von den hier nachgewiesenen Örtern werden auch in dem so genannten Kirchenrecht behandelt, nur, wie auch schon der Name andeutet, überwiegend ans dem bürgerlichen Standpunkt betrachtet.

Zur Methode des statistischen Studiums (§§ 242-248)
§ 242. Die kirchliche Statistik ist nach diesen Grundzügen einer Ausführung ins Unendliche fähig.
Diese muss aber natürlich immer erneuert werden, indem nach eingetretener Veränderung die jedesmaligen Elemente der Kirchengeschichte zuwachsen.

§ 243. Dass man sich bei uns nur zu häufig auf die Kenntnis des Zustandes der evangelischen Kirche, ja nur des Teiles beschränkt, in welchem die eigene Wirksamkeit liegt, wirkt höchst nachteilig auf die kirchliche Praxis.
Nichts begünstigt so sehr das Verharren bei dem Gewohnten und Hergebrachten, als die Unkenntnis fremder, aber doch verwandter Zustände. Und nichts bewirkt eine schroffere Einseitigkeit, als die Furcht, dass man anderwärts werde Gutes anerkennen müssen, was dem eigenen Kreise fehlt.

§ 244. Eine allgemeine Kenntnis von dem Zustande der gesamten Christenheit in den hier angegebenen Hauptverhältnissen, nach Maßgabe wie jeder Teil mit dem Kreise der eignen Wirksamkeit zusammenhängt, ist die unerlässliche Forderung an jeden evangelischen Theologen.
Die hieraus freilich folgende Verpflichtung zu einer genaueren Kenntnis des Näheren und Verwandteren ist doch nur untergeordnet. Denn eine richtige Wirksamkeit auf die eigne Kirchengemeinschaft ist nur möglich, wenn man auf sie als auf einen organischen Teil des Ganzen wirkt, welcher sich in seinem relativen Gegensatz zu den andern zu erhalten und zu entwickeln hat.

§ 245. Durch besondere Beschäftigung mit diesem Fach ist noch vieles zu leisten, sowohl was den Stoff anlangt, als was die Form.
Die neueste Zeit hat zwar viel Material herbeigeschafft; aber es ist selten aus den rechten Gesichtspunkten aufgefasst. Und umfassendere Arbeiten gibt es noch so wenige, dass die beste Form noch nicht gefunden sein kann.

§ 246.
Die bloß äußerliche Beschreibung des Vorhandenen ist für diese Disziplin, was die Chronik für die Geschichte ist.
Bei dem gegenwärtigen Zustand derselben aber ist es schon verdienstlich, Unbekannteres und Abweichenderes auch nur auf dies Weise zur allgemeinen Kenntnis zu bringen. Bloß topographische und onomastische oder bibliographische Notizen sind natürlich das am wenigsten Fruchtbare.

§ 247.
Eine ins einzelne gehende Beschäftigung mit dem gegenwärtigen Zustande des Christentums, welche, nicht vom kirchlichen Interesse ausgehend, auch keinen Bezug auf die Kirchenleitung nähme, könnte nur, wenn auch ohne wissenschaftlichen Geist betrieben, ein unkritisches Sammelwerk sein; je wissenschaftlicher aber, um desto mehr würde sie sich zum Skeptischen oder Polemischen neigen.
Der Impuls kann wegen Beschaffenheit der Gegenstände nicht von einem rein wissenschaftlichen Interesse herrühren. Fehlt also das für die Sache: so muss eins gegen die Sache wirksam sein. Ähnliches gilt von der Kirchengeschichte.

§ 248. Ist das religiöse Interesse von wissenschaftlichem Geist entblößt: so wird die Beschäftigung, statt ein treues Resultat zu geben, nur der Subjektivität der Person oder ihrer Partei dienen.
Denn mir der wissenschaftliche Geist kann, wo ein starkes Interesse vorwaltet, welches vom Selbstbewusstsein ausgeht, vor unkritischer Parteilichkeit - sicherstellen.

Folgerungen
(§§ 249-250)
§ 249. Die Disziplin, welche man gewöhnlich Symbolik nennt, ist nur aus Elementen der kirchlichen Statistik zusammengesetzt, und kann sich in diese wieder zurückziehn.
Sie ist eine Zusammenstellung des Eigentümlichen in dem Lehrbegriff der noch jetzt bestehenden christlichen Parteien; und da diese nicht nach Weise der Dogmatik (vgl. §§ 196 u. 233) mit Bewährung des Zusammenhanges vorgelegt werden können: so muss die Darstellung rein historisch sein. Der nicht ganz der Sache entsprechende Name, weil nämlich nicht alle Parteien Symbole in dem eigentlichen Sinne des Wortes haben, kann nur sagen wollen, dass der Bericht sich an die am meisten klassische und am allgemeinsten anerkannte Darstellung einer jeden Glaubensweise halte. Ein solcher Bericht muss aber in unserer Disziplin (vgl. § 284) die Grundlage bilden zu der Darstellung der Verhältnisse des Lehrbegriffs in der Gemeinschaft; und der Unterschied ist nur der, dass dort der Lehrbegriff einer Gemeinschaft beschrieben wird in Verbindung mit ihren übrigen Zuständen, in der Symbolik aber in Verbindung mit den Lehrbegriffen der andern Gemeinschaften, wiewohl wir auch für die Statistik schon (vgl. § 235) das komparative Verfahren empfohlen haben.

§ 250. Auch die biblische Dogmatik kommt der Weise der Statistik in der Behandlung des Lehrbegriffs näher, als der eigentlichen Dogmatik.
Denn unsere Kombinationsweise ist so sehr eine andere, und teils ist für die nentestamentischen biblischen Sätze das Zurückgehen auf den alttestamentischen Kanon nur ein sehr ungenügendes Surrogat für unser Zurückgehn auf den neutestamentischen, teils fehlt uns dort überall die weitere Entwicklung der späteren Zeiten, die in unsere Überzeugung so eingegangen ist, dass wir uns jene nicht so aneignen können, wie es einer eigentlich dogmatischen Behandlung wesentlich ist. Die Darstellung des Zusammenhanges der biblischen Sätze in ihrem eigentümlichen Gewand ist also überwiegend eine historische. Und wie jedes zusammenfassende Bild (vgl. § 150) eines als Einheit gesetzten Zeitraums eigentlich die Statistik dieser Zeit und dieses Teils ist: so ist die biblische Dogmatik nur ein Teil von diesem Bilde des apostolischen Zeitalters.

Schlussbetrachtungen über die historische Theologie (§§ 251-256)
§ 251. Wiewohl im ganzen in der christlichen Kirche die hervorragende Wirksamkeit einzelner auf die Masse abnimmt, ist es doch für die historische Theologie mehr, als für andere geschichtliche Gebiete, angemessen, die Bilder solcher Zeiten, die, als, wenn auch nur in untergeordnetem Sinne, epochemachend, als Einheit aufzufassen sind, an das Leben vorzüglich wirksamer Einzelner anzuknüpfen.
Ab nimmt diese Wirksamkeit, weil sie in Christo absolut war, und wir keinen Späteren den Aposteln gleichstellen, von denen doch nur wenige eine bestimmte persönliche Wirksamkeit übten. Je weiter hin, desto mehr immer der gleichzeitigen Einzelnen, welche einen neuen Umschwung bewirkten. Jedoch ist dies keineswegs nur auf das Zeitalter der so genannten Kirchenväter zu beschränken. Wohl aber können wir sagen, dass sich jeder einzelne hiezu desto mehr eigne, je mehr er dem Begriff eines Kirchenfürsten entspricht, dass aber solche, je weiter hinaus, desto weniger zu erwarten seien. Auch einzelne als Andeutung und Ahndung merkwürdige Abweichungen im Lehrbegriff werden oft am besten mit dem Leben ihrer Urheber verständlich.

§ 252. Die Kenntnis des geschichtlichen Verlaufs, welche schon zum Behuf der philosophischen Theologie (vgl. § 65) vorausgesetzt werden muss, darf nur die der Chronik angehörige sein, welche unabhängig ist vom theologischen Studium: hingegen die wissenschaftliche Behandlung des geschichtlichen Verlaufs in allen Zweigen der historischen Theologie setzt die Resultate der philosophischen Theologie voraus.
Dies gilt, wie aus dem Obigen erhellt, für die exegetische Theologie und die dogmatische nicht minder, als für die historische im engeren Sinn. Denn alle leitenden Begriffe werden in den Untersuchungen, welche die philosophische Theologie bilden, definitiv bestimmt.

§ 253.
Hieraus und aus dem dermaligen Zustand der philosophischen Theologie (vgl. § 68) erklärt sich, wenn nicht die große Verschiedenheit in den Bearbeitungen aller Zweige der historischen Theologie, doch der Mangel an Verständigung über den ursprünglichen Sitz dieser Verschiedenheit.
Denn sie selbst würde bleiben, weil, was § 51 von der Apologetik gesagt und § 64 auch auf die Polemik ausgedehnt ist, nicht nur in Bezug auf die verschiedenen Gestaltungen, die das Christentum in verschiedenen Kirchengemeinschaften erhält, gelten muss, sondern auch von den nicht unbedeutenden Verschiedenheiten, die noch innerhalb einer jeden stattfinden. Hat aber jede Partei ihre philosophische Theologie gehörig ausgearbeitet: so muss auch deutlich werden, welche von diesen Verschiedenheiten mit einer ursprünglichen Differenz in der Auffassung des Christentums selbst zusammenhängen, und welche nicht.

§ 254. Philosophische und historische Theologie müssen noch bestimmter auseinander treten, können aber doch nur mit- und durcheinander zu ihrer Vollkommenheit gelangen.
Alle Zweige der historischen Theologie leiden darunter, dass die philosophische in ihrem eigentümlichen Charakter (vgl. § 33) noch nicht ausgearbeitet ist. Aber die philosophische Theologie würde ganz willkürlich werden, wenn sie sich von der Verpflichtung losmachte, alle ihre Sätze durch die klarste Geschichtsauffassung zu belegen. Und ebenso würde die historische alle Haltung verlieren, wenn sie sich nicht auf die klarste Entwicklung der Elemente der philosophischen Theologie beziehen wollte.

§ 255. In der gegenwärtigen Lage kann der Vorwurf, dass einer in der historischen Theologie nach willkürlichen Hypothesen verfahre, eben so leicht unbillig sein, als er auch gegründet sein kann.
Gegründet ist er, wenn jemand die Elemente der philosophischen Theologie durch bloße Konstruktion konstituieren will, und dann die Begebenheiten darnach deutet. Unbillig ist er, wenn jemand nur nicht Hehl hat, dass seine philosophische Theologie, wie sie ihm mit der historischen wird, sich auch durch ihre Angemessenheit für diese bestätigt.

§ 256. Dasselbe gilt von dem Vorwurf, dass einer die historische Theologie in geistlose Empirie verwandle.
Er ist gegründet, wenn jemand die in der philosophischen Theologie zu ermittelnden Begriffe, um sie in der historischen zu gebrauchen, als etwas empirisch Gegebenes aufstellt. Unbillig ist er, wenn jemand nur gegen die apriorische Konstruktion dieser Begriffe protestiert, und auf dem kritischen Verfahren (vgl. § 32) besteht.

Dritter Teil.
Von der praktischen Theologie.
Die Grundprobleme der praktischen Theologie (§§ 257-266)
§ 257. Wie die philosophische Theologie die Gefühle der Lust und Unlust an dem jedesmaligen Zustand der Kirche zum klaren Bewusstsein bringt: so ist die Aufgabe der praktischen Theologie, die besonnene Tätigkeit, zu welcher sich die mit jenen Gefühlen zusammenhängenden Gemütsbewegungen entwickeln, mit klarem Bewusstsein zu ordnen und zum Ziel zu führen.
Wie die philosophische Theologie hier aufgefasst ist in der Einwirkung ihrer Resultate auf einen unmittelbaren Lebensmoment: so auch die praktische, wie ihre Resultate in einen solchen Lebensmoment eingreifen.

§ 258. Die praktische Theologie ist also nur für diejenigen, in welchen kirchliches Interesse und wissenschaftlicher Geist vereinigt sind.
Denn ohne das erste entstehen weder jene Gefühle, noch diese Gemütsbewegungen, und ohne wissenschaftlichen Geist keine besonnene Tätigkeit, welche sich durch Vorschriften leiten ließe, sondern der dem Erkennen abgeneigte Tätigkeitstrieb verschmäht die Regeln.

§ 259. Jedem besonnen Einwirkenden entstehen seine Aufgaben aus der Art, wie er den jedes Mal vorliegenden Zustand nach seinem Begriff von dem Wesen des Christentums und seiner besonderen Kirchengemeinschaft beurteilt.
Denn da die Aufgabe im allgemeinen nur Kirchenleitung ist: so kann er nur jedes Mal alles, was ihm gut erscheint, fruchtbar machen, das Entgegengesetzte aber unwirksam machen und umändern wollen.

§ 260. Die praktische Theologie will nicht die Aufgaben richtig fassen lehren; sondern indem sie dieses voraussetzt, hat sie es nur zu tun mit der richtigen Verfahrungsweise bei der Erledigung aller unter den Begriff der Kirchenleitung zu bringenden Aufgaben.
Für die richtige Fassung der Aufgaben ist durch die Theorie nichts weiter zu leisten, wenn philosophische und historische Theologie klar und im richtigen Maß angeeignet sind. Denn alsdann kann auch der gegebene Zustand in seinem Verhalten zum Ziel der Kirchenleitung richtig geschätzt, mithin auch die Aufgabe demgemäß gestellt werden. Wohl aber müssen zum Behuf der Vorschriften über die Verfahrungsweise die Aufgaben, indem man vom Begriff der Kirchenleitung ausgeht, klassifiziert und in gewissen Gruppen zusammengestellt werden.

§ 261. Will man diese Regeln als Mittel, wodurch der Zweck erreicht werden soll, betrachten: so müsste doch wegen Unterordnung der Mittel unter den Zweck alles aus diesen Vorschriften ausgeschlossen bleiben, was, indem es vielleicht die Lösung einer einzelnen Aufgabe förderte, doch zugleich im allgemeinen das kirchliche Band lösen oder die Kraft des christlichen Prinzips schwächen könnte.
Der Fall ist so häufig, dass dieser Kanon notwendig wird. Offenbar kann die einzelne gute Wirkung eines solchen Mittels nur eine zufällige sein; wenn sie nicht auf einem bloßen Schein beruht, so dass die Lösung doch nicht die richtige ist.

§ 262. Ebenso, weil der Handelnde die Mittel nur anwenden kann mit derselben Gesinnung, vermöge deren er den Zweck will: so kann keine Aufgabe gelöst werden sollen durch Mittel, welche mit einem von beiden Elementen der theologischen Gesinnung streiten.
Auch dieses beides, Verfahrungsarten, welche dem wissenschaftlichen Geist zuwiderlaufen, und solche, welche das kirchliche Interesse im ganzen gefährden, indem sie es in irgend einer einzelnen Beziehung zu fördern scheinen, sind häufig genug vorgekommen in der kirchlichen Praxis.

§ 263.
Da aber alle besonnene Einwirkung auf die Kirche, um das Christentum in derselben reiner darzustellen, nichts anders ist, als Seelenleitung; andere Mittel aber hierzu gar nicht anwendbar sind, als bestimmte Einwirkungen auf die Gemüter, also wieder Seelenleitung: so kann es, da Mittel und Zweck gänzlich zusammenfallen, nicht fruchtbar sein, die Regeln als Mittel zu betrachten, sondern nur als Methoden.
Denn Mittel muss etwas außerhalb des Zweckes Liegendes, mithin nicht in und mit dem Zwecke selbst Gewolltes sein, welches hier nur von dem Alleräußerlichsten gesagt werden kann, während alles näher Liegende selbst in dem Zweck liegt, und ein Teil desselben ist. Welches Ver¬hältnis des Teils zum Ganzen in dem Ausdruck Methode das Vorherrschende ist.

§ 264. Die in der Kirchenleitung vorkommenden Aufgaben klassifizieren und die Verfahrungsweisen angeben, lässt sich beides aufeinander zurückführen.
Denn jede besondere Aufgabe, sowohl ihrem Begriff nach, als in ihrem einzelnen Vorkommen, ist ebenso ein Teil des Gesamtzweckes, nämlich der Kirchenleitung, wie jede bei den besondern Aufgaben anzuwendende Methode nur ein Teil derselben ist. Daher lässt sich dies nicht wie zwei Hauptteile der Disziplin auseinander halten, indem die Klassifikation auch nur die Methode angibt, um die Gesamtaufgabe zu lösen.

§ 265. Alle Vorschriften der praktischen Theologie können nur allgemeine Ausdrücke sein, in denen die Art und Weise ihrer Anwendung auf einzelne Fälle nicht schon mit bestimmt ist (vgl. § 132), d. h. sie sind Kunstregeln im engeren Sinne des Wortes.
In allen Regeln einer mechanischen Kunst ist jene Anwendung schon mit enthalten; wogegen die Vorschriften der höheren Künste alle von dieser Art sind, so dass das richtige Handeln in Gemäßheit der Regeln immer noch ein besonderes Talent erfordert, wodurch das Rechte gefunden werden muss.

§ 266.
Die Regeln können daher nicht jeden, auch unter Voraussetzung der theologischen Gesinnung, zum praktischen Theologen machen, sondern nur demjenigen zur Leitung dienen, der es sein will und es seiner innern Beschaffenheit und seiner Vorbereitung nach werden kann.
Damit soll weder gesagt sein, dass zu dieser Ausübung ganz besondere, nur wenigen verliehene Naturgaben gehören, noch auch, dass die gesamte Vorbereitung dem Entschluss vorausgehen müsse.

Disposition der praktischen Theologie (§§ 267-276)
§ 267. Wie die christliche Theologie überhaupt, mithin auch die praktische, sich erst ausbilden konnte, als das Christentum eine geschichtliche Bedeutung erhalten hatte (vgl. §§ 2-5), und dieses nur vermittelst der Organisation der christlichen Gemeinschaft möglich war: so beruht nun alle eigentliche Kirchenleitung auf einer bestimmten Gestaltung des ursprünglichen Gegensatzes zwischen den Hervorragenden und der Masse.
Ohne einen solchen, der mannigfachsten Abstufungen fähigen, in dem Verhältnis der Mündigen zu den Unmündigen aber naturgemäß begründeten Gegensatz könnte aller Fortschritt zum Besseren nur in einer gleichmäßigen Entwicklung erfolgen, nicht durch eine besonnene Leitung. Ohne eine bestimmte Gestaltung desselben aber könnte die Leitung nur ein Verhältnis zwischen einzelnen sein, die Gemeinschaft also nur aus losen Elementen bestehen, und nie als Ganzes wirken, woran doch die geschichtliche Bedeutung gebunden ist.

§ 268. Diese bestimmte Gestaltung ist die zum Behuf der Ausgleichung und Förderung festgestellte. Methode des Umlaufs, vermöge deren die religiöse Kraft der Hervor ragenden die Masse anregt, und wiederum die Masse jene auffordert.
Dass auf diese Weise eine Ausgleichung erfolgt, und die Masse den Hervorragenden näher tritt, ist natürlich; Förderung aber ist nur zu erreichen, wenn man die religiöse Kraft überhaupt und namentlich unter den Hervorragenden in der Gemeinschaft als zunehmend voraussetzt.

§ 269. In der Übereinstimmung mit allem Bisherigen werden wir sonach in der christlichen Kirchenleitung vornehmlich zu betrachten haben die Gestaltung des Gegensatzes behufs der Wirksamkeit vermittelst der religiösen Vorstellungen, und die behufs des Einflusses auf das Leben, oder die leitende Tätigkeit im Kultus und die in der Anordnung der Sitte.
Beides unterscheidet sich zwar sehr bestimmt in der Erscheinung, ist aber der Formel nach allerdings nur ein unvollkommner Gegensatz. Denn der Kultus selbst besteht nur als geordnete Sitte; und da es den Anordnungen an aller äußeren Sanktion fehlt, so beruht ihre Gültigkeit auch nur auf der Wirksamkeit vermittelst der Vorstellung. Dies zwiefache Verhältnis wird aber auch sein Recht behaupten.

§ 270. Da die Hervorragenden dieses nur sind vermöge der beiden Elemente der theologischen Gesinnung, das Gleich¬gewicht von diesen aber nirgends genau vorauszusetzen ist: so wird es auch eine leitende Wirksamkeit geben, welche mehr klerikalisch ist, und eine mehr theologische im engeren Sinne des Wortes.
Es ist nicht nachzuweisen, dass diese Differenz mit der vorigen zusammenfällt, noch weniger, dass sie nur das eine Glied derselben teilt; mithin sind beide vorläufig als koordiniert und sich kreuzend zu betrachten.

§ 271. Das Christentum wurde erst geschichtlich, als die Gemeinschaft aus einer Verbindung mehrerer räumlich bestimmter Gemeinden bestand, die aber auch jede den Gegensatz zur Gestalt gebracht hatten, als wodurch sie erst Gemeinden wurden. Daher nun gibt es eine leitende Wirksamkeit, deren Gegenstand die einzelne Gemeinde als solche ist, und die also nur eine lokale bleibt, und eine auf das Ganze gerichtete, welche die organische Verbindung der Gemeinen, das heißt die Kirche, zum Gegenstand hat.
Auch dieser Gegensatz ist unvollständig, indem mittelbar aus der Leitung der einzelnen Gemeine etwas für das Ganze hervorgehen kann; und ebenso kann eine aus dem Standpunkt des Ganzen bestimmte leitende Tätigkeit zufällig nur eine einzelne Gemeine treffen. Im wirklichen Verlauf findet sich beides sehr bestimmt.

§ 272. In Zeiten der Kirchentrennung sind nur die Gemeinden Eines Bekenntnisses organisch verbunden, und die allgemeine leitende Tätigkeit in ihrer Bestimmtheit nur auf diesen Umfang beschränkt.
Es gibt allerdings auch Einwirkungen von einer Kirchengemeinschaft aus auf andere; aber sie können nicht den Charakter einer leitenden Tätigkeit haben. - Aber auch wenn keine solche Trennung wäre, würden doch bei der gegenwärtigen Verbreitung des Christentums äußere Gründe das Bestehen einer allgemeinen, alle Christengemeinen auf Erden umfassenden Kirchenleitung unmöglich machen.

§ 273. Da nun die Verfahrungsweisen sich richten müssen nach der Art, wie der Gegensatz gefasst und gestaltet ist: so muss auch die Theorie der Kirchenleitung eine andere sein für jede anders konstituierte Kirchengemeinschaft; und wir können daher eine praktische Theologie nur aufstellen für die evangelische Kirche.
Ja nicht einmal ganz für diese, da auch innerhalb ihrer zu viele Verschiedenheiten des Kultus und besonders der Verfassung vorkommen. Wir werden daher nur die deutsche im Auge haben.

§ 274. Wir sehen den zuletzt in § 271 ausgesprochenen Gegensatz als den obersten Teilungsgrund an, und nennen die leitende Tätigkeit mit der Richtung auf das Ganze das Kirchenregiment, die mit der Richtung auf die einzelne Lokalgemeine den Kirchendienst.
Nicht als ob es in der Natur der Sache läge, dass dies die Haupteinteilung sein müsste, sondern weil dies dem gegenwärtigen Zustand unserer Kirche das Angemessenste ist. Es gibt anderwärts Verhältnisse, in denen von Kirchenregiment in diesem Sinne wenig zu sagen wäre, weil es nur ein sehr loses Band ist, wodurch eine Mehrheit von Gemeinen zusammengehalten wird. - Für unsere beiden Teile bietet sich übrigens noch eine andere Benennungsweise dar, nämlich, wenn der eine Kirchenregiment heißt, den andern Gemeinderegiment zu nennen. Die obige ist aber aus demselben Grunde vorgezogen worden, aus welchem dies die Haupteinteilung geworden, weil nämlich der Verband der Gemeinen, wie wir ihn vorzugsweise Kirche nennen, hervorragt, und es daher angemessen ist, auch den andern Teil auf diese Gesamtheit zu beziehen; da denn die Pflege eines einzelnen Teils nur erscheinen kann als ein Dienst, der dem Ganzen geleistet wird.

§ 275. Der Inhalt der praktischen Theologie erschöpft sich in der Theorie des Kirchenregimentes im engeren Sinne und in der Theorie des Kirchendienstes.
Die oben §§ 269 und 270 angegebenen Gegensätze müssen nämlich in diesen beiden Hauptteilen aufgenommen und durchgeführt werden.

§ 276. Die Ordnung ist an und für sich gleichgültig. Wir ziehen vor, den Anfang zu machen mit dem Kirchendienst, und das Kirchenregiment folgen zu lassen.
Gleichgültig ist sie, weil auf jeden Fall die Behandlung des vorangehenden Teiles doch auf den Begriff des hernach zu behandelnden, und auf die mögliche verschiedene Gestaltung desselben Rücksicht nehmen muss. - Es ist aber die natürliche Ordnung, dass diejenigen, welche sich überhaupt zur Kirchenleitung eignen, ihre öffentliche Tätigkeit mit dem Kirchendienste beginnen.

Erster Abschnitt.
Die Grundsätze des Kirchendienstes.
Gliederung des Kirchendienstes (§§ 277-279)
§ 277. Die örtliche Gemeine, als ein Inbegriff in demselben Raum lebender und zu gemeinsamer Frömmigkeit verbundener christlicher Hauswesen gleichen Bekenntnisses, ist die einfachste vollkommen kirchliche Organisation, innerhalb welcher eine leitende Tätigkeit stattfinden kann.
Der Sprachgebrauch gibt noch Landesgemeine, Kreisgemeine; aber hier findet nicht immer eben eine gemeinsame Übung der Frömmigkeit statt. Er gibt uns auch Hausgemeine; allein hier ist die leitende Tätigkeit nicht eine eigentümlich vom religiösen Interesse ausgehende.

§ 278. Der Gegensatz überwiegender Wirksamkeit und überwiegender Empfänglichkeit muss, wenn ein Kirchendienst stattfinden soll, wenigstens für bestimmte Momente übereinstimmend fixiert sein.
Ohne bestimmte Momente kein gemeinsames Leben; und ohne Übereinkommen, wer mitteilend sein soll, und wer empfänglich, wäre es nur Verwirrung. Die Verteilung wird eine willkürliche bei Voraussetzung der größten Gleichheit; aber auch bei der größten Ungleichheit muss doch Empfänglichkeit allen zukommen. - Die Bestimmung dieses Verhältnisses für jede Gemeine gehört der Natur der Sache nach dem Kirchenregiment an.

§ 279. Die leitende Tätigkeit im Kirchendienst ist (vgl. § 269) teils die erbauende, im Kultus oder dem Zusammentreten der Gemeine zur Erweckung und Belebung des frommen Bewusstseins, teils die regierende, und zwar hier nicht nur durch Anordnung der Sitte, sondern auch durch Einfluss auf das Leben der einzelnen.
Diese zweite Seite konnte oben (§ 269) nur so bezeichnet werden, wie es auch für das Kirchenregiment gilt. Der Kirchendienst aber würde einen großen Teil seiner Aufgabe verfehlen, wenn die leitende Tätigkeit sich nicht auch einzelne zum Gegenstand machte.

Die erbauende Tätigkeit (§§ 280-289)
§ 280. Die erbauende Wirksamkeit im christlichen Kultus beruht überwiegend auf der Mitteilung des zum Gedanken gewordenen frommen Selbstbewusstseins, und es kann eine Theorie darüber nur geben, sofern diese Mitteilung als Kunst kann angesehen werden.
Das überwiegend gilt zwar (vgl. § 49) vom Christentum überhaupt, in diesem aber wiederum vorzüglich von dem evangelischen. - Gedanke ist hier im weiteren Sinne zu nehmen, in welchem auch die Elemente der Poesie Gedanken sind, Kunst in gewissem Sinne muss in jeder zusammenhängenden Folge von Gedanken sein. Die Theorie muss beides zugleich umfassen, in welchem Grade Kunst hier gefordert wird oder zugelassen, und durch welche Verfahrungsweisen die Absicht zu erreichen ist.

§ 281. Das Materiale des Kultus im engeren Sinne können nur solche Vorstellungen sein, welche auch im Inbegriff der kirchlichen Lehre ihren Ort haben; und die Theorie hat also, was den Stoff betrifft, zu bestimmen, was für Elemente der gemeinen Lehre, und in welcher Weise [sie] sich für diese Mitteilung eignen.
Materiale im engern Sinne sind diejenigen Vorstellungen, welche für sich selbst sollen mitgeteilt werden, im Gegensatz derer, die diesen nur dienen als Erläuterung und Darstellungsmittel. - Und da dieselben Vorstellungen in der mannigfaltigsten Weise vom Volksmäßigen bis zum streng Wissenschaftlichen, von der Umgangssprache bis zur rednerischen und dichterischen verarbeitet sind: so muss bestimmt werden, welche von diesen Schattierungen allgemein oder in verschiedener Beziehung sich für den Kultus eignen.

§ 282.
Da der christliche Kultus, und besonders auch der evangelische, aus prosaischen und poetischen Elementen zusammengesetzt ist: so ist, was die Form anlangt, zuerst zu handeln von dem religiösen Stil, dem prosaischen sowohl, als dem poetischen, wie er dem Christentum eignet; dann aber auch von den verschiedenen Mischungsverhältnissen beider Elemente, wie sie in dem evangelischen Kultus vorkommen können.
Die Theorie der kirchlichen Poesie gehört wenigstens insoweit in die Lehre vom Kirchendienst, als auch die Auswahl aus dem Vorhandenen nach denselben Grundsätzen muss gemacht werden.

§ 283.
Einförmigkeit und Abwechselung haben auf die Wirksamkeit aller Darstellungen dieser Art unverkennbaren Einfluss; daher ist auch die Frage zu beantworten, inwiefern, rein aus dem Interesse des Kultus, der besseren Einsicht die Rücksicht auf das Bestehende aufgeopfert werden muss, oder umgekehrt.
Zunächst scheint die Frage nur hierher zu gehören in dem Maß, als sie innerhalb der Gemeine selbst entschieden werden kann, ohne Zutritt des Kirchenregiments. Allein da die Gemeine doch auch ganz frei sein kann in dieser Beziehung, so wird diese Sache am besten ganz hierher gezogen.

§ 284. So sehr es auch dem Geist der evangelischen Kirche gemäß ist, die religiöse Rede als den eigentlichen Kern des Kultus anzusehen: so ist doch die gegenwärtig unter uns herrschende Form derselben, wie wir sie eigentlich durch den Ausdruck Predigt bezeichnen, in dieser Bestimmtheit nur etwas Zufälliges.
Dies geht hinreichend schon aus der Geschichte unseres Kultus hervor; noch deutlicher wird es, wenn man untersucht, wovon die große Ungleichheit in der Wirksamkeit dieser Vorträge eigentlich abhängt.

§ 285. Da die Disziplin, welche wir Homiletik nennen, gewöhnlich diese Form als feststehend voraussetzt, und alle Regeln hauptsächlich auf diese bezieht: so wäre es besser, diese Beschränktheit fahren zu lassen, und den Gegenstand auf eine allgemeinere und freiere Weise zu behandeln.
Der Unterschied zwischen eigentlicher Predigt und Homilie, welcher seit einiger Zeit so berücksichtigt zu werden anfängt, dass man für die letztere eine besondere Theorie aufstellt, tut der Forderung unseres Satzes bei weitem nicht Genüge.

§ 286. Fast überall finden wir in der evangelischen Kirche den Kultus aus zwei Elementen bestehend: dem einen, welches ganz der freien Produktivität dessen, der den Kirchen dienst verrichtet, anheim gestellt ist, und einem andern, worin dieser sich nur als Organ des Kirchenregimentes verhält.
In der ersten Hinsicht ist er vorzüglich der Prediger, in der andern der Liturg.

§ 287. Von dem liturgischen Element kann hier nur die Rede sein unter der Voraussetzung, dass und in welchem Maß eine freie Selbstbestimmung auch hierbei noch stattfindet.
Die Frage über die Selbstbestimmung kann nur aus dem Standpunkt des Kirchenregiments entschieden werden. Hier könnte sie es nur, sofern nachzuweisen wäre, dass eine gänzliche Verneinung mit dem Begriff des Kultus in der evangelischen Kirche streitet.

§ 288.
Da der Kirchendienst im Kultus wesentlich an organische Tätigkeiten gebunden ist, welche eine der Handlung gleichzeitige Wirkung hervorbringen: so ist zu entscheiden, ob und inwiefern auch diese ein Gegenstand von Kunstregeln sein können, und solche sind demgemäß aufzustellen.
Die Regeln wären dann eine Anwendung der Mimik in dem weiteren Sinne des Wortes auf das Gebiet der religiösen Darstellung.

§ 289. Da die Handlungen des Kirchendienstes an eine beschränkte Räumlichkeit gebunden sind, welche ebenfalls durch ihre Beschaffenheit einen gleichzeitigen Eindruck machen kann: so ist zu entscheiden, inwiefern ein solcher zulässig ist oder wünschenswert, und demgemäß Regeln darüber aufzustellen.
Da die Umgrenzung des Raumes nur eine äußere Bedingung, mithin Nebensache, nicht ein Teil des Kultus selbst ist: so würden die Regeln nur sein können eine Anwendung der Theorie der Verzierungen auf das Gebiet der religiösen Darstellung.

Die leitende Tätigkeit (§ 290)
§ 290. Sehen wir lediglich auf den Gegensatz überwiegend Produktiver und überwiegend Empfänglicher innerhalb der Gemeine, so dass wir die letzteren als gleich betrachten: so kann es in der Gemeine eine leitende Tätigkeit geben, welche Gemeinsames hervorbringt; sofern aber unter den Empfänglichen ein Teil hinter dem Ganzen zurückbleibt: so ist ihr Zustand als Einzelner Gegenstand der leitenden Tätigkeit.
Die letztere ist schon unter dem Namen der Seelsorge bekannt; und wir machen mit ihr den Anfang, da immer die Aufhebung einer solchen Ungleichheit als die erste Aufgabe erscheint. Erstere nennen wir die anordnende, und sie bringt sowohl Lebensweisen hervor, als einzelne gemeinsame Werke.

Seelsorge (§§ 291-302)
§ 291. Gegenstände der Seelsorge im weiteren Sinn sind zunächst die Unmündigen, in der Gemeine zu Erziehenden; und die Theorie der zur Organisation des Kirchendienstes gehörenden, auf sie zu richtenden Tätigkeit wird die Katechetik genannt.
Der Name ist nur von einer zufälligen Form der unmittelbaren Ausübung hergenommen, mithin für den ganzen Umfang der Aufgabe zu beschränkt.

§ 292. Das katechetische Geschäft kann nur richtig geordnet werden, wenn zwischen allen Beteiligten eine Einigung über den Anfangspunkt und Endpunkt desselben besteht.
Sofern also ist, wenn diese Einigung sich nicht von selbst ergibt, das Geschäft sowohl, als die Theorie abhängig von der ordnenden Tätigkeit.

§ 293. Vermöge des Zweckes, die Unmündigen den Mündigen gleich zu machen, sofern nämlich diese die Empfänglichen sind, muss das Geschäft aus zwei Teilen bestehen: dass sie nämlich ebenso empfänglich werden für die erbauende Tätigkeit und auch ebenso (vgl. § 279) für die ordnende; und die Aufgabe ist, beides durch ein und dasselbe Verfahren zu erreichen.
Das erste ist die Belebung des religiösen Bewusstseins nach der Seite des Gedankens hin, das andere die Erweckung desselben nach der Seite des Impulses.

§ 294. Sofern aber zugleich der Zweck sein muss, sie zu einer größeren Annäherung an die überwiegend Selbsttätigen vorzubereiten: so ist zu bestimmen, wie dies geschehen könne, ohne ihr Verhältnis zu den andern Mündigen zu stören.
Wie die Katechetik überhaupt auf die Pädagogik als Kunstlehre zurückgeht: so ist auch dieses eine allgemein pädagogische Aufgabe, die sich aber doch in Bezug auf das religiöse Gebiet auch besondere bestimmt.

§ 295. Da nach beiden Seiten (vgl. § 293) hin, nicht nur die Frömmigkeit im Gegensatz gegen das sinnliche Selbstbewusstsein, sondern auch in ihrem christlichen Charakter und als die evangelische zu entwickeln ist: so ist auch hier das Verhalten der individuellen und universellen Richtung zu einander, sowohl in Bezug auf die Ausgleichung als die Fortschreitung (vgl. § 294), zu bestimmen.
Es ist um so notwendiger, diese Aufgabe in die Theorie aufzunehmen, als in der neuesten Zeit die merkwürdigsten Verirrungen in diesem Punkt vorgekommen sind.

§ 296. Aus ähnlichem Grunde können diejenigen Einzelnen Gegenstände einer ähnlichen Tätigkeit werden, welche als religiöse Fremdlinge im Umkreis oder der Nähe einer Gemeine leben, und dies erfordert dann eine Theorie über die Behandlung der Konvertenden.
Je bestimmter die Grundsätze der Katechetik aufgestellt sind, um desto leichter müssen sich diese daraus ableiten lassen.

§ 297. Da aber diese Wirksamkeit nicht so natürlich begründet ist: so wären auch Merkmale aufzustellen, um zu erkennen, ob sie gehörig motiviert ist.
Denn es kann hier auf beiden Seiten gefehlt werden, durch zu leichtes Vertrauen und durch zu ängstliche Zurückhaltung.

§ 298. Bedingterweise könnte sich eben hier auch die Theorie des Missionswesens anschließen, welche bis jetzt noch so gut als gänzlich fehlt.
Am leichtesten freilich nur, wenn man davon ausgeht, dass alle Bemühungen dieser Art nur gelingen, wo eine christliche Gemeine besteht.

§ 299. Einzeln können solche Mitglieder der Gemeine Gegenstände für die Seelsorge werden, welche ihrer Gleichheit mit den andern durch innere oder äußere Ursachen verlustig gegangen sind; und die Beschäftigung mit diesen nennt man die Seelsorge im engeren Sinne.
Da nämlich die Gleichheit in der Wirklichkeit immer nur das Kleinste der Ungleichheit ist: so sollen diejenigen, die unter den Gleichen die Letzten sind, hier nicht gemeint sein; wie denn diese auch immer vorhanden sind, jene aber nur zufällig.

§ 300. Da nun in diesem Falle ein besonderes Verhältnis anzuknüpfen ist: so hat die Theorie zunächst zu bestimmen, ob es überall auf beiderlei Weise entstehen kann, von dem Bedürftigen aus und von dem Mitteilenden aus, oder unter welchen Verhältnissen welche Weise die richtige ist.
Die große Verschiedenheit der Behandlung dieses Gegenstandes in ver¬schiedenen Teilen der evangelischen Kirche ist bis jetzt weder konstruiert, noch beseitigt.

§ 301.
Da ein solcher Verlust der Gleichheit aus innern Ursachen sich nur in einer Opposition zeigen kann gegen die erbauende oder die ordnende Tätigkeit: so ist demnächst zu bestimmen, ob und wie im Geist der evangelischen Kirche das Verfahren aus beiden Elementen (vgl. § 279) zusammenzusetzen ist; endlich auch, ob, wenn die Seelsorge ihren Zweck nicht erreicht, ihr Geschäft immer nur als noch nicht beendigt anzusehen ist, oder ob und wann und inwiefern der Zusammenhang der unempfänglich Gewordenen mit den Leitenden als aufgehoben kann angesehen werden.
Die Aufhebung dieses Zusammenhanges zöge auch die des Zusammenhanges mit der Gemeine als solcher nach sich.

§ 302. In Hinsicht der durch die Wirksamkeit äußerer Ursachen notwendig gewordenen Seelsorge ist außer der ersten Aufgabe (vgl. § 300) nur noch zu bestimmen, wie die Übereinstimmung dieser amtlichen Wirksamkeit, die wesentlich die geistige Krankenpflege umfasst, mit der geselligen der Empfänglichen aus der Gemeine zu erreichen ist.
Denn das im § 301 in Frage Gestellte kann hier kaum streitig sein, da hier nur zu ergänzen ist, was durch den momentan aufgehobenen Anteil im gemeinsamen Leben versäumt wird. Die erbauende Tätigkeit grenzt hier zu nahe an das gewöhnliche Gespräch, um einer besonderen Theorie zu bedürfen.

Organisation des Gemeindelebens (§§ 303-306)
§ 303. Die innerhalb der Gemeine anordnende Tätigkeit (vgl. § 290) erscheint in Beziehung auf die Sitte beschränkt, teils durch die umfassenderen Einwirkungen des Kirchenregimentes, teils durch die unabweisbaren Ansprüche der persönlichen Freiheit.
Man kann nur sagen: erscheint; denn die Leitenden müssen durch ihr eigenes persönliches Freiheitsgefühl zurückgehalten werden, nicht in dieses Gebiet einzugreifen. Eben dadurch aber sollten auch die Leitenden im Kirchenregiment abgehalten werden, nicht zentralisierend in das Gebiet der Gemeine einzugreifen.

§ 304. Da die evangelische Sitte ebenso wie die Lehre, im Gegensatz gegen die katholische Kirche, noch in der Entwicklung begriffen ist: so sind nur im allgemeinen Regeln aufzustellen, wie das Gesamtleben von einem gegebenen Zustande aus allmählich der Gestalt näher gebracht werden kann, welche der reiferen Einsicht der Vorgeschrittenen gemäß ist.
Der gegebene Zustand kann entweder noch unerkannt mancherlei vom Katholizismus in sich tragen, oder auch irrtümlich Schranken, welche das Christentum selbst stellt, überschritten haben.

§ 305. Da das Leben auch in der christlichen Gemeine zugleich durch gesellige und bürgerliche Verhältnisse bestimmt wird: so ist anzugeben, auf welche Weise auch in diesem Gebiet, so weit dies von lokalen Bestimmungen ausgehen kann, dem Einfluss des christlichen und evangelischen Geistes größere Geltung zu verschaffen ist.
Überall kann hier nur von der Verfahrungsweise die Rede sein, indem das Materielle der ordnenden Tätigkeit von der geltenden Auffassung der christlichen Lehre, besonders der Sittenlehre abhängt.

§ 306. Da von der ordnenden Tätigkeit auch die Aufforderungen zur Vereinigung der Kräfte ausgehen müssen zum Behuf aller solcher gemeinsamen Werke, welche in dem Be griff und Bereich der Gemeine liegen: so ist es wichtig, diese Grenze (vgl. § 303) zu bestimmen.
Die Aufgabe ist, dasjenige, was für die amtliche Wirksamkeit gehört, und beständig fortgeht, z. B. das ganze Gebiet des Diakonats im ursprünglichen Sinn, von dem zu scheiden, was nur von dem persönlichen Verhältnis einzelner Leitenden auf einen Teil der Masse ausgehen kann.

Epilog (§§307-308)
§ 307. Der Kirchendienst ist hier als Ein Gebiet behandelt worden, ohne die verschiedene mögliche Weise der Geschäftsverteilung irgend beschränken zu wollen.
Sonst hätten wir schon die Theorie der kirchlichen Verfassung vorwegnehmen müssen. Wir können daher auch hier nur nach alter Weise alle, die an den Geschäften des Kirchendienstes teilnehmen, in dem Ausdruck Klerus auf dieser Stufe zusammenfassen.

§ 308. Auch nur in dieser Allgemeinheit kann daher die Frage behandelt werden, ob und was für einen Einfluss das kirchliche Verhältnis zwischen Klerus und Laien auf das Zusammensein der ersten mit den letzten, sowohl in den bürgerlichen, als in den geselligen und wissenschaftlichen Verhältnissen werde zu äußern haben.
Die Aufgaben, welche gewöhnlich unter dem Namen der Pastoralklugheit behandelt wurden, erscheinen hier als ganz untergeordnet, und ihre Lösung beruht auf der Erledigung der Frage, ob und welcher spezifische Unterschied stattfinde zwischen den Mitgliedern des Klerus, welche den Kultus leiten, und den übrigen.

Zweiter Abschnitt.

Die Grundsätze des Kirchenregimentes.
Prolegomena (§§309-314)
§ 309. Wenn das Kirchenregiment in der Gestaltung eines Zusammenhanges unter einem Komplexes von Gemeinden beruht: so ist zunächst die Mannigfaltigkeit der Verhältnisse, welche sich zwischen dem Kirchenregiment und den Gemeinden entwickeln können, zu verzeichnen, und zu bestimmen, ob durch den eigentümlichen Charakter der evangelischen Kirche einige Formen bestimmt ausgeschlossen oder andere bestimmt postuliert werden.
Es wird nämlich vorausgesetzt, dass die Gestaltung eines solchen Zusammenhanges weder dem Wesen des Christentums widerspricht, noch die Selbsttätigkeit der Gemeinen aufhebt.

§ 310. Da die Art und Weise, wie sich die überwiegend Selbsttätigen in einem solchen geschlossenen Komplexus zur Ausübung des Kirchenregiments gestalten, und wie sich dessen Wirksamkeit und die freie Selbsttätigkeit der Gemeinen gegenseitig erregt und begrenzt, die innere Kirchenverfassung bildet: so hat die obige Aufgabe die Tendenz, diese für die evangelische Kirche, sowohl in ihrer Mannigfaltigkeit, als in ihrem Gegensatz gegen die katholische, auf Grundsätze zurückzuführen.
Die Lösung muss einerseits auf dogmatische Sätze zurückgehen, und kann andererseits nur durch zweckmäßigen Gebrauch der Kirchengeschichte und der kirchlichen Statistik gelingen.

§ 311. Da die evangelische Kirche dermalen nicht Einen Komplexus von Gemeinen bildet, und in verschiedenen auch die innere Verfassung eine andere ist, die Theologie hingegen für alle dieselbe sein soll: so muss die Theorie des Kirchenregimentes ihre Aufgaben so stellen, wie sie für alle möglichen evangelischen Verfassungen dieselben sind, und von jeder aus können gelöst werden.
Das dermalen soll nur bevorworten, dass die Unmöglichkeit einer jeden äußeren Einheit der evangelischen Kirche wenigstens nicht entschieden ist.

§ 312. Da jedes geschichtliche Ganze nur durch dieselben Kräfte fortbestehen kann, durch die es entstanden ist: so besteht das evangelische Kirchenregiment aus zwei Elementen, dem gebundenen, nämlich der Gestaltung des Gegensatzes für den gegebenen Komplexus, und dem ungebundenen, nämlich der freien Einwirkung auf das Ganze, welche jedes einzelne Mitglied der Kirche versuchen kann, das sich dazu berufen glaubt.
Die evangelische Kirche, nicht nur in Bezug auf die Berichtigung der Lehre, sondern auch ihre Verfassung oder ihr gebundenes Kirchenregiment, ist ursprünglich aus dieser freien Einwirkung entstanden, ohne welche auch, da das gebundene mit der Verfassung identisch ist, eine Verbesserung der Verfassung denkbarer Weise nicht erfolgen könnte. - Damit die letzte Bestimmung nicht tumultuarisch erscheine, muss nur bedacht werden, dass, wenn sich einer, der nicht zu den über¬wiegend Produktiven gehört, doch berufen glauben sollte, der Versuch von selbst in nichts zerfallen würde.

§ 313. Beide können nur denselben Zweck haben (vgl. § 25), die Idee des Christentums nach der eigentümlichen Auffassung der evangelischen Kirche in ihr immer reiner zur Darstellung zu bringen, und immer mehr Kräfte für sie zu gewinnen. Das organisierte Element aber, die kirchliche Macht oder richtiger Autorität, kann dabei ordnend oder beschränkend auftreten, das nicht organisierte oder die freie geistige Macht nur aufregend und warnend.
Einverstanden jedoch, dass auch der kirchlichen Macht jede äußere Sanktion für ihre Aussprüche fehlt; so dass der Unterschied wesentlich darauf hinausläuft, dass diese als Ausdruck des Gemeingeistes und Gemeinsinnes wirken, die freie geistige Macht aber etwas erst in den Ge¬meinsinn und Gemeingeist bringen will.

§ 314. Der Zustand eines kirchlichen Ganzen ist desto befriedigender, je lebendiger beiderlei Tätigkeiten ineinander greifen, und je bestimmter auf beiden Gebieten. mit dem Bewusstsein ihres Gegensatzes gehandelt wird.
Die kirchliche Autorität hat also zu vereinigen, und die Theorie muss die Formel dafür (vgl. § 310) aufsuchen, wie ihr überwiegend obliegt, das durch die letzte Epoche gebildete Prinzip zu erhalten und zu befestigen, zugleich aber auch die Äußerungen freier Geistesmacht zu begünstigen und zu beschützen, welche allein die Anfänge zu um¬bildenden Entwicklungen hervorbringen kann. Ebenso für die freie Geistesmacht, wie sie, ohne der Stärke der Überzeugung etwas zu ver¬geben, sich doch mit dem begnügen könne, was durch die kirchliche Autorität ins Leben zu bringen ist.

Die kirchliche Autorität
Kirchendienst (§§315-317)
§ 315. Da ein größerer kirchlicher Zusammenhang nur stattfinden kann bei einem gewissen Grade von Gleichheit oder einer gewissen Leichtigkeit der Ausgleichung unter den ihn konstituierenden Gemeinden: so hat auch überall die kirchliche Autorität einen Anteil an der Gestaltung und Aufrechthaltung des Gegensatzes zwischen Klerus und Laien in den Gemeinen.
Nämlich nur einen Anteil, weil die Gemeine früher ist, als der kirchliche Nexus, und weil sie nur ist, sofern dieser Gegensatz in ihr besteht.

§ 316. Da dieser Anteil ein Größtes und ein Kleinstes sein kann: so hat die Theorie diese Verschiedenheit erst zu fixieren, und dann zu bestimmen, welchen anderweitigen Verhältnissen und Zuständen jede Weise zukomme, und ob sie dieselbige sei für alle Funktionen des Kirchendienstes oder eine andere für andere.
Denn dass in - diesem scheinbar stetigen Übergang vom Kleinsten zum Größten sich doch gewisse Punkte als Hauptunterschiede feststellen lassen, versteht sich aus allen ähnlichen Fällen von selbst.

§ 317.
Da ferner jene Gleichheit weder als unveränderlich, noch als sich immer von selbst wiederherstellend angesehen werden kann, mithin sie zugleich ein Werk der kirchlichen Autorität sein muss: so ist die Art und Weise, diesen Einfluss auszuüben, das heißt der Begriff der kirchlichen Gesetzgebung, zu bestimmen.
Zugleich: weil sie nämlich in gewissem Sinne schon vorhanden sein muss vor der kirchlichen Autorität. - Der Ausdruck Gesetzgebung bleibt, weil die kirchliche Autorität ebenfalls aller äußeren Sanktion entbehrt, immer ungenau.

Kirchengesetzgebung (§§ 318-327)
§ 318. Da nun diese Gleichheit zunächst nur erscheinen kann im Kultus und in der Sitte, beide aber an sich der adäquate Ausdruck der an jedem Orte herrschenden Frömmigkeit sein sollen: so entsteht die Aufgabe, beides durch die kirchliche Gesetzgebung zu vereinigen und vereint zu erhalten.
Es liegt in der Natur der Sache, dass dies nur durch Annäherung geschehen kann, und dass also die Theorie vorzüglich darauf sehen muss, das Schwanken zwischen dem Übergewicht des einen und des andern in möglichst enge Grenzen einzuschließen.

§ 319. Da beide nur, sofern sie sich selbst gleich bleiben, als Ausdruck der kirchlichen Einheit fortbestehen können, alles aber, was und sofern es Ausdruck und Darstellungsmittel ist, seinen Bedeutungswert allmählich ändert: so entsteht die Aufgabe für die Gesetzgebung, sowohl die Freiheit und Beweglichkeit von beiden anzuerkennen, als auch ihre Gleichförmigkeit zu begründen.
Hierdurch muss sich zugleich auch das Verhältnis der kirchlichen Autorität zum Kirchendienst in der Konstitution des Kultus und der Sitte wenigstens in bestimmte Grenzen einschließen.

§ 320. Der kirchlichen Autorität muss ferner geziemen, im Falle einer Opposition in den Gemeinen, rühre sie nun her (vgl. § 299) von einzelnen, aus der Einheit mit dem Ganzen Gefallenen, oder von zurückgetretener Einheit überhaupt, als höchster Ausdruck des Gemeingeistes, den Ausschlag zu geben, wenn innerhalb der Gemeine keine Einigung zu erzielen ist.
Geltend wird dieser Ausschlag immer nur, sofern auch die Opponenten nicht aufhören wollen, in diesem kirchlichen Verein ihren christlichen Gemeinschaftstrieb zu befriedigen.

§ 321. Insofern die kirchliche Autorität hierauf entweder durch allgemeine Bestimmungen einwirkt, oder wenigstens solchen folgt, wo sie einzeln zutritt, muss hier die Frage erledigt werden, ob und unter welchen Verhältnissen in einem evangelischen Kirchenverein Kirchenzucht stattfinde oder auch Kirchenbann.
Letzterer nämlich, sofern die Aufhebung des Verhältnisses eines einzelnen zur Gemeine oder zum Kirchenverein von der Autorität ausgesprochen. werden kann. Ersteres, insofern eine stattgehabte Opposition nur durch eine öffentliche Anerkennung ihrer Unrichtigkeit solle beendigt werden können.

§ 322. Über das Verhältnis der kirchlichen Autorität zu dem Lehrbegriff machen sich noch so entgegengesetzte Ansichten geltend, dass es unmöglich scheint, einen gemeinsamen Ausgangspunkt zu finden, so dass eine Theorie nur bedingterweise kann aufgestellt werden.
Ja, es möchte sogar nicht einmal leicht sein, die Parteien zum Einverständnis über den Ort, wo der Streit entschieden werden sollte, mithin gleichsam zur Wahl eines Schiedsrichters zu bringen.

§ 323. Ausgehend einerseits davon, dass der evangelische Kirchenverein entstanden ist mit und fast aus der Behauptung, dass keiner Autorität zustehe, den Lehrbegriff festzustellen oder zu ändern, andererseits davon, dass wir, ungeachtet der Mehrheit evangelischer Kirchenvereine, welche verschiedenen Maximen folgen, doch Eine evangelische Kirche und eine diese Einheit bezeugende Lehrgemeinschaft anerkennen: glauben wir die Aufgabe nur so stellen zu dürfen. Es sei zu bestimmen, wie die kirchliche Autorität eines jeden Vereins, anerkennend, dass Änderungen in den Lehrsätzen und Formeln nur entstehen dürfen aus den Forschungen einzelner, wenn diese in die Überzeugung der Gemeine aufgenommen werden, diese Wirksamkeit der freien Geistesmacht beschützen, zugleich aber die Einheit der Kirche in den Grundsätzen ihres Ursprungs festhalten könne.
Natürlich soll keineswegs ausgeschlossen werden, dass nicht dieselben, welche als kirchliche Autorität wirken, auch könnten die Wirksamkeit der freien Forschung ausüben; sondern nur um so strenger ist darauf zu halten, dass sie dies nicht in der Weise und unter der Firma der kirchlichen Autorität tun. - Ganz entgegengesetzt aber muss die Aufgabe gestellt werden, wenn man von der Voraussetzung ausgeht, dass die Kirche nur durch eine in einem anzugebenden Grade genaue Gleichförmigkeit der Lehre als Eine bestehe.

§ 324. Das Obige (vgl. § 322) gilt auch von den Rechten und Obliegenheiten der kirchlichen Autorität in Bezug auf die Verhältnisse der Kirche zum Staat, indem keine Handlungsweise, welche irgend vorgeschrieben werden könnte, sich einer allgemeinen Anerkennung erfreuen würde.
Nur dies scheint bemerklich zu sein, dass da, wo die evangelische Kirche gänzlich vom Staat getrennt ist, niemand andere Wünsche hegt; da. aber, wo eine engere Verbindung zwischen beiden stattfindet, die Meinungen in der Kirche geteilt sind.

§ 325. Ausgehend einerseits davon, dass, wenn die Kirche nicht will eine weltliche Macht sein, sie auch nicht darf in die Organisation derselben verflochten sein wollen, andererseits davon, dass, was Mitglieder der Kirche, welche an der Spitze des bürgerlichen Regiments stehen, in dem kirchlichen Gebiet tun, sie doch nur in der Form der Kirchenleitung tun können, vermögen wir die Aufgabe nur so zu stellen. Es sei zu bestimmen, auf welche Weise die kirchliche Autorität unter den verschiedenen gegebenen Verhältnissen dahin zu wirken habe, dass die Kirche weder in eine kraftlose Unabhängigkeit vom Staat, noch in eine wie immer angesehene Dienstbarkeit unter ihm gerate.
Die Theorie ist höchst schwierig aufzustellen, und gewährt doch wenig Ausbeute, weil, wenn die kirchliche Autorität schon eine Verschmelzung der Kirche mit der politischen Organisation oder eine den Einfluss äußerer Sanktion benutzende Verfahrungsart in kirchlichen Angelegenheiten vorfindet, sie unter ihrer Form nur indirekt dagegen wirken kann, alles andere aber von den allmählichen Einwirkungen der freien Geistesmacht erwarten muss. - Und wie wenig Übereinstimmung auch in den ersten Grundsätzen ist, wird am besten daraus klar, dass, wo die Kirche sich in einer Dienstbarkeit ohne Ansehen befindet, immer einige vorziehen werden, in der Dienstbarkeit Ansehen zu erwerben, andere aber unangesehen zu bleiben, wenn sie nur unabhängig werden können.

§ 326. Dieselbe Aufgabe kehrt noch in einer besonderen Beziehung wieder, wenn der Staat die gesamte Organisation der Bildungsanstalten in die seinige aufgenommen hat, indem alsdann in Beziehung auf die geistige Bildung, durch welche allein sowohl der evangelische Kultus erhalten werden, als auch eine freie Geistesmacht in der Kirche bestehen kann, ebenfalls kraftlose Unabhängigkeit oder wohlhabende Dienstbarkeit drohen.
Für dieses Gebiet kann unter ungünstigen Umständen sehr leicht das schwierige und nicht auf einfache Weise zu lösende Dilemma entstehen, ob der Kirchenverein sich solle mit dem, wenn auch noch so dürftigen Apparat begnügen, den er sich unabhängig erwerben und bewahren kann, oder ob er es wagen solle, auch aus mit nicht-evangelischen Elementen versetzten Quellen zu schöpfen.

§ 327. Da die verschiedenen für sich abgeschlossenen Gemeinvereine, welche zusammen die evangelische Kirche bilden, teils durch äußerliche, der Veränderung unterworfene Verhältnisse, teils durch Differenzen in der Sitte oder Lehre, deren Schätzung ebenfalls der Veränderung unterworfen ist, gerade so begrenzt sind, die meisten aber sich durch diese Begrenzung an ihrer Selbständigkeit gefährdet finden: so entsteht die Aufgabe für jeden von ihnen, sich einem genaueren Zusammenhang mit den übrigen offen zu halten und ihn in seinem Innern vorzubereiten, damit keine günstige Gelegenheit, ihn hervorzurufen, versäumt werde.
Diese Aufgabe bezeichnet zugleich das Ende des Gebietes der kirchlichen Autorität; denn nicht nur stirbt mit der Lösung der Aufgabe jedes bisherige Kirchenregiment seinem abgesonderten Sein ab, sondern auch die Lösung selbst, weil sie über das Gebiet der abgeschlossenen Autorität hinausgeht, kann nur durch die Wirksamkeit der freien Geistesmacht hervorgerufen werden.

Die freie Geistesmacht
§§328-334
Einleitung §§328-329
§ 328. Da das ungebundene Element des Kirchenregimentes (vgl. § 312), welches wir durch den Ausdruck freie Geistesmacht in der evangelischen Kirche bezeichnen, als auf das Ganze gerichtete Tätigkeit einzelner, eine möglichst unbeschränkte Öffentlichkeit, in welcher sich der einzelne äußern kann, voraussetzt: so findet es sich jetzt vornehmlich in dem Beruf des akademischen Theologen und des kirchlichen Schriftstellers.
Bei dem ersten Ausdruck ist nicht gerade an die nur zufällige, jetzt noch bestehende Form zu denken; doch wird immer eine mündliche, große Massen der zur Kirchenleitung bestimmten Jugend vielseitig anregende Überlieferung etwas höchst Wünschenswertes bleiben. - Unter dem letzten sind in dieser Beziehung diejenigen nicht mit begriffen, welche nur ihre Verrichtungen im Kirchendienst auf die Schrift übertragen.

§ 329. Beide werden ihre allgemeinste Wirkung (vgl. §§ 313, 314) nur in dem Maß vollbringen, als sie dem Begriff des Kirchenfürsten (vgl. § 9) nahe kommen.
Des in § 9 erwähnten Gleichgewichts bedürfen beide um so weniger, als sie sich mit ihrer Produktion in dem Gebiet einer besonderen wissenschaftlichen. Virtuosität bewegen. Aber in demselben Maß werden sie auch keine allgemeine anregende Wirkung auf das Kirchenregiment ausüben.

Der akademische Lehrer (§§ 330-331)
§ 330. Da der akademische Lehrer in der von religiösem Interesse vorzüglich belebten Jugend den wissenschaftlichen Geist in seiner theologischen Richtung erst recht zum Bewusstsein bringen soll: so ist die Methode anzugeben, wie dieser Geist zu beleben sei, ohne das religiöse Interesse zu schwächen.
Wie wenig man noch im Besitz dieser Methode ist, lehrt eine nur zu zahlreiche Erfahrung. Es bleibt übrigens dahingestellt, ob diese Methode eine allgemeine sei, oder ob es bei verschiedenen Disziplinen auf Verschiedenes ankommt.

§ 331. Da, das Vorhandene um so weniger genügt, als (je mehr) der wissenschaftliche Geist die einzelnen Disziplinen durchdringt: so ist eine Verfahrungsweise aufzustellen, wie die Aufmunterung und Anleitung, um die theologischen Wissenschaften weiter zu fördern, zugleich zu verbinden sei mit der richtigen Wertschätzung der bisherigen Ergebnisse, und mit treuer Bewahrung des dadurch in der Kirche niedergelegten Guten.
Eine gleiche Erfahrung bewährt hier denselben Mangel, und unleugbar kommt von der allzuscharfen Spannung zwischen denen, welche Neues bevorworten, und denen, welche sich vor dem Alten beugen, vieles auf Rechnung der Lehrweise.

Der theologische Schriftsteller (§§ 332-334)
§ 332. Sofern die schriftstellerische Tätigkeit auf Bestreitung des Falschen und Verderblichen gerichtet ist: so ist dem theologischen Schriftsteller besonders die Methode anzugeben, wie er sowohl das Wahre und Gute, woran sich jenes findet und womit es zusammenhängt, nicht nur auffinden, sondern auch zur Anerkenntnis bringen kann, als auch dem Eigentümlichen, worin es erscheint, seine Beziehung auf das kirchliche Bedürfnis anweisen.
Der Satz, dass aller Irrtum nur an der Wahrheit ist, und alles Schlechte nur am Guten, ist die Grundbedingung alles Streites und aller Korrektion. Der letzte Teil der Aufgabe ruht einerseits auf der Voraussetzung, dass Irriges und Schädliches, wenn nicht durch Eigentümlichkeit getragen, wenig Einfluss ausüben kann, andererseits auf der, dass alle Gaben in der Kirche sich erweisen können zum gemeinen Nutzen.

§ 333.
Sofern sie Neues zur Anerkenntnis bringen und empfehlen will, wäre eine Formel zu finden, wie die Darstellung des Gegensatzes zwischen dem Neuen und Alten, und die des Zusammenhanges zwischen beiden, sich am besten unterstützen können.
Denn ohne Gegensatz wäre es nicht neu, und ohne Zusammenhang wäre es nicht anzuknüpfen.

§ 334.
Da die öffentliche Mitteilung sich leicht weiter verbreitet, als sie eigentlich verstanden wird: so entsteht die Aufgabe, jene Darstellung so einzurichten, dass sie nur für diejenigen einen Reiz hat, von denen auch ein richtiger Gebrauch zu erwarten ist.
Die sonst hiezu fast ausschließend empfohlene und angewendete Regel, sich bei Darstellungen, von denen Missdeutung oder Missbrauch zu erwarten ist, nur der gelehrten Sprache zu bedienen, ist den Verhältnissen nicht mehr angemessen.

Schlussbetrachtungen über die praktische Theologie
(§§ 335-338)
§ 335. Von der Scheidung zwischen dem, was jedem obliegt, und dem, was eine besondere Virtuosität konstituiert, konnte hier keine Erwähnung geschehen.
Denn sie kann nur auf zufälligen oder fast persönlichen Beschränkungen beruhen, und ergibt sich dann von selbst. An und für sich betrachtet, kann jeder zur Kirchenleitung Berufene auf jede Weise wirksam sein; und es gibt nicht sowohl verschiedene trennbare Gebiete, als nur verschiedene Grade erreichbarer Vollkommenheit.

§ 336. Die Aufgaben, zumal im Gebiet des Kirchenregiments, wird derjenige am richtigsten stellen, der sich seine philosophische Theologie am vollkommensten durch gebildet hat. Die richtigsten. Methoden werden sich demjenigen darbieten, der am vielseitigsten auf geschichtlicher Basis in der Gegenwart lebt. Die Ausführung muss am meisten durch Naturanlagen und allgemeine Bildung gefördert werden.
Wenn nicht alles, was in dieser enzyklopädischen Darstellung auseinander gelegt ist. hier gefordert würde, so wäre sie unrichtig, so wie die Forderung unrichtig wäre, wenn sie etwas enthielte, was in keiner enzyklopädischen Darstellung enthalten sein kann.

§ 337. Der Zustand der praktischen Theologie als Disziplin zeigt, dass, was im Studium jedes einzelnen das Letzte ist, auch als das Letzte in der Entwicklung der Theologie überhaupt erscheint.
Schon deshalb, weil sie die Durchbildung der philosophischen Theologie (vgl. §§ 66 und 259) voraussetzt.

§ 338. Da sowohl der Kirchendienst, als das Kirchenregiment, in der evangelischen Kirche wesentlich durch ihren Gegensatz gegen die römische bedingt ist: so ist es die höchste Vollkommenheit der praktischen Theologie, beide jedes Mal so zu gestalten, wie es dem Stande dieses Gegensatzes zu seinem Kulminationspunkte angemessen ist.
Hierdurch geht sie besonders auf die höchste Aufgabe der Apologetik (vgl. § 63) zurück. S. 1-131
Aus: Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1961