Albert Schweitzer (1875 – 1965)

Im Elsass geborener Arzt, evangelischer Theologe, Kulturphilosoph und Musiker, der an der Universität Straßburg die Doktorwürde der Theologie, Philosophie und Medizin erwarb. Schweitzer gründete 1913 in Lambarene (Gabun) als Missionsarzt ein Tropen-Hospital, das er mit Orgelkonzerten. Vortragsreisen und schriftstellerische Arbeit zu finanzieren suchte. Hier wirkte er mit Ausnahme der Zeit seiner Internierung (1917). Bedeutend war sein Beitrag zur Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt seines Denkens stand seit 1915 die »Ehrfurcht vor dem Leben«, aus der sich für ihn denknotwendig ein allgemeingültiges sittliches Grundprinzip der Erhaltung und Förderung des Lebens ergibt. 1951 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 1952 den Friedensnobelpreis, 1954 den Orden der Friedensklasse des »Pour le mérite«.

Siehe auch Wikipedia, Heiligenlexikon und Kirchenlexikon

Inhaltsverzeichnis

Die Kraft der Humanitätsgesinnung Die Bruderschaft der vom Schmerz Gezeichneten  

Die Kraft der Humanitätsgesinnung
Der Traum derer, die von der historischen Entwicklung erwarten, dass sie einen höheren Menschen hervorbringe, hat sich in irgendeinem Maße erfüllt. In irgendeinem Maße sind wir Übermenschen geworden durch die Macht, die wir besitzen, indem wir über Naturkräfte gebieten, von denen wir glaubten, dass sie niemals den Menschen unterworfen sein könnten. Aber dieser Übermensch leidet an einer Unvollkommenheit; denn seine Vernünftigkeit ist nicht übermenschlich geworden, wie es der Macht, die er sich errungen hat, entsprechen würde, sondern er ist kleiner geblieben als er sein sollte. Er besitzt nicht jene Stufe der höchsten Vernünftigkeit, die ihm nun erlauben würde, nicht daran zu denken, die Macht über die Naturkräfte zum Vernichten zu benutzen, sondern nur darauf bedacht zu sein, sie zum Erbauen und sinngemäßen Gestalten zu gebrauchen. Diese Macht ist seine Größe und sein Elend zugleich. Denn durch diese Macht sind die Völker, die aus solchen Menschen bestehen, die von Errungenschaft zu Errungenschaft fortschreiten bis ins Unabsehbare, einander Gegenstand einer nicht zu bannenden Angst geworden; und keines kann von dem andern sagen, ob es nicht einmal in die Lage kommt, diese Macht, so wie sie ist, zu seiner Selbsterhaltung brauchen zu müssen, wie wir alle miteinander sie schon gebraucht haben in den beiden hinter uns liegenden Kriegen. Durch diese Macht können wir alle zur Unmenschlichkeit verurteilt werden und sind dazu verurteilt worden. Miteinander sind wir ein Gegenstand der Furcht und der Angst eines vor dem anderen geworden.

Die große Frage ist: Wie kommen wir heraus aus diesem Elend, das unser Schicksal bestimmt? Heraus kommen wir nur, wenn wir füreinander wieder vertrauenswürdig werden, so dass jedes Volk von dem anderen die Überzeugung hat, dass es diese Macht nicht zum Vernichten gebrauchen wird. Wie aber werden wir so vertrauenswürdig füreinander? Auf keine andere Art, als dass wir uns der Humanitätsgesinnung wieder zu ergeben wagen. Denn die Humanitätsgesinnung ist das einzige, was einem Volke dem anderen gegenüber die Gewissheit geben kann, dass es die Macht nicht zum Vernichten des Gegners gebrauchen wird.

Humanitätsgesinnung ist der höchste Erwerb der Erkenntnis, die je dem Denken zuteil geworden ist und ihm je zuteil werden kann.
Humanitätsgesinnung findet sich bei allen großen Denkern der Vergangenheit, ob in Indien, in China, ob im vorderen Orient; überall ist sie irgendwo vorhanden, vielleicht am klarsten und kräftigsten bei den großen chinesischen Denkern Lao-Tse, Kung-Tse und Meng-Tse. Überall, wo die Idee des Mitempfindens und der Liebe ist, ist Humanitätsgesinnung im Werden begriffen. Humanitätsgesinnung ist diejenige, die dem Wesen des Menschen, seinem höheren Wesen, das ihn über alle Kreatur erhebt, entspricht. Denn in seiner Entwicklung hat er das Vermögen des Mitempfindens und des Miterlebens erlangt, und dieses Vermögen muß nun sein Verhalten in allem bestimmen. Die ersten, die das auszusprechen und zu denken wagten, waren die Denker des späten Stoizismus. Sie haben den Begriff der Humanitätsgesinnung geprägt, und sie stimmten darin mit der Idee der Liebe überein, wie sie bei den jüdischen Propheten, bei Jesus, bei Paulus auftritt. Aber diese beiden Strömungen der Humanitätsgesinnung konnten sich im Altertum nicht finden. Sie gingen nebeneinander einher, weil das Christentum in der Welt- und Lebensverneinung befangen war und der Spät-Stoizismus eines Seneca, eines Marc Aurel, eines Epiktet, obwohl in Welt- und Lebensbejahung sich befindend, doch nicht die Kraft des Wollens zum Fortschritt aufbrachte, die dem Altertum abgeht.

Erst als im Renaissance- und Nachrenaissance-Zeitalter dann fortschrittwollende Welt- und Lebensbejahung aufkamen, da konnten sich beide finden. Die spätstoische Humanitätsethik und das Christentum begriffen sich so, daß sie voneinander lernten, dass alles Denken zu der höchsten Gesinnung der Humanität gelangen müsse, und das, was in der Liebe Jesu verkündigt wurde, nicht nur Offenbarung, sondern zugleich vernunftgemäß sei. Und in dieser Überzeugung der höchsten Vernunftgemäßheit aller höheren Wahrheiten hat nun die
Humanitätsgesinnung die Führung in der Entwicklung der Lebens- und Weltbejahung genommen, und damit ist sie zu einer schöpferischen Kraft in der Weltgeschichte geworden. Sie erst hat die Liebe Jesu wirksam gemacht in der Öffentlichkeit; sie hat mit dem Aberglauben, den Hexenprozessen, der Folter, mit allen Grausamkeiten, allen gewordenen Unzweckmäßigkeiten aufgeräumt und an Stelle des Alten ein Neues geschaffen, das den, der diesen Prozess verfolgt, immer wieder in Erstaunen setzt.

Diese schöpferische Kraft hat sich einige Jahrzehnte erhalten, dann, gegen die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, verlor sie an Wirksamkeit. Warum verlor sie? Zuerst, weil ihre Weltanschauung nicht mehr auf einer Welterkenntnis beruhen konnte, die der wissenschaftlichen Erforschung der Welt entsprach. Sie musste sich bequemen, ohne die Stütze, die ihr die Welterkenntnis, wie sie sie sich vorgestellt hatte, bieten sollte, weiter zu existieren. Sie wurde entkräftigt, weil der Bund zwischen Religion und Philosophie, der im achtzehnten Jahrhundert geschlossen worden war, zerfiel. Die Religion und die Philosophie gingen fortan jede ihren Weg. Die schöpferische Kraft verlor an Wirksamkeit, weil sie als unzweckmäßig erfunden wurde. Es kamen dann nämlich Vorstellungen auf von dem, was die Geschichte hervorbringen wollte, die nicht mehr mit dem Ideal übereinstimmten, daß die Geschichte das höchste Wohlergehen der Vielen in geistiger und materieller Hinsicht wolle, sondern daß ihr Ziel auf etwas angehe, auf etwas Höheres an sich, das zu verwirklichen sei, wie es auch sei, auch unter Not und Leid, unter Opfern, die die davon Betroffenen dafür bringen müssten. Diesen Geist haben wir zu Ende des Jahrhunderts aufkommen sehen. Damals wagte es die Nichtmenschlichkeit, die Inhumanität, ihr Haupt zu erheben und Dinge zu rechtfertigen, die mit unserem Empfinden und Mitempfinden nicht mehr vereinbar waren. So entstanden dort die Geschichte und die Lage, in denen wir uns jetzt befinden. So kam dort das Elend des Angsthabens voreinander auf, in dem wir uns jetzt bewegen. Und wir können nichts anderes als unsere Hoffnung darauf setzen, dass der Geist der Humanität, dessen wir bedürfen, in unserer Zeit wieder aufkomme.

Aber verlangen wir nicht etwas Unmögliches? Wie soll der Geist, der die Kraft verloren hat, sie wiederfinden? Und doch ist Aussicht, dass er sie wiederfindet. Es geht etwas vor in unserer Zeit, das uns dies erhoffen lässt. Der Geist der Humanität ist nicht tot. Er lebt in der Verborgenheit; und er hat es überwunden, dass er ohne Welterkenntnis sein mu
ss. Es ist ihm klar geworden, dass er sich aus nichts anderem zu begründen hat, als aus dem Wesen des Menschen, und damit hat er eine Selbständigkeit gewonnen, die eine Stärke ist. Und weiter ist er zu der Erkenntnis fortgeschritten, dass dieses Mitempfinden erst seine wahre Weite und Tiefe hat und damit erst die wahre Lebenskraft, wenn es sich nicht nur auf den Mitmenschen, sondern auf alles Lebendige, das in unseren Bereich tritt, bezieht. Er braucht keine andere Lebens- und Welterkenntnis mehr als die, dass alles, was ist, Leben ist und dass wir allem, was ist als Leben, als einem höchsten, unersetzlichen Wert Ehrfurcht entgegenbringen müssen. Keine Naturwissenschaft kann der Humanitätsgesinnung diese einfachste Erkenntnis nehmen, denn sie ist letzten Endes die, bei der jede Naturwissenschaft, als der eigentlichen und einfachsten, haltmacht, dass alles was ist, belebt ist. Und so bereitet sich in den Stürmen dieser Zeit vor, dass die Humanitätsgesinnung, die das Wesen unserer Kultur ausmachte, wieder erstehen wird und dass diese Humanitätsgesinnung uns aus der Not, in der wir uns befinden, herausführen kann.

Nun aber eins: Wenn die Humanitätsgesinnung uns den Frieden in der Welt geben soll, mu
ss sie Gut aller Völker werden. Und dies in unserer Zeit noch mehr als in irgendeiner anderen, denn in unserer Zeit geht dies vor sich, dass Nationen, die an der höheren Kultur keinen Teil haben, zu Staaten werden, die Selbständigkeit beanspruchen und sie erhalten und dass dadurch das Weltbild ganz verändert wird. Die große Frage ist nun, was aus diesen Staaten wird. Werden sie zu einer Kultur gelangen, die ihnen erlaubt, bei sich und in der Umwelt den rechten Weg zu finden, oder werden sie, in Nicht-Kultur verharrend oder, was fast noch schlimmer ist, in Scheinkultur lebend, Werte der Unordnung in der Welt bedeuten? Und als einer, der draußen in der Welt lebt, kann ich behaupten, daß dies das große Problem für die Gestaltung der Weltgeschichte heute ist. Als einer, der sich draußen wirkend mit dem Problem der Aneignung der Kultur durch solche, die sie noch nicht besaßen, beschäftigt, glaube ich, dass die Primitiven und Halbprimitiven der wahren Kultur, in der der Geist der Humanität waltet, fähig sind. Wir aber haben ihnen eine Kultur gebracht, die sie sich nicht richtig aneignen können. Das liegt an ihnen und liegt an dem, was wir ihnen gebracht haben. Wir haben alle die Erfahrung machen müssen, daß sie das Uneigentliche, das Nebensächliche annahmen und das Geistige, das — ich wage es zu sagen — dennoch in unserer Kultur ist, übersahen; es bedeutete ihnen nichts. Wir glaubten, der beste Weg, ihnen die Kultur nahezubringen, wäre, dass sie sie so erwerben müßssen, dass sie sich zuerst zu unseren Kenntnissen, die unsere Bildung und unsere Fähigkeiten machen, erheben müssten. Sie aber blieben auf diesem für sie ungangbaren Wege stehen. Und so haben wir in der Welt draußen eine Halbkultur, die Kultur ist in ihren Ansprüchen, aber nicht in ihren Leistungen.

Aber wenn in unserer Kultur der Geist eine Kraft ist, dann wird er sich bei ihnen auswirken, denn der Primitive und der Halbprimitive haben etwas absolut Natürliches: das Beschäftigtsein mit sich. Alles, was das nähere Denken über sich selber betrifft, liegt ihm nahe, und wenn er in der Selbstbetrachtung nun Ideen dargebracht bekommt, die ihn höher führen, einfach geistig höher führen, dann ist er für sie aufnahmefähig und kann sich aus seinem Primitivismus und Halbprimitivismus ohne Schwierigkeit, einfach durch Überlegungen über sich selbst, deren er in seiner Natürlichkeit fähig geblieben ist, vielleicht fähiger als wir, zu einer Höhe erheben, die weit über dem Stand der Lebensführung, in der er sich befindet, liegt. Und dies gibt mir als einem Kenner dessen, was draußen geistig in der Welt vorgeht und vorgehen kann, den Mut, zu behaupten: Es ist Aussicht vorhanden, dass die Völkerschaften draußen, wenn wir ihnen wieder wahre Kultur bringen statt einer Kultur, in der das Geistige verkümmert ist, dass sie dann für diese empfänglich sind und das Ihre dazu beitragen können, daß in der Welt der Friede zustande kommt.

So vertrauen wir auf den Geist der Humanität, der schon einmal in der Welt, zu Beginn der Neuzeit, das Größte, was sich in der segensreichen Geschichte ereignete, zustande gebracht hat, und wir vertrauen auf ihn, dass er das Werk, das er liegen ließ, wieder in Angriff nehme und in unserer Zeit leisten möge, was er in jener Zeit leistete, nämlich sie herauszuführen aus einem Alten, das sie nicht mehr ertragen kann, zu einem Neuen, das sie sich nicht vorstellen kann. Denn der Geist der Humanitätsgesinnung ist schöpferischer Geist; und darum vertrauen wir ihm, nicht nur, weil er unsere einzige Hoffnung in dieser Zeit bleibt, sondern weil er die Eignung hat, das ausführen zu können, was ihm als geschichtliche Aufgabe zufällt. Als schöpferischer Geist wirkt er von innen heraus. Alle diese Probleme, die wir von außen betrachten, und die als solche unlösbar sind, macht er lösbar, denn er löst die Gegensätze von innen heraus. Er schafft für die, die einander entgegenstehen, Garantien, die auf keine andere Weise gegeben sind. Er wirkt in einer Weise zweckmäßig, die alle gewöhnliche Zweckmäßigkeit übersteigt. Er ist das Höchste, im höchsten Sinne Vernunftgemäße. Und weil er so schöpferisch ist wie die Natur, gestaltend in einer Zielstrebigkeit, die in ihm liegt, haben wir Vertrauen zu ihm und wagen es, unser Schicksal ihm anzuvertrauen. Wir brauchen ihn nicht zu erwarten und herbeizurufen, sondern er ist etwas, das uns zur Verfügung steht. Dieser Geist der Humanität kann in uns entstehen, denn alle tragen wir das Material, aus dem er sich entwickeln will, das Bewu
sstsein unserer höchsten menschlichen Fähigkeit und Bestimmung, in uns. Das Brennmaterial ist da, es handelt sich nur darum, ob wir den Willen und den Mut haben, es miteinander in Brand zu setzen. Wir weisen dem Geiste nicht nur als höchste Aufgabe zu, uns aus der Friedlosigkeit zum Frieden zwischen den Nationen zu führen, sondern wir suchen ihn zu verwirklichen schon für uns selber; denn Humanitätsgesinnung in der Welt kann nicht aufkommen, wenn sie nicht in dem einzelnen aufkommt und wenn wir nicht wagen, ihr Raum zu geben in uns und unser Leben nach ihr zu gestalten.

Der Geist mu
ss Tat werden, und er muss Tat werden überall, wo Friedlosigkeit herrscht. Sie herrscht nicht nur draußen zwischen den Völkern, sie herrscht in den Völkern, und sein Vorhandensein wird er erweisen, wenn er das, was er als Grund der Friedlosigkeit erkannt hat, die in den Völkern herrscht, anzugreifen wagt. Denn überall, in jedem Volk, ist es so, dass sich Gerechtigkeit an die Stelle der Ungerechtigkeit setzen muss, dass Milde an die Stelle der Härte zu treten hat, Verstehen an die Stelle des Nichtverstehens. Überall sind Wunden, die die Zeit geschlagen hat, die geheilt werden müssen, damit die Friedlosigkeit innerhalb der Völker selber aufhört und dann auch die Friedlosigkeit zwischen den Völkern ihr Ende nimmt durch den Geist, der allein den Frieden bringen kann als eine schöpferische Naturkraft der Geschichte. Und das Schöpferische ist dadurch bestimmt, dass in der Natur der Geist von sich aus da ist, er gestaltet dieses Neue aus dem Alten in einer zielstrebigen, absolut vernunftgemäßen, zweckdienlichen Weise, ohne daß wir es verstehen. Der Geist aber, der in der Geschichte waltet, ist nicht in den Dingen vorhanden — das war der große Irrtum Hegels —, sondern er muss durch uns geschaffen und durch uns in der Geschichte wirksam werden. Wenn er aber da ist, dann waltet er als geheimnisvoll-schöpferische Kraft in derselben Weise, wie er in der Natur als geheimnisvoll-schöpferische Kraft waltet. Er schafft etwas Neues, in dem alles Wertvolle des Alten erhalten geblieben ist.

Denn das ist, wenn wir, die wir Menschen unserer Zeit sind, auf das Neue hinausschauen, dasjenige, was uns das Zutrauen geben muss, dass das Alte in den Werten, die es hat, uns erhalten bleiben wird. Und so schauen wir in dieser Zeit auf das Neue aus. In der Zeit, in der wir leben, hat jede Manifestation des Geistes, so schwach sie auch sein möge, ihre Bedeutung; denn das Feuer, wenn es einmal da ist, ist fähig, den Brennstoff, der sich von sich selber nicht entzünden würde, zu entzünden; und Brennstoff zum Geiste der Humanität ist in der ganzen Welt in allen Menschenherzen enthalten, und daß er sich entzünde, dieses wagen wir zu hoffen. Mögen diese Worte, die den Gedanken von Millionen entsprechen, die in unseren Gegenden in der Angst um den Frieden leben, wenn sie zu denen gelangen können, die jenseits des Grabens in derselben Angst leben, in einer Zeit, wo durch die Verhältnisse jedem Volke die Bereitschaft, sich schützen zu können, zugestanden werden muss, die Gewissheit geben, dass sie aus treuherziger Friedensgesinnung von Millionen und aus Friedenshoffnung von Millionen gesprochen sind und also gewertet werden. Der große Mystiker Paulus, der zugleich ein solches Verständnis für das Wirkliche hatte, hat uns das als Mahnung zum Frieden mitgegeben: »Soviel an Euch ist, haltet mit allen Menschen Frieden«. Und dieses Wort gilt nicht nur uns einzelnen, es gilt in dieser Zeit den Völkern. Und mögen die Völker und die, die sie regieren, es beherzigen, und in diesen furchtbaren Tagen bestrebt sein, darin, so weit es ihnen möglich ist, bis an die äußerste Grenze zu gehen, auf dass der Geist Zeit habe, zur Hilfe zu kommen. Dann dürfen wir hoffen.
S.125ff.
Kröner, Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 243, Mensch und Menschlichkeit. Eine Vortragsreihe. Das Heidelberger Studio, eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks
Copyright 1956 by Alfred Kröner Verlag Stuttgart. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart


Die Bruderschaft der vom Schmerz Gezeichneten
Die, die an sich erfuhren, was Angst und körperliches Weh sind, gehören in der ganzen Welt zusammen. Ein geheimnisvolles Band verbindet sie. Miteinander kennen sie das Grausige, dem der Mensch unterworfen sein kann, und miteinander die Sehnsucht, vom Schmerz frei zu werden. Wer vom Schmerz erlöst wurde, darf nicht meinen, er sei nun wieder frei und könne unbefangen ins Leben zurücktreten, wie er vordem darin stand. Wissend geworden über Schmerz und Angst muss Kunst, alle die technischen Fortschritte mit lebendigem Interesse begleiten — um Gottes willen nicht immer zu allem nein sagen, wenn es nicht das Gepräge unseres Christentums an sich trägt! Sondern ja und noch einmal, und siebenmal, und siebzigmal ja sagen!

Damit bejaht man das Böse gar nicht, wie die ungläubigen Gläubigen immer angsten, im Gegenteil, man verneint das Böse mit Ja. Das Ja ist die Luft, in dem es gerade nicht wachsen kann. Wie die Nachtpflanzen stirbt es an der Sonne des Ja ab. Sag‘ ja zu einem Menschen, bekenne dich zu ihm, lass ihn gelten, kritisiere nicht an ihm herum, schweig zu seinem Bösen und sprich, ja sprich von seinem Guten — so wirst du die Erfahrung machen, dass er von selbst das Böse lässt. Er hält es einfach in dieser herrlichen Luft nicht aus, ohne dass seine Lungen gesund werden. Es packt ihn, es kommt eine Krisis über ihn; entweder rennt er dir ganz draus, oder du hast ihn für immer gewonnen.

Wenigstens vergisst er dir es nie, dass du ihn hast gelten lassen. Gelten lassen — das ist ja gerade das Evangelium! Gelten lassen zuerst, und dann mit der Zeit auch belehren und abwehren, warum nicht, aber niemals umgekehrt, wie wir‘s immer machen: Wenn wir einen Menschen uns brav zurechtgescholten haben, dann endlich lassen wir ihn auch gelten! Da lesen sie das Evangelium und sehen das nicht. Wie hat denn Jesus, ich bitte euch, einen Gichtbrüchigen, einen Levi, einen Zachäus, eine Sünderin behandelt? Ist er deswegen weniger der Heilige Gottes, ist er es nicht gerade deswegen gewesen? Und sind wir deswegen weniger seine Jünger, wenn wir die Mitmenschen, wie sie sind, vor allem gelten lassen, sind wir‘s nicht gerade erst dann?
S. 303ff.
Aus: Jakob Studer, Für alle Tage, Ein christliches Lesebuch, Fretz & Wasmuth Verlag AG. Zürich